Ulrich Raulff

Wiedersehen
mit den
Siebzigern

Die wilden Jahre
des Lesens

Logo

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Barbara Klemm

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94893-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10749-4

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Max,

der in älteren Zeitschichten gräbt

Inhalt

Das wahre Sein

Lesen für Rita

Im Westend

Die Orange

Bibliothek als Biotop

Die Gründungen

Der Berliner Schlüssel

Le sexe

Die Blonden und die Schwarzen

Postfranzösisch

I feel as if what was meant to be a visit to the past has provoked an unexpected return visit in which my past is eyeing me.

Michael Baxandall, Episodes

Das wahre Sein

Es war ein Abend im Frühsommer vor einigen Jahren. Ich war zum ersten Mal wieder in Marburg, hatte einen Moment Zeit und ließ mich treiben. Über die Mensabrücke, an der Lahn entlang, durch den alten Botanischen Garten, das Asthmatreppchen hinauf in die Oberstadt, über den Marktplatz, am Café Vetter und an der Alten Universität vorbei. In lockerem Trab über die Universitätsstraße und durchs Südviertel bis zum Archiv am Friedrichsplatz. Keine Stelle, an der nicht Erinnerung in dichten Schichten lagerte, Namen, die sich blitzartig mit anderen verknüpften. Alte Freunde, alte Plätze, bleibende Verbindungen und der Nachgeschmack zerbrochener Freundschaften. Frauen, in die ich verliebt gewesen war und deren Todesanzeige ich plötzlich in der Zeitung fand. Die Stimmen aus der Vergangenheit, der Stoff, aus dem man Träume macht, wenn man nach einer Ewigkeit zurückkommt in die Stadt, in der man jung gewesen ist.

Aber in mir rührte sich nichts. Kein Funkenflug aus der Vergangenheit, kein Flirt mit der Erinnerung. Vier Jahrzehnte lagen zwischen jetzt und damals, eine lange, kühle Distanz. Irgendwann saß ich wieder an der Lahn, rührte in meinem Kaffee und fragte mich, was mit mir los war. Mein altes Selbst war mir fremd geworden.

Zuerst hatte ich das Geräusch überhört. Dann drängte es sich in mein Bewusstsein, nicht seiner Lautstärke wegen, sondern durch seinen Rhythmus. Er kam von einer Trommel, einer Art Buschtrommel, die ein junger Kerl schlug. Im Tempo nicht besonders schnell, denn diejenigen, die er anfeuerte, waren nicht Tänzer, sondern Ruderer. Der Trommler saß an der Spitze eines Boots und schlug der Mannschaft den dröhnenden Takt. Gehorsam hoben und senkten sich die Ruder, unaufhaltsam schob sich das Boot die Lahn hinauf – oder vielmehr den Fluss, der früher einmal so geheißen hatte und der jetzt zu den Nebenflüssen des Kongo zählte. Weiter flussaufwärts, wo früher ein Ort namens Wehrda gewesen war, lag jetzt das Herz der Finsternis. Schon war die Galeere meinem Blick entschwunden. Mit dem letzten Schlag der Trommel war ich zu mir gekommen. Ich wusste wieder, wer und wo ich war. Nur die Zeit hatte sich verändert, und mit ihr der Stil des Lebens.

Achtundsechzig war vorbei, als ich das erste Mal nach Marburg kam. Die siebziger Jahre hatten begonnen. Aber es dauerte seine Zeit, bis die Nachrichten von den neuesten Ereignissen und Moden in die ruhigen Buchten Oberhessens getragen wurden. Marburg war eine Art Freilichtmuseum, in dem man den Stil von 68 noch lange Zeit ziemlich unverändert studieren konnte. Anfangs fand ich das aufregend. Ich hatte das, was man sich unter 68 vorstellt, teach ins, Demos, freie Liebe und so, verpasst. Als es losging, war ich noch auf der Schule, dann kam die Bundeswehr, und als ich wieder auf der Straße stand, war das Fest vorbei. Oder der Spuk, wie man will. In späteren Diskussionen bezeichnete ich mich als Flakhelfer von 68, und das traf es nicht schlecht. Für die Studentenrevolte war ich zu jung gewesen, und als ich selber zu studieren begann, war die Revolte alt und in die Verwaltung von kommunistischen Splittergruppen übergegangen. Die Spannung war verflogen, geblieben waren die Erklärungen. Kein guter Moment für einen, der auszog, ein Intellektueller zu werden.

Jede Zeit neigt dazu, ihre akuten Problemlagen, aber auch ihre Theorien und Konzepte als naturgegeben zu empfinden. Die aktuell sich ereignende Gegenwart hat etwas von einer langsam ablaufenden Naturkatastrophe, der sich niemand entzieht. Anders und paradox gesagt: An ihrer Spitze ist die Gegenwart stumpf. Auch der Marburger Student vor vierzig Jahren lebte im unsichtbaren Käfig intellektueller Zeitgenossenschaft. Selbst wenn ihn frühe intensive Nietzsche-Lektüre davor bewahrte, von den Jugendverbänden der Marburger Schule, MSB Spartakus und Sozialistischer Hochschulbund (SHB), absorbiert zu werden, und wenn ihn eine in der mütterlichen Linie vererbte Skepsis, vielleicht auch die Bekanntschaft mit der aktuellen Institution der Armee vor der Militanz kommunistischer Splittergruppen schützte – er war ein Kind seiner Zeit, so klug wie diese und genauso dumm.

Ende Mai 1976 starb Martin Heidegger, wenige Tage später erschien das berühmte Spiegel-Interview mit dem Philosophen. Von den Fotos von Digne Meller Marcowicz blieb mir vor allem ein Bild der Protagonisten, Heidegger und Augstein, in Erinnerung. Es ist das berühmte Bild der beiden auf dem Feldweg. Man sieht sie von hinten: rechts der Denker, einen hölzernen Wanderstab in der Hand und einen Rucksack auf dem breiten, gebeugten Rücken, links der Journalist im damals üblichen Outfit: schwarzer Anzug, Halbschuhe, Aktentasche. Das Bild kam mir vor wie ein film still aus meinem ältesten Traum. Obwohl ich an der Universität, an welcher der eine der beiden sein Hauptwerk geschrieben hatte, Philosophie studierte, war mir die ganze Zeit über klar gewesen, welcher Spezies ich angehörte und auf welchen Typus ich lossteuerte. Die Stadt zog mich an, das schnelle Leben. Aber war nicht auch die Philosophie in der Stadt geboren? Zum Teufel mit dem Land.

Mein erster Studientag, wir schrieben die frühen siebziger Jahre, führte mich statt ins historische Proseminar, für das ich eingeschrieben war, in die Vorlesung von Wolfgang Abendroth. Auch wenn einer nicht nach Marburg kam, um den wissenschaftlichen Sozialismus zu studieren oder sich der Geschichte der Arbeiterbewegung zu widmen, war Abendroth unumgänglich: das große Tier, das legendäre Haupt der Marburger Schule. Dass Jürgen Habermas sich zehn Jahre zuvor bei ihm habilitiert hatte – mit dem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« –, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, hätte ich es gewusst, hätte es mich wenig beeindruckt. Die Zeit, da ich tief in den Positivismus-Streit, dann in die Luhmann-Kontroverse vergraben lag und nachts im Traum ein Habermas-Quiz zu beantworten hatte, war noch fern. An diesem Morgen hatte ich eher mit einem aufdringlichen Déjà-vu zu kämpfen. Ich hatte am Vorabend »Cat Ballou« gesehen, und tatsächlich verband Abendroth eine gewisse Ähnlichkeit mit Lee Marvin.

Abendroth war ein beeindruckender Rhetor und eine faszinierende Gestalt, heute würde man sagen ein Charismatiker. Mitten im Reden zündete er sich eine Zigarette an, das heißt, er riss ein Streichholz an und sprach weiter, während sich die Flamme langsam seiner Hand näherte, dann ließ er das Hölzchen fallen und zündete das nächste an – und so ging es weiter. Brannte die Zigarette endlich, vergaß er zu ziehen und ließ sie langsam zu einem Aschestäbchen werden, das irgendwann abbrach und zu Boden fiel. Wenn wir den Song der Fraternity of Man hörten – Don’t bogart that joint, my friend –, dachten wir an Abendroth. Sprechen war ihm natürlich wichtiger als Rauchen, lange war es ihm verboten gewesen. Die Nazis hatten den jungen Kommunisten für vier Jahre ins Zuchthaus gesperrt und dann ins Strafbataillon 999 gesteckt; er hatte alles überlebt, aber manchmal brach in späteren Jahren sein Redestrom plötzlich ab und er stand da, einen Augenblick lang restlos verloren. Als englischer Kriegsgefangener war er in die SPD eingetreten, Anfang der Sechziger flog er wieder raus, weil er sich nicht schnell genug von dem sich radikalisierenden SDS distanziert hatte. Später sympathisierte er mit der DKP, aber eigentlich war er zu intelligent, vielleicht auch innerlich zu frei für die Parteien; seine Schüler waren robuster.

Der Bekannteste unter ihnen, weltberühmt in Marburg, könnte man sagen, war Frank Deppe. Es gehört zu den besonderen Erlebnissen meiner frühen Studententage, dass ich eines Morgens die »Phil Fak« – die Kurzform sagt alles –, also die Philosophische Fakultät in den Lahnauen, betrat und an einem Betonträger die emblematische Inschrift las: »Marx an die Uni – Deppe auf H4«. Lenin hat sich bekanntlich über die deutschen Revolutionäre lustig gemacht, die den Perron erst besetzten, nachdem sie eine Bahnsteigkarte gelöst hatten. Die Aufforderung in der Phil Fak ging zeitgemäß weiter und postulierte die Revolution mit dem Anspruch auf volle Altersruhebezüge. Abgesehen vom üblichen Dogmatismus seiner Lehre, den er mit anderen Kollegen aus der Abendroth-Schule wie Georg Fülberth teilte, war Deppe ein ganz umgänglicher Zeitgenosse. Manchmal konnte man ihn im Jazz-Keller Bebop spielen hören, gemeinsam mit dem Bassisten Buschi Niebergall, einem zartfühlenden Hünen, der aussah wie der Frauenmörder Landru. An manchen Abenden kam Albert Mangelsdorff von Frankfurt herüber und füllte den Keller mit seiner knatternden, quietschenden und seufzenden Posaune.

Dass Marburg damals »das rote Marburg« hieß und dem Rötegrad nach allenfalls von Berlin oder Bremen übertroffen wurde, lag weniger an Abendroth selbst als an dessen »Schule« – und mehr als an dieser an ihrer Ausstrahlung in andere Bereiche, zum Beispiel die Philosophie. In diesem Fach wurde eines schönen Tages Hans Heinz Holz zum Professor berufen, ein Mann von ähnlicher Prägnanz wie Abendroth und großer persönlicher Eleganz, aber auch von einer bestürzend versteinerten marxistischen Dogmatik. In Reinhard Brandt, einem subtilen Kant-Exegeten, erwuchs ihm ein Gegner von gleicher Eleganz, aber unerwartet bitterer Härte. Schon damals berührte es uns peinlich, ja schmerzhaft, die beiden bewunderten Männer in einen finsteren politischen Kleinkrieg verstrickt zu sehen. Tatsächlich blieben ihre Streitpunkte ja an der Oberfläche dessen, was wir zu verstehen suchten. Der Übergang von der Seinslogik zur Begriffslogik bei Hegel schien davon ebenso wenig berührt wie der transzendentale Paralogismus Kants. Überhaupt kam es mir vor, als drängen die politischen Deutungsversuche nicht wirklich in die feinen Falten der Werke. »Subjekt-Objekt« von Ernst Bloch, sein materialistisches Hegel-Buch, warf ich in wütender Enttäuschung in die Lahn.

Schlimmer als die großen Dogmatiker waren ihre Schüler und die kleinen Terrier, die sie nach sich zogen. So engagierte Hans Heinz Holz eines Tages einen nicht mehr ganz jungen Philosophen, der ursprünglich Theologie bei Karl Barth studiert, sich dann aber rückhaltlos dem Dialektischen Materialismus verschrieben hatte. Der Mann, ein Musterbeispiel für die freiwillige Selbstverknechtung, fast möchte man sagen: den intellektuellen Freitod eines vielleicht gar nicht kleinen Geistes, hieß Gudop. Eines Morgens stand über dem Eingang zum philosophischen Seminar die Inschrift: »Archipel Gudop«.

Namentlich die Fahrstühle zeichneten sich durch immer neue, spöttische Botschaften aus, in denen anarchischer Witz seinen dogmatischen Gegner verspottete. »Der Bürger als Held«, las man im Germanistenturm, und weiter: »aber ein schlaffer«. Heute versteht den Witz nur, wer sich noch an den Titel des aufregenden Buches erinnert, das Heinz Schlaffer damals gerade veröffentlicht hatte. Man las noch ganz andere Dinge im Aufzug. Nicht alle Literaturwissenschaftler waren Schöngeister wie unsere schlaffen Helden, die jungen Dandys und Theoriegötter, Schlaffer und Mattenklott, die sich zu solcher Art politischen Scherzen nie herabgelassen hätten. Aber auch sie opferten dem Zeitgeist. Im Fall Gert Mattenklotts, eines Meisterschülers von Peter Szondi, sah das zeitweise, um die Mitte der Siebziger, verdächtig nach einem sacrificium intellectus aus. Es dauerte ein halbes Jahrzehnt, bis ihn die materialistische Literaturgeschichte wieder aus ihren Fängen ließ. In anderen Fällen dauerte es länger.

Dem aggressiven Ton der politisierten Studenten antwortete ein vielstimmiges Echo des Lehrkörpers. Manche Professoren reagierten opportunistisch, andere gereizt. Wieder andere ließen sich von tiefsitzender Angst vor einem neuen totalitären Ungeist das Unterscheidungsvermögen rauben. Die wenigen liberalen Historiker versuchten, allen Seiten verstehend gerecht zu werden, und machten der tonangebenden Linken terminologische Zugeständnisse – so Karl Christ, der im Seminar »Die Ideologie des römischen Prinzipats« behandelte.

Eine vierte Gruppe setzte dem Zeitgeist ungerührt ihre souveräne Exzentrik entgegen – auch dies oft Menschen, in denen die Erfahrung des Nationalsozialismus einen unerschütterlichen Fatalismus hinterlassen hatte. So der Soziologe Heinz Maus, den die Nazis 1943 nach dem Heimtückegesetz angeklagt hatten und der sich, obwohl entfernt zum Satellitensystem Abendroth gehörig, später nie mehr ganz einfangen ließ, weder von den Sozialdemokraten, für die er im Stadtrat von Cölbe saß, noch von den Salonmarxisten und Seminaranarchisten, die er mit dem nötigen Theoriestoff belieferte. Unbestimmt blieb auch sein Präsenzgrad, weil ihn knapp fünf Minuten nach Veranstaltungsbeginn eine dichte Rauchwand den Blicken der Seminarteilnehmer vollständig entzog. Frankreich hieß seine eigentliche geistige Heimat, und der Hinweis war ihm wichtig, dass die Franzosen immer noch sorgfältig zwischen Moss und Moose, zwischen Marcel Mauss und Heinz Maus, unterschieden: Im Frankenland galt der Prophet mehr als im eigenen.

Die Philosophie in Marburg Anfang der siebziger Jahre bot das Bild eines erbitterten Grabenkrieges. Kaum hob einer der Kämpen den Kopf aus dem Unterstand, nahmen die anderen ihn unter Feuer. Eigentlich beschoss hier jeder jeden, es sei denn, Loyalitäten des Lagers oder der Hierarchie – wie die zwischen Holz und Gudop – hielten ihn zurück. Ansonsten war in diesem Krieg jedes Mittel, auch das unfeine, gerade recht. Um Holz abzuschießen, zog man sein Promotionsverfahren in Zweifel – er war 1956/57 in Leipzig von Bloch promoviert worden, zum gleichen Zeitpunkt, als dieser eben zwangsweise emeritiert wurde. Während Burkhard Tuschling sich unverdrossen und knochentrocken darum bemühte, die Lehramtsstudenten mit den unzeitgemäßen Lehren des Wiener Kreises vertraut zu machen, hatte der Descartes-Übersetzer und -Deuter Lüder Gäbe die Schlacht um die Phil Fak aufgegeben und sich mit seiner kleinen Truppe ins Hörsaalgebäude auf der rive droite der Lahn zurückgezogen. Klaus Reich legte großen Wert darauf, nicht mit Wilhelm verwechselt zu werden, und hielt Privatissima im Schlafrock; von Julius Ebbinghaus wussten wir nicht genau, ob er noch lebte oder nicht. Bei alten Kantianern weiß man das nicht so genau, weil sie langsam vertrocknen, während Hegelianer in Fäulnis übergehen.

Wir entzogen uns den Intrigen des Lehrkörpers, indem wir sogenannte autonome Arbeitsgruppen bildeten. Sie waren »scheinfähig« und erlaubten uns, auf eigene Faust zu arbeiten – was wir vermutlich dreimal so intensiv taten, wie wir es im Seminar getan hätten, aber, als hoffnungslose Dilettanten, auch dreimal so mühsam. Einmal die Woche quetschten wir uns zu fünft oder sechst in einen alten Käfer und fuhren nach Frankfurt, in die Seminare von Bruno Liebrucks oder Alfred Schmidt. Auch dort herrschte zeitbedingt nicht gerade der erasmische Geist friedlicher Studien, aber die Qualität der Argumentation war höher und die Polemik geschliffener. Marburg hatte es zwar mit Abendroth und dessen Trabantensystem zu seiner dritten »Schule« in einem einzigen Jahrhundert gebracht, aber dieser Abfolge entsprach kein intellektuelles Steigerungsprinzip.

Von der ersten Marburger Schule des Neukantianismus war praktisch nichts mehr zu spüren. Irgendwo in einem Schrank der Alten Universität dämmerte das Samtbarett von Paul Natorp vor sich hin, und in den ausgezeichneten Antiquariaten der Stadt verstaubten die Werke Hermann Cohens. Die Problemlagen des wissenschaftlichen Wissens und seiner Selbstreflexion hatten sich seit ihren Tagen radikal verschoben. Auch die zweite Marburger Schule, die sich in den zwanziger Jahren unter dem Einfluss von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann, sehr am Rande auch dem des Georgeaners Friedrich Wolters gebildet hatte, die Marburger Schule der Hermeneutik, war dem Ort ihres Ursprungs denkbar fern gerückt. Hans-Georg Gadamer lehrte jetzt in Heidelberg, Hannah Arendt in New York, Karl Löwith starb 1973 in Heidelberg. Max Kommerell lag seit einem Vierteljahrhundert in Marburg auf dem Friedhof und war auch geistig ein toter Mann: Die meisten von uns kannten nicht einmal seinen Namen. Selbstgewiss und geräuschvoll beherrschte die dritte Marburger Schule, eine zeitgemäße Spielart des dogmatischen Kathedersozialismus, die intellektuelle oder vielmehr die akademische Szene.

Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, wie es damals in den Naturwissenschaften zuging; mir fehlt jeder Einblick in die Marburger Medizin, die theologische oder die juristische Fakultät vor vierzig Jahren. Geisteswissenschaften in Marburg zu studieren, war nicht die schlechteste Wahl; die Bibliotheken waren erstklassig, und einzelne Fächer waren es auch. Die Betonung liegt auf »einzelne«. Ich versuchte es mit Anglistik, gab aber nach zwei Semestern auf. Statt mein Englisch zu verbessern und Shakespeare zu lesen, wie ich gehofft hatte, wurde ich in Ideologiekritik geschult und mit William Goldings Lord of the flies traktiert. Ich fand, das war Stoff für die gymnasiale Mittelstufe.

In der Geschichte sah es besser aus. Obwohl der gehasste, gefürchtete und bewunderte Ernst Nolte Marburg bald wieder verließ, um an die Freie Universität Berlin zu gehen, fehlte es dem Fach nicht an guten Leuten; ich denke an Karl Christ, Walter Schlesinger, Helmut Beumann und Gerhard Oestreich. Christ las nicht nur griechische und römische Geschichte, sondern studierte mit uns auch die maestri di storia von Gibbon über Burckhardt bis Momigliano. Er war einer der Autoren, die sprachen, wie sie schrieben, und schrieben, wie sie sprachen; noch heute höre ich seine Stimme, sobald ich eine Zeile von ihm lese. Sein oraler Stil machte es leicht, seine Sätze im Gedächtnis zu behalten, und als er mich im Rigorosum prüfte, konnte ich ganze Passagen seiner Schriften auswendig hersagen. Er erkannte zwar nicht die eigene Autorschaft, bemerkte aber, dass die Antworten des Kandidaten von ungewöhnlicher Qualität waren, und benotete entsprechend.

Auch für Nichtgermanisten waren die Vorlesungen von Heinz Schlaffer ein must. Eine ähnlich faszinierende Wirkung sollte ich erst wieder in den Vorlesungen von Roland Barthes am Collège de France erleben. Um die Proportionen nicht zu verlieren, muss man sagen, dass Barthes eine Stadt wie Paris magnetisierte, während Schlaffer die geisteswissenschaftlichen Fächer einer kleinen Universität elektrisierte; aber auch das war schon eine staunenswerte Wirkung. Sie hatte mehrere Gründe, teils lagen sie in der Sache und teils daneben.

Der Sache nach war es eine Metapherngeschichte. Schlaffer las über die »Kapitalmetaphorik im Faust II« – zu Deutsch: über die Fülle der Bilder, in denen Goethe den Vorschein der eben aufziehenden Welt der Ökonomie, des Geldes und der Maschinen sichtbar werden ließ. Im nächsten Semester folgte dann als logisches Gegenstück die Untersuchung der Metaphern und literarischen Zitate im marxschen »Kapital«. Schlaffers Vortragsstil, die nachlässige Eleganz seiner Phrasierung, war ein weiterer Grund für die Wirkung seiner Vorlesungen. Nicht der letzte dieser Gründe aber hieß Hannelore. Frau Schlaffer folgte den Vorlesungen ihres Gatten in schläfriger Aufmerksamkeit und atemberaubender Garderobe. Die unübersehbare Bewunderung des männlichen Teils der Zuhörerschaft nahm sie mit gut gespielter Gleichgültigkeit ad notam. Die Schlaffers, sie im hochgeschlitzten quietschgelben oder giftgrünen Kleid, er im immer weit offenen weißen Hemd und mit Goldkettchen, erscheinen mir im Rückblick als das Hohe Paar der siebziger Jahre. Damals gehörten sie zu den Sehenswürdigkeiten von Marburg, und wir hätten uns nicht gewundert, wenn Japaner in Bussen gekommen wären, um nach Heidelberg und der Lorelei die Schlaffers zu besichtigen.

Unter den damaligen Fächern der Geisteswissenschaften ragte die Kunstgeschichte hervor. Ich wurde ihrer Eminenz erst gegen Ende meines Studiums gewahr; da war es schon zu spät. Aber ein Abglanz der großen Stunde fiel noch auf mein Haupt; ich durfte Martin Warnke und Heinrich Klotz hören und miterleben, wie auf die alten Granden die jungen Löwen des Faches folgten: Wolfgang Kemp, Horst Bredekamp, Franz Verspohl und Andreas Haus. Welches andere Fach der damaligen Gelehrtenrepublik konnte sich einer derartigen Menagerie rühmen? Über dem Hülsenhaus, nahe den Auen der Lahn, schienen die Sterne etwas höher zu stehen als anderswo. Mein Pech, dass ich sie erst so spät erblickte.