DAS KLEINE ETYMOLOGICUM

Eine Entdeckungsreise
durch die deutsche Sprache

1448.jpg

KRISTIN KOPF

Hobbit Presse

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Text auf S. 18: Ernst Jandl, poetische Werke, hrsg. von Klaus Siblewski, © 1997 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Abbildungsnachweis: Schrift auf S. 32 © St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 916, p. 13 – Regula S. Benedicti; Karte auf S. 79 © Rudolf Hungreder, Leinfelden-Echterdingen

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-91341-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10746-3

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in dr Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

1 DANKEN KOMMT VON DENKEN

2 DURCH DIE SPRACHE MÄANDERN – STATT EINES VORWORTS

3 WAS SIE SCHON IMMER ÜBER DIE DEUTSCHE SPRACHE WISSEN WOLLTEN, ABER BISHER NICHT ZU FRAGEN WAGTEN …

4 REISEPROVIANT UND SCHWIMMWESTEN

Nicht so geil: Der etymologische Fehlschluss

Ursprünge, die keine sind

Quellen: Rekonstruktion des Unbekannten

Warum ein Braunbär doppelt braun ist:
Von Tabus und Metaphern

5 ENTSTELLTE WÖRTER – WIE VIELE ETYMOLOGIEN WIR GAR NICHT BEMERKEN

Dem Fuß auf der Spur

Vom Volk und den Wikingern

Voll viele im Plenum

6 DREIMAL ZWEI MACHT … ZEHN

Zwei Zimmerleute

Zwo Biskuits

Biathlon im Bikini

7 EXPEDITION IN SPRACH-RÄUME

Viel Platz für Wortimporte

Warum ist Niederdeutsch kein deutscher Dialekt?

Wo der Lautwandel versickerte

Wer spricht das beste Hochdeutsch?

8 ROSIGE AUSSICHTEN: DIE BLUME UND DAS MÄDCHEN

Der Name der Rose: Vom Altiranischen ins Neuhochdeutsche

Gul und Gülay: Vom Altiranischen ins Persische und Türkische

Die Farbe Rosa

9 VERSCHWIMMENDE FARBEN UND GRENZENLOSE WÖRTER

Pink, pink, pink ist alles, was ich habe

bleu war Blau

Al-Artikel

Lalala: kulinarische Missverständnisse

10 WIE WÖRTER AUSBLEICHEN: BOMBENSTIMMUNG AUF DER RIESENPARTY

Sehr versehrt, aber immer noch …

Bombensicher Bombenstimmung

Toupets zum Top-Preis

11 EIN WORT WIRD ZUR GRAMMATIK

Besitzen Sie alles, was Sie haben?

»Vorfahrt geklaut gekriegt, geschleudert, in Graben und überschlagen …«

Sagte, machte, weinte: Ohne tun vergeht die Zeit nicht

12 WARUM TRINKEN UND TRÄNKEN, FÄLLEN UND FALLEN, SAUGEN UND SÄUGEN WIR? FORMEN DER VERURSACHUNG

Mit einem -jan fängt alles an

Das Wasser rinnt und wir rennen

Kunststücke der Sprache: auf einem Pferd fahren

13 NEUE KLÄNGE: DIE UMLÄUTUNG

Widerstand ist zwecklos, Sie werden assimiliert

Der Drang nach vorne

14 WIE DIE BAUM ZU BÄUMEN WURDEN

Der Umlaut wird grammatisch

Paradoxe Sprache: Ältern und Ermel oder Was die Herkunft mit der Schreibung zu tun hat

Stengel oder Stängel?

15 LEICHEN LIKEN: EIN WORT WIRD WORTTEIL

Drei quicklebendige Geschwister: Leiche, -lich und gleich

Die tragbare Tragbahre

Gemeinsam was zusammensammeln

16 HIN UND ZURÜCK: RÜCKENTLEHNUNGEN

Mal ganz häuslich: Wer baute Balkon und Loggia?

Militärisch oder dekorativ? warnen und garnieren

Geklaute Kleidung in Raub und Robe

17 BASTARD, BUSSARD, BERNHARD: BESTE FREUNDE?

Kriemhild und Siegfried

Bernhard, Vater von Bastard

18 UNSERE CHAOTISCHE VERWANDTSCHAFT: DIE BASE, DIE TANTE UND COUSINE ZUGLEICH WAR

Mutterschwester und Vaterbruder

Die Base wird zur Cousine

Tante und Onkel wandern ein

19 DAME, FRAU, WEIB UND DIRNE STEIGEN AB

Mein schönes Fräulein, darf ich wagen

Meine Damen und Herren

Vom Mädchen zur Prostituierten

20 UNTERWEGS AUF DEM HOLZWEG

Dämliche Damen, herrliche Herren

Der Schmetterling als Hexenwerk

Von Eichhörnchen und Flughörnchen:
Wie aus einem Missverständnis ein Tier wurde

21 VOM MAHARADSCHA ZU MAJESTIX

Der Clan der Stans

Ein Maharadscha, Mahatma Gandhi, Magnus und Regina

Ganz Gallien?

22 ÜBER DEN GARTENZAUN

Zaun, town und tuin

Stuttgart und Scotland Yard

Novgorod und Belgrad

23 UND JEDEM ENDE WOHNT EIN ANFANG INNE

Indogermanischer Stammbaum

Anhang

Anmerkungen

Quellen

Literaturverzeichnis

Sachregister

Wortregister

1
Danken kommt von denken

Ja, wirklich: Danken ist eine spezielle Art des Denkens, nämlich daran, dass einem Gutes getan wurde. Und an wen denke ich?

An Claus Brucher und Julian Jarosch, die mir während des ganzen Projekts mit der richtigen Mischung aus Kritik, Humor, guten Ratschlägen, offenen Ohren, Tee und Ablenkung beigestanden haben.

An Luise Kempf, Susanne Flach, Mehmet Aydın, Horst Simon, Melitta Gillmann, Antje Dammel, Damaris Nübling, Kerstin Riedel und Anna-Marleen Pessara, die einzelne Kapitel kritisch gegengelesen haben, und an Alexander Dingeldein, der sich der mittelhochdeutschen Passagen angenommen hat. (Alle verbleibenden Fehler sind natürlich meine eigenen.)

An zahlreiche Freunde und Kolleginnen, die mir darüber hinaus Literaturhinweise, Ideen und Tipps zukommen ließen.

An Christoph Selzer, Johannes Czaja und Tom Kraushaar im Verlag, an das Korrekturteam Frithwin Wagner-Lippok und Christina Schmutz und an meinen Agenten Michael Gaeb, die großes Engagement und Geduld bei der sicher nicht immer leichten Zusammenarbeit gezeigt haben.

Viele Inhalte dieses Buches basieren lose auf Blogartikeln, die ich von 2007 bis heute veröffentlicht habe, aktuell im Sprachlog (www.sprachlog.de), das ich zusammen mit Anatol Stefanowitsch und Susanne Flach betreibe. Ich denke an alle, die online mitgelesen, kommentiert und diskutiert haben, denn ohne ihr Interesse wäre dieses Buch nicht entstanden.

Euch und Ihnen allen ganz, ganz herzlichen Dank!

2
Durch die Sprache mäandern – statt eines Vorworts

Eine Warnung vorweg: Dieses Buch mäandert. Mäandert? Genau. Ein seltsames Wort: Die Lautfolge äa ist uns nicht vertraut. Sie deutet auf eine fremdsprachige Herkunft hin, wie auch bei Pangäa, dem Superkontinent. In unserem Fall ist die Quelle im Griechischen zu suchen: Das Verb mäandern stammt vom Maiandros – so nannten die alten Griechen1* den Fluss, der sich heute als Büyük Menderes ›großer Mäander‹ durch die Südwesttürkei schlängelt. Auch heute noch trödelt er ziellos herum, bis er zum Meer gelangt. Sage und schreibe 584 Kilometer weit fließt er, obwohl es von der Quelle bis zur Mündung nur 345 Kilometer Luftlinie sind. Was tut der Fluss auf den restlichen 239 Kilometern? Er windet sich. Und zwar in unzähligen Flussschleifen. Schon die alten Griechen fanden das so charakteristisch, dass sie auch die gewundenen Schleifen anderer Flüsse als maiandros bezeichneten. Daran anknüpfend übertrug man diese Bezeichnung kurzerhand auf kurvenreich verschlungene Muster, zum Beispiel auf Mosaiken, Keramik oder Textilien, und später bildhaft auf alles Gewundene – auch ausschweifende Texte wie diesen hier. Am Ende floss das Wort – wie viele andere – lautlich kaum verändert übers Lateinische ins Deutsche. Und damit endet unsere erste Schleife. Sie sehen: Dieses Buch mäandert.

Auf den folgenden Seiten möchte ich zusammen mit Ihnen diesen Schleifen flussaufwärts bis zu den äußersten, gerade noch erkennbaren Quellrinnsalen nachgehen. Bis wohin können wir den Fluss der Wörter verfolgen? Wo fangen sie an? Gibt es einen Urquell? Oder werden wir irgendwo unvermittelt auf Grund laufen, weil sich kein weiterer »etymologischer« Wort-Urahn mehr auftreiben lässt? Was bitte ist überhaupt ein etymologischer Urahn? – Geduld. Es geht um die Herkunft und Geschichte unserer Sprache, unserer Wörter: eine Art Krimi, ein Detektivspiel, dessen Auflösung ungewiss ist, weil die Tatverdächtigen sich im Dunkel der Jahrhunderte versteckt halten, die hinter uns und der heutigen deutschen Sprache liegen. Unser Ziel ist die Etymologie (noch so ein Wort griechischer Herkunft): Wir wollen wissen, wo bestimmte Wörter herkommen, was sie im Gepäck führen und oft unerkannt über Sprachgrenzen hinweg in andere Sprachen einschmuggeln. Vergleichen wir diese Wortgeschichten miteinander, weisen sie uns häufig auf Regelmäßigkeiten hin, die uns unerwartet viel über unser Sprachsystem verraten.

Um hinter den einzelnen Entwicklungen dieses versteckte System zu entdecken, brauchen wir ein wenig sprachgeschichtliches Werkzeug: Wie nennen sich die groben Abschnitte unserer Flussbiegungen und wie verändern sie die hindurchfließende Sprache, bis sie so ist, wie wir sie heute kennen? Um dabei die Gegenwart nie aus den Augen zu verlieren, rudern wir in der Zeit rückwärts. Das heißt, ich erzähle Ihnen die kleine Sprachgeschichte, die jetzt folgt, von heute aus in umgekehrter Fließrichtung. Und los geht’s!

3
Was Sie schon immer über die deutsche Sprache wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten …

Die deutsche Sprache ist gar nicht so alt, wie man denken möchte – und gleichzeitig viel älter! Woher kommt dieser Widerspruch? Es gab schon vor langer Zeit eine Sprachform, die aus wissenschaftlicher Sicht hinreichende Ähnlichkeiten aufweist, um als Vorstufe unserer Sprache gelten zu dürfen – das Deutsche ist demnach gut 1500 Jahre alt. Wenn wir aber fragen, seit wann Deutsch so klingt, wie wir es kennen, schrumpft die Zeitspanne schnell auf einen Bruchteil davon zusammen. Unser heutiges Deutsch (das sogenannte NEUHOCHDEUTSCH) gibt es erst seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Seither bildet es eine mehr oder weniger einheitliche Standardsprache. Das war nicht immer so. Lange Zeit gab es große dialektale Unterschiede, die sich allerdings schon zur Zeit des sogenannten FRÜHNEUHOCHDEUTSCHEN (1350  1650) in Drucken und Briefen etwas angeglichen hatten – sonst wäre damals eine Verständigung über größere Distanzen hinweg schwierig gewesen. Von Angesicht zu Angesicht wurde dagegen weiterhin Dialekt benutzt.

In diese Epoche fallen die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern (ca. 1450), die »Entdeckung« Amerikas durch Christoph Kolumbus (1492), die Reformation (ab 1517) samt der Bibelübersetzung Martin Luthers (1534) und der Dreißigjährige Krieg (1618  1648), jener historische Einschnitt, mit dem eine nicht nur sprachgeschichtlich umwälzende Zeit endet.

Abb. 1: Sprachstufen des Deutschen.2*

Noch im Boot? Die erste Schleife haben wir jetzt hinter uns. Flusstechnisch gesprochen »oberhalb« des Frühneuhochdeutschen gelangen wir ins Hoch- und Spätmittelalter, eine Epoche, in der unsere Vorfahren3* MITTELHOCHDEUTSCH (1050  1350) sprachen – und dichteten: Under der linden / an der heide, / dâ unser zweier bette was … (›Unter der Linde auf der Heide, wo wir unser Bett hatten‹) beginnt eines der bekanntesten Gedichte aus dieser Zeit.1 Es stammt von Walther von der Vogelweide und ist Ihnen vielleicht noch aus dem Deutschunterricht vertraut. Auch das Nibelungenlied entspringt dieser Epoche. Und was war sonst los? Man begab sich auf Kreuzzüge (ab 1096) – aus heutiger Sicht recht unchristlich – und widmete sich bei Hofe dem schwärmerischen Minnesang. Politisch waren Kaiser wie Heinrich IV. an der Macht (*1050  †1106), der in Canossa etwas mit dem Papst zu klären hatte, und Friedrich I. Barbarossa (*1122  †1190), den man jahrhundertelang schlafend im Kyffhäuser vermutete und im 19. Jahrhundert zum Nationalmythos ausbaute.

Nicht nur politisch und gesellschaftlich war es ein spannungsreiches Zeitalter, auch in unserer Sprache hat sich Dramatisches ereignet. Die wohl folgenreichste mittelhochdeutsche Neuerung, die bis heute Wellen im Sprachsystem schlägt, war die »Nebensilbenabschwächung«. Sie wird uns im weiteren Verlauf immer wieder begegnen. Die Vokale, die zentralen, selbstlautenden Klangelemente, wurden in allen unbetonten Silben vereinheitlicht und damit vereinfacht. Mundfaul, wie man war, sprach man nun Wörter wie giboran oder apful viel relaxter aus: geboren und apfel. Das war keinem kaiserlichen Erlass geschuldet, sondern eine kaum merkliche Entwicklung, die ganz unbeachtet vor sich ging und den Sprecherinnen selbst wohl überhaupt nicht bewusst war.

Damit haben wir eine weitere Schleife hinter uns: Ein kurzer Blick auf die Karte verrät, dass wir uns mittlerweile im ALTHOCHDEUTSCHEN (500  1050) befinden. Wir haben die älteste deutsche Sprachperiode erreicht, in die unter anderem die Regierungszeit Karls des Großen (800  814 als Kaiser) fällt. Aus dieser Ära, dem Frühmittelalter, sind nur wenige schriftliche Quellen überliefert. Damals war Latein die vorherrschende Schriftsprache. Zuerst zaghaft, dann immer mutiger begann man, auch deutsche Dialekte aufzuschreiben. Hierzu griff man, da es keine ernstzunehmende Alternative gab, auf das lateinische Alphabet zurück. Besonders gut eignete es sich allerdings nicht: Auf der einen Seite besaß es Buchstaben, die man im Deutschen gar nicht brauchte (zum Beispiel <q> und <x>), andererseits fehlte für viele Laute ein entsprechendes Zeichen. Man behalf sich, indem man bestehende lateinische Buchstaben kombinierte, wie in <ch> oder <ph> (für pf). Oder man wandelte die Buchstaben nach und nach ab, wodurch Jahrhunderte später aus <a> und <e> das <ä> entstand. Eine Ahnung davon, mit welchen Schwierigkeiten die Schreiberinnen zu kämpfen hatten, als sie die ersten deutschen Texte niederzuschreiben versuchten, bekommen Sie, wenn Sie einmal selbst probieren, einen deutschen Dialekt aufzuschreiben – wie Ernst Jandl das in seinen »stanzen« getan hat:

zu nutz und frommen

jo brauch ma dn de germanistn?

jo de brauch ma, du suamm.

waun de ned umgromm und umgromm und umgromm duan

daun is füü, wos ma gschriamm hom, fiar olle zeit gschduamm2

Vom heutigen Bairisch-Österreichischen zurück in die althochdeutsche Zeit: Bei der schriftlichen Übermacht des Lateinischen nimmt es wenig wunder, dass das erste erhaltene deutschsprachige Buch – es entsteht Mitte des 8. Jahrhunderts – ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch ist. Es heißt »Abrogans«, zu deutsch ›demütig‹, nach dem ersten darin aufgeführten lateinischen Wort. Das stammt aus dem Wortschatz des damals aufkommenden Christentums und wird als dheomodi ins Althochdeutsche übersetzt.3 Aus diesem Bereich erhielten noch viele weitere Wörter neue Entsprechungen. So sah man zum Beispiel, dass rēgnum caelōrum wörtlich ›Reich der Himmel‹ bedeutete, und ahmte das im Deutschen als himilrīhhi, also Himmelreich nach. Das schon vorhandene germanische Totenreich hella deutete man kurzerhand zur christlichen ›Hölle‹ um.

Wir besitzen aus dieser Zeit viele kurze Texte, etwa die berühmten Merseburger Zaubersprüche, deren zweiter zur Pferdeheilung diente. Er beginnt:

Phôl ende Uodan uorun zi holza

du uuart demo Balderes uolon sîn uoz birenkit4

›Phol und Wotan ritten in den Wald, da verrenkte sich Balders Fohlen den Fuß‹

Pergament war kostbar, und so finden sich diese heidnischen Sprüche auf einer frei gebliebenen Seite einer geistlichen Sammelhandschrift. Ganz ähnlich erging es dem Hildebrandslied, einem Fragment des ältesten erhaltenen deutschen (und germanischen) Heldenlieds. Seine Verse wurden nachträglich auf der ersten und der letzten Seite einer christlichen Handschrift verewigt. Über 68 stabreimende Verse hinweg stehen sich Vater und Sohn in kriegerischer Auseinandersetzung gegenüber. Es kommt zwischen den beiden zum Duell, dann bricht der Text – wohl aus Platzgründen – am Ende der letzten Seite unvermittelt ab: ein Cliffhanger.

Doch das Althochdeutsche ist nicht deshalb die älteste Form des Deutschen, weil wir hier erstmals Schriftzeugnisse besitzen. Es hat sich vielmehr aus den westgermanischen Dialekten herausgelöst, weil es im Gegensatz zu seinen Schwestersprachen eine alles entscheidende sprachliche Veränderung mitgemacht hat: die sogenannte »Zweite (oder hochdeutsche) Lautverschiebung«. Die Bezeichnung mag recht akademisch klingen, dahinter stecken jedoch lautliche Veränderungen, die uns bis heute alltäglich begegnen: So fährt im Deutschen ein Schiff den Sprachfluss hinauf, im Englischen hingegen »noch« ein ship – denn das germanische p, in der Schwestersprache Englisch weiterhin erhalten, hat sich zu althochdeutsch f »verschoben«. Vergleichen Sie einmal englische und deutsche Wörter, die einander verdächtig ähneln. Sie werden darunter rasch einige finden, die im Deutschen schon die neuen, im Englischen noch die alten Laute zeigen:

Pfanne Schiff Herz Straße machen Tür
pan ship heart street make door

Warum ist diese zweite Lautverschiebung für die Etymologie so wichtig? Weil wir so herausfinden, welche Wörter verwandt sind und welche nicht: Da die zweite Lautverschiebung die westgermanischen Wörter »entstellt« und verfremdet hat, müssen wir sie nun auf unserem Weg zu ihren sprachlichen Quellen gleichsam rückgängig machen.

Rudern wir in der Sprachgeschichte noch weiter zurück, haben wir mit niedrigem Wasserstand zu kämpfen: Schriftzeugnisse gibt es so gut wie keine mehr, abgesehen von einzelnen Wörtern und einigen kurzen Runeninschriften. Das »Goldhorn von Gallehus«, grob 400 nach Christus, trägt zum Beispiel die nur wenig informative Runeninschrift Ek HlewagastiR holtijaR horna tawido. Übersetzt bedeutet das ›ich, Lebgast, Sohn des Holt, machte das Horn‹.5 Sogar über diese frühere Sprachstufe, das WESTGERMANISCHE (200  500), können wir noch recht sichere Aussagen treffen, sobald wir andere Sprachen zum Vergleich heranziehen. Es ging aus dem Germanischen hervor und hat, das legt schon der Namensbestandteil West- nahe, einen ostgermanischen Nebenfluss, auf dem die Goten unterwegs waren. Das Gotische ist also eine »Tante« des Deutschen, Englischen und Niederländischen, die wiederum »Töchter« des (schriftlich leider nicht überlieferten) Westgermanischen sind. Im gemeinsamen Gruppenbild verschafft uns diese Verwandtschaft eine überraschend deutliche Ahnung davon, wie das Westgermanische einmal ausgesehen haben kann. Das zeigt uns der Beginn des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, Ein Mann hatte zwei Söhne:6

Ostgermanisch Gotisch (4. Jh.): manne sums aihta twans sunuus
Westgermanisch Althochdeutsch (um 830): sum man habata zuuene suni
Mittelniederdeutsch (um 1480): een man hadde twe sone
Altenglisch (um 990): soðlice sum man hæfde twegen suna

Die Goten versetzten während der Völkerwanderung durch zahllose kriegerische Auseinandersetzungen mit den Römern die damalige Welt in Aufregung, unter anderem plünderten sie im Jahr 410 Rom. Etwas friedlicher verhielt sich der gotische Bischof Wulfila, der die Herkulesarbeit auf sich nahm, die Bibel ins Gotische zu übertragen, und dafür eine eigene Schrift auf der Grundlage des griechischen Alphabets austüftelte. Wir kennen von seiner Übersetzung nur einen Teil des Neuen Testaments, aber schon der verschafft uns einen ziemlich guten Überblick über die gotische Sprache. Atta unsar thu in himinam / weihnai namo thein,7 beginnt das gotische Vaterunser, und wenn Sie sich die Passage ein paarmal vorsprechen, dann klingt das eine oder andere Wort darin doch erstaunlich vertraut!

Rudern wir noch weiter zurück, so stoßen wir auf ernsthafte Untiefen der Sprachgeschichte. Im 1. Jahrtausend vor Christus setzte sich das GERMANISCHE durch eine »Erste Lautverschiebung« von den früheren indogermanischen Sprachen, zum Beispiel dem Lateinischen, ab – so wie sich das Althochdeutsche gut tausend Jahre später durch die zweite Lautverschiebung von den übrigen germanischen Sprachen abgrenzte. Und schon damals traf es die Laute p, t und k. Sie wurden nach und nach zu f, th (wie in engl. thorn) und ch, sodass der lateinische pater (ohne erste Lautverschiebung) sich dem englischen father (mit erster Lautverschiebung) plötzlich ein wenig entfremdet sah, obwohl sie einen gemeinsamen Ahnen, eine gemeinsame Wurzel haben: *pətér. Das bedeutet, wenn wir die Verwandtschaft neuhochdeutscher mit lateinischen Wörtern untersuchen wollen, müssen wir beide Lautverschiebungen berücksichtigen: Zuerst müssen wir die zweite Lautverschiebung rückwärts durchschwimmen, dann die erste – und erst danach können wir sehen, ob die betroffenen Laute identisch und die Wörter also verwandt sind.

Nun aber nähern wir uns dem eigentlichen Quellgebiet: Die älteste noch erschließbare Vorstufe des Deutschen ist das INDOGERMANISCHE – wir befinden uns im 5. bis 1. Jahrtausend vor Christus. Was hier aus dem Felsen einer unzugänglichen Vorzeit sickert, sind vermutete Formen der ältesten Verwandten in unserem Sprachenstammbaum. Neben den germanischen Sprachen hat das Indogermanische auch alle anderen nach ihm benannten »indogermanischen Sprachen« hervorgebracht, und das sind eine ganze Menge: die romanischen Sprachen (z. B. Französisch, Italienisch), die slawischen (z. B. Russisch), die keltischen (z. B. Walisisch), das Griechische, die indoiranischen Sprachen (z. B. Hindi, Kurdisch, Persisch) und viele, viele mehr. Und den meisten dieser Sprachzweige werden wir auf unserer Flussfahrt noch einmal begegnen.

4
Reiseproviant und Schwimmwesten

Die »Etymologie« eines Wortes ist seine Herkunft, seine Lebensgeschichte: Wie hat es sich von seiner Entstehung bis heute äußerlich (in seiner lautlichen Form) und innerlich (in seiner Bedeutung) verändert? Wie hörte sich zum Beispiel das Wort Gewehr im Althochdeutschen an? Es klang fast wie heute: giwer sagten die Leute, das w erinnerte ans englische water oder we, das r war wohl gerollt, wie heute noch im ostfränkischen Dialekt.


INFOBOX
SPRECHEN UND SCHREIBEN

Die historische Sprachwissenschaft ist auf Geschriebenes angewiesen – wie sonst könnten wir etwas über den Sprachgebrauch vor Hunderten von Jahren erfahren? Das Problem dabei: Schreibung ist gegenüber gesprochener Sprache zweitrangig. Gesprochen wurde auf der Welt schon lange, bevor man sich Zeichensysteme überlegte, mit denen sich die flüchtige Sprache festhalten ließ. Die Schrift bildet ab, gibt eine Vorlage wieder – ähnlich wie ein gegenständliches Gemälde. Und ähnlich wie ein Gemälde ist sie dabei gelegentlich ungenau: Es wäre unpraktisch, jede Farbschattierung anzurühren, manchmal muss abstrahiert werden. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass jeder Laut seinen eigenen Buchstaben besitzt. Ähnlich wie die Malerei unterliegt die Schrift Konventionen, die sich herausbilden und verändern: Buchstaben, die wir heute benutzen, könnten daher im Alt- oder Mittelhochdeutschen andere Lautwerte symbolisiert haben.

Wenn wir also von den Texten älterer Sprachstufen zu plausiblen Vermutungen über ihren Klang gelangen wollen, sollten wir in ihnen weniger Fenster zur damaligen Sprache sehen, sondern vielmehr Gemälde, die wir sorgfältig vergleichen und interpretieren müssen.

Weil Sprache in der Schrift sichtbar wird, sind wir versucht, beides gleichzusetzen und die Schrift für maßgebend zu halten. Wir bezeichnen dann eine Schreibung wie <laufte> statt <lief> als »Rechtschreibfehler« – in Wirklichkeit bildet die Schrift hier die dahinter stehende Grammatik ab. Die Stelle auf dem Gemälde wurde nicht einfach überpinselt, sondern das Gemälde wurde verändert, um eine sich verändernde Sprache abzubilden.

Da uns zur Untersuchung von Sprachwandel als Material nur Buchstaben zur Verfügung stehen, schließen wir von ihnen zuerst auf die abgebildeten Laute und untersuchen, wie diese sich verhalten haben.


Und was bedeutete giwer genau? Unsere heutige Bedeutung ›Handfeuerwaffe‹ wird recht unwahrscheinlich, wenn man sich das Waffenarsenal Karls des Großen und seiner Zeitgenossen ansieht. Das Wort giwer gehörte zwar auch damals in einen militärischen Kontext – doch hier enden die Gemeinsamkeiten. Seine althochdeutsche Bedeutung war ›Kampf, Aufstand‹. Nun spielte sich in den Köpfen nach und nach ein unsichtbarer Veränderungsprozess ab: Gewehr meinte immer weniger die Kampfsituation und zunehmend das in ihr benutzte Kampfinstrument. Schließlich ging die frühere Bedeutung ganz verloren, und man gebrauchte es nur noch im Sinne von ›Waffe‹. Im 18. Jahrhundert schließlich verlegte man sich vom Hauen und Stechen auf das Schießen. Unser Wort spezialisierte sich in dieser Zeit immer mehr auf Handfeuerwaffen. So kommt uns die Zusammensetzung Schießgewehr heute doppelt gemoppelt vor, in ihrer Anfangszeit diente sie jedoch der Unterscheidung von anderen Waffen.

Wenn wir gegen den Wasserlauf eines Wortes anrudern, um seine früheren Bedeutungen und Laute herauszufischen, besteht die Gefahr, dass wir uns in Nebenarme oder gefährliche Strudel verirren oder auf Felsen aufsitzen, von denen wir nicht mehr wegkommen. Gegen diese Gefahren sollten wir uns vorsorglich wappnen.

Nicht so geil:
Der etymologische Fehlschluss

Die größte Gefahr, die beim Rudern stromaufwärts auf uns lauert, besteht darin, alte Formen und Bedeutungen von Wörtern über neuere Entwicklungen zu stellen. Dabei sind sie eben das – alt. So wurden sie einmal verwendet. Dass eine Bedeutung älter ist, macht sie aber nicht »wahrer«. Wer mit Gewehr eine Handfeuerwaffe bezeichnet, begeht keinen Fehler, niemand würde sagen: »Ey, kannst du kein Deutsch, das Wort heißt doch ›Krieg‹!«.

Sehen wir uns dagegen Wörter an, deren Bedeutung sich erst kürzlich gewandelt hat, stoßen wir auf richtig geile Beispiele. Ja: geil ist so ein Wort. Heute bedeutet es für viele Sprecher lediglich ›toll‹, während bis vor kurzem nur die heute noch immer vorhandene Zweitbedeutung ›sexuell erregt/erregend‹ möglich war. Wer partout an dieser festhält, weil er darin die »echte« Bedeutung des Wortes sieht, und behauptet: »Ein Smartphone kann nicht geil sein«1, begeht einen etymologischen Fehlschluss. Eine Wortbedeutung hängt immer von der Zeit ab, in der sie verwendet wird.

geil hat eine lange Bedeutungsgeschichte hinter sich, von der wir uns nur die letzten sechshundert Jahre anzusehen brauchen: In der frühneuhochdeutschen Zeit und darüber hinaus bis ins 19. Jahrhundert bedeutete es ›übermütig, lustig, fröhlich‹. Die damaligen Lexikografinnen waren noch nicht sonderlich um Objektivität bekümmert, und so bemerkte das zeitgenössische Deutsche Wörterbuch in Anbetracht der begrifflichen Sexualisierung:

der ursprüngliche harmlose begriff fröhlich, lustig, besonders aus der maszen lustig, der so entarten sollte, tritt noch [neuhochdeutsch] deutlich auf.2

Darin zeichnet sich die weitere Entwicklung bereits ab: Wahrscheinlich aus euphemistischem Sprachgebrauch heraus, in dem Bemühen, einen gesellschaftlichen Tabubereich durch Naturvergleiche zu entschärfen, entstand die Nebenbedeutung ›sexuell erregt / begierig‹: Man sagte, jemand sei ›übermütig‹, um den wahren Charakter der Erregung nicht direkt ansprechen zu müssen. Wie Sie sich denken können, machen wir von solchen Strategien noch heute ausgiebig Gebrauch – wir kommen später darauf zurück.

Selbst das Wort Etymologie trägt einen etymologischen Fehlschluss in sich: Der griechische Begriff etymología ist wörtlich die ›Lehre vom Wahren‹. Dahinter steckt tatsächlich der Gedanke, dass das wahre Wesen einer Sache sich durch die ursprüngliche Bedeutung ihrer Bezeichnung erfassen lässt. Die moderne Etymologie hat diesen historischen Ballast abgeworfen und versteht sich als ›Lehre und Erforschung der Wortherkunft und -entwicklung‹.


INFOBOX
SPRACHWISSENSCHAFTLICHE KONVENTIONEN

In der Sprachwissenschaft spricht man mit Sprache über Sprache. Um Verwechslungen zu vermeiden, hebt man daher ein Wort, das den Untersuchungsgegenstand darstellt, hervor, zum Beispiel durch Kursivschrift:

(1) Die Chefin schreibt Briefe.

(2) Die Chefin schreibt Briefe.

Im ersten Satz beschreibt die Chefin Blätter, faltet sie zusammen und steckt sie in einen Briefumschlag: Sie schreibt Briefe. Im zweiten schreibt sie das Wort Briefe (vielleicht in ihren Terminkalender oder in die Betreffzeile einer E-Mail): Was dabei entsteht, ist kein Brief, sondern ein Wort. Im Alltag kommt es sehr selten zu Verwechslungen – in der Wissenschaft riskieren wir das lieber nicht und setzen solche »objektsprachlichen« Verwendungen daher kursiv. Wir unterscheiden außerdem, ob wir über die konkrete Wortform oder über die Bedeutung (Semantik) eines Wortes sprechen:

(3) Das englische Wort letter ›Brief, Buchstabe‹ stammt von …

Während man das Wort, um das es geht, kursiv schreibt (letter), stehen seine Bedeutungen in einfachen Anführungszeichen (›Brief, Buchstabe‹).


Ursprünge, die keine sind

»Ursprüngliche Bedeutung« – da sind wir schon an der zweiten Gefahrenstelle: Oft sagen wir, auch in diesem Buch, dass etwas »ursprünglich« das und das bedeutet habe. Da die Ursprünge unserer Sprache – und erst recht der Ursprung der menschlichen Sprachfähigkeit – sich unserer Beobachtung entziehen, ist »ursprünglich« ein gefährliches Wort. Wir verwenden es fast immer im Sinne von ›früher‹, denn nur in seltenen Fällen bekommen wir den Ursprung eines Wortes wirklich zu greifen – zum Beispiel bei neueren Bildungen wie Atommüll oder googeln.

Um bei unserem übermütigen Beispiel zu bleiben: Wir können geil ins Mittelhochdeutsche zurückverfolgen, wo es in der Bedeutung ›mutwillig, üppig, begierig‹ gebraucht wurde – ursprünglich ist auch sie nicht, denn schon im Althochdeutschen gab es das Wort für ›übermütig, überheblich, lustig, erhoben‹. Da sich auch in anderen germanischen Sprachen verwandte Wörter finden, die nicht als Entlehnungen zu erklären sind, muss bereits in germanischer Zeit eine Vorform gebraucht worden sein. Spätestens an dieser Stromschnelle wird es schwierig, die – notorisch instabile – Bedeutung zu ermitteln. Wenn das althochdeutsche Wort ›übermütig, überheblich, lustig, erhoben‹ hieß, in Schwestersprachen wie dem Altsächsischen4* ›fröhlich, übermütig‹, im Mittelniederländischen ›fröhlich, üppig, lüstern‹ und im Altenglischen ›lustig, lüstern, stolz‹ bedeutete, was war dann seine germanische Bedeutung? Und wenn wir noch weiter zurückrudern und nach seiner indogermanischen Quelle suchen, müssen wir auch das litauische gailùs mit der Bedeutung ›scharf, beißend, bitter, kläglich‹ und das altslawische ělo ›sehr‹ berücksichtigen.

Wie lassen sich all diese Bedeutungen unter einen Hut bringen? Man vermutet, dass die indogermanische Form *ghoilos lautete und ›aufschäumend, heftig, übermütig, ausgelassen, lustig‹ bedeutete – aber sicher ist das nicht. Die späteren unterschiedlichen Bedeutungen ›lüstern‹, ›überheblich‹, ›beißend‹ und ›sehr‹ lassen sich daraus aber plausibel herleiten: Von ›heftig‹ zu ›sehr‹ ist es nicht weit, in beiden steckt ›intensiv‹, auch von ›übermütig‹ zu ›überheblich‹ kommt man leicht, und so weiter. Doch wären auch andere Wege vorstellbar: Möglicherweise gehört die Vorform von geil stattdessen zu einer Wurzel mit der Bedeutung ›verlangend, begehrend‹.

Spätestens hier müssen wir die Suche nach der »ursprünglichen« Form und ihrer Bedeutung aufgeben. Das Indogermanische ist nämlich bei weitem nicht die älteste Sprachstufe, die es gibt – es ist nur die älteste, die wir mit den Mitteln der Rekonstruktion noch einigermaßen greifen können. Die Ursprünge der Sprache liegen im Dunkeln – man weiß nicht einmal, ob die Sprachen der Welt auf eine gemeinsame Ursprache zurückgehen oder ob, wie und wann Sprache womöglich mehrfach erfunden wurde.5*

Quellen:
Rekonstruktion des Unbekannten

Damit haben wir schon zwei riskante Klippen umschifft: Älter ist nicht wahrer, und sprachliche Ursprünge liegen im Verborgenen. Wenn wir uns das vor Augen halten, kann uns nicht mehr viel passieren. Nun haben wir ja eine Schusswaffe an Bord, unser Gewehr von vorhin (keine Angst, es ist nicht geladen) – und das wirft einige Fragen auf: Woher wissen wir eigentlich, wie das Wort im Althochdeutschen klang – und was es bedeutete? Das ist gar nicht so schwer: Wir haben schriftliche Quellen. Wie es ausgesprochen wurde, kann man ungefähr aus der Schreibweise ersehen und daraus, auf welche Wörter es gereimt wurde – was es bedeutete, erschließt sich aus dem Kontext, in dem es uns begegnet. So schreibt Otfrid von Weißenburg im 9. Jahrhundert:

… Ther ana scílt inti ana spér / so fram firlíafi in thaz giwér,

in githréngi so ginóto sinero fíanto.

›… der [d. i. Petrus] ohne Schild und Speer sich so entschlossen ins Kampfgetümmel stürzte, so ungestüm mitten unter seine Feinde‹3

Sie sehen: die Bedeutung ›Waffe‹ kann hier schwerlich zutreffen, denn in eine Waffe wird Petrus sich ja kaum stürzen – es muss um den Kampf als solchen gehen.

Der Bedeutung eines Wortes in einem Text, der aus dem Lateinischen ins Althochdeutsche übersetzt wurde, kommt man auch über das lateinische Original näher. Bei der Bedeutungsermittlung helfen außerdem Glossen (von mittellateinisch glōssa ›Erklärung‹, hervorgegangen aus der früheren Bedeutung ›erklärungsbedürftiges Wort‹) und sogenannte Interlinearübersetzungen in lateinischen Texten: Genauso, wie Schulkinder noch heute mit Bleistift die deutschen Bedeutungen über englische Wörter notieren, tat man das auch zu alt- und mittelhochdeutscher Zeit in lateinischen Manuskripten. Den Bleistift gab’s noch nicht, dafür schrieb man dünn mit Tinte (Federglosse) oder ritzte nur mit einem Griffel ins Pergament, der Schattenwurf machte das Wort dann lesbar (Griffelglosse). Später sammelte man solche Übersetzungen in »Vokabelheften«, den Glossaren.

Abb. 2: Glosse aus der lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel (Cod. Sang. 916), einer schriftlichen Niederlegung der Lebensregeln im Benediktinerorden. Das lateinische lingu(ā) ist mit althochdeutsch zungun ›Zunge‹ überschrieben.4

Nun haben wir für das Deutsche und seine Vorstufen erst ab Mitte des 8. Jahrhunderts schriftliche Quellen. Wenn Sie wissen wollen, wie Wörter davor beschaffen waren, bedienen Sie sich der »historisch-vergleichenden« Methode: Sie sehen sich dazu vor allem die »Lautgesetze« an, die regelhaften lautlichen Veränderungen im Wortschatz verschiedener Sprachen. Zweien davon haben wir bereits flüchtig die Hände geschüttelt (der ersten und zweiten Lautverschiebung) – wir werden sie noch genauer kennenlernen. Mit diesem Wissen über lautliche Veränderungen können wir plausible Vermutungen darüber aufstellen, welche Laute eine vorhergehende, nicht überlieferte Sprachstufe besessen haben muss und wie diese sich zu Wörtern zusammenfügten. Durch Vergleich der belegten Wörter können wir auch Aussagen über ihre früheren Bedeutungen treffen, wie bei geil. Dieses Vorgehen heißt in der Linguistik »Rekonstruktion«. Nun aber drängt sich die Frage auf: Wie und warum verändern die Bedeutungen von Wörtern sich überhaupt?

Warum ein Braunbär doppelt braun ist:
Von Tabus und Metaphern

Es ist weitaus kniffliger, der Veränderung einer Wortbedeutung auf die Spur zu kommen als der Veränderung von Lauten. Warum? Weil Wortbedeutungen sich viel individueller wandeln. Nehmen Sie zum Beispiel die Körperteile Kopf, Fuß und Bein. Das mittelhochdeutsche Wort houbet bedeutete ›Kopf‹ und wird heute, kaum verändert, Haupt ausgesprochen. Mittlerweile bezeichnet es einen Kopf aber nur noch in stilistisch gehobenen Kontexten: sein Haupt betten, erhobenen Hauptes, weißes Haupt – wenn Sie zu Hause sagen Ich habe mir das Haupt angestoßen, erzeugen Sie hingegen einen komischen Effekt.5 Das Wort bezieht sich zwar noch auf denselben Körperteil, hat aber seine Bedeutung verändert. Doch nicht alle Bezeichnungen für Körperteile werden runderneuert und erleben beim Veralten eine stilistische Aufwertung: Das mittelhochdeutsche vuoz bedeutete ›Fuß, Sockel‹, und das ist auch heute bei Fuß noch so, das Wort ist also im Gegensatz zu Haupt nicht in einen gehobenen Sprachgebrauch übergegangen. Das mittelhochdeutsche bein hieß ›Bein, Knochen‹ – die zweite Bedeutung ist heute fast ganz verloren (wir finden sie noch in Wörtern wie Gebeine, entbeinen ›Knochen aus Fleisch entfernen‹, Joch- oder Elfenbein). Drei Körperteile, drei eigenständige Entwicklungspfade. Daraus nun Gesetzmäßigkeiten für den Gesamtwortschatz abzuleiten, ist so gut wie unmöglich. Bestenfalls lassen sich in einigen Gruppen von Wörtern ähnliche Entwicklungen beobachten – einige überraschende Beispiele dafür werden uns noch begegnen.

Wie aber kommt es zum Bedeutungswandel? Warum verändert sich, worauf ein Wort Bezug nimmt? Die einfache Antwort: Weil wir Wörter ständig in neuen Zusammenhängen verwenden. »Bedeutung« ist fossilierter Sprachgebrauch. Ein neuer Gebrauchskontext kann schon entstehen, wenn das zugehörige Ding sich verändert: Unser Hammer war einmal ein ›Felsen, Stein‹, so wie er im norwegischen Lillehammer (also einmal wörtlich ›Klein Stein‹) eingeschlossen ist – man hämmerte einst mit Steinen. Die Bezeichnung blieb, als man Hämmer aus anderen Materialien herzustellen begann. Ein weiteres Beispiel dafür ist unser Gewehr, bei dem das Wort für die Hieb- und Stichwaffe auf die Schusswaffe übersprang, als diese mehr und mehr eingesetzt wurde.

Bedeutungswandel lauert auch überall dort, wo ein tabuisierter Gegenstand nicht direkt angesprochen werden soll. Der Euphemismus – eine Art von sprachlicher Schönfärberei – ist uns bereits begegnet, er tritt besonders in gesellschaftlichen Tabubereichen auf. Der Tod ist so einer. Für ›sterben‹ kennen wir eine Vielzahl von Umschreibungen dahinscheiden, das Zeitliche segnen, entschlafen und von uns gehen  die alle das Eigentliche verhüllen. Auch die Wörter Toilette, WC und Klo waren einmal euphemistisch motiviert, sie bezeichneten nicht die Vorrichtung zum Austreten, sondern ganz harmlos einen Raum zur Körperpflege (noch heute heißt Toilette machen gehoben ›sich ankleiden, sich zurechtmachen‹) oder einen Waschraum (WC von englisch water closet/Wasserklosett, also ein geschlossener Wasserraum, und Klo ist sein Kurzwort). Mittlerweile bezeichnen diese ehemaligen Umschreibungen die Sache selbst und müssen gelegentlich ihrerseits vermieden werden – man geht mal kurz wohin, sucht das Örtchen auf oder muss mal.

Manches Tabu hat sich hingegen erledigt. Benutzt man heute scherzhaft die Wendung Wenn man vom Teufel spricht, denkt niemand, er habe tatsächlich jemanden »herbeigeredet«. Zu germanischer Zeit galt die schiere Erwähnung böser Geister als sicheres Mittel, Unheil zu beschwören. Man glaubte an »Wortmagie«: Sache und Benennung waren eins. Das erklärt auch das Tabu, das damals auf dem Wort für ›Bär‹ lastete, das im Indogermanischen *ksos gelautet haben muss. In zahlreichen Sprachen begann man, sich sprachlich vor seinem womöglich realen und potenziell fatalen Auftauchen zu schützen: Während das griechische árktos und das lateinische ursusberan-medvéd’Medwedewmelfochynlokyslācis   Meister PetzTeddy, Zotteltier