Michael Wildenhain

Das Lächeln
der Alligatoren

Roman

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung folgender Fotos: GALLERY STOCK

© McKennedy (Junge Frau mit Möwe),

plainpicture/Marie Docher (Zwei Personen im Wasser)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93973-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10775-3

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Es sind die Faulen und Unfähigen,
die die Welt als Chaos erleben.

– Per Olov Enquist

Als ich neben meinem toten Vater stehe und mir die Stille nach dem Schlag der Haustür bewusst wird, schließe ich die Augen.

In dem Gefühl, was mir passiere, geschehe nicht wirklich, wie taub, als sei ich nicht nur ohne Gehör, sondern auch ohne Geschmacks- oder Geruchssinn und gleite durch eine Welt aus Watte, taste ich mich vor bis zum Schreibtisch und setze mich in den Armstuhl.

Sobald ich die Augen öffne, wird der Fleck neben dem Haar meines Vaters schwarz wirken, die Lache auf dem Parkettfußboden seines Arbeitszimmers im geringen Licht der Straßenbeleuchtung glänzen.

Erneut sehe ich die Bewegung der Lippen, als ihm die Waffe an den Kopf gesetzt wird.

»Das ist für dich, du Schwein.«

TEIL I

der Junge

Als der Junge ihr das nächste Mal begegnet, spät nachmittags am Strand bei ablaufendem Wasser, trägt er vorsorglich das Fernglas des Vermieters bei sich. Befestigt an einem Lederriemen hängt es ihm seitlich um Schulter und Hals.

Niemand weiß, dass er sich davongeschlichen hat.

Davongestohlen, denkt er, aber es kümmert ihn nicht. Keiner ahnt, dass er in den Dünen darauf hofft, sie in der Anlage beobachten zu können.

Wenn sie vor die Tür tritt, um zu rauchen.

Und wie sie dann im Rahmen lehnt, unter dem Sturz, ein Wort seines Vaters, an den er sich kaum erinnert, um auf ihre Freundin zu warten.

Dort lehnt, sobald ihre Schicht beendet ist. Lässig und als ahne sie, dass der Junge in seinem Versteck ausharrt, bis ihre Arbeit endet. Eine Arbeit, die keine richtige Arbeit ist, die sie nur während der Ferien verrichtet – mit Peggy.

Sowie mit einigen anderen, immer im Wechsel, jeden Tag: die Aufsicht über den Bruder und dessen seltsame Gefährten in Haus vier.

Warum bin ich nicht erwachsen, denkt der Junge. Oder wenigstens sechzehn.

Drei Jahre ist sie älter als er, drei Jahre und zwei Monate, gestern hat sie ihren Geburtstag gefeiert, mit ihrer Freundin, den achtzehnten, beide betrunken und nackt.

Niemand wird ihn hier bemerken, schon gar nicht seine Mutter, keinem wird seine Abwesenheit im Urlaubsquartier auffallen. Denn seine Mutter, die in der Unterkunft schläft, die beinahe immer schläft, seit sie hier eingetroffen sind, seine Mutter wähnt ihn in der verbilligten Vorstellung des Zirkus oben im Ort.

Zirkus, denkt der Junge, Kinderkacke. Wär was für meinen Bruder. Wenn er nicht so wäre wie alle in Haus vier.

Der Junge schluckt trocken. Spürt das ungute Gefühl, das er nicht unterdrücken kann, wenn ihn irgendetwas an seinen Bruder erinnert.

Nachmittags hat er sie, die Betreuerin des Bruders, schon mehrfach beobachtet. Meist mit Peggy. Peggy, die immer wild, oft ungepflegt aussieht – inzwischen weiß er, wann die Schicht der beiden ungefähr endet.

Auch frühmorgens hat er sie beobachten wollen, vor Tagesanbruch. Vielleicht beim Duschen, beim Baden im Meer, während seine Mutter noch schläft und er sich ausrechnen kann, dass das Frühstück erst in einer Stunde von der Schwester des Vermieters aufgetragen wird, alte Schachtel. Dann würde der Junge im noch nächtlich kühlen Sand der dunklen Dünen kauern, fast unsichtbar zwischen Strandhafer und dem Heckenrosengesträuch mit den feinen, bösartigen Dornen, das so dicht ist, dass niemand sich hindurchzwängen kann.

Sich auf die Finger- und Zehenspitzen heben, wie beim Training im Turnverein. Keinen Ast berühren, der in der Dämmerung knacken und ihn verraten könnte.

Peggy treibt keinen Sport. Peggy raucht, unentwegt. Peggy riecht nach dem Rauch, dem Bier, das sie trinkt. Peggys Haare sind struppig, manchmal voller Farbe. Ihre Haut ist unrein. In den Mundwinkeln, neben der Nase wächst Schorf. Trotzdem kann er den Blick kaum von ihr wenden. Obwohl sie die Tabakkrümel der selbstgedrehten Zigaretten, nachdem sie den Rotz aus dem Hals geholt hat, vor sich auf den Gehweg spuckt. Oder seitlich in den hellen Sand.

Marta hingegen läuft.

Sie läuft an der Wasserlinie entlang, spätnachmittags, bei ablaufender See und trotz der Zigarette nach der Arbeit.

Er hat auf sie gewartet. Und da ist sie.

Barfuß taucht sie hinter der Hütte und dem Turm des DLRG-Teams auf, das heute, weil es geregnet hat und zu kalt zum Baden ist, keinen Dienst versieht. Biegt um das Boot, das seit dem Winter dort liegt und im Salzwind verrottet. Trägt eine lange Leinenhose und ein weißes T-Shirt, durch dessen Stoff, der Junge hebt das Fernglas an die Augen, ihre sonnengebräunte Haut schimmert, das Licht des späten Nachmittags ist sonderbar diffus.

Streiflicht, ein Wort seines Vaters.

Der Vermieter wird den Verlust des Fernglases nicht vor dem Abend bemerken, und dann wird der Junge zurück sein.

Wird rechtzeitig zurück sein, im Quartier, bevor der Abendbrottisch gedeckt ist, bevor seine Mutter, die schläft und schläft und nur seinen Bruder manchmal besucht und die ihn zwingen wird, sie zu begleiten, immer soll er dabei sein, wieder wach wird.

Als Älterer mit dem Jüngeren spielen. »Ist schließlich dein Bruder.«

Als ob man mit ihm spielen könnte. Nur Klötze kann man mit ihm stapeln. Eigentlich bloß sortieren, ordnen, alles soll geordnet werden, Tag für Tag, aber ich muss sie begleiten, meine Mutter, zu meinem Bruder und dessen Betreuerin.

Marta, die anders wirkt als meine Mutter auf ihren Mädchenfotos, als sie noch Zöpfe trug. Meine meist schlafende Mutter, die nie ein Mädchen gewesen sein kann, die niemals jung gewesen ist, auf allen Fotos wirkt sie alt, älter als sie gewesen sein mag. Liegt an ihrer Krankheit, an meinem Bruder, oder an meinem Vater, der weggegangen ist. Am Ende eines Streits sagt meine Mutter oft, ich sei wie mein Vater, schlimmer.

Als mein Bruder klein war, sind wir beide, mein Vater und ich, allein durch die Gegend gezogen. Wir haben Fußball gespielt, und häufig hat er mich am Abend zu einem Eis eingeladen. Wir sind nach Hause gekommen, und meine Mutter hat vom Balkon aus nach uns gewunken. Hat meinen Bruder hochgehoben, damit er über die Balkonbrüstung schauen, uns mit seinen kurzen Armen entgegenwinken kann. Wir sind die Treppen hochgestiegen, ich habe den Ball getragen, mein Vater hat mir mit der Hand durchs Haar gestrichen, wir haben einander angeblickt, einander zugelächelt, in dem Gefühl, gemeinsam etwas erlebt zu haben. Beim Abendbrot hat mein Vater geschwiegen, ein Schweigen, das meinen Bericht vom Fußballspiel mit einer Aufmerksamkeit begleitet hat, die ich noch heute spüre, nach Jahrzehnten. Jede Szene unseres Spiels habe ich ausführlich geschildert, während mein kleiner Bruder an seiner Streichkäsestulle gekaut, mir mit großen Augen gelauscht und mich unverwandt angesehen hat. Meine Mutter, die kein Mädchen mehr gewesen ist, vielleicht nie eines war und jedenfalls beim Abendbrot nur meine Mutter sein sollte, hat mir eine weitere Schnitte mit Margarine, mit Käse bestrichen, langsam, versonnen, und hat mir zugehört. Mein Bruder hat aus Brot eine Kugel geformt und sie, unbeachtet von unseren Eltern, in seiner Tasse mit dem Hagebuttentee versenkt.

Marta.

Würde ich Marta, die plötzlich stoppt, die innehält, indem sie den rechten Fuß in den Sand rammt, in den vom ablaufenden Wasser nassen und fest gepressten Sand, würde ich Marta als Mädchen bezeichnen? Bezeichnen wie die Mädchen meiner Klasse?

Wenn sie mich entdeckt, bin ich verloren.

Hier in den Dünen entdeckt, mit einem Fernglas.

Sie beginnt, ihre Hände und Unterarme langsam und rhythmisch zu bewegen, geht dabei in die Knie, ihre Schenkel spannen die weiße Leinenhose, unter dem T-Shirt kann ich, wenn ich das Fernglas scharf genug stelle, die Kontur ihres Oberkörpers erkennen.

Meine Mutter im Bad. Scheußlicher Anblick.

Ein wunderbares Gerät, das Fernglas. »Kurz vor dem Krieg«, dem Vermieter schwillt jedes Mal vor Stolz die Stimme, »Optik Carl Zeiss Jena, gibt es heute drüben, da in der SBZ so gar nicht mehr.«

Was tue ich hier, denkt der Junge.

Sein Glied reibt steif und unbequem am Reißverschluss der Hose.

Der Junge senkt den Blick und nach kurzem Zögern dreht er das Glas und sieht Marta fern vorm Saum der Nordsee, klein in der Nähe eines Gestells für die Netze der Fischer, das Wasser eine Fläche ohne Wellen, ohne weiße, in Flocken hoch zerspleißende Gischt.

Eine Ferieninsel, auf der Urlaub zu machen ihn seine Freunde in der Schule beneiden würden. Er beneidet sich nicht.

Wieder hält sie inne.

Ihre Hand fährt vor und schlägt nach etwas Unsichtbarem, das ihr Gesichtsfeld durchquert.

Hastig dreht der Junge das Glas. Hebt es vor seine Augen. Stellt das Okular mit dem geriffelten Rad aus Messing scharf. Der Geruch des Metalls haftet an der Haut. Noch schärfer. Sieht, dass sie sich nach einem Gegenstand bückt, der vor ihrem linken Fuß im Sand liegt, zwischen angespülten Muscheln, Resten Tangs. Spürt nicht, dass Dornen eines vertrockneten Ginsterzweigs die Haut am rechten Knie ritzen. Merkt nicht, dass er angespannt auf die Lippen beißt.

Sie hält ein Tier in der Hand, eine Wespe, gewiss eine Wespe: Optik Carl Zeiss Jena, neunzehn achtunddreißig.

Sie drückt den Leib der Wespe mit Daumen und Zeigefinger zusammen, sodass der Stachel, den man beim besten Willen, trotz makellosen Okulars, unmöglich erkennen kann, die Finger nicht gefährdet.

Sie betrachtet die Wespe.

Auch der Junge hat zu Hause Insekten unter dem Mikroskop auf einem Träger befestigt und ihre seltsamen Augen, die Fühlerpaare und Beißwerkzeuge mit Ausdauer studiert. Der Junge interessiert sich für die Erscheinungen der Natur, und seine Mutter hat ihm vom verbliebenen Geld des Vaters ein Mikroskop gekauft.

»Mein Forscher«, sagt sie manchmal.

Jedes Mal ist der Junge froh, dass niemand den Satz hört.

Die Füße umspült vom ablaufenden Wasser betrachtet Marta die Wespe, deren Kopf und Augen, deren Beißwerkzeuge, die im Vergleich zu den menschlichen Zähnen nicht sonderlich groß und furchteinflößend sind.

Sie beißt der Wespe den Kopf ab. Sie spuckt den Kopf auf eine Qualle, bläulich schimmernd. Sie schnippt den Rumpf der Wespe, den nutzlos gewordenen Stachel ins Wasser der Nordsee.

Dann läuft sie mit federnden Schritten am Ufer entlang, entfernt sich, während der Junge, der das Glas neben sich ablegt, ein undeutliches Mitleid mit dem Tier empfindet.

Einer Wespe, gewiss einer Wespe. Schon nach wenigen Minuten, die er im Versteck in den Dünen ausharrt, kann der Junge nicht mehr entscheiden, ob, was er meint gesehen zu haben, wirklich geschehen ist.

vielleicht

Vielleicht ist es falsch, sich zu erinnern – sich zu erinnern, um zu verstehen und dem Geschehen im Nachhinein einen Sinn zu geben. Vielleicht ist es richtig, was sie am Ende zu mir gesagt hat: du denkst auf andere Weise als ich und daher bist du der Meinung, ich hätte dich benutzt. Aber wie viel schwerer wiegen die Verbrechen, die wir bestraft haben?

Und vielleicht stimmt es, was einige Wissenschaftler behaupten: dass wir eine fremde Intelligenz nicht als solche erkennen könnten. Denn Intelligenz heißt: Menschsein, und Menschsein heißt Intelligenz. Und vielleicht verhält es sich mit einer Moral, die gegen eine andere fremd ist, ähnlich.

Vielleicht wäre es nötig, alles erneut zu erleben: schneller – oder langsamer und jedenfalls, als sei es wieder das erste Mal.

auf Sylt

In dem Jahr, in dem ich fünfzehn werde, verbringe ich mit meiner Mutter drei Wochen des Sommers auf Sylt.

Ein Urlaub, den wir uns eigentlich nicht leisten können und dessen Grund mir nicht behagt. Ein Grund, der mich dem Antritt der Reise nicht wie gewöhnlich entgegenfiebern lässt, sondern mir die Ferien schon vor Beginn verdirbt: auf Sylt lebt mein jüngerer Bruder, der die letzten Jahre in verschiedenen Heimen verbracht hat und der vor kurzem in die Einrichtung auf der Nordseeinsel verlegt worden ist. Eine Pflegestätte, die von der Arbeiterwohlfahrt betrieben werde und ein besonderes Konzept verfolge, das für meinen Bruder, immer wieder höre ich die Sätze meiner Mutter, endlich gut und überhaupt sehr vernünftig sei.

Ich glaube ihr nicht. Aber ich behalte meinen Zweifel für mich.

Mein Vater begleitet uns nicht, denn meine Eltern haben seit Jahren kaum noch etwas miteinander zu tun. Auch ich sehe meinen Vater selten. Seitdem ich das Gymnasium besuche, seit zwei Jahren, sehe ich ihn so selten, dass es mir wenige Stunden nach unseren Treffen schwerfällt, mich an sein Aussehen zu erinnern. Jedes Mal wieder erschrecke ich, wie alt er inzwischen geworden ist oder wie alt er mir mittlerweile vorkommt.

Umso besser erinnere ich mich an den Vater meiner Kindheit.

An einen Vater, der jung war, der mir jünger als meine Mutter erschien, der mit mir und meinem Bruder die letzten Trümmergrundstücke in Berlin erkundete, der mit uns, obwohl mein Bruder noch klein gewesen ist, Fußball spielte, ohne dass es Streit gab.

Der mir bald das Roller- und Fahrradfahren beibrachte, mit mir Ausflüge bis in die hintersten Winkel Westberlins unternahm. Meine Mutter begleitete uns beide nie – »macht mal, Männer«, so oder ähnlich verabschiedete sie uns zu unseren Ausflügen am Wochenende, während sie mit meinem jüngeren Bruder zu Hause blieb, um mit ihm Malefiz oder Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen: mein Bruder, der mit drei und vier Jahren rechnen konnte wie andere Kinder nicht in der ersten oder zweiten Klasse.

Kaum mit meinem Vater auf dem Absatz im Treppenhaus, war mir nie klar, ob ich die Spur eines schlechten Gewissens zu Recht verspürte, wenn die Vorfreude auf das nächste Abenteuer mich bis in die Fingerspitzen füllte, und ob das Lächeln meiner Mutter doch nicht melancholisch, sondern froh und herzlich war. Und die Empfindung, winzige Eintrübung der Ausflüge, verflog ja sowieso, sobald sich die Wohnungstür hinter uns schloss, meine Mutter mit dem Riegel absperrte, um zu meinem Bruder, der das Spielbrett längst aufgebaut hatte, dem Spiel entgegenhoffte, ins Wohnzimmer zu gehen.

Ungern und dennoch deutlich erinnere ich mich an einen Vater, der den Zustand meines Bruders später nicht mehr ertragen konnte und uns verlassen hat. Ich wäre ihm gern gefolgt.

Meine Mutter vermeidet es seither, ihn im Gespräch zu erwähnen. Nur wenn wir streiten, führt sie ihn gegen mich an.

Auf Sylt sind wir in einem Quartier untergebracht, das eine Ferienwohnung zu nennen übertrieben wäre. Ich kenne Ferienwohnungen aus dem Weserbergland und dem Allgäu. Das Zimmer auf Sylt, in dem eine Duschkabine steht und in dem es eine Kochnische gibt, erreichen wir durch den dunklen Flur eines einstöckigen Hauses. Eine Kate, wieder ein Wort meines Vaters, ein schäbiger Bungalow, der vom Vermieter und seiner älteren Schwester bewohnt wird.

Auf der Hälfte des fensterlosen Korridors hängt ein brauner Vorhang. Hinter dem Vorhang beginnt das Ferienquartier von meiner Mutter und mir.

Meine Mutter hat Halbpension gebucht, ein ungewohnter Luxus.

Das Frühstück und das Abendessen wird uns in der Küche des Vermieters von dessen älterer Schwester aufgedeckt. Brot und Marmelade, selten Wurst, kaum Käse, abends warm, alles auf einem Ecktisch mit Eckbank, dessen Wachstuch abgenutzt aussieht und dessen Beine wackeln. Unterm Tisch hockt ein Dackel, der oft unvermittelt knurrt.

Die Schwester des Vermieters werden wir während der drei Wochen kaum zu Gesicht bekommen. Er hingegen bleibt während der Mahlzeiten, meist zu Beginn des Abendessens, auf eine Tasse Tee bei uns sitzen, redet vom Wind und der See, den stürmischen Wintern auf Sylt, seiner vom Meer angenagten Insel.

Weil meine Mutter während dieser Viertelstunden fröhlicher ist als sonst, weil sie weniger schläfrig, beinahe glücklich wirkt, bilde ich mir nach einer Weile ein, sie kenne den Vermieter von einem früheren Urlaub an der Nordsee. Von einem Aufenthalt ohne mich, ohne meinen Vater oder meinen Bruder.

Es ist heiß auf Sylt im Sommer. Wir müssten jeden Tag am Strand verbringen, müssten baden und, mit Ausnahme der Besuche bei meinem Bruder, unbeschwert sein. Wir sind selten am Strand, wir streiten uns oft, und meine Mutter ist müde und schläft noch häufiger als sonst.

Nur manchmal verbringen wir einen Tag, wie wir es früher oft getan haben. Wir gehen zusammen einkaufen, auf einem kleinen Markt im Ort, und während wir von Stand zu Stand, vom Obst zum Käse zum Geflügel, am vielen Fisch vorbeischlendern und ich den Korb trage, vergisst meine Mutter für eine Stunde den Grund, weshalb wir hier Urlaub machen. Und ein- oder zweimal, als sie gute Laune hat, besonders gute Laune, laufen wir nach dem Einkauf sofort hinunter zum Meer.

Wir spielen Boccia und bei Windstille Federball, obwohl meine Mutter nicht lange durchhält, und später, nach dem Abendessen, im Quartier Offiziersskat. Und ich erinnere mich an die Skatabende zu dritt, mit meinem Vater und meiner Mutter, wenn mein Bruder schon im Bett lag und ich noch eine Stunde wach sein durfte.

Besiege ich meine Mutter, habe ich ein schlechtes Gewissen.

Aber es scheint sie nicht zu stören, gegen mich zu verlieren, vielleicht, weil sie vergessen hat, weshalb wir hier auf Sylt sind.

Dass es die letzten Ferien werden, der letzte Sommer außerhalb eines Krankenhauses, die sie mit mir gemeinsam in der Nähe des Heims verbringen möchte, erfahre ich erst später, lange Zeit nach den Ferien auf Sylt.

betreut

Wir besuchen meinen Bruder am Tag nach unserer Ankunft.

Wir wollen ihn besuchen, wir haben uns angemeldet und warten im Speisesaal des Heims der Arbeiterwohlfahrt. Dann erscheinen Marta und Peggy und sagen, er brauche Ruhe, sei krank, es gehe erst in ein paar Tagen.

Meine Mutter ist nicht einmal enttäuscht, obwohl wir doch den ganzen Weg hierher nach Sylt eigentlich nur deswegen zurückgelegt haben. Im Gegenteil, sie scheint fast froh, so froh wie ich, wenn auch aus einem anderen Grund.

»Siehst du, wie verantwortungsvoll sie hier mit ihm umgehen, wie sehr sie sich um ihn kümmern?«

Ich nicke.

Ich nicke und sage: »Ja.«

Ich werde von meiner Mutter, die Kopfschmerzen hat und im Bett liegt, im abgedunkelten Zimmer, am folgenden Tag erneut in das Heim geschickt, um mich noch einmal und genauer nach allem zu erkundigen. Nach den Medikamenten, die er gegen die Anfälle bekommt, und vor allem, wann wir ihn endlich sehen dürfen.

Ich möchte nicht gehen, aber ich denke: Besser als meinen Bruder zu besuchen. Ich sage, und dabei lasse ich meinen Mund und mein Gesicht und meine Augen lächeln: »Natürlich, ruh dich ruhig aus.« Und ich stoße auf Peggy.

Sie öffnet die Tür am Ende des langen und dunklen und ungeheuer hohen Flurs. Sie steht dort mit ihrer Zigarette, die im Mundwinkel glimmt und deren Filter rot ist von ihrem Lippenstift. Sie versperrt mir den weiteren Zutritt zu einem eckigen, fast quadratischen Innenhof, auf dem Büsche wachsen und Bäume, alle im Miniaturformat. Jenseits des Hofs, hinter einer Tür, deren drahtverstärktes Glas grünstichig und milchig wirkt, scheinen sich Schatten zu bewegen: ein Gefühl, als blicke man in ein großes Aquarium mit verdrecktem Wasser und schmutzigen Scheiben. Dahinter, am anderen Ende des Atriums mit den albernen Büschen und Bäumen, beginnt, ich habe den Plan neben dem Haupteingang studiert, der Gebäudeteil, der als »Haus vier« bezeichnet wird und in dem mein Bruder seit einigen Wochen lebt.

Peggy grinst. Die Zigarette wippt zwischen den roten Lippen, das linke Auge kneift sie gegen den Rauch der schlanken Zigarette zu.

Keine Begrüßung. Nur die Andeutung eines Nickens, mit dem sie zu erkennen gibt, dass wir uns gestern schon begegnet sind.

Sie nimmt die Zigarette, die mir dünner als andere Zigaretten vorkommt, feixend aus dem Mund, streift die schmale Asche am Rand eines Betonkübels, in dem ein Zwergformahorn wächst, ab, sodass kein Krümel in den Topf gerät.

Dann hebt sie die Brauen, stumm. Beinahe haarlose Brauen, hässlicher Strich.

»Wo ist …?«

Ich habe das Gefühl, sie werde mir überhaupt nichts sagen, nichts über Marta preisgeben, werde mir nicht verraten, wo sie sei.

Peggy zieht an ihrer Zigarette, deren Filter von dem roten und verschmierten Lippenstift lückenlos eingefärbt ist, verstellt die Tür zum Innenhof, lehnt im Rahmen, halb am Pfosten, schiebt den Bauch, das Becken vor, sodass zwischen dem Bund der Jeans und ihrem knappen T-Shirt die helle Haut zu sehen ist, und sagt mit einem Lächeln, das mir zeigen soll, wie klein und jung, wie lächerlich und machtlos ich ihr gegenüber sei und immer sein werde: hier auf Sylt, der Nordseeinsel, hier im Heim, am Eingang von Haus vier: »Du meinst – Marta?«

»Ich meine – den Arzt.«

Ich stoße die wenigen Worte zu eilig hervor, als dass mir Peggy glauben, als dass ich ihrem Grinsen etwas entgegensetzen könnte.

»Marta ist in Hamburg. Und der Arzt hat frei.«

»Und …?«

»Und dein Bruder übergibt sich. Nachts. Tagsüber auch. Und es wäre wirklich besser, wenn sich deine Mutter hierherbemühen würde, um mit uns zu reden. Aber vor drei Tagen, sag ihr das – Matthias?, läuft hier wohl eher nix mit: mal besuchen.«

Ärgerlich, dass sie meinen Namen kennt. Widerlich, wie sie ihn ausspricht.

Dann schließt sie die Tür zu dem kleinen Innenhof, und ich verlasse das Heim der Arbeiterwohlfahrt durch den langen, ungeheuer hohen, dunklen Korridor.

Am nächsten Tag besucht meine Mutter die Direktorin der Einrichtung, mit der sie wegen meines Bruders schon von Berlin aus telefoniert hat.

Sie erzählt mir wenig darüber, nur von Marta und Peggy redet sie, die ihn so uneigennützig betreuen. Ich frage nicht nach, und weil es warm ist, ein Sommer wie aus dem Reklameprospekt, bin ich mit meiner Mutter nachmittags stundenlang am Strand, wir sammeln Muscheln. Sobald sie müde ist und sich im Quartier hinlegen möchte, streife ich durch die Dünen und beobachte das Heim. Entdecke, wo Peggy wohnt, dass sie abends – vielleicht, weil Marta in Hamburg ist – kifft und trinkt und Musik hört, beobachte meinen Bruder, wie er lange in der Sonne im Sandkasten sitzt. Allein darf er dort sitzen und die gesamte Sandfläche mit einer Plastikform, die einem Kuchen gleicht, in regelmäßigem Abstand mit Sandtörtchen bedecken: eine und die nächste und noch eine weitere, weil ihn niemand stört. Bis ihn Peggy, als die Sonne untergeht, wieder zurück ins Haus holt.

Als ich ihr in den Dünen unbemerkt folge, zu der kleinen Wohnung, die sie zu zweit bewohnen, sehe ich, dass Marta zurückgekommen ist.

mein Bruder

Als meine Mutter und ich meinen Bruder am übernächsten Vormittag besuchen, begrüßt mich Marta mit einem Lächeln, das weder herablassend noch gemein ist, sondern wirkt, als sinne sie nach, erinnere sich gern an die erste Begegnung im Speisesaal.

Sie gibt meiner Mutter die Hand, Peggy scheint nicht in der Nähe zu sein, berührt mich an der Schulter, führt uns zu einem Raum, der wie eine kleine Turnhalle aussieht und mit einer großen, roten Schaumgummimatte ausgelegt ist, sagt, die Hand erneut auf meiner Schulter: »Ich lasse Sie dann mal allein.«

Bevor sie die Tür zur Turnhalle schließt – warum eine Turnhalle, frage ich mich –, fügt sie mit lauterer Stimme hinzu: »Besuch für dich, Carsten.«

Mein Bruder reagiert nicht, nickt nicht, dreht nicht den Kopf, Marta verlässt den Raum. Meine Mutter und ich sehen einander an. Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, sie umarmen zu müssen. Ich habe die Sehnsucht, mich an sie zu drücken, von ihr in den Arm genommen zu werden, ich spüre den Wunsch, ihr, wie früher, nah zu sein, sie anzufassen, von ihr angefasst zu werden, obwohl ich sonst jede Berührung mit ihr seit langem vermeide.

Meine Mutter setzt sich auf eine Bank, die dicht an der Wand steht, aber nicht mit dem Mauerwerk verschraubt ist. Sie schnauft, als strenge die Hitze sie an.

Im Raum ist es warm, sehr warm, aber meine Mutter schnauft, weil sie häufig schnauft, wenn wir meinen Bruder besuchen und sie ihm beim Sortieren seiner Klötzchen zusieht.

Mein Bruder sitzt in der Mitte des Turnhallenraums auf der Matte und beachtet uns nicht.

Mein Bruder beachtet uns nie, wenn wir ihn besuchen. Meine Mutter besucht ihn trotzdem und zwingt mich, sie zu begleiten, nicht immer, aber oft.

Mein Bruder kombiniert Bauklötzchen in verschiedenen Formen und Farben, mit ähnlichen Klötzchen hat er schon, als er noch zu Hause war, gespielt.

Klötzchen. Lätzchen. Musste er zu Hause häufig tragen.

Hier sitzt er mit nacktem Oberkörper auf dem Boden, auf einer roten Matte, die aussieht wie eine Bodenturnmatte in einer Turnhalle auf Sylt.

Mein Bruder erbricht sich.

Erbricht sich ohne Vorankündigung, ohne vorher gewürgt zu haben, ohne eine Hand vor den Mund zu heben, ohne aufzustehen oder uns vorher anzusehen, ohne das Spiel mit den bunten Bauklötzchen zu unterbrechen.

In das Erbrochene, das den Boden um ihn bedeckt, malt er Männchen und Muster. Muster, die er mit denen der Bauklötzchen, den geometrischen Körpern, zu kombinieren scheint. Die Reste des Erbrochenen, die seine Brust bekleckert haben, ignoriert er.

Ich versuche, flach zu atmen. Ich schaue meine Mutter, die neben mir sitzt, an.

Weder erwidert sie meinen Blick noch dreht sie sich zu mir oder sagt etwas. Sie betrachtet meinen Bruder, als habe er etwas Ungewöhnliches geleistet, sich dann jedoch mit einem der bunten Muster und komplizierten Formen leicht vertan.

Keiner kommt.

Kein Arzt, keine Schwester.

Marta öffnet die Tür zur Turnhalle. Sie nickt uns achtlos zu, sie nähert sich meinem Bruder. Sie nötigt ihn, ihr in die Augen zu sehen.

Sie wischt ihm die Kotze aus dem Gesicht, sie murmelt beruhigend auf ihn ein, sie wischt ihm die Reste des Erbrochenen vorsichtig von seinem nackten Oberkörper: alles mit einem feuchten Lappen, den sie aus einem Spülstein neben der Tür genommen hat, sie unterbricht meinen Bruder nicht in seinem Spiel.

Marta lächelt.

Sie reibt sein Gesicht und seine nackte Brust mit einem Handtuch trocken. Sie betrachtet die Steine, die er angeordnet hat.

Sie fasst ihm sacht unter die Achseln, sie flüstert: »Carsten«, sie zieht ihn von der Turnmatte hoch, säubert ihn, er lässt es geschehen.

Marta ist keine Schwester und kein Arzt.

Niemand darf meinen Bruder berühren.

Der Geruch des Erbrochenen, das einem Gemälde gleicht, verursacht mir Übelkeit. Marta führt meinen Bruder aus dem Raum.

In der Tür, einer zweiten Tür am anderen Ende der Halle, dreht sie sich zu uns um und zuckt die Schultern. Nicht anders als am ersten Tag im großen Speisesaal.

Meine Mutter und ich sitzen noch einen Augenblick nebeneinander auf der Bank, ohne etwas zu sagen.

Klötze und Muster.

Ich schäme mich, dass mir mein Bruder, allein wenn er sabbert, sich bekleckert, abstoßend ist.

Als wir durch den langen und endlos hohen Flur zum Ausgang gehen, sagt meine Mutter tonlos, er nehme noch die falschen Medikamente. Oder vielleicht die falsche Dosis. Damit sei nicht zu spaßen, doch das werde noch, bestimmt.

Ich denke an Marta. Und glaube meiner Mutter kein Wort.

Obwohl sich meine Mutter am Morgen nach dem Besuch zuversichtlich äußert und weiter darauf besteht, die Einrichtung sei angemessen, die Behandlung auch, meine ich, dass sie ähnlich erschrocken ist wie ich. Besucht hat sie meinen Bruder erst wieder in der zweiten Woche unseres Urlaubs. Er brauche Ruhe, hat sie gesagt, »du hast es ja gehört.«

Ich habe genickt.

Sie hat sich ins Bett gelegt, um sich auszuruhen.

Seit mein Bruder krank geworden ist und sich nicht mehr erholt hat, redet sie davon, dass eine Behandlung oder eine Klinik angemessen sei. Dass mein Bruder sichtbare Fortschritte mache, dass man die Hoffnung nie aufgeben dürfe, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er endlich wieder ganz der Alte wäre.

Ich habe mich erschrocken. Ich habe mich erschrocken, als mein Bruder sich erbrochen und mit dem Erbrochenen Muster auf den Boden gemalt hat. Muster, die zu seinen Bausteinbildern in einer Beziehung stehen und deren Bedeutung sich niemandem erschließt.

Es ist einige Zeit her gewesen, dass ich meinen Bruder das letzte Mal gesehen hatte.

Damals hätte ich, wenn ich gefragt worden wäre, geantwortet: Mein Bruder ist stumm. Er redet mit keinem, lebt in einem Heim. Reagiert nicht auf mich, schaut mich nicht an, wenn ich mit ihm spreche, obwohl er hört, was ich sage.

Nicht dass er ungeschickt wäre: Er kann aus verschiedenfarbigen geometrischen Flächen, die er, mal aufreibend langsam, mal rasend schnell, über den blanken Boden schiebt, seltsam symmetrische Figuren bilden, die etwas bedeuten, deren Sinn jedoch jedem außer ihm verborgen bleibt. Wenn er läuft, hält er den Kopf schief, als lausche er in sich hinein. Er achtet nicht auf seine Füße. Meist läuft er nicht, sondern sitzt irgendwo, summt vor sich hin, wiegt den Oberkörper, während er sortiert, anordnet, verwirft, neu beginnt. Mein Bruder wirkt weder glücklich noch erkennbar unglücklich. Mein Bruder ist beschäftigt. Manchmal erbricht er sich.

Mein Onkel hat mir, bevor mein Bruder stumm geworden ist, eine Geschichte erzählt: von einem, der sich Niemand nennt, obwohl er nicht niemand ist, um seinen Feind, der ihn fressen will, zu überlisten. Ein griechischer Held sei das gewesen, den ich nicht als listig, sondern als dumm empfunden habe – wie einfältig muss erst sein ungeschlachter Feind gewesen sein, ein richtiger Dämlack. Kann doch jeder sehen, ob jemand da ist, oder nicht? Selbst geblendet – so blöd, dass er einen mit keinem verwechselt, kann er gar nicht sein.

Wegen meines Bruders erinnere ich mich oft an die Erzählung. Er lauscht, wenn er den Kopf neigt, redet mit einem Niemand, obwohl er mit niemandem spricht.

Woran ich mich, seit mein Bruder verstummt ist, vor allem erinnere, ist meine Wut. Eine ohnmächtige Wut, weil mein Bruder, der bei jedem meiner Besuche auf dem Fußboden hockt, seine bunten Plättchen zu komplizierten Flächen und Figuren ordnet, mich weder anblickt noch mit mir redet noch meine Gegenwart wahrnimmt. Die Sonne scheint in einen Raum, der mal hübsch, mal hässlich ist, und, egal was ich tue, mein Bruder hockt und ordnet und manchmal sabbert er.

Ich möchte ihn an den Haaren ziehen, ihn vom Boden hochreißen und schütteln. Ich möchte ihn schlagen. Ich möchte seine Muster zertreten, ihn anschreien, bis er weint.

Ich möchte zu meiner Mutter gehen, sie bitten, ihn zu vergessen.

Stattdessen sitze ich auf einer Bank, die fest an der Wand verschraubt ist oder lose daran lehnt, und schaue ihm zu: weil mich meine Mutter darum gebeten hat. Manchmal mit ihr, manchmal ohne sie. Manchmal wünsche ich mir, mein Vater säße neben mir, würde etwas sagen, das nicht, wie bei meiner Mutter, trübsinnig oder von einer hilflosen Hoffnung bestimmt wäre.

Später werde ich denken, mein Bruder besitze einen Verstand, den kein anderer Mensch nachvollziehen kann. Ausgestattet mit einer eigenen Intelligenz, die es ihm erlaubt, komplexe geometrische Muster aus verschiedenfarbigen und verschieden geformten Holzplättchen zu bilden, ähnelt er einem Wesen mit einer CPU. Die Hardware seines Gehirns mag menschlich erscheinen, die Software ähnelt dem Betriebssystem eines Rechners, eines Elektronengehirns: ein altertümlicher Ausdruck, wie er früher in den Sciencefiction-Büchern, die ich gern gelesen habe, oft verwendet worden ist.

Noch bin ich nur wütend.

Noch höre ich nur, wie Marta meinen Bruder bei meinem zweiten Besuch lobt. Die besondere Symmetrie oder Geometrie oder Farbigkeit, die Schönheit der Flächen hervorhebt. Sehe, wie sie ihm über das Haar streicht.

Niemand darf meinen Bruder berühren, weder ich noch meine Mutter.

Marta darf ihn in den Arm nehmen. Darf ihm über die Wange streichen, übers Haar fahren, darf ihn trösten, wenn sein Turm aus Klötzchen in sich zusammenfällt.

Ich möchte sie gegen die Wand schleudern, möchte sie anbrüllen: Lass das!