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Clive Cussler

Inkagold

Roman

Übersetzt von Oswald Olms

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Inca Gold« bei Simon & Schuster, Inc., New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 1994 by Clive Cussler

All rights reserved throughout the world.

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176 – 0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15214-7

www.blanvalet.de

Im Gedenken an
Dr. Harold Edgerton,
Bob Hesse,
Erick Schonstedt
und
Peter Throckmorton,
geliebt und geachtet von jedem,
der mit ihnen in Berührung kam.

Im Jahre 1997 führten die Vereinigten Staaten von Amerika, das einzige Land der Welt, das noch immer an nicht dezimalen Maßeinheiten festhielt, endlich das metrische System ein – eine zwingende Notwendigkeit, wenn das Land im internationalen Handel weiter wettbewerbsfähig bleiben wollte.

Die geheimnisvollen Eindringlinge

1533 A.D.

Ein versunkenes Meer

Sie kamen mit der Morgensonne von Süden. Schlaff hingen die rechteckigen Baumwollsegel unter einem strahlend azurblauen Himmel, als die Flottille aus Flößen flimmernd wie eine Fata Morgana über das funkelnde Wasser glitt. Keinerlei Befehl erschallte in der unheimlichen Stille, während die Besatzungen die Paddel eintauchten und durchzogen. Am Himmel stieß ein Falke herab und schwang sich wieder in die Lüfte, als wollte er die Steuermänner zu dem öden Eiland geleiten, das mitten aus dem Binnenmeer aufragte.

Die Flöße bestanden aus Binsenbündeln, die an beiden Enden verschnürt und nach oben gezogen waren. Sechs solcher Bündel bildeten einen Bootsrumpf, der überdies mit einem Kiel und Streben aus Bambus versehen war. Der hochgezogene Bug und das Heck waren wie Schlangen mit Hundeköpfen geformt, deren Schnauzen gen Himmel wiesen, als wollten sie den Mond anheulen.

Der Befehlshaber der Flotte saß auf einem thronartigen Sessel im spitz zulaufenden Bug des vordersten Floßes. Er trug ein mit Türkisplättchen verziertes Baumwollgewand und einen bunt bestickten Umhang aus Wolle. Sein Kopf war mit einem Federhelm und einer Gesichtsmaske aus Gold bedeckt. Gelb schimmerten auch der Ohrschmuck, eine schwere Halskette und die Armreife in der Sonne. Selbst seine Schuhe waren aus Gold gefertigt. Ein Anblick, der umso erstaunlicher war, als auch die Besatzungsmitglieder nicht minder prachtvoll herausgeputzt waren.

Voller Furcht und Staunen verfolgten die einheimischen Stämme entlang der Küste des fruchtbaren Landes rund um das Meer, wie die fremde Flotte in ihre Gewässer eindrang. Keiner schickte sich an, ihr Gebiet gegen die Invasoren zu verteidigen. Sie waren einfache Jäger und Sammler, die Kaninchen nachstellten, Fische fingen und ein paar wenige angesäte Pflanzen und Nüsse ernteten. Im Gegensatz zu ihren Nachbarn im Süden und Osten, die ausgedehnte Reiche gründeten, gehörten sie einer archaischen Kultur an. Sie lebten und starben, ohne ihren Göttern gewaltige Tempel zu errichten, und so sahen sie nun gebannt zu, als diese Verkörperung von Reichtum und Macht über das Wasser glitt. Einhellig betrachteten sie die Flotte als eine wundersame Erscheinung von Kriegsgöttern aus der Welt der Geister.

Die geheimnisvollen Fremden nahmen keinerlei Notiz von den Menschen an der Küste, während sie weiter auf ihren Bestimmungsort zupaddelten. Sie waren in heiligem Auftrag unterwegs und ließen sich von nichts und niemandem ablenken. Ungerührt und ohne ihren verwunderten Zuschauern auch nur einmal den Kopf zuzuwenden bewegten sie ihre Boote voran.

Sie steuerten geradewegs auf eine aus dem Meer aufragende Insel zu, deren steile, felsenbedeckte Hänge einen kleinen, etwa 200 Meter (656 Fuß) hohen Berg bildeten. Sie war unbewohnt und nahezu bar jeder Vegetation. Die am Festland lebenden Einheimischen nannten sie die Tote Riesin, da der Kamm des lang gezogenen, niedrigen Berges einer in totengleichem Schlummer liegenden Frauengestalt ähnelte. Die Sonne, deren Licht ihr ein überirdisches Strahlen verlieh, trug ein Übriges zu diesem Eindruck bei.

Kurz darauf landeten die prächtig gewandeten Mannschaften mit ihren Flößen an einem schmalen, kiesübersäten Strand, der zu einem engen Felseinschnitt führte. Sie holten die gewebten Segel ein, auf denen riesige Fabelwesen prangten, Abbilder, welche die lähmende Angst und Ehrfurcht der einheimischen Betrachter noch verstärkten, und begannen damit, große Binsenkörbe und Tonkrüge zu entladen.

Den ganzen langen Tag über wurde die Fracht in einem riesigen, aber ordentlichen Haufen am Strand gestapelt. Als am Abend die Sonne im Westen versank, war das Eiland von der Küste aus nicht mehr einzusehen. Nur mehr das schwache Flackern der Lichter konnte man in der Dunkelheit erkennen. Doch in der Morgendämmerung des neuen Tages ruhte die Flotte noch immer am Gestade, und der hohe Hügel aus Frachtgut war unangetastet.

Am Gipfel des Berges auf der Insel waren Steinmetzen eifrig am Werk, die einen mächtigen Felsblock in Angriff nahmen. Während der nächsten sechs Tage und Nächte schlugen und hämmerten sie mit bronzenen Brechstangen und Meißeln mühsam auf den Stein ein, bis dieser allmählich die Gestalt eines geflügelten Jaguars mit dem grimmigen Haupt einer Schlange annahm. Als das Werk vollendet war, schien das groteske Tier förmlich von dem großen Felsen zu springen, auf dem es thronte. Während die Steinmetzen dergestalt beschäftigt waren, trugen die anderen nach und nach die schwer beladenen Körbe und Krüge davon, bis keine Spur mehr davon zu sehen war.

Eines Morgens blickten die Eingeborenen dann über das Wasser zu der Insel und stellten fest, dass sie verlassen war. Die rätselhaften Menschen aus dem Süden waren mitsamt ihrer Flotte aus Flößen verschwunden, im Schutze der Dunkelheit davongesegelt. Nur die mächtige steinerne Jaguarschlange mit den gefletschten Giftzähnen im weit aufgerissenen Rachen und den geschlitzten Augen, die über das riesige Land aus endlosen Hügeln jenseits des beschaulichen Meeres blickten, kündete von ihrer Fahrt.

Rasch siegte die Neugier über die Furcht. Am folgenden Nachmittag paddelten vier Männer aus dem größten Dorf entlang der Küste des Binnenmeeres, die sich mit einem kräftigen heimischen Gebräu Mut angetrunken hatten, in einem Einbaum über das Wasser, um die Insel zu erkunden. Nachdem sie an dem schmalen Strand gelandet waren, sah man sie in den engen Felseinschnitt vordringen, der in das Innere des Berges hineinführte. Den ganzen Tag lang und bis weit in den nächsten hinein warteten ihre Freunde und Verwandten voller Sorge auf ihre Rückkehr. Doch die Männer wurden nie wieder gesehen. Selbst ihr Einbaum blieb verschollen.

Die Furcht der Einheimischen nahm zu, als plötzlich ein schwerer Sturm über das beschauliche Meer fegte und es in eine tosende See verwandelte. Wolken, schwärzer als je einer der Menschen dort sie gesehen, verdunkelten die Sonne. Mit der erschreckenden Dunkelheit ging ein fürchterlicher Wind einher, der die See in Schaum verwandelte und die Küstendörfer verwüstete. Es war, als sei ein Krieg unter den Mächten des Firmaments ausgebrochen. Mit unglaublicher Wut raste das tobende Wetter über die Küste hinweg. Die Einheimischen hegten keinerlei Zweifel, dass die Götter des Himmels und der Dunkelheit, geführt von der Jaguarschlange, sie für ihr Eindringen bestrafen wollten. Flüsternd sprachen sie davon, dass diejenigen, die es wagen, die Insel zu betreten, verflucht seien.

Dann zog der Sturm so unverhofft, wie er gekommen war, am Horizont davon, und eine merkwürdige Stille breitete sich aus, als der Wind erstarb. Gleißend strahlte die Sonne auf das Meer herab, das wieder so ruhig war wie eh und je. Kurz darauf erschienen Möwen und kreisten über etwas, das am sandigen Strand der Ostküste angespült worden war. Als die Menschen das reglose Ding im zurückweichenden Wasser liegen sahen, näherten sie sich wachsam und blieben stehen, gingen dann vorsichtig weiter und sahen es sich genauer an. Sie stöhnten auf, als sie erkannten, dass es sich um die Leiche eines der Fremden aus dem Süden handelte. Er trug nur ein prunkvolles, besticktes Gewand. Die goldene Gesichtsmaske, der Helm und die Armreife waren verschwunden.

Alle, die der schaurigen Szene beiwohnten, starrten erschrocken auf den Leichnam. Im Gegensatz zu den dunkelhäutigen Einheimischen mit ihrem blauschwarzen Haar hatte der Tote weiße Haut und blonde Haare. Leblos starrten seine blauen Augen ins Leere. Aufrecht wäre er einen guten halben Kopf größer gewesen als die erstaunten Menschen, die ihn nun betrachteten.

Zitternd vor Furcht trugen sie ihn vorsichtig zu einem Kanu und betteten ihn sanft hinein. Dann wurden zwei der tapfersten Männer auserkoren, die den Leichnam zu dem Eiland bringen sollten. Kaum am Strand angelangt, legten sie ihn eilends in den Sand und paddelten wie wild zurück zur Küste. Noch Jahre nachdem jene, die das denkwürdige Ereignis miterlebt hatten, gestorben waren, ragte das gebleichte Skelett aus dem Sand; eine grausige Warnung an alle, sich von der Insel fernzuhalten.

Man flüsterte einander zu, der Wächter der goldenen Krieger, die geflügelte Jaguarschlange, habe die vorwitzigen Männer verschlungen, die in sein Heiligtum eingedrungen waren, und niemand wagte es jemals wieder, seinen Zorn herauszufordern, indem er den Fuß auf die Insel setzte. Das Eiland hatte etwas Unheimliches, fast schon Gespenstisches an sich. Es wurde zu einer heiligen Stätte, von der man nur mit gedämpfter Stimme sprach und die man nie aufsuchte.

Wer aber waren die goldenen Krieger, und woher kamen sie? Warum waren sie in das Binnenmeer gesegelt, und was taten sie dort? Die Augenzeugen mussten sich mit dem bescheiden, was sie gesehen hatten – es gab keine Erklärung dafür. Aus Mangel an Wissen wurden Mythen geboren. Sagen entstanden und erhielten neue Nahrung, als das Land ringsum von einem gewaltigen Erdbeben erschüttert wurde, das die Dörfer an der Küste zerstörte. Als das Beben nach fünf Tagen endlich abklang, war das Binnenmeer verschwunden, und dort, wo sich einst die Küste befunden hatte, war nur mehr ein breiter Gürtel aus Muscheln verblieben.

Die geheimnisvollen Eindringlinge fanden bald Aufnahme in das religiöse Brauchtum und wurden zu Göttern. Im Laufe der Zeit entstanden immer mehr Geschichten von ihrem jähen Erscheinen und Verschwinden und gerieten wieder in Vergessenheit, bis sie nur mehr undeutliche Bruchstücke in der von Generation zu Generation weitergegebenen religiösen Überlieferung eines Volkes waren, das in einem verwunschenen Land lebte, über dem unerklärliche Phänomene dräuten wie der Rauch über einem Lagerfeuer.

Sintflut

1. März 1578

Westlich der Küste von Peru

Capitän Juan de Anton, ein schwermütiger Kastilier mit grünen Augen und einem sorgsam gestutzten schwarzen Bart, spähte durch das Fernrohr zu dem fremden Schiff in seinem Kielwasser und hob leicht überrascht die Augenbrauen. Eine zufällige Begegnung, so fragte er sich, oder ein geplantes Abfangmanöver?

De Anton war unterwegs von Callao de Lima nach Panama, wo die Reichtümer des Königs zum Transport über den Isthmus auf Maultiere umgeladen und dann per Schiff über den Atlantik zu den Goldkammern von Sevilla gebracht werden sollten. Er hatte nicht damit gerechnet, auf der letzten Etappe seiner Fahrt einer anderen Schatzgaleone zu begegnen. Rumpf und Takelage des Fremden, der ihm anderthalb Seemeilen achteraus folgte, deuteten, soweit er das erkennen konnte, auf ein in Frankreich gebautes Schiff hin. Auf den karibischen Handelsrouten gen Spanien hätte de Anton jeglichen Kontakt mit anderen Schiffen gescheut, doch sein Argwohn ließ etwas nach, als er die mächtige Flagge erspähte, die an einem langen Mast am Heck wehte. Dort prangte, ebenso wie auf seiner Standarte, die im Wind knatterte, das wehrhafte rote Kreuz auf weißem Grund, Spaniens Banner im sechzehnten Jahrhundert. Dennoch war ihm leicht unbehaglich zumute.

De Anton wandte sich an Luis Torres, seinen Ersten Offizier und Steuermann. »Wofür haltet Ihr sie?«

Torres, ein großer, bartloser Galicier, zuckte mit den Schultern. »Für eine Schatzgaleone ist sie zu klein. Ich halte sie für ein Kauffahrteischiff mit Wein aus Valparaíso, das genau wie wir den Hafen von Panama anläuft.«

»Meint Ihr nicht, es könnte sich um einen Feind Spaniens handeln?«

»Unmöglich. Kein feindliches Schiff hat es jemals gewagt, den Seeweg durch das tückische Labyrinth der Magellanstraße um Südamerika herum zu befahren.«

De Anton nickte beifällig. »Da keinerlei Gefahr besteht, dass es sich um Franzosen oder Engländer handelt, wollen wir beidrehen und sie begrüßen.«

Torres gab den Befehl an den Rudergänger weiter, der von einem Aufbau am Oberdeck aus über das Kanonendeck hinwegblickte und den Kurs bestimmte. Er bediente eine waagerecht an einer senkrechten Achse angebrachte Stange, mit der sich das Ruder drehen ließ. Die Nuestra Señora de la Concepción, die größte und prächtigste Schatzgaleone der Pazifikarmada, neigte sich gen Backbord und ging auf Gegenkurs nach Südwest. Ein kräftiger, von der Küste her wehender Ostwind füllte ihre neun Segel, sodass ihr fünfhundertsiebzig Tonnen schwerer Rumpf mit geruhsamen fünf Knoten durch die Dünung pflügte.

Trotz ihres majestätischen Aussehens, des Schnitzwerks und der bunten, kunstvollen Bemalung beiderseits des erhöhten Achterdecks und des Bugkastells war die Galeone ein widerstandsfähiger Schiffstyp, überaus robust und seetüchtig, eine Art Arbeitstier unter den Seefahrzeugen ihrer Zeit. Und wenn es darum ging, die kostbaren Schätze in ihren Frachträumen zu verteidigen, konnte sie notfalls auch den besten Freibeutern einer feindlichen Seefahrernation trotzen.

Auf den ersten Blick wirkte die Galeone wie ein bedrohliches, waffenstarrendes Kriegsschiff, doch bei genauerem Hinsehen ließ sich ihre eigentliche Bestimmung als Handelsschiff nicht verhehlen. Ihre Kanonendecks waren mit Geschützpforten für nahezu fünfzig vierpfündige Kanonen versehen. Doch da die Spanier sich im Glauben wiegten, der Südpazifik sei ihr höchsteigenes Gewässer, und weil ihres Wissens nach dort noch nie eines ihrer Schiffe von einem fremden Kaperfahrer angegriffen oder aufgebracht worden war, führte die Concepción lediglich zwei Kanonen mit. Durch diese leichte Bewaffnung wurde die Tonnage gesenkt, sodass sie mehr Fracht aufnehmen konnte.

Capitán de Anton, der sich nun sicher war, dass seinem Schiff keinerlei Gefahr drohte, spähte erneut durch sein Fernrohr auf das rasch näher kommende Schiff. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, seine Besatzung sicherheitshalber in Gefechtsbereitschaft zu versetzen.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, nicht einmal ein vages Vorgefühl, dass es sich bei dem Schiff, zu dem er hatte beidrehen lassen, um die Golden Hind unter dem Befehl von Englands umtriebigem Seeräuber Francis Drake handelte. Dieser stand auf seinem Achterdeck und spähte seelenruhig und kühl wie ein Hai, der einer Blutspur folgt, durch sein Fernrohr zu de Anton.

»Verdammt aufmerksam von ihm, dass er beidreht und auf uns zuhält«, murmelte Drake, ein kampflustiger Mann mit wachem Blick, dunkelrotem Lockenhaar und einem hellen sandfarbenen Spitzbart unter einem lang herabhängenden Schnäuzer.

»Das Mindeste, was er tun kann, nachdem wir ihm schon seit zwei Wochen hinterherjagen«, erwiderte Thomas Cuttill, der Navigator der Golden Hind.

»Aye, aber diese Prise ist die Jagd wert.«

Bereits schwer mit Gold- und Silberbarren, einer kleinen Kiste mit Edelsteinen und kostbaren Tuchen beladen, die sie beim Aufbringen zahlreicher spanischer Schiffe erbeutet hatte, nachdem sie als erstes englisches Segelschiff in den Pazifik vorgedrungen war, kämpfte sich die Golden Hind, einst Pelican genannt, durch die Wogen wie ein Beagle auf der Jagd nach dem Fuchs. Sie war ein solides, gedrungenes Schiff mit einer Gesamtlänge von 31 Metern (102 Fuß) und einer Wasserverdrängung von hundertvierzig Tonnen, das sich ausgezeichnet segeln und leicht steuern ließ. Rumpf und Masten waren alles andere als neu, aber nach einer längeren Überholung in Plymouth war sie für eine Fahrt ausgerüstet worden, die sie in fünfunddreißig Monaten über 55 000 Kilometer (34 000 Meilen) rund um die Welt führen sollte – eines der größten Seeabenteuer aller Zeiten.

»Möchtet Ihr ihren Kurs kreuzen und die spanischen Hunde unter Feuer nehmen?«, erkundigte sich Cuttill.

Drake senkte sein langes Fernrohr, schüttelte den Kopf und grinste breit. »Weitaus höflicher wäre es, die Segel zu reffen und sie zu grüßen, wie es sich für echte Gentlemen gehört.«

Verständnislos starrte Cuttill seinen verwegenen Befehlshaber an. »Aber angenommen, sie haben beigedreht, um sich zum Kampf zu stellen?«

»Verdammt unwahrscheinlich, dass ihr Kapitän eine Ahnung hat, wer wir sind.«

»Sie ist doppelt so groß wie wir«, beharrte Cuttill.

»Laut den Seeleuten, die wir in Callao de Lima gefangen nahmen, führt sie nur zwei Kanonen mit. Die Hind ist mit achtzehn bestückt.«

»Spanier!«, versetzte Cuttill. »Die lügen noch mehr als die Iren.«

Drake deutete zu dem Schiff, das sich ihnen arglos näherte. »Spanische Schiffskapitäne fliehen eher, als dass sie kämpfen«, erinnerte er seinen reizbaren Untergebenen.

»Warum halten wir uns dann nicht weiter entfernt und nehmen sie unter Beschuss, bis sie die Flagge streicht?«

»Wäre unklug, unsere Kanonen abzufeuern und zu riskieren, dass sie mit der ganzen Beute sinkt.« Drake klopfte Cuttill auf die Schulter. »Macht Euch keine Sorgen, Thomas. Wenn meine List gelingt, können wir unser Pulver sparen und uns auf unsere kräftigen Engländer verlassen, die geradezu auf ein gutes Gefecht brennen.«

Cuttill nickte verstehend. »Dann wollt Ihr also längsseits gehen und sie entern?«

Drake nickte. »Wir werden auf ihrem Deck sein, bevor ihre Mannschaft auch nur eine einzige Muskete laden kann. Sie wissen es noch nicht, aber sie segeln geradewegs in die Falle.«

Kurz nach drei Uhr nachmittags drehte die Nuestra Señora de la Concepción bei und ging backbords der Golden Hind auf Parallelkurs nach Nordwest. Torres stieg über die Leiter zum Bugkastell seines Schiffes hinauf und schrie über das Wasser.

»Wie heißt Euer Schiff?«

Numa de Silva, ein portugiesischer Steuermann, den Drake nach dem Aufbringen von dessen Schiff vor der brasilianischen Küste in seine Dienste genommen hatte, erwiderte auf Spanisch: »Die San Pedro de Paula aus Valparaíso.« So hatte ein Schiff geheißen, das Drake drei Wochen vorher gekapert hatte.

Abgesehen von ein paar wenigen, wie spanische Seeleute gekleideten Besatzungsmitgliedern, hatte Drake den Großteil seiner Männer unter Deck verborgen und sie mit Kettenhemden, allerlei Piken, Pistolen, Musketen und Entermessern ausgestattet. An langen, starken Tauen befestigte Enterhaken lagerten entlang dem Schanzkleid am Oberdeck. Armbrustschützen waren heimlich auf den Gefechtsmarsen an den Masten oberhalb der Großrahen in Stellung gegangen. Drake duldete keine Feuerwaffen auf den Gefechtsmarsen, da die Segel durch Musketenschüsse leicht in Flammen aufgehen konnten. Die Großsegel wurden eingeholt und festgemacht, damit die Armbrustschützen freie Sicht hatten. Erst dann wurde Drake wieder gelassener und wartete geduldig auf den Augenblick des Angriffs. Dass er nur achtundachtzig Engländer gegen die spanische Besatzung von nahezu zweihundert Mann aufbieten konnte, störte ihn nicht im Geringsten. Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass er gegen eine Übermacht antreten musste. Sein berühmtes Gefecht wider die spanische Armada im Ärmelkanal stand ihm indes noch bevor.

Von seinem Ausguck aus bemerkte de Anton keinerlei ungewöhnliche Aktivität an Bord des anscheinend freundlich gesonnenen Handelsschiffes. Die Mannschaften verrichteten ihr Werk, ohne der Concepción ungewöhnlich große Aufmerksamkeit zu schenken. Der Kapitän lehnte, wie er feststellte, lässig an der Reling des Achterdecks und salutierte vor de Anton. Der Neuankömmling wirkte trügerisch unschuldig, während er sich unauffällig näher an die Schatzgaleone heranschob.

Als der Abstand zwischen den beiden Schiffen auf 30 Meter (97 Fuß) geschrumpft war, nickte Drake einmal kaum wahrnehmbar, und der beste Scharfschütze seines Schiffes, der verborgen auf dem Kanonendeck lag, feuerte seine Muskete ab und traf den Rudergänger der Concepción in die Brust. Gleichzeitig nahmen Armbrustschützen auf den Gefechtsmarsen die spanischen Seeleute in den Masten unter Beschuss. Dann, als die Galeone aus dem Ruder lief, befahl Drake seinem Steuermann, die Hind längsseits an den hochgezogenen Rumpf des größeren Schiffes zu bringen.

Als die Schiffe mit ächzenden Planken und Spanten aneinanderscheuerten, brüllte Drake: »Für die gute Königin Bess und England – bringt sie auf, meine Jungs!«

Enterhaken flogen über die Reling, verfingen sich scheppernd in Schanzkleid und Takelage der Concepción, bis beide Schiffe auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden waren. Mit infernalischem Geschrei stürmten Drakes Männer auf das Deck der Galeone, während seine Bordmusikanten mit dröhnenden Trommeln und schmetternden Trompeten das allgemeine Entsetzen noch verstärkten. Musketenkugeln und Pfeile prasselten auf die verstörten Spanier herab, die vor Schreck wie erstarrt waren.

Innerhalb weniger Minuten war alles vorbei. Ein Drittel der Besatzung der Galeone war tot oder verwundet, ohne auch nur einen Schuss zu ihrer Verteidigung abgegeben zu haben. Die Übrigen, von Furcht und Verwirrung übermannt, sanken auf die Knie und ergaben sich, während Drakes Entertrupps sie beiseitestießen und unter Deck stürmten.

Drake, die Pistole in der einen Hand, das Entermesser in der anderen, stürmte hinauf zu Capitán de Anton. »Im Namen Ihrer Majestät, der Königin Elisabeth von England, ergebt Euch!«, brüllte er über das Getöse hinweg.

Ungläubig und benommen, wie er war, übergab ihm de Anton sein Schiff. »Ich ergebe mich«, schrie er zurück. »Habt Gnade mit meiner Mannschaft.«

»Ich dulde keine Gräueltaten«, beschied ihn Drake.

Nachdem die Engländer die Galeone in ihren Besitz gebracht hatten, wurden die Toten über Bord geworfen und die überlebenden und verwundeten Männer in einen Frachtraum gesperrt. Capitán de Anton und seine Offiziere wurden über eine zwischen den beiden Schiffen ausgelegte Planke an Bord der Golden Hind geleitet. Mit der ihm eigenen Höflichkeit, die er gegenüber Gefangenen stets an den Tag legte, führte Drake Capitán de Anton dann persönlich durch die Golden Hind. Anschließend bat er die Offiziere zu einem Galadiner samt Streichmusik, zu dem massives Silbergeschirr und die besten der unlängst erbeuteten spanischen Weine aufgetragen wurden.

Noch während des Mahls steuerten Drakes Männer die Schiffe gen Westen, abseits der spanischen Seewege. Am Morgen darauf drehten sie bei und refften die Segel, sodass die Schiffe zwar langsamer wurden, aber weiterhin so viel Fahrt machten, dass sie mit dem Bug die Wogen durchschnitten. Während der nächsten vier Tage schafften sie die fantastischen Schätze aus den Frachträumen der Concepción auf die Golden Hind. Die gewaltige Beute umfasste dreizehn Kisten mit königlichen Silberplatten und Münzen, achtzig Pfund Gold- und sechsundzwanzig Tonnen Silberbarren, Hunderte von Truhen mit Perlen und Juwelen, größtenteils Smaragde, sowie eine große Menge an Verpflegung, darunter Obst und Zucker. Wie sich später herausstellen sollte, gelang es jahrzehntelang keinem anderen Piraten, eine derartig wertvolle Prise zu erbeuten.

Auf dem fremden Schiff gab es auch einen eigenen Frachtraum voller kostbarer und exotischer Kunstgegenstände der Inka, die zur persönlichen Verfügung Seiner Katholischen Majestät, des Königs Philipp II. von Spanien, nach Madrid gebracht werden sollten. Voller Erstaunen betrachtete Drake die Kunstgegenstände. Dergleichen hatte er noch nie gesehen. Ein Teil des Frachtraumes war vom Boden bis zur Decke mit erlesen bestickten Textilien aus den Anden gefüllt. In Hunderten von Kisten lagerten kunstvolle Steinbildnisse und Keramikfiguren, dazwischen kostbare Meisterwerke aus Jade sowie großartige Mosaike aus Türkis und Perlmutt, allesamt aus den Heiligtümern der von Francisco Pizarro und den ihm nachfolgenden Heerscharen goldgieriger Konquistadoren überrannten andinen Hochkulturen geraubt. Vor Drake lagen die Zeugnisse einer überwältigenden Kunstfertigkeit, wie er sie sich nicht einmal hätte träumen lassen. Seltsamerweise handelte es sich bei dem Gegenstand, der ihn am meisten faszinierte, keineswegs um ein mit Edelsteinen verziertes Meisterwerk der Bildhauerkunst, sondern um ein eher schlichtes Kästchen aus Jade, dessen Deckel wie ein Männergesicht gestaltet war. Dieser maskenverzierte Deckel war so perfekt angepasst, dass er das Kästchen nahezu luftdicht verschoss. Darin lag ein Gewirr aus langen, bunten Schnüren von unterschiedlicher Stärke, die mit über hundert Knoten versehen waren.

Drake nahm das Kästchen mit in seine Kabine und brachte fast einen ganzen Tag damit zu, das raffinierte Muster aus Schnüren zu untersuchen, die mit wiederum dünneren Schnüren in satten Farbtönen verbunden und in bestimmten Abständen geknotet waren. Als geschickter Navigator und begabter Amateurkünstler begriff Drake, dass es sich hierbei entweder um ein mathematisches Instrument oder um eine Methode zum Aufzeichnen und Festhalten von Zahlen und Daten handeln musste. Die Sache faszinierte ihn. Es wollte ihm aber nicht gelingen, die Bedeutung der farbigen Schnüre und der unterschiedlichen Lage der Knoten zu enträtseln. Er kam sich vor wie ein Laie, der anhand einer Seekarte den Kurs bestimmen soll, ohne um die Bedeutung der Längen- und Breitengrade zu wissen.

Schließlich gab Drake auf und schlug das Jadekästchen in ein Leintuch. Dann rief er Cuttill zu sich.

»Der Spanier liegt deutlich höher im Wasser, seitdem der Großteil seiner Schätze umgeladen ist«, verkündete Cuttill aufgeräumt, als er die Kapitänskajüte betrat.

»Ihr habt doch die Kunstwerke nicht angerührt?«, fragte Drake.

»Die bleiben, wie befohlen, im Frachtraum der Galeone.«

Drake erhob sich von seinem Arbeitstisch, ging zu dem großen Fenster und blickte hinüber zur Concepción. Ein beträchtliches Stück über der derzeitigen Wasserlinie konnte man noch immer die feuchten Stellen am Rumpf der Galeone erkennen. »Die Kunstschätze waren für König Philipp bestimmt«, sagte er. »Sie sollten lieber nach England gebracht und Königin Bess überreicht werden.«

»Die Hind ist bereits gefährlich überladen«, wandte Cuttill ein. »Wenn wir weitere fünf Tonnen aufnehmen, wird die See durch die unteren Geschützpforten lecken, und sie wird nicht mehr auf das Ruder ansprechen. Sie wird todsicher auflaufen, wenn wir durch die tosende Magellanstraße zurückfahren.«

»Ich gedenke nicht, durch die Straße zurückzukehren«, sagte Drake. »Stattdessen plane ich, gen Norden zu steuern und eine Nordwestpassage nach England zu suchen. Sollte dies nicht gelingen, werde ich auf Magellans Spuren über den Pazifik und um Afrika herumsegeln.«

»Die Hind wird England nie wiedersehen, nicht, wenn ihre Frachträume aus allen Nähten platzen.«

»Wir werden den Großteil des Silbers auf der Insel Cano vor der Küste Ecuadors abladen, wo wir es auf einer späteren Fahrt wieder aufnehmen können. Die Kunstgegenstände bleiben auf der Concepción

»Aber was wird dann aus Eurem Plan, sie der Königin zu schenken?«

»Der besteht weiterhin«, versicherte ihm Drake. »Ihr, Thomas, werdet zehn Mann von der Hind nehmen und mit der Galeone nach Plymouth segeln.«

Entsetzt breitete Cuttill die Arme aus. »Mit nur zehn Mann kann ich unmöglich ein Schiff von ihrer Größe segeln, nicht bei schwerer See.«

Drake ging zum Arbeitstisch zurück und tippte mit einem Messingzirkel auf einen Kreis, den er auf einer Seekarte eingezeichnet hatte. »Auf den Karten, die ich in Capitán de Antons Kabine fand, habe ich etwas nördlich von hier eine kleine Bucht an der Küste entdeckt, in der sich keine Spanier herumtreiben dürften. Ihr werdet dorthin segeln und sämtliche spanischen Offiziere und die verwundeten Besatzungsmitglieder absetzen. Überredet zwanzig weitere gesunde Seeleute dazu, sich Eurer Mannschaft anzuschließen. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr ausreichend Waffen erhaltet, damit Ihr Euer Kommando ausüben und jeden Versuch der Spanier unterbinden könnt, das Schiff in ihre Gewalt zu bekommen.«

Cuttill wusste, dass jeder weitere Widerspruch zwecklos war. Mit einem starrköpfigen Mann wie Drake konnte man nicht debattieren. Mit einem resignierten Achselzucken fügte er sich in seinen Auftrag. »Selbstverständlich werde ich Euren Befehl ausführen.«

Drakes Miene war zuversichtlich, sein Blick freundlich. »Wenn jemand eine spanische Galeone zu den Kais von Plymouth segeln kann, Thomas, dann seid Ihr das. Ich fürchte, der Königin werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn Ihr ihr die Ladung aushändigt.«

»Das Vergnügen würde ich lieber Euch überlassen, Käpt’n.«

Drake versetzte Cuttill einen freundlichen Klaps auf die Schulter. »Nur keine Angst, alter Freund. Ich befehle Euch hiermit, mit einer hübschen Maid auf jeder Seite am Kai zu stehen und mich willkommen zu heißen, wenn die Hind heimkehrt.«

Bei Sonnenaufgang am folgenden Morgen befahl Cuttill der Mannschaft, die Leinen loszumachen, die die beiden Schiffe miteinander verbanden. Unter seinem Arm klemmte das in Tuch eingeschlagene Kästchen, das er auf Drakes Geheiß hin persönlich der Königin übergeben sollte. Er trug es in die Kapitänskajüte und schloss es in einen Schrank. Dann kehrte er auf Deck zurück und übernahm den Befehl über die Nuestra Señora de la Concepción, die langsam von der Golden Hind forttrieb. Als die Segel gesetzt wurden, stand die Sonne so purpurn und strahlend am Himmel, dass die abergläubischen Matrosen auf beiden Schiffen meinten, sie sehe so rot wie ein blutendes Herz aus. In ihrer schlichten Denkweise betrachteten sie dies als ein böses Omen.

Drake und Cuttill winkten einander ein letztes Mal zu, als die Golden Hind auf Nordostkurs ging. Cuttill beobachtete das kleinere Schiff, bis es am Horizont verschwunden war. Er teilte Drakes Zuversicht nicht. Eine düstere Vorahnung befiel ihn.

Etliche Tage später segelten, nachdem auf Cano zahllose Tonnen Silberbarren und -münzen entladen worden waren und das Schiff wieder höher im Wasser lag, die robuste Hind und der verwegene Drake gen Norden zu einem Ort, der zweihundert Jahre später als Vancouver Island bekannt werden sollte … bevor sie sich gen Westen, zu ihrer endlosen Reise über den Pazifik, wandten.

Weit im Süden halste und kreuzte die Concepción gen Osten, sichtete Land und erreichte am folgenden Tag spätabends die von Drake auf den spanischen Karten eingezeichnete Bucht. Der Anker wurde geworfen, und die Wachlichter wurden gesetzt.

Tags darauf, als die Sonne über den Anden herabbrannte, entdeckten Cuttill und seine Besatzung an einer weitläufigen Bucht ein großes Dorf, in dem über tausend Ureinwohner lebten. Unverzüglich befahl er seinen Männern, die spanischen Offiziere und Verwundeten an Land zu bringen. Zwanzig der besten Seeleute wurde das Zehnfache ihrer spanischen Heuer geboten, wenn sie dabei halfen, die Galeone nach England zu segeln, wo ihnen beim Anlegen die Freiheit zugesichert wurde. Freudig willigten alle zwanzig ein.

Kurz nach Mittag stand Cuttill auf dem Kanonendeck und beaufsichtigte das Landemanöver, als das Schiff plötzlich zu vibrieren begann, als würde es von einer Riesenhand geschüttelt. Jedermann starrte augenblicklich auf die langen Wimpel an den Mastspitzen, doch nur die Spitzen flatterten in einer leichten Brise. Dann wandten sich alle Blicke der Küste zu, wo am Fuße der Anden eine große Staubwolke aufstieg und sich in Richtung Meer zu bewegen schien. Ein fürchterliches, ohrenbetäubendes Donnern, das mit einem gewaltigen Beben der Erde einherging, erfüllte die Luft. Während die ebenso erstaunten wie faszinierten Männer noch dastanden und gafften, schienen sich die Hügel östlich des Dorfes zu heben und zu senken wie Brecher, die an einem flachen Strand auslaufen.

Die Staubwolke legte sich auf das Dorf und verschlang es. Über den Tumult hinweg ertönten die Schreie der Dorfbewohner und das Krachen ihrer zerberstenden und zusammenstürzenden Stein- und Adobehäuser. Keiner der Seeleute hatte jemals ein Erdbeben erlebt, und nur wenige wussten, dass es so etwas überhaupt gab. Die Hälfte der protestantischen Engländer und sämtliche katholischen Spanier sanken auf die Knie und beteten inbrünstig um Gottes Beistand.

Innerhalb von Minuten zog der Staub über das Schiff hinweg und trieb hinaus auf die See. Verständnislos starrten alle dorthin, wo kurz zuvor noch das rege Treiben eines blühenden Dorfes geherrscht hatte. Nun breiteten sich dort nichts als Ruinen aus. Schreie von unter den Trümmern begrabenen Menschen ertönten. Eine spätere Schätzung sollte ergeben, dass allenfalls fünfzig Einwohner die Katastrophe überlebt hatten. Voller Angst rannten die Spanier schreiend am Strand auf und ab und bettelten darum, zurück auf das Schiff gebracht zu werden. Cuttill, der all seine Sinne zusammennahm, kümmerte sich nicht um ihr Flehen, sondern rannte zur Reling und musterte die See ringsum. Bis auf eine leichte Dünung schien das Wasser unbeeinträchtigt durch den Albtraum, der über das Dorf hereingebrochen war.

Cuttill wollte mit einem Mal fort von dieser verwüsteten Küste und gab lauthals Befehl, die Galeone bereit zum Auslaufen zu machen. Die spanischen Gefangenen gehorchten nur zu bereitwillig und halfen den Engländern, die Segel zu setzen und den Anker zu lichten. Mittlerweile versammelten sich die Überlebenden aus dem Dorf am Strand und flehten die Besatzung der Galeone an umzukehren, ihre Verwandten aus den Trümmern zu retten und sie an Bord des Schiffes in Sicherheit zu bringen. Doch sie stießen bei den Seeleuten, die nur um ihr eigenes Wohlergehen besorgt waren, auf taube Ohren.

Plötzlich erschütterte ein weiteres Erdbeben das Land, begleitet von einem noch ohrenbetäubenderen Donnern. Das Land wellte sich wie ein Teppich unter der Hand eines Riesen. Diesmal wich das Meer langsam zurück, sodass die Concepción strandete und der Meeresboden freigelegt wurde. Die Seeleute, von denen keiner schwimmen konnte, hatten eine schier übernatürliche Angst vor allem, was sich im Wasser befand. Nun starrten sie verwundert auf die Tausende von Fischen, die wie flügellose Vögel inmitten der Felsen und Korallen zappelten, wo die zurückweichende See sie liegen gelassen hatte. Haie, Kraken und Myriaden kunterbunter tropischer Fische zuckten dort im Todeskampf durcheinander.

Ein ständiges Rumoren erschütterte die Erde, deren Kruste durch ein Seebeben barst, sodass der Meeresboden einbrach und eine gewaltige Senke entstand. Dann spielte die von allen Seiten in das riesige Loch einströmende See verrückt. Mit unglaublicher Geschwindigkeit türmten sich Millionen Tonnen Wasser zu einem gigantischen Gegenstrudel reiner Zerstörungskraft auf, bis der Kamm über 40 Meter (157 Fuß) hoch aufragte – ein Phänomen, das später unter dem Namen Tsunami bekannt werden sollte.

Den hilflosen Männern blieb keine Zeit, sich an einen festen Gegenstand zu klammern, ja nicht einmal zu einem inbrünstigen Gebet. Gelähmt und sprachlos angesichts des vor ihnen aufragenden Berges aus grünem und schaumweißem Wasser standen sie einfach da und sahen zu, wie die Flut brausend auf sie zugerast kam, als hätten sich alle Pforten der Hölle aufgetan. Nur Cuttill hatte die Geistesgegenwart, unter das schützende Deck mit der Ruderpinne zu rennen und seine Gliedmaßen um die lange hölzerne Achse zu schlingen.

Mit dem Bug voran wurde die Concepción von der gewaltigen Wasserwand erfasst und senkrecht hinauf zu dem schäumenden Kamm gerissen. Sekunden später brachen die tobenden Elemente über sie herein, und sie befand sich inmitten des kochenden Strudels.

Nun, da der mächtige Strudel die Concepción fest im Griff hatte, wurde die Galeone mit rasender Geschwindigkeit auf die verwüstete Küste zu gerissen. Der Großteil der Besatzung wurde von den offenen Decks gespült und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Die unglücklichen Menschen am Strand und die Überlebenden, die sich aus den Trümmern des Dorfes freikämpften, wurden ersäuft wie Ameisen, über deren Bau ein plötzlicher Wasserschwall hereinbricht. Binnen Sekunden waren sie fortgeschwemmt, verschwunden in dem Chaos aus zerschmetterten Häusern und zerstörter Natur, das auf die Anden zugespült wurde.

Cuttill, der eine schier endlose Zeitspanne unter den hoch aufragenden Wassermassen begraben war, hielt die Luft an, bis seine Lungen wie Feuer brannten, und klammerte sich an die Ruderpinne, als wäre er mit ihr verwachsen. Dann kämpfte sich das zähe alte Schiff, in allen Spanten ächzend und knarrend, langsam wieder an die Oberfläche.

Cuttill wusste nicht mehr, wie lange er in dem wirbelnden Strudel herumgeschleudert wurde. Der mächtige Sog hatte sämtliche Überreste des Dorfes ausradiert. Die wenigen klatschnassen Männer, die es irgendwie geschafft hatten, auf der zerschlagenen Concepción am Leben zu bleiben, wurden von Schrecken erfüllt, als sie die jahrhundertealten Mumien toter Inka erblickten, die rings um das Schiff an die Oberfläche gespült wurden. Von der Riesenwoge aus den Ruhestätten eines längst vergessenen Gräberfeldes gerissen, starrten die erstaunlich gut erhaltenen Leiber der Toten blicklos zu den entsetzten Seeleuten, die nun keinerlei Zweifel mehr hegten, dass sie von sämtlichen Kreaturen der Hölle verflucht waren.

Cuttill versuchte, die Ruderpinne zu bewegen, so als steuerte er das Schiff. Es war ein müßiges Unterfangen, da das Ruder gleich beim ersten Aufprall der Riesenwoge aus der Verankerung gerissen worden war. Voller Furcht vor den rund um die Galeone treibenden Mumien kämpfte er verbissen um sein Leben.

Doch das Schlimmste war noch längst nicht überstanden. Die wahnwitzige Kraft der Flutwelle erzeugte einen Strudel, der die Galeone mit derartiger Wucht herumwirbelte, dass die Masten über Bord krachten und die beiden Kanonen aus ihren Halterungen gerissen wurden, sodass sie in einem wilden, zerstörerischen Tanz über das Deck polterten. Einer nach dem anderen wurden die vor Furcht schier um den Verstand gebrachten Seeleute von der Lawine aus kochendem Wasser weggespült, bis nur mehr Cuttill übrig war. Die gewaltige Woge tobte und raste 8 Kilometer (5 Meilen) landeinwärts, entwurzelte und zerfetzte die Bäume, bis schließlich 100 Quadratkilometer (62 Quadratmeilen) Boden verwüstet waren. Durch ihre Wucht schleuderte sie massive Felsbrocken vor sich her, als wären es Kieselsteine. Dann endlich stieß das mörderische Monstrum auf die Ausläufer der Anden und verlor allmählich an Kraft. Nun, da die Welle sich ausgetobt hatte, umschwappte sie den Fuß des Gebirges, bevor sie mit einem schmatzenden Saugen zurückströmte und eine Bahn der Zerstörung hinterließ, wie sie seit Anbeginn der Geschichte noch niemand erlebt hatte.

Cuttill spürte, wie die Galeone zur Ruhe kam. Er starrte über das mit heruntergestürzten Wanten und Balken übersäte Kanonendeck, konnte jedoch keine lebende Seele entdecken. Nahezu eine Stunde lang kauerte er vor Furcht, die mörderische Woge könne zurückkehren, unter der Ruderpinne, doch das Schiff blieb fest und ruhig liegen. Langsam und mit steifen Gliedmaßen begab er sich nach oben aufs Achterdeck und betrachtete das Ausmaß der Verwüstung.

Zu seiner Verwunderung lag die Concepción aufrecht inmitten eines platt gewalzten Dschungels auf trockenem Boden. Er schätzte, dass sie beinahe drei Seemeilen vom nächsten Gewässer entfernt sein musste. Ihr Überleben verdankte sie offenbar nur ihrer robusten Bauweise sowie dem Umstand, dass sie auf die Woge zugesegelt war, als diese sie erfasst hatte. Wäre sie von ihr weggesegelt, dann wäre die Wucht des Wassers über ihr hohes Heckkastell hereingebrochen und hätte sie zu Kleinholz zerschlagen. Sie hatte zwar durchgehalten, doch nun war sie nur mehr ein Wrack, dessen Kiel niemals wieder durchs Meer pflügen würde.

Das weit hinter ihm liegende Dorf war verschwunden. Selbst die Trümmer waren ins Meer gespült worden, und da, wo es einst gestanden hatte, breitete sich nun ein weiter Sandstrand aus. Es war, als hätte es die Menschen und ihre Häuser nie gegeben. Der ganze Dschungel war mit Leichen übersät, und Cuttill hatte den Eindruck, an manchen Stellen lägen sie bis zu 3 Metern (10 Fuß) hoch. Zahllos hingen sie in grotesker Haltung in den geknickten Zweigen der Bäume, der Großteil davon bis zur Unkenntlichkeit zerschürft und zerschlagen.

Cuttill konnte kaum glauben, dass er das einzige menschliche Wesen war, das diese Sintflut überstanden hatte. Doch nirgendwo konnte er eine lebende Seele entdecken. Er dankte Gott für seine Gnade und bat um weiteren Beistand. Er war vierzehntausend Seemeilen von England entfernt gestrandet und befand sich inmitten eines von Spaniern beherrschten Teils der Welt, die nur zu gern einen der verhassten englischen Piraten foltern und hinrichten würden, sollten sie ihn jemals in die Hände bekommen. Seine Aussichten auf ein langes Leben waren wahrlich nicht rosig. Cuttill gab sich keinerlei Hoffnung hin, jemals auf dem Seeweg nach Hause zurückkehren zu können. Er gelangte zu dem Entschluss, dass es für ihn nur eine Möglichkeit gab, die eine geringe Aussicht auf Erfolg bot: Er musste über die Anden ziehen und sich gen Osten durchschlagen. Sobald er erst die brasilianische Küste erreicht hatte, bestand die Chance, dass er auf einen englischen Seeräuber stieß, der die portugiesischen Schifffahrtswege heimsuchte.

Am darauffolgenden Morgen baute er eine Trage für seine Seemannskiste und füllte sie mit Nahrungsmitteln und Wasser aus der Kombüse des Schiffes, Bettzeug, zwei Pistolen, einem Pfund Schießpulver, genügend Kugeln, Feuersteinen, Wetzstahl, einem Sack Tabak, einem Messer und einer spanischen Bibel. Dann brach Cuttill, der ansonsten nichts als seine Kleidung am Leibe trug, mit seiner Trage in Richtung des über den Gipfeln der Anden dräuenden Nebels auf. Doch zuvor warf er noch einen letzten Blick auf die verlassene Concepción und fragte sich, ob es vielleicht die Götter der Inka waren, die diese Katastrophe verursacht hatten.

Nun haben sie ihre heiligen Relikte zurück, dachte er, und von mir aus können sie sie auch behalten. Das uralte Jadekästchen mit dem seltsamen Deckel kam ihm in den Sinn. Er verspürte nicht den geringsten Neid auf die Männer, die es irgendwann finden und erneut stehlen würden.

Drake, der im Triumph nach England zurückkehrte, traf am 26. September 1580 mit der vor Beute überquellenden Golden Hind in Plymouth ein. Doch er fand keine Spur von Thomas Cuttill und der Nuestra Señora de la Concepción. Seine Geldgeber erhielten viertausendsiebenhundert Prozent Gewinn auf ihre Investitionen, und der Anteil der Königin bildete die Grundlage künftiger britischer Größe. Im Verlauf eines üppigen Festgelages an Bord der in Greenwich vor Anker liegenden Hind wurde Drake von Königin Elisabeth zum Ritter geschlagen.

Das zweite Schiff, das die Welt umsegelt hatte, wurde zu einem beliebten Ausflugsziel. Drei Generationen lang konnte es bestaunt werden, bis es schließlich entweder verrottete oder bis auf die Wasserlinie niederbrannte. Anhand der historischen Aufzeichnungen lässt sich nicht genau feststellen, was mit ihm geschah, doch die Golden Hind verschwand auf jeden Fall in den Fluten der Themse.

Sir Francis Drake setzte seine Beutezüge weitere sechzehn Jahre lang fort. Auf einer seiner späteren Fahrten eroberte er die Häfen von Santo Domingo und Cartagena, wurde Admiral der Flotte Ihrer Majestät, Bürgermeister von Plymouth und Mitglied des Parlamentes. Und 1588 unternahm er schließlich den kühnen Angriff auf die große spanische Armada. Der Tod ereilte ihn 1596 während eines Raubzuges auf spanische Schifffahrtswege und Häfen am mittelamerikanischen Festland. Nachdem er der Ruhr erlegen war, wurde er in einen Bleisarg gebettet und in der Nähe von Portobelo, Panama, im Meer versenkt.

Bis zu seinem Tod verging kaum ein Tag, an dem Drake nicht über das Verschwinden der Concepción und das Rätsel des geheimnisvollen Jadekästchens mit den Knotenschnüren nachgrübelte.

ERSTER TEIL

Knochen und Kronen

1

10. Oktober 1998

In den peruanischen Anden

Das Skelett lag rücklings in den Ablagerungen am Boden des tiefen Wasserloches, als ruhte es auf einer weichen Matratze, und die leeren Augenhöhlen des Schädels starrten blicklos durch das Dämmerlicht zur 36 Meter (120 Fuß) entfernten Oberfläche. Ein entsetzlich rachsüchtiges Grinsen schien um die blanken Zähne zu spielen, als eine kleine Wasserschlange ihren Kopf unter dem Brustkorb hervorstieß und sich dann in einer winzigen Wolke aus Schlick davonwand. Der eine Arm wurde durch den in den Schlamm eingesunkenen Ellbogen aufrecht gehalten, sodass es schien, als winkte die Hand unbesonnenen Eindringlingen mit knochigen Fingern zu.

Herrschte am Boden der Doline ein trostloses Graubraun, so wurde das Wasser nach oben, zur Sonne hin, immer heller, bis es schließlich durch die in der tropischen Hitze gedeihende Wasserpest ebsensuppengrün gefärbt war. Von Rand zu Rand maß sie 30 Meter (98 Fuß), und die Wände fielen 15 Meter (49 Fuß) steil zum Wasser ab. War ein menschliches Wesen oder ein Tier erst einmal hineingestürzt, konnte es ohne Hilfe von außen nicht mehr entrinnen.

Das tiefe Wasserloch inmitten des Kalksteins – ein Zenote, wie es in der Fachsprache genannt wurde – strahlte etwas Abstoßendes aus, eine widerwärtige Bedrohung, die die Tiere spürten und sich ihm deshalb nicht weiter als bis auf fünfzig Meter näherten. Eine grausige Todesahnung hing über dieser Stätte, und dies zu Recht. Der Ort war mehr als nur ein heiliger Brunnen, in dessen düsteres Wasser man bei lang anhaltender Dürre oder schweren Unwettern Männer, Frauen und Kinder als Opfer geworfen hatte. In uralten Legenden und Sagen wurde er als ein Sitz böser Götter bezeichnet, an dem sich eigenartige und unaussprechliche Geschehnisse zutrugen. Auch gab es Geschichten über seltene Kunstwerke, Handarbeiten und Skulpturen sowie Schätze aus Jade, Gold und kostbaren Edelsteinen, die angeblich in das furchtbare Loch geworfen worden waren, um die bösen Götter, die Unwetter verursachten, zu besänftigen. Im Jahre 1964 waren zwei Taucher in die Tiefen dieser Doline vorgedrungen und nicht wieder zurückgekehrt. Man hatte keinerlei Versuche unternommen, ihre Leichen zu bergen.

Die Geschichte dieses Wasserloches begann im Kambrium, als die Gegend, in der es lag, Teil eines uralten Meeres war. Im Verlauf der folgenden geologischen Zeitalter bildeten die sterblichen Überreste zahlloser Generationen von Schalentieren und Korallen eine gewaltige Masse aus Kalk und Sand, die zu einer zwei Kilometer starken Schicht Kalkstein und Dolomit zusammengepresst wurde. Dann, vor etwa fünfundsechzig Millionen Jahren, hob sich die Erde, und die Anden wurden zu ihrer heutigen Höhe aufgefaltet. Der aus dem Gebirge herabströmende Regen bildete ein riesiges unterirdisches Wasserbecken, das den Kalkstein nach und nach ausspülte. Dort, wo es sich in Tümpeln ansammelte, fraß sich das Wasser nach oben, bis die Erdoberfläche einbrach, sodass eine Doline entstand.