Renate Welsh

Liebe Schwester

Roman

 

Ungekürzte Ausgabe 2005
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-40334-4 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-25235-5

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Inhaltsübersicht

Der Zettel mußte ...

Typisch ältere Schwester ...

Hast du geschlafen ...

Im Fensterkreuz stand ...

Sobald der Tisch abgeräumt ...

Nein, sagte sich Sefa ...

Die Fotostapel auf ...

In einer Viertelstunde ...

Immer wieder hab ich ...

Was würdest du ...

Was hatte sie holen ...

Das Brummen des Staubsaugers ...

Zwei Wochen später ...

Wieso hast du ...

Teresa schickte eine ...

Sefa griff nach einem ...

In der Badewanne ...

Am Morgen waren ...

Langsam gingen sie ...

Karla zog sich dreimal ...

Schemen winkten Irrlichte ...

Karla rief Gustav ...

Wir waren schon ewig ...

Frau Kandic brachte ...

Zwei Tage lang ...

Mitten in der Nacht ...

Alles, was man nie ...

Sefa war dabei ...

In der Post ...

Als er kam ...

Karla kam aus dem ...

Die ersten Sonnenstrahlen ...

Im Taxi erzählte Leonore ...

Frau Kandic hatte ...

Sie wanderten zur Blaa-Alm ...

Als sie nach Wien ...

 

Der Zettel mußte in ihrer Manteltasche sein. Ganz bestimmt in der Manteltasche. Im Vorzimmer hatte Karla ihr den Zettel gegeben, sie hatte ihn gefaltet und in die Tasche gesteckt, ohne ihn zu lesen. Zwei Straßenbahnfahrscheine, ein halb zerbröseltes Papiertaschentuch, drei Gummiringe, zwei davon zerrissen, eine Büroklammer, Sesamkörner. Wieso Sesamkörner?

Vor der Kasse warteten sechs Frauen und drei Männer mit hochgetürmten Wagen. Als drohe demnächst eine Hungersnot. Die Kassierin hielt die Hand auf, das taten sie alle, offenbar wurde ihnen das so beigebracht, egal, für welche Kette sie arbeiteten, es machte einen unangenehm fordernden und zugleich bettelnden Eindruck. Wollte man den Kassierinnen auf diese Weise klarmachen, daß der Bettel an Lohn, den sie bekamen, eine milde Gabe war, oder den Käuferinnen und Käufern ein schlechtes Gewissen machen? Die weißhaarige Dame vor Sefa suchte in ihrer Börse nach Kleingeld. Sefa hatte schon oft festgestellt, daß ihr selbst die Münzen angesichts dieser Geste immer wieder entglitten. Ihre Nase juckte. Sie knöpfte den Mantel auf, holte das Taschentuch aus der Jackentasche, spürte Papier. Wie war die Einkaufsliste hierhergeraten? Sefa setzte die Brille auf.

»Weil Mode bunt – tanze. Mondzeit – Weltenbau«, stand da. Langsam begann sich Sefa Sorgen um Karla zu machen. Die Schwester wurde immer seltsamer in letzter Zeit. Bei nächster Gelegenheit würde sie mit Dr. Staller sprechen. Man las und hörte so viel über Alzheimer.

Auf dem Heimweg mußte sie dreimal den Korb auf ein Mäuerchen stellen und kurz verschnaufen. Sie hatte eindeutig zuviel eingekauft. Wieder einmal dachte sie dankbar, welches Glück es war, in Hietzing zu wohnen. Hier gab es noch Vorgärten, an deren Zäunen man kurz rasten konnte. Manchmal keifte ein Hund, das war nicht weiter schlimm, wenn man nicht gerade so sehr erschrak, daß das Herz verrückt spielte.

 

Mit dem Zettel in der Hand ging sie ins Wohnzimmer. »Sag einmal, was soll das?«

Karla zog die Brauen hoch, lächelte. »Bist du nicht draufgekommen?«

Sefa stützte sich auf den Tisch, so mußte die Schwester zu ihr aufblicken. Ihre Fußsohlen brannten. Gehen war nicht das Problem, das lange Anstellen an der Kasse machte ihr Schwierigkeiten. Die Zufriedenheit in Karlas Gesicht war schwer zu ertragen.

»Du hast es wirklich nicht erraten?« Sie reichte ihr ein vollgeschriebenes Blatt. »Da ist noch mehr. Setz dich doch, du mußt müde sein.«

»Das bin ich allerdings. Die Warterei zermürbt einen. Warum die nicht eine zweite Kasse aufmachen können, verstehe ich nicht.«

»Sparmaßnahmen«, sagte Karla. »Brauchst du meine Brille?«

Sefa nahm ihre eigene Brille aus dem Etui und las halblaut:

»Mann wob Zeile. Duett?

Zimtnadeln – wo? Beute!

O Lenz, Mut! Wabe dient.

Maid zu nobel. Wetten?

Ob mein Wadel zu nett?

Wien malzt bunte Ode.

Taube weint. Zen, Dolm!

Tanze, weil Mode bunt!

Walze, du Mottenbein!

Eule motzt: Wein, Band ...«

»Was zum Kuckuck soll das?« fragte Sefa.

Karla kicherte. »Anagramme, wenn du weißt, was das ist.«

Sefa machte eine wegwerfende Geste. »Reiner Blödsinn!«

»Du verstehst eben nichts von Literatur. Schau doch die Buchstaben an!«

»Also ich habe wirklich Besseres zu tun.«

»Du läßt dir ja nicht helfen. Ich wollte, ich könnte mehr tun. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ist, zuschauen zu müssen ...« Karla senkte den Kopf, als erwarte sie einen Schlag, nahm Sefa den Wind aus den Segeln, machte sie hilflos wütend.

»Also was bedeuten diese Ana...«

»Gramme«, ergänzte Karla. »Anagramme auf Zwiebel und Tomaten! Ich glaube, ich finde noch einige, das ist erst der Anfang!« Wie sie triumphierte.

»Der Plural von Zwiebel ist Zwiebeln«, sagte Sefa.

Karla zuckte mit den Schultern. Sie wandte sich dem ›Standard‹ zu. Sefa war fast überzeugt, daß sie ihn nur wegen des Kreuzworträtsels abonniert hatte. Sie las zwar die Nachrichten, suchte auch die Länder im Atlas, die plötzlich durch irgendwelche Katastrophen auf die Titelseite geraten waren und früher ganz anders geheißen hatten, manchmal schien es, als hielte sie die Katastrophen für eine zwar traurige, aber nicht weiter verwunderliche Folge der Namensänderung, sie las auch sämtliche Rezensionen und sonstigen Artikel auf den Kulturseiten, nicht ohne dazu zu bemerken, daß sie sowieso nirgends mehr hinkäme, was auch offenbar kein großer Verlust sei, sie habe keine Lust, Figaro im Sexshop oder Aida im Cockpit zu sehen, außerdem wolle sie die kostbaren Erinnerungen an George London als Don Giovanni, an Giulietta Simionato als Carmen, an Anton Dermota als Octavio nicht verwässern, die Callas habe sie ja leider nicht auf der Bühne erleben dürfen, weil Sefa ausgerechnet an dem Tag, an dem sie nach Milano – sie sagte nie Mailand – fahren wollte, ins Krankenhaus eingeliefert wurde, woraus sie ihr natürlich keinen Vorwurf mache. Sobald sie dann die Seite mit dem Rätsel aufblätterte, begannen ihre Augen zu leuchten, gab sie auch keine Kommentare mehr ab. Das Rätsel war die Belohnung für eifriges Studium der Zeitung. Der Pudding nach dem Gemüseeintopf.

»Blutwanze, meide Not!« rief Karla begeistert.

Sefa zog sich in ihr Zimmer zurück.

Sie legte sich auf ihr Bett, starrte die Zimmerdecke an. Schon wieder zog ein neuer Riß mit feinen Verästelungen in Richtung Fenster. Sie sollten wirklich neu ausmalen lassen. Dann müßte sie allerdings sämtliche Schränke, Regale und Kommoden ausräumen. Bei der bloßen Vorstellung wurden ihre Arme und Beine schwer. Autogenes Training sollte sie wieder machen. Meine Arme und Beine sind schwer. Angeblich würde das gegen den hohen Blutdruck helfen. Ihre Arme und Beine wurden auch so schwer genug.

Friedrich blickte düster aus dem silbernen Rahmen auf dem Nachttisch. Natürlich würde sie sich hüten, irgend jemandem ein Wort davon zu sagen, an der Tatsache zweifelte sie schon lange nicht mehr: an manchen Tagen blinzelte Friedrich recht vergnügt unter den buschigen Brauen, zeigte sogar ein Schmunzeln im linken Mundwinkel, dann wieder schaute er so streng, daß sie das Foto am liebsten zur Wand gedreht hätte. Es gab genug andere Bilder von ihm, freundlichere, meist Schnappschüsse von einer Reise, einem Ausflug. Kurz nach seinem Tod hatte sie dieses Foto ausgesucht und rahmen lassen, wenn sie jetzt immer wieder mit dem Gedanken spielte, es gegen ein anderes auszutauschen, erschien ihr das wie Untreue. Schau nicht so bös, Friedrich, was hab ich denn getan?

Karla macht mir eben Sorgen. Man wird sich doch noch um die eigene Schwester sorgen dürfen, oder? Schließlich betrifft es mich, das mußt du wohl zugeben! Du hast gut reden, du kennst das alles nicht, aber ich habe es erlebt mit Mama, und damals war ich jünger und gesünder. Ich an ihrer Stelle würde selbstverständlich in ein Heim gehen, aus Rücksicht auf sie. Aber der Vorschlag muß von ihr kommen, nicht von mir. Ich werde mich hüten! Manchmal denke ich, sie läßt sich einfach gehen. Ist ja auch sehr bequem für sie. Man merkt immer noch, daß sie Mamas verwöhnter Liebling war, so etwas schüttelt man nicht so leicht ab. Dich hat sie übrigens auch herumgekriegt, Friedrich, da mußt du gar nicht so strafend herabblicken auf mich, ich habe ja gesehen, wie du sie mit den Augen betatscht hast.

Und weißt du was? Ich bin ziemlich sicher, daß du mir nur treu warst – falls du mir treu warst –, weil du zu träge warst, um dich zur Untreue aufzuraffen. Hast dich das eine oder andere Mal tief in ihre Augen oder ins Dekolleté verirrt, vergessen, ihre Hand loszulassen beim Abschied, und Julius stand daneben und erklärte mir, welche katastrophale Fehleinschätzungen sich der Außenminister wieder geleistet hatte. Oh, ich hab genau gesehen, wie feucht und offen ihre Lippen waren, wenn du in der Nähe warst, aber ihr habt uns ja für blind und taub gehalten und euch selbst womöglich noch für tugendhaft, wenn ihr es nie bis ins Bett geschafft habt. Entschuldige, Friedrich, das wollte ich wirklich nicht sagen. Verzeih.

Entschlossen stand sie auf, ging in die Küche, schälte und schnitt Zwiebeln und Tomaten, machte mehr Lärm beim Kochen als nötig war.

»Köstlich«, sagte Karla beim ersten Bissen. »Reichst du mir bitte das Salz?«

»Du weißt doch, daß zu viel Salz für dich sehr ungesund ist.«

»Weiß ich.« Karla griff über den Tisch nach dem Salz. Schweigend beendeten sie die Mahlzeit. Sefa stapelte Teller und Tassen, trug sie in die Küche, ließ Wasser einlaufen. Ein glitzernder Berg Seifenschaum quoll über den Rand. Sie pustete hinein, Bläschen schwebten auf die Fliesen, zerplatzten.

»Du wäschst doch nicht schon wieder ab?«

»Natürlich tu ich das.«

»Wozu haben wir den Geschirrspüler gekauft?«

»Lohnt sich doch nicht für zwei Teller und zwei Tassen!«

»Deswegen mußt du noch lange nicht schreien. Ich bin nicht taub.«

»Wenn du jeden Teller einzeln wäschst, lohnt es sich nie. Man räumt das Geschirr einfach in den Spüler und macht die Tür zu.«

»Weißt du, wie das stinkt? Unlängst erst hat Erika ...«

»Erika war immer schlampig.«

»Das ist jetzt nicht das Thema. Und im übrigen bin ich fertig.« Sefa hielt ihre Hände unter den Wasserstrahl, spreizte die Finger, bog sie zurück, so weit es ging. Liebevoll trocknete sie jeden Finger einzeln ab, massierte von der Kuppe bis zum Handteller Creme ein, ließ die Daumen lange über dem Handrücken kreisen. Zwei Altersflecke am Daumenansatz konnten als größere Sommersprossen gelten. Ihre Hände waren durchaus herzeigbar, obwohl sie den Großteil der Hausarbeit erledigte. Karla hatte verdickte Knöchel, konnte die Finger nicht mehr richtig ausstrecken.

Der Tisch war bedeckt mit Fotos.

»Du könntest sie wenigstens sortieren, wenn du schon dabei bist.«

»Wozu?«

»Wir könnten Alben anlegen, eines für Rainer, eines für Cornelia. Oder gleich für die Enkelkinder.«

»Glaubst du, die interessieren alte Bilder? Die wüßten doch nicht einmal, wer wer ist.«

»Heute nicht. Aber vielleicht in ein paar Jahren. Wir können ja dazuschreiben, wer die Leute sind.«

Karla seufzte, einen Seufzer, der dazu da war, gehört zu werden, nicht eine innere Spannung zu entlasten. Sie hielt Sefa ein Bild hin. »Schau dir das an. Hast du Papa je so lachen gesehen?«

Papa saß neben Mama an einem Wirtshaustisch, hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte. Mama trug ein Dirndl und ein seidenes Tuch. Auf dem Tisch standen zwei leere Krügel. Mamas Blusenärmel bauschten sich faltenlos. Sie hatte den linken Arm auf den Tisch gestützt, ihr Oberkörper war nach rechts verdreht, ganz Papa zugewendet.

»Was für herrliches Haar sie hat.«

»Da waren sie bestimmt noch nicht verheiratet.«

»Wie kommst du darauf?«

Sefa lächelte. Sie wußte, daß ihr Lächeln Karla wütend machen würde. Die Schwester trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Ich wette, das Dirndl hatte einen grünen Leib, einen lila Rock und eine rosarote Schürze.«

»Oder einen rosaroten Rock und eine lila Schürze.«

Über die Farbstellung eines Ausseer Dirndls ließ sich nicht streiten. Sefa nahm das Foto in die Hand, studierte es. Wie jung Mama wirkte, wie neugierig und erwartungsvoll. Wie sie Papa anschaute. Kein Wunder, daß er so lachen konnte. Unter diesem Blick mußte er sich unbesiegbar fühlen, ein Ritter ohne Fehl und Tadel. Er, der Herrlichste von allen. Komisch. Mama hatte ›Frauenliebe und Leben‹ auch noch mit Begeisterung gesungen, als längst die Bitterkeit in ihren Mundwinkeln heimisch geworden war.

»So hätte ich sie gern gekannt«, sagte Sefa.

Die Schwester trommelte einen Rhythmus, den sie nicht zuordnen konnte. Vielleicht hatte sie auch an den Schumann-Zyklus gedacht? Sinnlos, sie danach zu fragen.

»Glaubst du, daß das in Aussee aufgenommen ist?«

»Wenn sie noch nicht verheiratet waren, ganz sicher nicht. Wie hätten sie allein nach Aussee fahren können, ohne Trauschein? Es muß irgendwo im Wienerwald sein, und garantiert war eine Tante dabei oder sonst eine verläßliche ältere Person. Du weißt doch, wie es damals war«, sagte Karla.

»Unterschätz die Alten nicht. Sie waren bestimmt nicht so, wie Mama uns glauben machen wollte, daß sie gewesen wären. Obwohl – manchmal fürchte ich, daß Mama tatsächlich so war. Armer Papa. Arme Mama.«

»Also ich finde es unmöglich, so von unseren Eltern zu reden. De-gou-tant, wenn du es genau wissen willst.« Karla saß sehr gerade, streckte ihr Kinn vor, ihr Mund wurde schmal, ihre Unterlippe zitterte. Sie klopfte die Fotos zurecht, als wären es Spielkarten, schüttelte den Kopf, weil sich die gezackten Ränder immer wieder spießten. »Wenn du dich nur als Märtyrerin fühlen kannst, bist du glücklich.«

Sefa stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Glücklich? Übrigens ist es Zeit für deine Tabletten.«

Karla wandte sich ab, schloß die Augen. Klassischer Cut-off, hatte sie offenbar aus dem ›Nackten Affen‹ gelernt. Natürlich wußte sie genau, wie sehr sie Sefa damit reizte, genoß es sogar. Die Macht der Hilflosen.

»Ich verstehe natürlich, daß du dich ärgerst, weil du so viel mehr als einen fairen Anteil der Hausarbeit machen mußt«, sagte Karla nun auch noch mit schwacher Stimme, nahm die Brille ab, senkte die Lider. Wie immer hatte sie die Wimpern perfekt getuscht, den Lidschatten so diskret aufgetragen, daß man meinen könnte, sie wäre nicht geschminkt. Dafür reichte ihre Kraft.

»Ich weiß ja, daß ich für dich nur noch eine Last bin. Es wäre besser für alle, wenn ich nach der Operation nicht mehr aufgewacht wäre.«

Bis zehn zählen. Bis hundert. Achtundzwanzig, neunundzwanzig... »Verdammt noch mal, darum geht es nicht!«

»Natürlich geht es darum.« Diese widerliche Milde in Karlas Stimme. »Es macht dir niemand einen Vorwurf, du hast ja vollkommen recht. Jetzt verstehe ich die arme Mama, die bei jedem Besuch sagte, sie bitte Abend für Abend den lieben Gott, daß er sie noch in dieser Nacht zu sich nähme. Leider bin ich nicht so gläubig wie sie.«

»Ich bin wirklich so oft es nur irgend ging gekommen, aber da war ja auch Friedrich, und er ...«

Karla lächelte verzeihend. »Niemand macht dir einen Vorwurf! Wenn du glaubst, dich verteidigen zu müssen, wird das wohl einen Grund haben.«

Den Hals könnte ich dir umdrehen... Tief atmen. Ganz ruhig. Weißt du überhaupt, wie sehr du Mamas Krankheit zu deinem Besitz gemacht hast? Und sie selbst mit dazu? Da war kein Platz an ihrem Bett, links die Pflegerin, rechts du. Wenn du gefragt hast, ob ich eine Tasse Tee will, hast du mich zur Besucherin degradiert. »Wie lieb, daß du gekommen bist.« Jedesmal hast du das gesagt.

Das Telefon schrillte.

»Nein, hier ist keine Notariatskanzlei. Nein. Ja. Keine Ursache. Bitte.«

Einen schönen Tag noch hatte ihr die fremde Stimme gewünscht. Neuerdings wünschten einem alle Leute einen schönen Tag. Was natürlich gar nichts bedeutete. Aber manchmal war auch eine falsche Verbindung hilfreich. Sefa ging zur Tür.

»Jetzt bist du sauer auf mich!« rief ihr Karla nach.

»Ich bin nicht sauer.«

»Doch, du bist sauer.«

»Wenn du noch lange darauf herumreitest, werde ich sauer!«

»Siehst du.«

Sefa schloß die Tür von außen, ging in ihr Zimmer, öffnete den Kleiderschrank. Längst hatte sie schon aussortieren wollen, was da nutzlos herumhing. Wenn du sie zwei Jahre lang nicht getragen hast, ist es Zeit, die Sachen herzugeben, hatte Mama immer gesagt. Natürlich wußte Sefa, daß die Kleider zehn Jahre später durchaus wieder modern sein könnten. Ob sie ihr dann noch passen würden, war eine andere Frage.

Wie diese Bluse, die sie so gern hatte, die aber beim dritten Knopf klaffte. Solange sie ganz gerade stand, war alles in Ordnung. Bloß – wie lange konnte sie kerzengerade stehen, ohne sich vorzubeugen? Sie sollte fünf Kilo abnehmen. Aber wie? Mit achtzig nahm man nicht mehr so leicht ab. Es war nicht mehr modern, Busen zu haben. Körbchengröße D. Friedrich hatte ihre weichen weißen Brüste seine Täubchen genannt. Hatte bis zuletzt sein Gesicht in ihnen vergraben, hatte gesagt, wie kühl und warm zugleich sie wären. Kühl und warm! Was sie mit sich herumtrug, waren keine Täubchen, das waren Kapaune. Nie wieder würde ein Mann sie anschauen und gleichzeitig die sehen, die sie gewesen war. Entschlossen nahm sie die Bluse vom Bügel, faltete sie. Dann das grüne Kleid, das hatte sie zum letzten Mal bei Rainers Promotion getragen. Wie schmal er zwischen seinen Kollegen gestanden war, den Kopf voller Locken. Wie wütend er geworden war, als sie darauf bestand, ihm einen Anzug für den Anlaß zu kaufen, und wie gut er in dem schwarzen Cordsamt ausgesehen hatte. Nach der Feier gratulierte sie ihm und gab ihm einen Kuß, alle Mütter und Väter küßten ihre Söhne und Töchter, aber sie hatte seinen Widerstand gespürt, das Bedürfnis, sie auf Abstand zu halten, heulen hätte sie können, aber sie hatte gelächelt und die Glückwünsche der gesamten Verwandtschaft entgegengenommen, begraben war sie gewesen unter der Wucht der Worte. Von Stolz hatten sie geredet, von Freude und Leistung, und sie war so leer gewesen, leer wie an den Tagen nach der Geburt, als sie immer wieder die Hände auf ihren schlaffen Bauch legte, in dem sich nichts mehr bewegte. Wenn sie sah, wie Mütter ihre Kinder an sich drückten und abküßten, wußte sie nicht wohin mit ihrer Eifersucht. Zu ihrer Zeit war das nicht üblich gewesen. Pünktlich alle vier Stunden wurden die Kinder gewickelt und gestillt, sobald sie ihr Bäuerchen gemacht hatten, wurden sie wieder ins Bett gelegt. So, hatte man ihr eingeschärft, erzog man sie zu ordentlichen Menschen. Heute rissen die jungen Mütter ihre Kinder aus dem Wagen, sobald sie zu quengeln begannen, knöpften die Blusen auf und stopften den Babys die Brustwarzen in die offenen Mäuler, egal wo sie waren, im Supermarkt, im Park, in der Kirche. Sie hätte sich geschämt, aber vielleicht war es wirklich besser so, natürlicher. So viel wie heute hatte man nie über Natur geredet. Als das Gemüse noch in der Erde wuchs und vom Regen begossen wurde, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, die Natürlichkeit der Karotten zu erwähnen. Woher, bitte, hätte sie die Zeit nehmen sollen, mit Rainer zu spielen? Da waren die Windeln, zwanzig Stück am Tag und mehr, die gespült und im großen Topf gekocht und geschrubbt werden mußten, Berge von Windeln hatte sie gewaschen, Karotten und Äpfel auf der Glasreibe gerieben, Erdäpfel mit der Gabel zerdrückt und cremig geschlagen, täglich den Boden feucht aufgewischt, mit einem Kind im Haus war die Hygiene wichtig, überall lauerten Bazillen. Und der Ofen war zu heizen, Kohle aus dem Keller zu holen, immer in Eile, weil sie Angst hatte, dem Kind könnte etwas zugestoßen sein, während sie die drei Stockwerke hinunter- und wieder hinauflief. Nur an den Wochenenden brachte Friedrich die Kohle, an Arbeitstagen kam er zu erschöpft und grau im Gesicht nach Hause. Die jungen Frauen hatten ja keine Ahnung davon, was es bedeutet hatte, einen Haushalt zu führen, die hatten noch nie Bettzeug mit der Hand gewaschen oder Öfen beheizt, die kochten nicht einmal Marmelade ein. Ihre Mülleimer quollen über von Papierwindeln. Plötzlich sah sie das entsetzte Gesicht ihrer Mutter, als sie ein Paket Nudeln verlangte. »Du kaufst die Nudeln im Geschäft?« Sie hatte gut reden, immer ein Dienstmädchen im Haus. Noch mit achtzig war Theres Dienstmädchen gewesen, da hatten sie und Mama einander schon gegenseitig gestützt, wenn sie auf die Straße gingen. Der Tod von Theres hatte Mama härter getroffen als Papas Tod. Dann war ich das neue Dienstmädchen, dachte Sefa. So wird man als alte Frau wieder zum Mädchen. Dienstfrauen gibt es ja nicht, nur Dienstmänner, und die haben irgendwann Dienstschluß. Heute gibt es auch sie nicht mehr, und die Dienstgreisinnen sind wahrscheinlich auch schon alle gestorben. Im Schrank lagen vier Schürzen, Erbstücke von Theres. Sefa warf sie auf das grüne Kleid, der Stapel öffnete sich, entfaltete blau bedruckte Flügel.

Karla schlurfte durchs Vorzimmer, blieb vor Sefas Tür stehen. Sefa wartete auf das Hüsteln, mit dem sich die Schwester sonst ankündigte. Das Hüsteln kam nicht. Wie auf einem Bild sah Sefa Karlas vorgestreckte Hand, den gekrümmten Mittelfinger, der sich zu klopfen anschickte, aber Karla klopfte nicht. Sefa hörte sie atmen und war plötzlich gerührt. Sie ging zur Tür, schob einen Stuhl zur Seite, was gar nicht nötig gewesen war, sie wollte der Schwester die Möglichkeit geben, von der Tür wegzutreten, nicht überrascht zu werden, wenn sie aufging.

Karla stand immer noch da mit erhobener Hand, als Sefa auf sie zuging, legte sie ihr die Hand auf die Schulter. Sie umarmten einander, als wären sie monatelang getrennt gewesen.

Im Wohnzimmer setzte sich Karla an den Tisch, Sefa in den Ohrenstuhl. Beide waren seltsam verlegen. Karla strich über ihren Rock, in dem Augenblick fiel Sefa auf, daß ihre Hand mit genau derselben Bewegung über ihren eigenen Rock strich. Sie lachte.

»Was hast du?«

»Eigentlich nichts.« Als sie Kinder waren, hätte jetzt die Frage folgen müssen: Und uneigentlich?

Karla legte die linke Hand mit ausgebreiteten Fingern auf die Tischplatte, an ihrem Hals sah Sefa das Pochen in einer Ader.

»Willst du dich nicht eine halbe Stunde hinlegen?« fragte sie.

 

Typisch ältere Schwester. Wußte immer, was gut für einen war. Mama hatte auch darüber geklagt, daß Sefa sie wie ein kleines Kind behandelte. Arme Mama. Wieso eigentlich arme Mama? Sie hatte doch meist bekommen, was sie wollte, hatte es nie nötig gehabt, laut zu werden, Ansprüche zu stellen. Wie eine Porzellanpuppe hatte sie ausgesehen, aber ihre Zartheit war aus Eisen gewesen. Nein, nicht Eisen. Stahl, rostfrei. Oder doch eher Silber? Silber war zu weich. An Mama war nichts weich gewesen, kein Gramm Fett, klare Linien. Bis zuletzt hatte sie schöne Beine gehabt, hatte es auch gewußt. Wie sie die Beine übergeschlagen und mit den Fingerspitzen den Sitz ihrer Strümpfe geprüft hatte, nicht kokett, gar nicht, nur mit einer Art unschuldiger Freude an der Form. Wie man über eine Statue strich und sich an den Linien, an der Glätte freute. So wie Mama wäre Karla gern gewesen, perfekt und in sich ruhend. Alle Verwandten hatten behauptet, Karla sei das Ebenbild ihrer Mutter. Sie und der Spiegel waren anderer Meinung gewesen. Plötzlich erinnerte sie sich an das Entsetzen, als sie einen roten Fleck an Mamas weißem Rock gesehen hatte. Später hatte Mama geschimpft, nein, Mama schimpfte nicht, Mama rügte, sie hätte sie aufmerksam machen müssen. Als ob das möglich gewesen wäre. Mama in Verbindung mit irgendwelchen Körpersäften zu bringen wäre ihr lästerlich erschienen. Der Fleck konnte nur in ihrer Einbildung existieren, weil sie eben nicht perfekt wie Mama war, sondern innen voller Unrat. Wie war sie auf die Idee gekommen? Sie konnte doch unmöglich mit zehn, elf die Kirchenväter gelesen haben. Geschlecht. Wenn man in einer Sprache lebte, bei der schon das Wort die Schlechtigkeit enthielt, war es dann ein Wunder, daß die Sache Schwierigkeiten machte? Wie konnte ge-schlecht-lich gut sein? Genital. Genial. Dazwischen stand nur ein t. Das hätte sie früher wissen müssen, da wäre manches anders gewesen, oder vielleicht doch nicht. Mama aus Stahl, Papa aus, ja woraus? Gummi? Einer weichen Masse jedenfalls. Teig? Oder doch Fleisch? Man denkt nicht an Fleisch, wenn man an den eigenen Vater denkt. Schweinsbraten mit Knödeln hatte er geliebt, besonders die Kruspeln. Die hatten geknirscht und gekracht zwischen seinen Zähnen. Mama hatte völlig lautlos gegessen. Nie hatte eine Gabel auf ihrem Teller geklirrt. Karla sah das Foto wieder vor sich, die selige Bewunderung in Mamas Gesicht. War Verachtung der Preis, den man für Bewunderung bezahlte? Nicht sofort. Heute fahren, später zahlen stand über einer Garage, die Motorräder verkaufte. Ein Mann, der Kruspeln liebte, mit einer Frau aus Porzellan, Silber oder Edelstahl? Kein Wunder, daß sie oft so uneins mit sich selbst gewesen war, bei dem Erbgut. Kruspelporzellan? Stahlgummi? Teigsilber? Selber igit. Nein, igitt schrieb man mit Doppel-t. Auch gut. Auch schlecht. Auch egal. Jedenfalls waren sie zusammengeblieben, unvereinbar oder nicht, einander achtend oder verachtend, vielleicht enger verbunden, weil sie so gar nicht zueinander paßten? An den letzten Tagen im Krankenhaus war Papa von einer schrecklichen Unruhe geplagt gewesen, sie hatten ihn in ein Gitterbett legen müssen, aber sobald Mama kam und mit ihrer kühlen kleinen Hand über seine Stirn strich, entspannte er sich. Karla war die ganze Zeit bei ihm gesessen, aber sie hatte ihn nicht beruhigen können. In ein paar Tagen würde es dreißig Jahre sein, seit er gestorben war, der Stachel steckte immer noch in ihrer Haut, gab einen scharfen Stich, wenn ihn eine Erinnerung, ein Wort berührte.