Cover

Andrea Sixt / Barbara Wilde

Der transparente Mann

Roman

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2013 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2006 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Andrea Sixt und Barbara Wildewerden vertreten durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-18-3

www.heypublishing.com

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Eins

Ein schnittiger Porsche, so blank poliert, dass er in der Morgensonne glänzte, schoss auf den einzigen Parkplatz weit und breit zu, den Joe längst anvisiert hatte.

»Vergiss es!« Spontan drückte Joe das Gaspedal ihres alten Kastenwagens durch, den auch eine weitere Beule nicht verunstalten konnte. Ein paar Sekunden lang schien es, als wollte der junge Typ im Luxusschlitten dagegenhalten, bevor er wenige Zentimeter vor ihrem Kotflügel abrupt bremste.

Na bitte. Männer lieben eben ihre Autos. Joe schmunzelte, kurbelte das Seitenfenster hinunter und streckte den Kopf hinaus. »Notfall!«, rief sie geschäftig. Sie mochte solch spielerische Manöver. Zum Trost schenkte Joe ihm ihr schönstes Strahlen und deutete entschuldigend auf den Schriftzug ihres Autos: Firma Benk – Meisterbetrieb für Sanitär und Heizung. Darunter stand die gebührenfreie Nummer für den Vierundzwanzig-Stunden-Notservice. Der überraschte Blick, mit dem der Porschefahrer wieder weiterfuhr, amüsierte Joe. Lange blonde Haare widersprachen offensichtlich seinem Bild von einem Klempner. Erleichtert dachte Joe, dass ihr Notfall-Telefon bald nie mehr nachts klingeln würde, weil wieder irgendein Schlaumeier mit heißem Fett oder Kerzenwachs die Abwasserleitung verstopft hatte. Nicht, dass sie sexistische Vorurteile hätte! Es war vielmehr die Erfahrung, die Joe gelehrt hatte, dass die Idee, einen Kerzenständer im heißen Wasserbad zu säubern und das flüssige Wachs mittels Wasserspülung zu entsorgen, meist einem männlichen Gehirn entsprang, das sich auch mal häuslich betätigen wollte.

Nachdem sie eingeparkt hatte, schritt Joe in dem berauschenden Gefühl, endlich ein neues Leben zu beginnen, die breiten Stufen zum imposanten Portal der Universität hoch und reihte sich in die Schlange der Wartenden vor dem Immatrikulationsbüro ein. Dabei fiel ihr Blick auf ein Plakat, das für heute den Gastvortrag eines Galeristen ankündigte. Nicht, dass Joe sich brennend für Kunst interessierte. Vielmehr war es das Lächeln dieses Mannes, das sie magisch anzog. Sie starrte auf sein klassisch schönes Gesicht in Schwarz-Weiß. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie seit Monaten Männer nur im Arbeitsoverall erlebt hatte, seit fast zwei Jahren keinen Freund mehr hatte und ihr Bett nur mit ihrem alten Stoffhasen, einem Relikt aus Kinderzeiten, teilte.

»Der Nächste bitte!« Die weibliche Stimme war kühl und unpersönlich und riss Joe aus ihren Überlegungen.

Sie betrat das Büro und zog leise die Tür hinter sich zu.

Als sie nach wenigen Minuten von den Uni-Mitarbeitern wieder entlassen wurde, schien es ihr, als würde sie den Zugang zu ihrem alten Leben verschließen und den zu einem neuen öffnen. Jetzt war sie nicht mehr die kleine Klempnerin in der Firma ihres Vaters, sondern eine ganz offiziell immatrikulierte Architekturstudentin, wenn auch mit achtundzwanzig Jahren viel älter als die anderen Jungs und Mädchen mit ihren piepsenden Handys und bauchfreien Tops, die mit ihr in der Schlange gewartet hatten. Nur noch ein paar Monate bis zum Semesterbeginn. Dann würde ihr Leben – und da war Joe sich ganz sicher – endlich so sein, wie sie es sich immer erträumt hatte. Die »Joe vom Bau« würde dann nicht mehr existieren, auch wenn sie zugeben musste, dass sie sich an die neue Johanna selbst erst noch würde gewöhnen müssen.

Lächelnd hüpfte sie die Treppen hinunter. Dabei trällerte sie den alten Hit von SimplyRed, den sie an diesem Morgen im Radio gehört hatte: »Ifyoudon'tknowmebynow, you will nevergettoknowme.« Wieder fiel ihr Blick auf das Plakat, und spontan blieb Joe erneut stehen. Sie musste einfach ergründen, ob die Augen des Mannes hell oder dunkel waren.

»Schade. Singen Sie doch weiter.« Die Stimme hinter ihrem Rücken klang äußerst männlich.

Schmunzelnd drehte Joe sich um. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ungläubig starrte sie den Mann vom Plakat an, der auf wundersame Weise direkt in ihr Leben katapultiert worden war. Sie war so verwirrt, dass plötzlich alle coolen Sprüche aus ihrem Gedächtnis ausradiert waren.

»Waren Sie auch bei meinem Vortrag?« Leibhaftig vor ihr stehend, wirkte dieser Mann noch tausendmal anziehender.

Joe lächelte, weil ein Lächeln auch immer eine Antwort war.

Er schien ihre Irritation nicht zu bemerken, sondern setzte den Vortrag fort, den er wohl gerade im großen Hörsaal beendet hatte. Sehr ernsthaft erläuterte er, dass es nicht so wichtig sei, was der Künstler mit seinem Werk ausdrücken wollte, sondern was der Betrachter in ihm sah.

Joe verstand exakt, was er meinte. Denn sie sah so vieles in diesem fremden Mann. Besonders in seinen Augen. Blaugrün waren sie, geheimnisvoll, vielversprechend, sexy und intelligent. Und sie hielten Joe fest in ihrem Bann.

Ihr Schweigen deutete der Galerist als Aufforderung für weitere Ausführungen über Kunst. Glühend erzählte er von seiner neuen Ausstellung, die gerade in Planung war, und dass er ihr, falls sie Interesse hätte, gern eine Einladung zukommen lassen würde. »Verstehen Sie das bitte nicht falsch«, betonte er mit einem jungenhaften Lächeln, »aber ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr mich früher so ein Event interessiert hat.«

»Ja, schon, doch ich war ja gar nicht bei Ihrem Vortrag«, platzte Joe heraus. Mist! Jetzt hatte sie alles vermasselt.

»Oh. Entschuldigen Sie. Ich dachte …« Er gab ihr die Hand und stellte sich mit einem kräftigen Druck als Konstantin Wastian vor.

»Ja, ja, ist mir schon klar.« Nervös zuckte Joe mit den Schultern und deutete dorthin, wo er so imposant an der Wand hing. Wie eine Idiotin kam sie sich vor. Ihr Kopf war leer bis auf die Erkenntnis, dass er der attraktivste Mann war, den sie seit Jahren getroffen hatte. Schätzungsweise Ende dreißig. Ob er wohl verheiratet war?

»Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen trotzdem eine Einladung schicken lassen. Dann müssten Sie mir allerdings Ihre Adresse geben.«

»Solche Tricks kenne ich schon«, entfuhr es Joe. Dafür hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Konnte sie nicht einmal das Richtige sagen?

Konstantin Wastian lachte schallend. Offensichtlich gefiel sie ihm trotzdem, und er gefiel ihr sowieso.

»Nein«, versuchte Joe, den Schaden schnell zu begrenzen. »Natürlich schreibe ich Ihnen meine Adresse auf.« Keinesfalls wollte sie den Eindruck erwecken, an seiner Ausstellung nicht interessiert zu sein. Um von ihrer ungeschickten Äußerung abzulenken, wechselte sie das Thema und beantwortete endlich seine Eingangsfrage. »Ich singe schrecklich«, erklärte sie. »Deshalb lass ich es besser.«

»Ich singe, wenn ich glücklich bin.«

Joe hatte noch nie einen Mann getroffen, der einen so schlichten Satz mit einer so großen Selbstverständlichkeit so liebenswert zu ihr gesagt hatte. Wie weggeblasen war das Gefühl der Distanz. Sie erzählte, dass sie sich gerade für ihr Architekturstudium immatrikuliert hatte, und gab zu, genau wie er immer dann zu singen, wenn sie glücklich war.

»Da haben wir ja die erste Gemeinsamkeit.«

»Und die zweite?«

Konstantin lachte. Joe war froh, dass sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Sie betrachtete seine weich geschwungenen, unwiderstehlichen Lippen. Auch mit vierzig Fieber würde sie sich zu seiner Ausstellung schleppen, ganz gleich, was da an seinen Wänden hing. Diesen Mann musste sie einfach wiedersehen! Eilig kramte sie in ihrer Tasche nach einem Kugelschreiber. Den Gedanken, ihm eine Visitenkarte der Firma in die Hand zu drücken, hatte sie sofort verworfen. Womöglich hätte er sie dann als Klempnerin engagiert, anstatt sie zur Vernissage zu bitten. Kaum war ihre Handtasche ein paar Sekunden offen, registrierte sie seinen irritierten Blick. Dann roch sie es auch. Ein intensiver Geruch strömte aus ihrem Lederbeutel. Am liebsten hätte Joe sich in ein Mauseloch verkrochen.

»Leberkäse?«

Joe nickte schwach. In diesem Augenblick hasste sie alle Leberkäse-Semmeln dieser Welt. Und dann auch nicht mehr, denn er fragte sie nun, ob er sie zum Mittagessen in ein bestimmtes vegetarisches Restaurant einladen dürfe, weil Leberkäse ernährungstechnisch bedenklich sei.

Joe nickte, strahlte und verschwieg ihre Vorliebe für Schweinebraten, Gulasch und Rindsrouladen. Sie war einfach froh, dass er sie fragte und nicht all die anderen Frauen, die ihn bei seinem Vortrag eben ganz bestimmt angehimmelt hatten. Aber dann fiel ihr diese Brotzeit wieder ein. Um Souveränität bemüht, erklärte sie Konstantin: »Ich habe kurz etwas zu erledigen. Aber in ein paar Minuten komme ich nach.«

»Kein Problem. Ich warte.«

»Das müssen Sie nicht.«

»Ich warte gern.«

»Okay. Dann bis gleich«, gab Joe nach und steuerte auf die Herrentoilette zu, an der ein Schild verkündete: Wegen Reparatur geschlossen.

»Halt! Da sind die Handwerker!«

Joe tat so, als hätte sie nichts gehört, und ging trotzdem hinein.

Verwundert blickte Konstantin ihr nach.

Im Blaumann kniete Marc unter einem der Waschbecken, weil er den Wasserschaden reparieren musste, der eigentlich heute Joes Aufgabe gewesen wäre. Marc, als guter Freund und Monteur der Firma Benk, hatte aber sofort verstanden, dass Joe nicht von den Toiletten zum Immatrikulationsbüro hatte sprinten wollen. Wie immer hingen ihm die dunklen Locken wirr in die Stirn, während er schraubte und dabei zu der Musik aus seinen Kopfhörern summte. Zuerst bemerkte er Joes Riemchensandalen, dann Joe selbst. Überrascht richtete er sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und musterte sie von Kopf bis Fuß. »So ein Kleid steht dir verdammt gut!«

»Danke. Für das Kompliment bekommst du sogar zwei Leberkäse- Semmeln.« Strahlend reichte Joe ihm die Brotzeit, die sie beim Metzger noch extra in Alufolie und Plastiktüte hatte verpacken lassen, damit ja kein Fettfleck ihre Immatrikulationsunterlagen verunzieren konnte.

»Wieso? Isst du nichts?«

Joe schüttelte den Kopf.

Und auch Marc blickte ihr an diesem besonderen Tag erstaunt nach, während sie nun eilig die Herrentoilette verließ.

Schon wieder kam eine Frau in diesem vegetarischen Restaurant an ihren Tisch und begrüßte Konstantin überschwänglich. Dabei würdigte sie Joe nur eines flüchtigen Seitenblicks. Aber das machte Joe nichts aus. Glücklich löffelte sie ihren Spargelrisotto, der ihr nach der Kürbiscreme-Suppe serviert worden war. Ihr Blick fiel dabei auf den freiliegenden Bauchnabel dieser Studentin, die sich gerade mit Konstantin über die neue Vernissage unterhielt. Der Nabel war leider ebenso perfekt wie der dazugehörende flache Bauch. Joe schwor sich, die nächsten Wochen nur noch Gemüsebrühe zu löffeln. Zum Glück trug sie dieses geblümte Sommerkleid, das die kleine Speckschicht um ihre Hüften nicht mal erahnen ließ. Während die beiden sich unterhielten, musterte Joe Konstantins Hände, die so gepflegt waren, wie nur die Hände eines Akademikers sein konnten. Am liebsten hätte Joe ihre unter dem Tisch versteckt.

Er trug keinen Ehering.

»Was denken Sie, Johanna?« Die langbeinige Gazelle war endlich davongerauscht.

Wie beiläufig zuckte Joe mit den Schultern. Dass sie heilfroh war, dass er keinen Ehering trug, konnte sie nun wirklich nicht erzählen.

»Verraten Sie mir dann vielleicht, was Sie vor diesem Studium gemacht haben?«

Kurz schoss es Joe durch den Kopf, sich ein bisschen wichtiger zu machen, als sie war; zu schwindeln, eine Zeit im Ausland verbracht zu haben, anstatt von beißender Isolierwolle zu erzählen und dem Schleppen von Toiletten, bis ihr die Glieder abends so wehtaten, dass sie sich nur noch wünschte, bei einer Folge von Sex andthe City endlich entspannen zu dürfen.

»War das auch eine indiskrete Frage?« Sein Blick war amüsiert, weil sie immer noch nicht geantwortet hatte.

Joe fühlte sich ertappt. »Nein, überhaupt nicht«, sagte sie deshalb schnell. »Ich war auf dem Bau.«

Jetzt verschlug es ihm die Sprache. Ungläubig starrte er sie an, und Joe genoss es, ihn so beeindruckt zu haben. Deshalb fügte sie wohl platziert und cool hinzu: »Als Klempnerin.«

»Ach, deshalb waren Sie auf dem Männerklo!« Er lachte und beugte sich näher zu ihr, um nichts von ihren Ausführungen über das Leben auf dem Bau zu verpassen. Während sie von Be- und Entwässerungsanlagen redete, erschienen ihr die beiden Grübchen in seinen Wangen noch tiefer. Sie spürte, wie sehr er es genoss, ihr zuzuhören. Er bestellte sogar noch zwei Espressi und eine Vanillecreme mit Kokossahne, die sie sich teilen wollten. Joe ging es dabei nicht um die vierhundertfünfzig Kalorien, sondern um diese spontane, süße Gemeinschaftsaktion. Und darum, dass ihr platonischer Freund und Mitbewohner Alf ihr einmal erklärt hatte, dass Männer, die Süßes mochten, gute Liebhaber seien. Joe wünschte sich sehnlichst, Konstantin würde noch viele Portionen Vanillecreme mit Kokossahne bestellen.

Es war bereits dunkel, als sie, nach einer kurzen Stippvisite in der Firma und noch immer erfüllt von einem erhebenden Glücksgefühl, nach Hause kam. Zwischen dem dritten und vierten Stock des Altbauhauses war das Licht im Treppenhaus ausgefallen. Joe nahm sich vor, die Glühbirne gleich in der Früh auszutauschen, da Hausmeister Wimmer beim Thema Arbeit stets sehr lustlos war. Umso lustvoller agierte er dafür nachts. Da hörte sie eindeutige Geräusche von nebenan, denn die Wand war dünn wie Pappe. Obwohl sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte, nahm Joe zwei Stufen auf einmal, als sie die knarrenden Stiegen zu ihrer Dachwohnung emporstieg. Sie konnte es kaum erwarten, Alf von diesem aufregenden Tag zu berichten. Mit ihm teilte sie, gefahrlos für ihr Herz, die Wohnung, denn Alf war schwul und ein bisschen verrückt. Genau dafür liebte Joe ihn. Im Gegensatz zu ihr konnten die meisten Menschen jedoch nicht begreifen, warum Alf sich in einer Zeit der Rastlosigkeit, in der Stress als Kompliment galt, unbeweglich wie eine Statue und verkleidet wie ein silberner Ritter stundenlang zwischen eilig hin und her hetzende Menschen auf den Marienplatz stellte und sich freute, wenn Kinder ihn zwickten, um zu prüfen, ob er echt sei.

Alf hingegen zwickte Joe, wenn sie ihren zackigen Baustellen-Ton anschlug, um sie daran zu erinnern, dass sie als Frau noch vorhanden war.

Ja, jetzt fühle ich mich auch endlich wieder so, dachte Joe und schloss die Wohnungstür auf.

»Es gibt Gulasch mit Knödel.« Alf küsste sie zur Begrüßung. Sie roch sein Parfum, das sich mit der Schärfe der Chilis, Paprika und Zwiebeln vermischt hatte. Der niedrige Tisch im Wohnzimmer, vor dem sie nur im Knien auf dem Boden essen konnten, war bereits gedeckt.

Joe konnte nicht kochen. Was sie auch nicht weiter schlimm fand. Dafür wechselte sie in siebeneinhalb Minuten vier Autoreifen und gewann fast immer beim Kartenspiel, zu dem sie sich manchmal in der Mittagspause von ihren Monteuren überreden ließ.

Joe aß mit Appetit, trank dazu Bier aus der Flasche und berichtete Alf in allen Einzelheiten von ihrer Begegnung mit Konstantin, ja selbst den Tonfall seiner Stimme ahmte sie nach. Sie erzählte, wie schwer es ihr anfänglich gefallen war, sich als Klempnerin zu outen, denn was wusste ein berühmter Galerist schon von Gas, Wasser und Scheiße?

Alf hörte ihr aufmerksam zu. Aufrecht und im Schneidersitz saß er in seinen kitschig geblümten Schlabberhosen vor ihr. Seine Haut schimmerte noch leicht von Gold bestäubt, denn er hatte heute wieder viele Stunden unbeweglich in die Seelen der vorbeihetzenden Menschen geblickt. »Was hast du eigentlich gegen Gas, Wasser und Scheiße?«

»Nun ja. Ist ja nicht gerade megasexy. Außerdem wollte nicht ich Klempner werden – mein Vater wollte es so.« Joe fixierte ihre Fingernägel, unter denen sich noch Spuren von Schmiere befanden, obwohl sie sie mit einer Bürste geschrubbt hatte.

»Das macht es natürlich schwerer zu wissen, was man eigentlich selbst will.« Alf brachte es wie immer auf den Punkt.

Etwas später, als Joe dann im Bett lag, betrachtete sie durch das Dachfenster den Mond. Rund und hell schien er auf sie herunter. Plötzlich standen ihre Wünsche so klar vor ihr, als hätte das Mondlicht sie erleuchtet. Sie wollte endlich mehr als nur eine neue Folge von Sex andthe City, bei der sie stets Zuschauerin war, gefeit vor Liebeskummer. Sie wollte wieder ihr Herz und ihren Körper spüren. Endlich neben einem Mann auf dem Sofa sitzen, der nicht schwul war, sondern jeden Zentimeter ihrer Haut lustvoll küsste. Sie wünschte sich einen Mann, der sie tröstete, wenn sie mal traurig war, und der sie euphorisch durch die Luft wirbelte, wenn sie vor Glück am liebsten geweint hätte. Sie hatte genug von ihrem alten Stoffhasen im Bett. Sie träumte vom warmen Körper eines Mannes, den sie am nächsten Morgen mit einem Kuss erwecken konnte. Joe wollte lieben, mit Herzklopfen und allem, was dazugehört. Sie starrte den runden, hellen Mond an, und der schien ihr zuzuflüstern: »Konstantin.«

Joe wünschte, die Welt möge sich viel, viel schneller drehen, sodass morgen nicht morgen, sondern der Tag in einem Monat wäre. Denn dann wüsste sie bereits, ob all das, was sie heute für Konstantin empfand, vielleicht doch nur ihrer Einbildung entsprungen war.

Zwei

Am nächsten Morgen parkte Joe ihren Kastenwagen direkt vor einem Bauzaun, vor dem unter anderem das Schild Betreten der Baustelle auf eigene Gefahr prangte. Dahinter hatten mächtige Bagger ein noch mächtigeres Loch für einen neuen Wohn- und Bürokomplex ausgehoben. In der Mittagspause hatte Joe die Großbaustelle auf ihrem Weg zum Nagelstudio entdeckt. Joe hätte nie gedacht, dass sie mal so einen Schönheitstempel aufsuchen würde. Aber der Gedanke an perfekt gefeilte Nägel hatte sich in ihrem Hirn festzementiert, denn sie wünschte sich, Konstantin würde beim nächsten Treffen wenigstens ihre Hand nehmen und küssen.

Die durch Permanent-Make-up gestylten Augenbrauen und Lippen der Dame dieses Studios hatten Joe unwillkürlich an einen Totenkopf denken lassen. Und als die Nagelstylistin Joes Hände begutachtet hatte, hatte sie exakt das gesagt, was Joe von Konstantin auf keinen Fall hören wollte: »Oh Gott! Die sehen ja grausam aus!«

»Kann man da nichts machen?«

Nachdem sie dreimal tief geseufzt hatte, hatte besagte Dame Joes Nägel mit Kunststoff-Tips verlängert, mit Gel überzogen und auch noch »french« manikürt, sodass sie jetzt so makellos waren, wie ein echter Nagel kaum wachsen konnte. Jedenfalls keiner von Joes Nägeln.

Joe lächelte, weil sie sich an ihren Händen nicht satt sehen konnte, schlüpfte aus ihren neu erstandenen Pantoletten und zog die Gummistiefel an, die sie hinter dem Sitz deponiert hatte. Noch im Auto sitzend, kritzelte sie die Telefonnummer des Bauträgers in ihren schwarzen Kalender. Sie wusste, dass man gewitzt sein musste, um in diesen harten Wirtschaftsjahren schwarze Zahlen in der Firmenbilanz zu schreiben. Entschlossen stieg sie aus, stapfte mit knappem Jeansrock und gelben Gummistiefeln durch den Dreck zum Bauwagen. Wenn es um neue Aufträge ging, wusste Joe sehr wohl ihre Weiblichkeit einzusetzen, auch wenn Gummistiefel nicht gerade sexy waren. Dafür war sie hier die einzige Frau.

Die Tür des Bauwagens stand offen.

»Betreten der Baustelle verboten«, blaffte ein Mann mit natürlicher Autorität, die ihn sofort von den anderen Männern abhob, die an vier Schreibtischen über Bauplänen brüteten. Er hatte sie schon von weitem kommen sehen.

»Für mich ist das nicht verboten«, sagte Joe mit einem selbstbewussten Lächeln. Sie reichte ihm eine Visitenkarte und sprach von der Zuverlässigkeit ihrer Firma. Dabei redete sie so kompetent und lächelte so charmant, dass der Mann, der sich als verantwortlicher Oberbauleiter Franz Wagenscheidt vorstellte, nicht anders konnte, als ihr zuzusichern, ihr die Ausschreibung für beide Gewerke zukommen zu lassen. Mit einem jovialen Lächeln überreichte er ihr seine Visitenkarte. »Schicken Sie mir bitte eine Referenzliste zu.«

»Die habe ich dabei.«

Ein überraschter Blick traf sie.

Joe öffnete ihre Umhängetasche und drückte Herrn Wagenscheidt die Liste und zusätzliches Informationsmaterial in die Hand. »Rufen Sie mich an!«

Joe wusste, dass sie gepunktet hatte, als sie durch den Matsch zurück zum Auto stapfte. Wenn ihr Angebot auch nur einigermaßen stimmte, würde die Firma Benk den Auftrag hundertprozentig bekommen. Es würde ein großer und höchst lukrativer Auftrag werden. Über ihrem Stolz hatte sie völlig vergessen, dass sie bald keine Sanitärinstallateurin mehr sein würde.

Es vibrierte durch das Leder ihrer Umhängetasche. Das Dröhnen eines Presslufthammers war so laut, dass Joe das Klingeln ihres Handys nicht hören konnte.

Er war am Telefon.

Nur konnte sie nichts verstehen.

Joe hasste diesen Arbeiter mit seiner lärmend stampfenden Maschine. Am liebsten hätte sie sie ihm entrissen. Joe rannte in Richtung ihres Autos. Nur weg vom Dröhnen und Hämmern! Und dann schlug ihr Herz einen Salto, als Konstantin sie fragte, ob er sie am Samstag um acht Uhr zum Abendessen einladen dürfte.

Joe strahlte noch, als das Gespräch längst beendet war und sie wieder in ihrem Kastenwagen saß. »If you don't know me by now, you will never get to know me«, trällerte sie, als sie den Motor anließ. Aber der Wagen bockte. Sie wunderte sich, stieg aus und entdeckte große Ballen Isoliermaterials hinter ihrem Wagen, die ein Wegfahren unmöglich machten. Joe schickte sich an, den ersten schweren Ballen hinter ihrem Auto wegzuziehen. Plötzlich baumelte der imposante Haken eines Baukrans so dicht über ihrem Kopf, dass sie erschrak. Erst jetzt bemerkte sie Kran und Kranführer, den sie sofort als Übeltäter ausmachte. Und der Typ da oben lachte so unangreifbar in seinem Häuschen, dass Joe total sauer wurde. »Idiot!«, rief sie nach oben, aber er konnte sie ja nicht hören. Wild gestikulierte sie mit den Armen, zeigte ihm an, dass es an der Zeit wäre, dieses dumme Spiel zu beenden.

Der Mann zeigte sich unbeeindruckt. Er ließ nur den riesigen Haken aus Stahl mal rauf und dann wieder runter, um sie weiter zu necken und zu ärgern.

Da waren Joe ihre kostbaren Fingernägel plötzlich egal. Wie ein Mann zerrte sie jeden einzelnen Ballen vom Auto weg. Aber das reichte ihr nicht. Sie zog die Ballen noch direkt zwischen einen LKW und Anhänger. Die Haut an ihren Händen riss, die Fingernägel litten sekündlich, aber daran dachte Joe nicht mehr. Viel wichtiger war ihr, dem Kranführer diesen Macho-Spaß ein für alle Mal zu verderben.

Demonstrativ spöttisch winkte Joe ihm zu, als sie davonbrauste. Sie wusste, dem Spaßvogel würde jetzt ein Riesenärger mit dem Fahrer dieses LKWs bevorstehen. Kaum war sie um die Ecke gefahren, stimmte sie fröhlich in einen Song ein, der aus dem Autoradio dudelte.

Endlich Samstag! Gerade stöckelte Joe aus einer Nebenstraße auf das verabredete Restaurant zu, als Konstantin in einem englischgrünen Cabriolet vorfuhr, ausstieg und ein Portier dienstbar herbeieilte, um das Schmuckstück sicher zu parken. Konstantin wirkte so erotisch wie die Marke seines Fahrzeugs.

Lächelnd kam er ihr entgegen. »Johanna! Du siehst zauberhaft aus!« Sein flüchtiger Kuss war eine große Verheißung.

Gemeinsam betraten sie das Restaurant. Hier war Konstantin so bekannt, wie Joe es in ihrer Hauskantine gleich gegenüber der Firma war, in der »Mamas Schupfnudeln mit Kraut« serviert wurden und alle an Tischen aus blank gescheuertem Holz saßen. Der Platz, der ihnen jedoch hier zum Dinieren zugewiesen wurde, war mit weißem Damast und zartem Porzellan eingedeckt. Während sie Champagner schlürften, konnte Joe durch die imposante Glasfront all diejenigen beobachten, die draußen vorbeigingen und einen neugierigen Blick ins Restaurant warfen. Wer hier speiste, war nämlich wer.

Joe hatte noch nie hier gespeist, doch das war nicht so wichtig. Sie strengte sich ernsthaft an, Konstantins Ausführungen über Fotokunst zu lauschen, aber sie war einfach mehr mit seinen klaren Augen, seinen weich geschwungenen Lippen und seinem energischen Kinn beschäftigt.

»Johanna?«

Erst, als er sie noch mal eindringlich und erstaunt mit diesem Namen ansprach, bemerkte Joe, dass sie gemeint war.

»Ja?« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Sag mir, ob es einen Mann gibt, der dich jetzt vermisst.« Seine Augen blitzten bei dieser theatralischen Formulierung belustigt.

Joe musste einfach lachen.

Konstantin lachte zurück.

Joe fand es gut, dass sie einen ähnlichen Humor hatten. Sie duzten sich, seit sie auf den weich gepolsterten Lederstühlen Platz genommen hatten, denn es kam ihnen plötzlich so vor, als hätten sie schon oft gemeinsam hier gesessen und über das Leben philosophiert.

»Nein. Es gibt keinen Mann.« Viel mehr wollte Joe angesichts seiner blaugrünen Augen, die ihr äußerst tiefgründig erschienen, auch nicht zu diesem Thema sagen. Denn seine Lippen formulierten jetzt exakt die Worte, die sie zu hören gehofft hatte.

»Ich bin dem Schicksal dankbar, dich getroffen zu haben, und ich muss unbedingt herausfinden, was uns beide verbindet.«

Ach, konnte er das nicht noch einmal sagen? Joe wurde weich wie Zuckerwatte.

»Glaubst du an Zufälle?« Diese Frage konnte sie sich einfach nicht mehr verkneifen.

»Nein! Du glaubst doch auch nicht an Zufälle.« Sein Blick war eine Offenbarung.

Joe bekam eine Gänsehaut.

Nach dem Amuse-gueule, einer Mikroportion Lachstatar auf einem Hauch von Kartoffelpuffer, erzählte Konstantin von seiner letzten langjährigen Liebe. »Über zwei Jahre ist das jetzt her«, sagte er und sah Joe plötzlich ganz traurig an.

Sie merkte, wie schwer es ihm fiel, über die damals bereits geplante Hochzeit zu sprechen, die dann doch ins Wasser gefallen war. Er hatte seine Braut mit einem anderen erwischt. Dass er so offen über seine Gefühle sprach, empfand Joe als untypisch für einen Mann und ließ ihre Hochachtung für Konstantin nur noch wachsen.

»Ich versteh dich so gut. Das tut einfach beschissen weh«, meinte sie und war insgeheim heilfroh darüber, sonst wäre Konstantin inzwischen längst verheiratet. »Und – glaubst du nach so einer Erfahrung noch an die Liebe?«

»Zu lieben ist ein Geschenk«, antwortete er schlicht.

Zwischen Rucola-Salat mit fein gehobeltem Parmesan, gefolgt von einer Dorade im Salzmantel, so zart, dass sie ihren Gaumen zu liebkosen schien, schenkte Konstantin ihr dann ein Buch. »Let'stalkaboutlove«, sagte er mit einem tiefgründigen Lächeln, weil das der Titel des Buches war. Das Besondere an diesem Werk war, dass es Fragen über Gefühle, Wünsche und Ängste stellte, die man auf noch leeren Seiten beantworten musste. »Mir hat das Buch damals geholfen. Manchmal wird alles klarer, wenn man es aufschreibt.«

»Eine Reise ins Innere«, bemerkte Joe versonnen, als sie das Buch in die Hand nahm und betrachtete.

»Wenn man sie antreten will!«

»Warum nicht? Ich fände das gut.« Joe wünschte sich, er würde sie endlich küssen.

»Heute in einem Jahr werde ich dich in diesem Restaurant fragen, ob ich deine Antworten lesen darf.«

Verwirrt verstaute Joe das Buch in ihrer Handtasche. Dann stand sie hektisch auf und steuerte auf die diskrete Tür für »Damen« zu. Als Profi hatte sie diesen Ort schon gleich beim Hereinkommen ausgekundschaftet. Nervosität drückte ihr stets auf die Blase.

Im Vorraum waren flauschige Handtücher neben den breiten, kantigen Waschtischen aus weißem Porzellan auf mattierten Edelstahlgittern gestapelt. Die Waschtische, feinstes italienisches Design. Die Armaturen, Klassiker von Vola. Joes Blick entging nicht, dass die Einrichtungsgegenstände perfekt montiert waren. Alles, auch die Warm- und Kaltwasser-Anschlüsse unter den Waschbecken, befanden sich auf einer Linie. Was jede einzelne dieser von Philippe Stark wie ein Trog geformten Toiletten kosteten, das wusste Joe auf den Cent genau. Angesichts dieses Luxus wunderte sie sich nicht mehr, dass die Portionen so klein und die Preise so hoch waren. Joe ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Sie brauchte dringend eine Abkühlung.

Im Restaurant hatte Konstantin inzwischen zum dritten Gang, Tagliolini mit weißen Trüffeln, einen ZweiundneunzigerBarolo bestellt. Der Wein war rubinrot und verwirrte Joes Sinne gänzlich. Konstantin schwärmte von meisterhaften Schwarz-Weiß-Fotografien von Rom, die zurzeit in seiner Galerie ausgestellt wurden.

»Rom! Da war ich noch nie.« Joes Blick war verträumt.

»Du musst unbedingt dorthin.«

Joe seufzte. Spontan wünschte sie sich, mit Konstantin nach Rom reisen zu können. Es ärgerte sie, wie wenig sie bisher von der Welt gesehen hatte. Sie erzählte ihm, dass sie seit Jahren keinen richtigen Urlaub gemacht hatte, und auch als Kind war sie nur selten mit ihren Eltern verreist. Die Belange der Firma hatten stets Vorrang gehabt. Und wenn sie doch mal weggefahren waren, dann höchstens ins Allgäu. Ihr Vater gab die Urlaubskasse aus Prinzip nur im eigenen Land aus.

Während Konstantin daraufhin sehr anschaulich vom Kolosseum, dem Vatikan und dem Petersdom erzählte, kam es Joe plötzlich so vor, als verweilte sie gerade selbst dort.

»Wenn du willst, könnten wir noch einen Abstecher in meine Galerie machen«, unterbrach er ihre Gedanken, nachdem Joe den letzten Rest einer Crème brûlée auf ihrer Zunge hatte zergehen lassen. Dabei berührte seine Hand ganz zärtlich die ihre.

»Ja. Gern«, gab Joe schlicht zurück, denn sie wollte unbedingt mit ihm Rom sehen, auch wenn Rom vorerst nur in seiner Galerie lag.

Das Licht war gedämpft. Die Galerie hatte ein klassisch spartanisches Ambiente. Die Bilder an den weißen Wänden wurden punktuell beleuchtet, sodass das Spiel des Lichtes dem Raum eine besondere Note verlieh. Der Blick durch die großen Fensterflächen, die von der Decke bis zum Boden reichten, war durch weiße Jalousien versperrt.

»Soll ich die Nacht hereinlassen?«, fragte Konstantin. Er spürte, dass Joe sich erst daran gewöhnen musste, wirklich ganz allein mit ihm zu sein.

Sie nickte.

Per Knopfdruck beförderte Konstantin die Jalousien nach oben. Nur noch wenige Autos fuhren auf der nachtdunklen Straße. Schweigend und irgendwie feierlich betrachteten sie die Fotos, die Rom mit seinen Straßen, Plätzen und Menschen so fantastisch darstellten, dass sie sogar Joe, die von Fotografie null Ahnung hatte, in ihren Bann zogen. Sie hatten sich auf eine asiatische Bank aus Teakholz gesetzt, die in der Mitte des Raumes stand. Eng nebeneinander saßen sie da und spürten die Hitze ihrer Körper. Joe roch Konstantins Rasierwasser, dem eine Note aus Moschus und Tabak anhaftete. Sie lauschte seinen Ausführungen über frühere Zeiten, in denen er kaum Geld gehabt hatte. Aber dennoch war er sich immer sicher gewesen, mit einer Fotogalerie erfolgreich zu werden. »Mit Fotokunst konnte man damals noch kein Geld verdienen. Aber ich habe meinem Gefühl vertraut.« Sein Blick war so vielsagend, dass es Joe ganz flau im Magen wurde. »Vertraust du auch immer auf dein Gefühl?«

Joe schwieg, denn ihr Mund war trocken. Sie verlor sich in seinen Augen, diesen Grübchen, diesem Lächeln, während er von Künstlern erzählte, die er entdeckt hatte. Heute gehörte seine Galerie zu den bekanntesten Ausstellungsstätten für Fotokunst in Deutschland, schloss er seine Ausführungen. »Na ja, vielleicht sogar in Europa«, fügte er nicht unbedingt bescheiden hinzu. Dann schwieg er und sah sie einfach nur an.

Joe wünschte sich, mit ihren Händen seine Haut, mit ihren Lippen seinen Mund, mit ihren Gedanken seine Seele und mit ihrem Herz das seine zu berühren.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. Mit Mittel- und Zeigefinger strich er ihr über das Gesicht, um danach die Linien ihrer Augenbrauen, ihrer Nase, ihrer Wangenknochen und ihres Mundes nachzuzeichnen. Dann endlich küsste er sie.

Ihre Lippen schienen sich schon lange zu kennen. Ihre Zungen liebkosten sich, spielten miteinander, bis Joe nicht mehr denken, sondern nur noch küssen wollte. Bei jedem Kuss spürte sie, dass sie noch viel, viel mehr wollte, auch wenn sie eine leidenschaftliche Küsserin war. Ihre Brustwarzen waren hart wie kleine Kieselsteine. Wenn er noch eine Sekunde länger gewartet hätte, sie zu berühren, hätte Joe selbst die dünnen Träger ihres Kleides heruntergeschoben. Er kostete ihren Körper, als wäre er ein Nachtisch des Himmels. Joes Lust wurde so übermächtig, dass sie diesmal nicht singen, sondern nur schreien wollte. Alf hatte mit seiner »Süßigkeit-und-Männer-Theorie« verdammt Recht!

Drei

Es waren deutlich mehr Frauen als Männer auf dieser Vernissage. Und alle himmelten Konstantin unübersehbar an. Im Blitzlichtgewitter der Fotografen sprach er souverän über die Arbeit der jungen Künstlerin Anna Bauer. Mit ihren riesigen Farbfotografien toter Körper zählte die Rothaarige im schwarzen Kleid zu einer der weiblichen Neuentdeckungen der Kunstszene. Für Joe völlig unverständlich. Konstantin hingegen war überzeugt, dass ihre Werke in fünf Jahren gut das Doppelte wert sein würden.

In ihrem schwarzen Rollkragenpullover stand Joe trotz der kurzen Ärmel der Schweiß auf der Stirn. Sie war so aufgeregt, als müsste sie sich an Konstantins Stelle vor diesen vielen Menschen präsentieren. Zwei Monate, fünfzehn Tage und sechs Stunden war ihre Beziehung jetzt alt. Dennoch war Joe quasi inkognito hier. Sie hatte sich Konstantins Meinung angeschlossen, dass ihre Gefühle nur ihnen gehörten. Sie waren kein Thema für Kunden, Käufer oder Presse. Euphorischer Beifall signalisierte das Ende seiner Rede. Das vegetarische Buffet mit gebratenem Kräutertofu, Gemüsecurry und Sprossensalat wurde endlich eröffnet.

»Schweinebraten mit Kruste wäre mir lieber«, murmelte Joe vor sich hin, während sie sich beeilte, das Buffet zu erreichen. Sie hatte den ganzen Tag ein neues Badezimmer in einem Einfamilienhaus installiert. Als sie sich mit gefülltem Teller wieder an ihrem Stehtisch positioniert hatte, was ihr ein Gefühl von Sicherheit verlieh, beobachtete sie die Gäste. Alle schienen einander zu kennen, und alle gehörten zu einer höchst eigenen Spezies Mensch. Sie lauschte dem Gespräch zweier Blondinen am Nachbartisch. Die beiden bewunderten gegenseitig ihre neuesten, sündhaft teuren Prada-Taschen, die man jetzt unbedingt besitzen musste, nur weil irgendein Hollywoodstar so einen roten Beutel spazieren trug.

Joe fand das albern. Solche Menschen hatte sie in ihrer geerdeten Welt noch nie näher kennen gelernt. Zwar waren die Gesichter der älteren Frauen erstaunlich frei von Falten, doch ihre Hände und auch der Hals straften die erschwindelte Verjüngung Lügen. An diesen Stellen konnte der Zahn der Zeit trotz Schönheitsoperationen und Botox-Spritzen nicht überlistet werden.

Während sie im Sprossensalat stocherte, fiel ihr eine ältere Journalistin auf, die Konstantin mit unverhohlener Bewunderung interviewte. Für das gemeinsame Foto legte ihr Traummann sogar seinen Arm um die füllige Taille dieser Zeitungsfrau mit dem gestylten Lockenkopf. Plötzlich wünschte sich Joe, in der Zeitung von morgen doch etwas über sich, die Frau an seiner Seite, zu lesen.

»Konstantin hat einfach immer den richtigen Riecher.« Die Journalistin lächelte und stellte ihren Teller mit Tofukreationen direkt neben Joes Teller. Sie hatte diesen lauernden Ausdruck in den Augen, der bei Journalisten eine Berufskrankheit ist.

Joe nickte.

»Ich habe Sie noch bei keiner Ausstellung gesehen. Kennen Sie den Galeristen persönlich?«

»Ja.« Joe gab sich Mühe zu lächeln, allerdings gelang ihr Lächeln nicht annähernd so breit wie das der Journalistin, die sich als Monika Treschniewski, Kunst- und Theaterkritikerin einer der größten Boulevardzeitungen, vorstellte.

»Ein toller Mann, nicht wahr?«

»Ja. Herr Wastian hat Geschmack.« Joe ärgerte sich über diese Hartnäckigkeit.

Monika Treschniewski prostete ihr wie eine alte Freundin zu. Joe spürte ein leises Rauschen in ihrem Kopf. Es war ihr drittes Glas Rotwein. Weißwein wäre klüger gewesen. Der machte sie nicht so schnell beschwipst. Jetzt war es zu spät.

»Ich schreibe seit Jahren über seine Ausstellungen«, klärte Monika Treschniewski sie auf, um zu betonen, wie wichtig ihre wohlwollenden Artikel für Konstantin waren.

Joes Lächeln war jetzt offen und aufrichtig. Sie hatte es nicht nötig, zickig zu sein. Denn wenige Minuten später spürte sie schon Konstantins Hand heimlich und leicht über ihre Hüfte streichen. Endlich stand er wieder neben ihr.

»Ich sehne mich nach dir«, flüsterte er ihr in einem unbeobachteten Moment ins Ohr. Mit dem für ihn so typischen jungenhaften Lächeln wandte er sich dann wieder der Journalistin zu, um erst mit ihr und dann mit Joe anzustoßen.

In Joes Kopf rauschte es jetzt noch mehr. Nur war der Grund dafür diesmal nicht der Rotwein, sondern Konstantins Atem, den Joe immer noch an ihrem Ohr und ihrem Hals zu spüren meinte.

»Womit beschäftigen Sie sich, wenn Sie nicht gerade auf einer Vernissage sind?«

»Entschuldigung. Was wollten Sie wissen?« Joe war für die erste Frage viel zu abwesend gewesen.

»Ich habe Sie nach Ihrem Beruf gefragt.«

Joe bekam in ihrem schwarzen Rollkragenpullover Hitzewallungen. Sie wünschte diesen Lockenkopf im Stillen zum Mond.

»Ich studiere Architektur.« Joe spülte den Satz mit einem kräftigen Schluck Rotwein nach. Ihr erstes Semester begann in einer Woche. So war es einerseits die Wahrheit, andererseits dennoch eine Lüge.

»Dann sind Sie ja bald mit Ihrem Studium fertig, oder?«

War diese Frau penetrant! Konnte sie nicht endlich den Mund halten?

»Johanna ist nicht nur Studentin«, griff Konstantin unvermittelt ein. »Johanna leitet auch noch eine Firma für Gebäudetechnik.« Stolz und Bewunderung schwangen in seiner Stimme mit.

Joe hätte ihn am liebsten auf der Stelle geküsst. Jetzt war sie vollends überzeugt, dass er sich ihres Handwerksberufes nicht schämte, wie sie insgeheim doch manchmal befürchtet hatte. Und Monika Treschniewski war endlich sprachlos.

Die Nacht war wie für sie gemalt, denn der Himmel sah aus wie Joes Sternchenpyjama. Es war weit nach Mitternacht, als sie mit Konstantin in seinem dunkelgrünen Sportwagen durch die Nacht glitt. Die ganze Szene erinnerte Joe an ein kitschiges Hollywood Movie, in dem Humphrey Bogart neben Audrey Hepburn durch die Dunkelheit rauschte und alle Zuschauer wussten, dass sie füreinander bestimmt waren. Joe liebte solche Filme und konnte dabei leicht eine Familienpackung Chips und auch ein paar Tränen verdrücken, wenn sie in ihrem Bett lag und bis in die frühen Morgenstunden alte Filme schaute, die sie seit Jahren auf Video sammelte.

»Geht es dir gut?« Konstantin legte den Arm um sie, wie Humphrey Bogart das im Film auch getan hätte.

Joe lächelte, nickte nur und sagte nichts, denn diese Stille war nicht beklemmend, sondern schön. Der CD-Player dudelte If you don't know me by now.Konstantin hatte diese CD für sie beide gekauft, damit der Song sie immer an ihr erstes Zusammentreffen erinnern würde.

»Es war schrecklich, dich zu verleugnen«, gestand Konstantin nach einer Weile und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel.

Joe verstand gut, was er meinte. »Fand ich auch. War ganz komisch, so zu tun, als würden wir uns kaum kennen. Meinst du, die anderen haben etwas gemerkt?«

»Welche anderen?«

»Na ja, da waren ja schon ganz schön viele Frauen, die dich nicht aus den Augen gelassen haben«, gab Joe zurück, versuchte dabei aber, ihrer Stimme einen scherzenden Klang zu geben.

»Vergiss diese Frauen. Das ist einfach nur mein Job. Für mich gibt es nur dich.«

Als sie viel später eng umschlungen in seinem großen anthrazitfarbenen Bett lagen, hatte Joe tatsächlich alle anderen Frauen vergessen. Sie genoss die Wärme seines Körpers, sog den Geruch von Rosenöl ein, mit dem er sich immer nach dem Duschen einrieb, und war glücklich.

»Ich liebe dich«, flüsterte Konstantin. Sekunden später schlief er bereits. Dabei kräuselte er ein wenig die Oberlippe, durch die er pfiff, wenn er besonders tief und glücklich schlief.

»Ich liebe dich auch.« Sie traute sich noch nicht, solche Worte auszusprechen, wenn er wach war.

Am nächsten Morgen war es kalt im Büro des Firmengebäudes, oder kam es Joe nur so vor? Schon beim Öffnen der Tür sagte ihr ihr Gefühl, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

»Guten Morgen.« Sie gab ihrer Mutter einen Begrüßungskuss, die heute besonders still an ihrem aufgeräumten Schreibtisch saß.

»Hallo, Joe.« Wie abwesend blickte Hilda Benk wieder auf die aufgereihten Muranoglasfiguren, zerbrechliche Andenken an ihre Hochzeitsreise, die einzige Fahrt ins Ausland, die sie jemals mit ihrem Mann Werner unternommen hatte. In Grado, da war sich Hilda ganz sicher, war Joe in einem Hotel am Meer gezeugt worden, begleitet von den aus der Musikbox heraufklingenden Liedern über Liebe und Sehnsucht.

Jetzt schritt der romantische Held aus Joes Kinderträumen aufgeregt durchs Büro. Die Röte in Werner Benks Gesicht zeugte gefährlich von Bluthochdruck. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Wir haben den Auftrag!« Er sprach so laut, dass die Monteure im Hof ihn hören konnten.

»Wir haben den Auftrag«, dröhnte es wieder und wieder in Joes Ohren. Es war ein Fünfhunderttausend-Euro-Auftrag. Es war der größte des Jahres, und er würde die Firma wieder in die schwarzen Zahlen katapultieren.

»Dir ist schon klar«, fuhr Werner Benk fort und fixierte seine Tochter mit ernstem Blick, »dass wir damit alle Sorgen los sind. Wir können die offenen Lieferantenrechnungen bezahlen. Und einen neuen Transporter, denn den brauchen wir dringend.«

»Ja, und? Was willst du damit sagen?« Joe wusste selbst, wie wichtig dieser Auftrag für das Konto und Image der Firma war. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie im Jeansrock und mit gelben Gummistiefeln über die neu entdeckte Großbaustellte gestapft war, um Herrn Wagenscheidt die Firmenunterlagen in die Hand zu drücken.

Fast wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan, denn sie ahnte schon, was sie nun erwartete.

»Du kannst jetzt nicht studieren! Das weißt du selbst am besten!«

Unweigerlich schössen Joe Tränen in die Augen, denn sie wusste das wirklich nur zu gut.

»Wir schaffen das einfach nicht ohne dich«, mischte sich ihre Mutter mit sanfter Stimme ein.

»Aber am Montag beginnt die Uni! Ich bin längst immatrikuliert.« Joe versuchte, selbstbewusst zu klingen. Trotzdem hörte es sich jämmerlich an.

»Ohne dich müssen wir ablehnen. Du musst dich entscheiden.«

Täuschte sich Joe, oder hörte sie da einen verzweifelten Unterton in der Stimme ihres Vaters? Aufmerksam sah sie zu ihm hinüber. Nach alter Bau-Manier kickte er mit dem Feuerzeug den Kronenverschluss von der Bierflasche. Normalerweise trank er tagsüber nicht. Aber heute war kein Tag wie jeder andere. Heute war der Tag, an dem er sie um etwas bitten musste. Zum ersten Mal kam es Joe so vor, als wäre er nicht so stark, wie sie immer angenommen hatte. Die beiden senkrechten Falten zwischen Augenbrauen und Nasenwurzel erschienen ihr tiefer als sonst. Das Gespräch fiel ihm sichtlich schwer.

Er schien ihren Blick zu spüren. Abrupt stand er auf, ging zum Kühlschrank und entnahm ihm eine zweite Flasche Bier, die er auf dieselbe Art mit dem roten Einwegfeuerzeug öffnete. Er reichte sie Joe. »Du kannst jetzt sicher auch einen Schluck vertragen.«

»Danke.« Soweit Joe sich erinnern konnte, hatte er ihr noch nie ein Bier geholt.

Joe trank langsam, weil das Trinken ihr Zeit verschaffte. Sie musste nachdenken. Sie dachte an Konstantin, neben dem weiterhin eine Frau im Bett liegen würde, die trotz leidenschaftlicher Duschorgien stets das vage Gefühl beschlich, immer noch leicht nach Gas, Wasser und Scheiße zu riechen, obwohl Konstantin ihr lachend versichert hatte, noch nie eine Frau geliebt zu haben, die so gut roch wie sie, Joe. Nein, wie Johanna. Eine Joe kannte Konstantin ja nicht.

»Du könntest doch im nächsten Sommer mit dem Studium anfangen. Es geht ja nur um ein Semester. Der Auftrag ist wichtig«, fuhr Werner Benk jetzt etwas ruhiger fort. »Ich würde dir sogar die alleinige Leitung der Baustelle übertragen.«

»Wirklich?« Joe konnte es kaum glauben.

»Wagenscheidt hat das vorgeschlagen«, knurrte er. »Ich weiß zwar nicht, wie du das angestellt hast, aber auf jeden Fall hast du ihn beeindruckt. Na gut. Morgen muss ich wissen, wie du dich entschieden hast.«

Ihre erste eigene Großbaustelle! Eine Baustelle, die sie ganz allein leiten dürfte! Es galt, über hundert Bäder, über hundert Küchenanschlüsse, unzählige Toilettenanlagen, zwei Hebeanlagen, mehrere Abläufe, meterlange Regenrinnen und viele, viele Kilometer Be- und Entwässerungsleitungen zu verlegen. Endlich hätte Joe die Gelegenheit, ihrem Vater zu beweisen, wie gut sie auch ohne ihn war. Kurz schoss Joe durch den Kopf, dass er ihr bislang nicht einmal für diese lukrative Akquisition gedankt hatte. Und gleichzeitig ärgerte sie sich. Wann würde sie endlich aufhören, auf ein Lob ihres Vaters zu hoffen?

»Komm, erzähl schon. Was ist mit dir los?« An ihrer belegten Stimme hörte Konstantin, dass etwas nicht stimmte, als sie nach der Unterredung von ihrem Kastenwagen aus mit ihm telefonierte. Das Auto war der einzige Ort, an dem Joe ungestört sprechen konnte.

»Ach. Es geht um die Firma. Ich erzähle dir alles, wenn ich darüber nachgedacht habe. Morgen.« Joe wollte keine weiteren Einzelheiten berichten, bevor sie sich nicht über ihre eigene Entscheidung klar geworden war.

»Ach, komm doch mit. Es wird dich ablenken. Wir haben Premierenkarten für die erste Reihe.« Konstantin war es nicht gewohnt, dass Joe eine Verabredung absagte. Und schon gar nicht die zur Premiere der Rocky Horror Picture Show im Deutschen Theater. Aber Joe fühlte sich wie in ihrer persönlichen Horrorshow. Sie hatte das dringende Bedürfnis, wie in alten Zeiten bis in die Morgenstunden mit Alf und Marc auf ihrem Sofa zu sitzen, tütenweise Chips zu vertilgen und dabei ihre Probleme von allen Seiten zu beleuchten.