Cover

Maria von Welser

Zurück zur Zuversicht

Als das Leben vor meinen Augen verschwand

© Maria von Welser

E-Book-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 2003 bei Velagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG., Bergisch Gladbach

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: getty images

ISBN 978-3-942822-45-9

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Von Maria von Welser zuletzt bei hey! erschienen:

Leben im Teufelskreis

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Vorwort und Kapitel

1. Kapitel: WIE ALLES BEGANN

2. Kapitel: BRENDERS LISTE UND DIE FOLGEN

3. Kapitel: DIE ZUKUNFT IN DEN KARTEN?

4. Kapitel: VON EINEM AUGENARZT ZUM ANDEREN

5. Kapitel: EIN TURBULENTER HERBST

6. Kapitel: MAL WIEDER WOHNUNGSSUCHE

7. Kapitel: NEUER START AN DER THEMSE

8. Kapitel: WAS IST BLEPHAROSPASMUS?

9. Kapitel: BOTOX-PARTYS

10. Kapitel: EINE ERSTE ENTSCHEIDUNG

11. Kapitel: DIE ROYALS FEIERN

12. Kapitel: WAS PSYCHOTHERAPIE MIT TAXI-FAHRERSCHULUNG ZU TUN HAT

13. Kapitel: STATT PSYCHOTHERAPIE – KRIEG IN AFGHANISTAN

14. Kapitel: YOGA, SHIATSU UND BOTOX

15. Kapitel: WAS NEUROLOGEN WISSEN

16. Kapitel: TRICKS FÜR DEN ALLTAG

17. Kapitel: DAS LEBEN IN LONDON MACHT SPASS – DANK SHIATSU

18. Kapitel: WIE SHIATSU WIRKT

19. Kapitel: ALLTAG ZWISCHEN FUCHSJAGD UND DYSTONIE

20. Kapitel: QUEEN MUMS TOD

21. Kapitel: GOLDEN JUBILEE UND BESUCH BEI KERNER

22. Kapitel: HUNDERTE VON BRIEFEN, FAXEN, E-MAILS

23. Kapitel: 500 DYSTONIEPATIENTEN

24. Kapitel: VON EINEM SELTSAMEN PHÄNOMEN UND MEINEM HEIMWEH

25. Kapitel: UND JETZT? VOR ALLEM EINES: NICHT AUFGEBEN

Anhang

Interview mit Prof. Jost

Psychosomatik – in welchem Weltbezug liegt das Glück?

Wegweiser

Interview mit Diplompsychologe Hockel

Hilfreiche Adressen

NUR EIN KURZES VORWORT

Zurück zur Zuversicht – so heißt dieses kleine Büchlein über meine Erfahrungen mit Blepharospasmus. Es soll all denen Mut machen, die wie ich an dieser Form der Dystonie leiden. Haben Sie den Mut, nicht aufzugeben, sich selbst nicht aufzugeben. Suchen Sie unnachgiebig nach einem Arzt, der Ihnen helfen kann. Haben Sie den Mut, mit Ihrer Dystonie zu leben. Denn heilbar ist sie nicht. Sagen bis jetzt alle Ärzte, die sich damit beschäftigt haben.

Dieses Buch erzählt aber nicht nur von den ersten Anzeichen des Blepharospasmus, dem Krankheitsverlauf, dem unglaublich langen Irrweg durch die Praxen von Augenärzten, Gynäkologen und Internisten. Es schildert auch die Ängste, Hoffnungen und die Verzweiflung, die einen überfallen, wenn man als Patient ahnt, dass einem etwas Ernstes fehlt, aber die Diagnose noch nicht greifbar ist. Und damit auch keine Behandlung.

Weil das Leben aber immer ein Ganzes ist, der Mensch eine Einheit, berichtet das Buch parallel auch über das berufliche und private Geschehen. Es geht um Livesendungen, Einschaltquoten und Inhalte. Um Auf und Ab, Ende und Neubeginn in einem journalistischen Leben. Es erzählt von spannenden »Mit mir nicht«-Fällen und aufregenden Jahren im Auslandsstudio London, vom Ringen um soziale Gerechtigkeit und von den umstrittenen Einsätzen der Briten in den Kriegen in Afghanistan und im Irak.

An dieser Stelle will ich aber auch Dank sagen:

Professor Wolfgang Jost von der Deutschen Klinik für Diagnostik, der mir nicht nur die Angst vor den Spritzen genommen hat, sondern mir für dieses Buch mit Rat und Tat und seinem ganzen Fachwissen als Neurologe zur Seite stand;

dem Diplompsychologen Curd Michael Hockel, der meinen Blick immer wieder vom rein medizinischen Geschehen auf die Seele und ihren Einfluss auf den Körper gelenkt hat;

meinem Mann Klaus, der all dies mit mir getragen hat, mich unterstützt, aufgebaut und mir immer wieder Mut gemacht hat. Alle Dystoniepatienten wissen, dass ihre Partner mit leiden.

Und schließlich Kathrin Blum, meiner Lektorin. Ihre Kommentare zu den ersten Manuskriptseiten haben mir immer wieder geholfen, meine Gedanken neu zu sortieren. Dadurch wurde manches gestrafft oder das Thema erweitert. Jedenfalls ist die Geschichte meiner Erfahrungen dabei stets runder, verständlicher und greifbarer geworden. Ganz im Sinne unserer Leser.

1. Kapitel: WIE ALLES BEGANN

Klick – und nochmal: klick. Mit dem vertrauten Diddeldi-Diddeldum schließt sich der Bildschirm. Es ist Freitag, 17 Uhr. In mein Büro auf dem Lerchenberg leuchtet die untergehende Sonne. Davor auf der Wiese tollen schon den ganzen Tag vier kleine Kaninchen herum. Ich freue mich auf das Wochenende, auf die Heimfahrt nach München. Wenn ich Glück habe, brauche ich nur vier Stunden. Hoffentlich.

Auf dem Lerchenberg, dem Hauptsitz des ZDF in Mainz, ist schon friedvolle Ruhe eingekehrt; die Parkplätze gelichtet, und wer einem noch begegnet, grüßt freundlich und wünscht ein schönes Wochenende.

Der BMW rollt an Alzey vorbei, den Rhein flussaufwärts. Ich höre Richard Wagners Tannhäuser.

Als meine Augenlider nach dreißig Minuten Fahrt zu blinzeln beginnen, schiebe ich es auf die Sonne. Also: Sonnenbrille auf die Nase. Aber: Es wird nicht besser. Die Abstände zwischen Augen auf – Augen zu erscheinen mir gefährlich lange. Ich fahre auf den Parkplatz, lege eine kleine Pause ein. Bin ich müde?

Eigentlich gibt es keinen Grund dafür. Die Woche war wie immer: Sitzungen, Filmabnahmen für das Ombudsmagazin »Mit mir nicht! – Welsers Fälle«, dann das Einlesen in die Themen der Sendung, Moderationen schreiben, die Fragekarten vorformulieren für die Gesprächsrunden im Studio. Kurze Überlegung: Was ziehe ich an? Nichts Dunkles, das wirkt nicht vor der Kamera, und möglichst keine kleinen Muster, die flirren. Alles gewohnte Routine. Nach fast zehn Jahren und 430 Sendungen »ML – Mona Lisa« und den inzwischen drei Jahren und 50 Sendungen Ombudsmagazin. Ein Programm, das mir immer mehr ans Herz gewachsen ist. Vor allem auch die Kolleginnen und Kollegen, die so fröhlich, schwungvoll und mit ungebrochenem Engagement an der Sendung arbeiten. Dazu Hunderte von Menschen, die uns anrufen, schreiben, motivieren. Sich bedanken, dass wir uns für sie und ihren Kummer, Ärger einsetzen.

Also aus meiner Sicht: kein Grund für Erschöpfung oder gar Müdigkeit. Ich fahre weiter, will ja nach Hause. Es ist Spätsommer, vielleicht können mein Mann und ich noch ein wenig auf der Terrasse im Garten sitzen. Das fehlt mir unter der Woche. Denn da lebe ich von Montag bis Freitag in Wiesbaden-Freudenberg. In einer sehr gemütlichen Zweizimmerwohnung. Aber: allein, ohne meinen Mann. Und ohne meinen roten Berg-Kater Pedro. So kreisen meine Gedanken beim Fahren rund um meine Familie

Komisch: Es hört nicht auf mit dem Blinzeln. Obwohl jetzt schon längst die Sonne untergegangen ist. Ich muss wieder anhalten und noch einmal nach nur zwanzig Minuten. Ein wenig schmerzt die Halswirbelsäule. Das kann jetzt aber auch vom Autofahren kommen In einer Stunde werde ich sicherzumindest am Stadtrand von München sein. Hoffe ich. Doch so schnell geht es dann nicht. Es ist halt Freitagabendverkehr. Und je südlicher ich komme, desto dichter rollen die Schlangen zweispurig über die Autobahn. Inzwischen habe ich Eros Ramazotti eingelegt. Tannhäusers Liebeskummer hat mich doch ein wenig bedrückt. Vielleicht wirkt Eros' Stimme zweifach: gegen den Verkehrsfrust und gegen das Blinzeln.

Zu Hause – endlich. Als hätte er's gespürt, kommt mein Mann mir entgegen. Kater Pedro dagegen, der seit 16 Jahren mein Gefährte ist, hält es eher umgekehrt: Wenn er mich nach dieser Woche Absenz erblickt, macht er auf der Pfote kehrt und versteckt sich erst mal im Garten.

Macht nichts. Spätestens heute Nacht, wenn mein Mann eingeschlafen ist, kommt er zu mir und schleicht sich wie schon zu seinen Baby-Zeiten zwischen das Kopfkissen und das Kopfteil des Bettes. Da fühlt er sich wohl, versteckt sein Köpfchen dann in meinen Haaren. Vielleicht seine Erinnerungen an den Bergbauernhof auf der Hohen Salve in Tirol, wo ich ihn im Alter von vier Wochen vor einem Katzen mordenden Bauern gerettet habe: »Vor dem Winter müssen die weg …«

Jeder, der nur die Wochenenden zu Hause verbringen kann, kennt dieses wunderbare Freitagsgefühl: vor sich eine schier endlose Zeit (bis Sonntagabend …), wieder daheim in der vertrauten Umgebung, mit den geliebten Menschen. Die ja ihrerseits liebevoll auf die Heimkehrerin zugehen. Probleme, Kummer, Sorgen – das bleibt außen vor. Auf beiden Seiten. Man will ja nicht die kurze Zeit stimmungsmäßig belasten.

Dennoch erzähle ich später – nicht mehr auf der Terrasse, es war dann doch zu kühl – meinem Mann von meinem Blinzeln und Blinkern. Von den Fahrpausen, die ich ungewohnterweise einlegen musste auf der Fahrt nach Hause. Mein Mann, im Berufsleben Pilot, weiß auch sofort des Rätsels Lösung: »Wahrscheinlich kommt irgendwie Abgas in den Innenraum deines Autos; das sind die klassischen Reaktionen, ich kenne das vom Fliegen …

Nächste Woche will er mit mir nach Wiesbaden fahren. Einen Abgastest machen lassen, dann wird sich alles klären. Ich bin beruhigt.

Aber eine Woche später in Wiesbaden schütteln die Feuerwehrleute nach dem Abgastest den Kopf: »Nein, da ist alles in Ordnung, da kommt nichts in den Innenraum Ihres Wagens rein.«

Das war's wohl. Nur: Was ist es dann? Ich habe es doch nur beim Autofahren, nur da fällt es mir auf, dieses vollkommen unwillkürliche Blinzeln, die aus meiner Sicht zu langen Abstände, bis ich wieder ganz klar sehen kann. Vielleicht doch ein Augenproblem? Ich nehme mir vor, mich mal nach einem Augenarzt im Rhein-Main-Gebiet zu erkundigen.

Aber vorerst schiebe ich das alles auf. Denn ganz andere, zurzeit wichtigere Dinge stehen an: Mein Mann und ich wollen ins Rhein-Main-Gebiet umziehen. Drei Jahre lang Wochenendehe, nein, so hatten wir uns unser Leben nicht vorgestellt, als wir 1994 geheiratet haben. Wir haben damals aus zwei eins gemacht, unsere alten Wohnungen aufgelöst und gemeinsam neu begonnen. Weil wir zusammen alt werden wollen. Eine Wochenendehe war da nicht eingeplant.

Nur zu gut kann ich mich noch an unser Gespräch an einem frühen Morgen auf dem Flughafen von Mailand erinnern. Wir waren uns gerade erst vor zehn Tagen zum ersten Mal begegnet. Auf schäbigen Plastikstühlen saßen wir uns gegenüber und gestanden uns fast zeitgleich, dass wir beide keine »informelle Beziehung« wollten. Was bedeutete, dass nicht der eine in Wunstorf, der andere in München sein normales Leben führen sollte. Nein, uns war klar, wir wollten heiraten. Und dann am gleichen Ort zusammen leben. Vielleicht für alle anderen eine verrückte Geschichte. Nur für uns nicht. Denn seit damals sind wir jetzt zehn Jahre zusammen. Zehn überaus glückliche Jahre.

Zusammengeführt hat uns der Krieg auf dem Balkan. Ein Krieg, der Tausenden so viel Leid brachte, schenkte uns das Glück. Ich war, als »ML – Mona Lisa«-Leiterin und Reporterin auf dem Weg nach Sarajewo. Anfang Dezember wollte das ZDF unter dem damaligen Chefredakteur Klaus Bresser den 300 000 eingeschlossenen Menschen in Sarajewo helfen. »Sarajewo soll leben«, hieß der Titel der Sendung, ich hatte dafür den »Mona-Lisa«-Sendeplatz geräumt und sollte zusammen mit Ruprecht Eser, damals Chefreporter, eine 60-minütige Spendensendung moderieren. Petra Gerster übernahm den Moderationspart in Mainz. Wir berichteten aus der eingeschlossenen, hungernden und frierenden Stadt. Mit Filmen und in Gesprächen.

Unser Zeitplan für diese Livesendung war mal wieder äußerst knapp. Ich hatte noch am Sonntag eine »Mona-Lisa«-Sendung in Unterföhring bei München. Konnte also erst am Montag um 8 Uhr in München starten. Eine Maschine der Luftwaffe sollte uns von der italienischen Basis in Falconarain die belagerte Stadt bringen. Doch schon der Flug nach Falconara glich einer Weltreise: erst über Wien nach Zagreb. Dort auschecken, mit einer ZDF-Mitarbeiterin und einem Fahrer durch die ganze Stadt zur UNHCR, um die persönliche Akkreditierung mit Foto zu bekommen. Dann auf dem schnellsten Weg wieder zurück zum Flughafen. Knapp geschafft. Und ab nach Split. Mit der nächsten Maschine dann nach Rom, eine Stunde Aufenthalt, umsteigen, Gepäck abholen, wieder einchecken. Letzte Flugstrecke: Rom-Ancona. Hier holten uns freundliche Soldaten der Luftwaffe ab. Inzwischen hatte auch das ganze Team. zusammengefunden: Ruprecht Eser, mein Kollege, ein Kamerateam, ein Cutter. Und unglaubliche Mengen an Gepäck, Kameras, Schnitteinheiten, Licht. Fernsehen kann manchmal richtig mühsam sein. Wenigstens war eine Reporterin schon einige Tage zuvor mit einem Kamerateam nach Sarajewo aufgebrochen. Wir hofften jetzt auf einen Abflug am nächsten Tag, in der Frühe. Die Luftwaffe wollte uns mit einer Transall hinüberbringen. Aber sicher ist in solchen Zeiten gar nichts.

Was sich gleich am nächsten Morgen zeigen sollte. Denn die Serben gaben keine Ruhe, schossen einer norwegischen Maschine einen Tragflügel in Stücke. Gott sei Dank konnte der Pilot noch sicher in Falconara landen. Aber wir saßen erst mal fest auf diesem Mini-Flughafen, der die Basis der gerade neu installierten Luftbrücke der Alliierten war. Jede Stunde konnte hier eine Transportmaschine starten und den Menschen in Sarajewo Lebensmittel, Decken, Medikamente bringen. Aber die Serben schossen unberechenbar auf die einschwebenden Flugzeuge. So gab es Tage in diesen Wochen und Monaten der Luftbrücke, an denen die Piloten in Falconara aufs Meer schauten und Däumchen drehten. Weil gerade mal wiedereine Maschine getroffen worden war oder weil auf der sehr knappen Anfluglinie hinunter über den Berg Igman zum Flughafen Sarajewo dichter Nebel waberte. Im Winter ein häufiger Gast. Oder weil die Piloten mithilfe eines von den Israelis nachträglich eingebauten Spezialgerät erkannten, dass die Serben eine Rakete auf das Flugzeug abgeschossen hatten. »Tracken«, nennen das die Piloten, wenn bei ihnen der Adrenalinspiegel steigt und die Angst, getroffen zu werden, den Hals zuschnürt. Drei Jahre Luftbrücke, das war wirklich eine unglaubliche Leistung der Briten, Amerikaner, Schweden, Franzosen, Norweger, Holländer, Italiener und Deutschen. Ohne den täglichen Einsatz der mutigen Piloten hätten die Menschen in Sarajewo die Zeit der serbischen Blockade wohl nicht überlebt.

Dort, in Falconara also, traf ich ihn, den Mann, der mit mir keine »informelle Beziehung« haben wollte. Er war, als Oberstleutnant der Luftwaffe, Kommandoführer und damit zuständig für den Einsatz der deutschen Maschinen. Und weil die Serben mal wieder wie besessen auf die Flugzeuge schossen, dazu die Sichtverhältnisse unter 500 Meter lagen, durften die Deutschen nicht hinüberfliegen. So saß das Team einen ganzen langen Tag wie auf heißen Kohlen in den Blechcontainern der Alliierten und schlürfte Kaffee aus Pappbechern. Ich hörte dem »OTL« Klaus Häusler zu. Das ist die Abkürzung für Oberstleutnant. Und da muss es wohl gefunkt haben. Nachhaltig.

Spät am Nachmittag sind sie dann doch geflogen, die Bundeswehrpiloten. Und wir konnten unsere Sendung in Sarajewo machen. Fast sechs Millionen Euro war ein sensationeller Spendenerfolg. Und mein »OTL« und ich zogen nur drei Monate später zusammen. So weit unsere Vorgeschichte.

Und so haben wir es uns nicht leicht gemacht mit der Entscheidung, dass ich für die Sendung »Mit mir nicht! – Welsers Fälle« nach Mainz/Wiesbaden gehen würde. Erste Version: Ich ziehe unter der Woche in eine kleine Wohnung in Wiesbaden und fahre am Freitagabend zurück nach München. Aber nach drei Jahren steht uns die »Wochenendehe« bis zum Hals. Außerdem ist mein Mann inzwischen pensioniert worden. Wir wollen diesen Zustand so schnell wie möglich beenden. Auch für den Preis der Aufgabe »unseres« Bayern. Die Sendung selbst läuft nach jetzt über 50 Ausgaben erfolgreich und erreicht die geforderten Quoten, mindestens zehn Prozent am Mittwochabend um 22.15 Uhr, oft gegen Champions-League-Fußball bei den privaten Sendern. Die ZDF-Spitze selbst versichert mir, dass die Sendung ein wichtiger Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Programms sei und ganz sicher die nächsten Jahre weitergeführt werde. Man unterstützt mich in der Entscheidung, ganz nach Mainz zu ziehen. Und mein Mann und ich freuen uns, dass wieder ein wenig Ruhe und Normalität in unser Leben einkehrt. Unser Haus in München wollen wir für die nächsten Jahre vermieten. Denn ganz »am Schluss«, also für den dritten Lebensabschnitt nach dem Berufsleben, wird es uns beide auf alle Fälle wieder nach München zurück ziehen.

Jetzt aber: Haussuche. Die sich wider Erwarten einfacher gestaltete als befürchtet:

Ein Kollege inserierte hausintern sein Mainzer Domizil. »Mit Blick auf die Kirche von Gonsenheim und einem kleinen Bach im Hanggrundstück.« Das klingt hübsch in unseren Ohren. Und auch das Haus gefällt uns gut. Erdbeerkuchen auf der Terrasse mit dem Kollegen und seiner Frau – und alles istklar: Wir ziehen Ende jenes Jahres, also 1999, nach Mainz-Molkenborn. Vorher wollen wir allerdings noch einiges im Haus ändern. Mein lieber Mann erklärt sich dazu bereit. Wir kaufen Farben, Tapeten, Teppichböden und Kleister. Räumen schweren Herzens unser Haus in München und düsen ab – erst mal in meine kleine Wiesbadener Bleibe.

Während mein Mann mit zwei Helfern renoviert, kümmere ich mich um meine Sendung.

Im Augenblick steht uns besonderer Ärger ins Haus. Ein Rechtsanwalt aus Oberhausen behauptet, wir würden in der Sendung unerlaubt Rechtsberatung betreiben. Das wäre – durch ein Gesetz aus dem Jahr 1933, also aus dem Dritten Reich – verboten. Der Anwalt klagt gegen das ZDF und meine Sendung.

Aber nicht nur ich stehe im Fokus seiner Angriffe: auch der Kollege Geert Müller-Gerbes mit seiner Sendung bei RTL »Wie bitte!?«, Peter Escher vom MDR, der dort Neppern auf der Spur ist, und oft auch meine Kollegen aus der WISO-Redaktion, Michael Jungbluth und Michael Opozcinsky. Um was geht es?

Der Rechtsanwalt pickt sich immer einzelne Beispiele heraus, um zu beweisen, dass wir Journalisten in solchen Sendungen tatsächlich unberechtigt Rechtsberatung betreiben. Bei mir erregte die Geschichte einer Leipzigerin sein Gemüt: Die 59jährige, inzwischen arbeitslose Frau hätte rund 28 000 Mark Altersübergangsgeld und Pflegebeiträge an das Arbeitsamt zurückzahlen sollen, weil sie ihren Umzug ins Nachbarhaus nicht angegeben hatte. In meiner Sendung schilderten wir den Fall, diskutierten wie immer mit der betroffenen Frau, einem Vertreter ihres für sie zuständigen Arbeitsamtes und einem unabhängigen Fachmann. In der Sendung gestand der Vertreter des Arbeitsamtes zu, dass die Rückzahlung an das Amt ungerecht sei. Die Frau erhielt darauf rund 15 000 Mark vom Arbeitsamt zurück. Ein großer Erfolg für uns, für das Team von »Mit mir nicht!«.

Für den Oberhausener Anwalt der Stein erneuten Anstoßes. Das, was ich da betreiben würde, sei Rechtsberatung – und die sei verboten. Weil ich mich – im Gegensatz zu meinen Kollegen bei RTL, beim MDR und dem Bayerischem Rundfunk – geweigert hatte, eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung zu unterschreiben, marschiert der streitbare Rechtsanwalt jetzt vor das Duisburger Gericht. Aber, oh Wunder: Der Richter weist den Antrag des Anwaltes zurück. Unser ZDF-Anwalt ruft mich gleich nach dem Urteil an. Mit hochroten Wangen sause ich in unsere tägliche Schaltkonferenz im ZDF. Strahlend und atemlos berichte ich von dem Sieg, aus meiner Sicht die Bestätigung für einen kritischen und engagierten Journalismus. Ich weiß allerdings auch: Der Anwalt wird nicht aufgeben. Der geht jetzt in die zweite Instanz, zum Oberlandesgericht Düsseldorf.

Irgendwo steht in diesen Tagen auf meiner »to-do«-Liste: Termin bei einem Augenarzt – aber ich habe immer vermeintlich Wichtigeres vor. Denn da im Leben aus meiner Sicht die Offensive immer die beste Verteidigung ist, planen wir in der Redaktion eine ganze Sendung zu diesem unsäglichen Rechtsberatungsgesetz. Drehen mit Menschen, die ganz besonders darunter zu leiden hatten: einem Jura-Studenten, der seiner Mutter einen Rat in einer Mietangelegenheit gegeben hatte und damit gegen das Gesetz verstoßen hat. Oder ein pensionierter Richter, der einem Strafgefangenen mit Rat und Tat und unentgeltlich zur Seite stand. Wir zeigen Beispiele aus Großbritannien, wo Rechtsanwälte gar die Sendung »Watchdog« unterstützen – und nicht bekämpfen. Im Studio diskutieren wir dann mit Geert Müller-Gerbes von RTL, Herta Däubler-Gmelin, der damaligen Justizministerin, und mit hoch qualifizierten Fachjuristen. Damals ein Erfolg. Aber das Gesetz gibt es leider noch bis zum heutigen Tage. Wenn auch immer mehr Gerichte für die Medien und gegen klagende Anwälte entscheiden.

Am Tag darauf spiegeln die Schlagzeilen aller großen deutschen Zeitungen das Interesse der Menschen wider: »Gericht stoppt Angriff auf die Pressefreiheit«; »Keine Angst vor Anwälten«; »Weiterhin Hilfe-Sendungen im Fernsehen«.

Wir freuen uns riesig in der Redaktion. Und noch mehr, als das Gericht auch in der zweiten Instanz für das Fernsehen, für die Journalisten und ihre Berichterstattung entscheidet. Und gegen den Anwalt. Es kann ja auch nicht sein, dass sich Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose – einfach alle sozial Schwachen – nur mithilfe von teuren Anwälten gegen die Willkür starker Goliaths wehren können. Weil sich bekanntermaßen Behörden, Firmen und große Organisationen einfach zu gern hinter hochpotenten Juristen verstecken. Möglichst so, dass kein Journalist den Finger drauflegt und das Unrecht öffentlich macht.

Und noch etwas wird mir klar im Zuge dieser Auseinandersetzung mit für mich als Journalistin vermeintlich klaren Fragen: Viel zu viele Menschen brauchen in unserem Land Rat – zusätzlich zu juristischer Hilfe. Weil mit dem Wohlstand Kälte, Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit unsere Gesellschaft dominieren. Die Ohnmächtigen und Wehrlosen sind die schweigenden Opfer.

Deshalb gibt es ja auch unsere Sendung. Sicher – wir können pro Sendung zweimal im Monat nicht mehr als acht bis zehn Fälle beleuchten. Aber diese Einzelfälle stehen immer für Tausende andere im ganzen Land. So sehen uns durchschnittlich auch immer – selbst zur späten Stunde um 22.15 Uhr nach dem »heute journal« – zwischen zwei und drei Millionen Menschen zu. Das entspricht der im ZDF geforderten Mindestquote von zehn Prozent. Meist liegen wir sogar darüber, bei 13 Prozent. Dass man die Sendung einstellen könnte – auf diese Idee kommt keiner in der Redaktion. Aber wir liegen leider ziemlich daneben. Wie die Zukunft zeigen wird.

2. Kapitel: BRENDERS LISTE UND DIE FOLGEN

Mein Augenzwinkern vergesse ich in diesen ersten Wochen des Jahres 2000 fast ganz. Verdränge völlig, dass ich im Studio während der Sendungen oft alle Mühe habe, mein Gegenüber ohne Blinzeln anzuschauen.

Sicher, wenn ich mir am Donnerstag im Büro die Sendung vom Abend zuvor ansehe, fällt es mir schon auf. Aber es sagt keiner was in der Redaktion. Und ich konzentriere mich auf die einzelnen Fälle. Unsere Fälle.

Mit meinem Regisseur Jürgen habe ich mich dann doch mal zusammengesetzt. Ihn gefragt, ob vielleicht die Studiolampen zu stark sein könnten, ob er da nicht mit unserem Ersten Kameramann reden könnte. Jürgen verspricht es.

Vor der nächsten Sendung probieren wir es dann aus: weniger Licht auf meine Augen, mehr auf die Haare. Man nennt das im Fachjargon: eine Spitze. Aber auch die »Spitze auf meinem Haar« hilft nichts. Wieder sehe ich am Donnerstag, dass ich furchtbar geblinzelt habe. Dabei stelle ich fest, dass ich vor allem in den Gesprächssituationen heftiger mit den Augenlidern blinke und zwinkere. Immer beim Zuhören, wenn mir unsere Gäste ihre Geschichte erzählen. Wenn ich dagegen selbst spreche, gar von einem Thema zum nächsten überleite, die so genannten Anmoderationen in die Kamera spreche, blinken meine Augenlider überhaupt nicht. Warum nur beim Zuhören? Ich verstehe das nicht. Denn ich weiß, dass ich mich wirklich für die Menschen interessiere, die da vor mir sitzen und ihre Geschichten erzählen. Ich bin mir auch sicher, dass ich keineswegs die Augen vor etwas verschließen will, schon gar nicht vor ihrer Geschichte, ihrem Schicksal. Warum nur blinzle ich dann so? Ich bin ratlos. Und schiebe es mal wieder auf das Licht, die Lampen im Studio. Denn Nervosität kann es aus meiner Sicht nicht sein. Seit 1980 arbeite ich vor der Kamera. Angespannt bin ich immer vor einer Sendung, das ist normal. Aber nicht wirklich nervös. Da hilft mir meine jahrelange Erfahrung als Skirennfahrerin. Da heißt es schließlich auch, immer auf die Sekunde voll präsent zu sein, denn ein Rennen dauert höchstens zwei Minuten – eine einzige Moderation in einer Livesendung ist selten länger als eine Minute.

Auch im privaten Bereich ist mein Leben in dieser Zeit turbulenter als gewohnt. Dass es in den kommenden zwei Jahren noch heftiger werden könnte, daran dachte ich nicht im Entferntesten. So müssen wir uns erst mal im neuen Haus, in der neuen Umgebung eingewöhnen. Wohin mit den Sachen für die Reinigung, den kaputten Schuhen, wo gibt es frisches Obst und Gemüse, möglichst biologisch angebaut. Mein Mann ist mir in dieser Zeit – wie immer – eine große Hilfe. Aber es fällt mir schwer, die Verantwortung im Haushalt abzugeben. So koche ich am Abend, aber die Zutaten dafür kauft jetzt mein Mann ein. (Und dann bloß nicht meckern, wenn die Tomaten zu hart sind, der Schinken zu dick geschnitten ist …)

Wir kämpfen also beide mit der Umstellung. Denn auch mein Mann hat ja das vertraute Bayern, die Freunde und das Altherrentennis, die kleinen Aufgaben des Alltags und die räumliche Nähe zu seinen Kindern für mich und meinen Beruf aufgegeben.

Auch beruflich gibt es neue Aufregungen: Unser Chefredakteur Klaus Bresser geht in Rente. Der Neue, Nikolaus Brender, hat sich schon in der Redaktion angemeldet. Vor seinem offiziellen Amtsantritt. Das ist ungewöhnlich. Auch, dass ein Chefredakteur in die Räume einer Redaktion kommt, an unseren Konferenztisch, und nicht die Mitarbeiter zu sich ins Büro bittet.

So drängeln wir uns alle um meinen runden weißen Konferenztisch, ein Relikt aus »ML – Mona Lisa«-Zeiten.

Ich habe bis heute das vierstündige Gespräch in überaus angenehmer Erinnerung. Mit keinem Wort wird über eine Einstellung unserer Sendung gesprochen. Von Verbesserungen, ja. Auch von seinen Vorstellungen für neue Magazine im ZDF: erstellt nach den Grundregeln besten Journalismus und investigativer Recherche.

Nach dem langen Gespräch bei uns in der Redaktion ruft mich noch am Abend ein Kollege von der Zeitschrift Die Woche an. Mit einer verblüffenden, ja irritierenden Frage: »Was machen Sie denn, wenn Ihre Sendung eingestellt wird?«

Nach einem kurzen, tiefen Luftholen antworte ich solidarisch-loyal: »Gute Journalisten werden immer gebraucht, und im Übrigen kann ich mir nicht vorstellen, dass man so ein klassisches öffentlich-rechtliches Format wie das Ombudsmagazin aufgibt.«

Am übernächsten Tag, dem Tag des Amtsantritts des neuen Chefredakteurs, ist unter der Überschrift »Brenders Liste« nachzulesen, was sich in unserem Sender so alles ändert. Aber auch, was alles eingestellt wird. Unter anderem – das Ombudsmagazin.

3. Kapitel: DIE ZUKUNFT IN DEN KARTEN?

Es ist heiß in Mainz. Wir können nur mit im ganzen Haus geöffneten Fenstern schlafen. Könnten. Aber ich kann nicht.

Mir geht dauernd im Kopf herum, warum unsere Sendung tatsächlich eingestellt wird. Was geschehen wird mit meinen Kolleginnen und Kollegen, bis auf eine allesamt nicht festangestellt, sondern so genannte »freelancer«. Und auch: Was werde ich machen? Sicher: Als Festangestellte, dazu noch Abteilungsleiterin, muss ich keine Existenzängste haben. Aber rundum breitet sich eben doch ein großes Unsicherheitsgefühl aus. Und bei mir auch Enttäuschung, weil wir doch gerade erst mit Sack und Pack und voller Schwung an Rhein und Main gezogen waren.

Einer meiner netten Kollegen aus der »Mit mir nicht!«-Redaktion ist schon im letzten Jahr in ein Landesstudio gewechselt. Ich ließ ihn ungern ziehen, aber er bekam dort eine Festanstellung. Das war nicht zu toppen. Und jetzt, in diesem heißen Sommer, erinnere ich mich an seine letzten Worte: »Dass ich bei Ihnen landen würde, und dann weiter Karriere machen, das hat mir schon vorher eine Wahrsagerin prophezeit.« Er gab mir damals auch ihren Namen. Ich war ganz schön erstaunt: ein junger Mann, intelligent, tough, der zur Wahrsagerin geht?

Und dann hat es auch noch gestimmt …

Nach einer weiteren heißen Mainzer Sommernacht steht mein Entschluss fest: Ich werde mal zu dieser Dame gehen. Warum nicht mal einem fremden Menschen zuhören, dadurch die eigenen Gedanken ordnen, Herr über die Ängste werden? Zugegeben: Dafür gibt es keine wissenschaftlichen Beweise, das erscheint vielen wie »Spökenkiekerei«. Auch in Tibet unter den Buddhisten soll es Menschen geben, die die Zeit anders erleben. Nicht nur in einer Richtung, wie wir: also hier die Vergangenheit, dort die Zukunft. Für sie existiert eine vierte Dimension. Sie nennen sie ebenfalls Zeit.