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Die Wissenschaftliche Reihe im Archiv der Jugendkulturen

Alljährlich entstehen an Universitäten und Fachhochschulen Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, die zumeist nur von zwei GutachterInnen gelesen werden und dann in den Asservatenkammern der Hochschulen verschwinden. Dabei enthalten viele dieser Arbeiten durchaus neues Wissen, interessante Denkmodelle, genaue Feldstudien. Das Archiv der Jugendkulturen, Fachbibliothek und Forschungsinstitut zugleich zu allen Fragen rund um Jugendkulturen, hat deshalb damit begonnen, wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Jugend zu sammeln. Mehr als 700 solcher Arbeiten enthält die Präsenzbibliothek des Archivs inzwischen – für jedermann kostenlos und frei zugänglich.

In der Wissenschaftlichen Reihe publiziert der Archiv der Jugendkulturen Verlag zudem qualitativ herausragende wissenschaftliche Arbeiten zu jugendkulturellen Zusammenhängen. Die Arbeiten werden von fachkundigen GutachterInnen gelesen und für die Veröffentlichung professionell lektoriert und gestaltet. Da pro Jahr von ca. 50 eingereichten Arbeiten nur zwei veröffentlicht werden, kann bereits die Aufnahme in den Verlagskatalog als Auszeichnung verstanden werden. Doch für die AutorInnen lohnt sich die Veröffentlichung auch materiell. Die Archiv der Jugendkulturen Verlag KG verlangt keinerlei Kostenbeteiligungen! Im Gegenteil: Unsere AutorInnen erhalten bereits für die Erstauflage ein Garantiehonorar von 1.000 Euro!

Seit 2011 wird diese Reihe durch eine elektronische Schwester ergänzt. Denn immer wieder mussten wir hervorragende Manuskripte ablehnen, da ein kleiner Verlag wie der unsrige sich nicht mehr als zwei wissenschaftliche Titel mit den gesetzten Qualitätsstandards und dem bewusst niedrig angesetzten Ladenpreis (um möglichst viele Menschen zu erreichen) leisten kann. Die E-Book-Reihe soll dieses Manko ausgleichen. Was für die Printreihe gilt, gilt auch für unsere E-Books: Sie werden ebenfalls sorgfältig ausgewählt und lektoriert, die AutorInnen erhalten ein kleines Garantiehonorar und werden am Umsatz beteiligt.

Agnes Trattner

SYMBOLIK ZWISCHEN LEBEN UND TOD

Jugendkultur als Ausdruck oder Korrektiv sozio-kultureller Strömungen

INHALT

Vorwort von Johanna Hopfner

Einleitung

Zentrale Unterschiede im Umgang mit Jugend und Tod zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften

Veränderungen in der Bewertung der Lebensalter

Jugend und Alter im Mittelalter und der frühen Neuzeit

Die Aufwertung der männlichen Jugend zum Motor der gesellschaftlichen Veränderung

Gegensätze zwischen zyklischem und linearem Weltbild

Bewahren von Kontinuität und Streben nach Veränderung

Die Bemächtigung der Zeit: Vom allmächtigen Schöpfergott zum „kleinen Gott in jedermann“

Das ewige Leben als Gewissheit und die Reduktion der Lebenszeit auf die Individualbiographie

Von der Akzeptanz des Todes zum Kampf gegen ihn

Symbolische Vergegenwärtigung und religiös-ritualisierte Einbettung des Todes

Der Siegeszug der Naturwissenschaften und die Sinnentleerung des Todes

Die Verdrängung des Todes und die Verklärung der Jugend

Der Tod als Räuber

Aktuelle Utopien der Todesüberwindung

Würdeloses Sterben durch medizinische Maßnahmen der Lebensverlängerung

Die Illusion von Zeitgewinn durch Beschleunigung

Die Entwirklichung des Todes durch seine Fiktionalisierung

Forever young und Anti-aging

Jugendlichkeit als Ideal und propagierte Lebensweise

Die Rolle der Wandervögel in der Entstehung des Jugendkults

Jugend als Projektionsfläche und umkämpfter Raum

Verklärung und Pathologisierung von Jugend in der Wissenschaft

Die Schattenseiten ewiger Jugendlichkeit

Die Bewältigung von Vergänglichkeit als zentrale Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz

Das Ende der Kindheit und des kindlichen Körpers

Die Pubertät als Erfahrung von körperlicher Desintegrität

Der Verlust der Rollenoptionen des Gegengeschlechts

Adoleszente Bewusstwerdung über die Begrenzung durch den eigenen Ursprung

Grundlegende Umstrukturierungen der zwischenmenschlichen Beziehungen

Initiationsrituale in ethnischen Gesellschaften als Austausch von Leben und Tod

Selbstinitiation und Initiationsäquivalente in Gesellschaften der zweiten Moderne

Kleiderwechsel und Körpermodifikationen

Jugendkulturelle Szenen als Initiationsäquivalent

Risiko und Party versus Abhängen und Chillen

Jugendliche Artikulation von Vergänglichkeit am Beispiel von Todessymbolen – Charakterisierung der Studie

Stand der Forschung zu Todessymbolen in Jugendkulturen, Anknüpfungspunkte und offene Themen

Todessymbole als Zeichen von Männlichkeit, Härte und Rebellion im Heavy Metal und Punk, bei den Skinheads oder Rockabillies

Todessymbole als Zeichen der Todesauseinandersetzung bei den Gothics

Die Verbindung von Todes- mit Lebenssymbolen bei den Emos

Fragestellungen der Analyse, Forschungshypothesen und Ziel der Studie

Methoden, Instrumente und Durchführung der Studie

Durchführung qualitativer Interviews

Analyse und Auswertung der qualitativen Interviews

Durchführung der Fragenbogenerhebung

Vorgehensweise in der Auswertung und Darstellung der Ergebnisse der Fragebogenerhebung

Analyse von Beiträgen in Internetforen

Beschreibung der StudienteilnehmerInnen

Kurzporträts der InterviewpartnerInnen

Demographische Daten der Fragebogenerhebung

Todessymbole zwischen provokativem Potenzial und „bedeutungsloser Mode“

Stil als Ausdruck von Persönlichkeit

Todessymbole als Mittel der Individuierung

Todessymbole als Zeichen der Szenezugehörigkeit zu den Emos

„Manche Totenköpfe schauen halt lieb aus“ – Todessymbole als Massenphänomen

Todessymbole als Zeichen von Stil

Reaktionen der Erwachsenen

Kleidung und Stil als umkämpftes Feld von Jugendlichkeit

„Man soll sich seinem Alter entsprechend anziehen“ – zum jugendlichen Stil bei Erwachsenen

Jugendkulturelle Szenen als Trendsetter und ihre Vereinnahmung durch die Modeindustrie

Die Szene der Emos als Kanalisation der Todesverdrängung und ihr Bruch mit einem verklärten Jugendbild

Vorurteile, Pathologisierung und Vereinnahmungen der Szene

Reaktionen der Emos und Veränderungen der Szene

Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit anderen Jugendkulturen

Die Tabubrüche der Emos

Symbolraub, Leistungsverweigerung und Klassenkampf?

Die Rolle der FreundInnen und zentrale Aktivitäten

Persönliches Wohlbefinden und Verhältnis zu selbstverletzendem Verhalten und Selbstmord

Mode-Emos versus „echte“ Emos – Fragen der Authentizität

Das Verhältnis der Jugendlichen zu Vergänglichkeit als Spiegel der Gesellschaft

Art, Themen und Bedeutung der Auseinandersetzung mit Altern, Sterben und Tod

Bilder vom Alter

Gedanken über Sterben, Tod und den Sinn des Lebens

Austausch mit anderen

Bedeutung der Auseinandersetzung

Erfahrungen mit dem Tod – Rituale, Jenseitsvorstellungen

Verhältnis zum erwachsenen Umgang mit Tod

Der Tod in den Massenmedien

Medizinische Lebensverlängerung

Vorstellungen vom Sterben

Jugendspezifische Koketterie mit dem Tod

Besonderheiten der Lebensphase Jugend als Herausforderung für die Wissenschaft

Jugend als Zwischenphase

Grenzen testen und überschreiten

Forderungen an Erwachsene

Respekt, Toleranz und Verständnis

Freiheiten und Regeln

Abgrenzung der Erwachsenen

Jugendliche Selbstinszenierung und deren Vereinnahmung

Fazit

Anhang

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis der Grafiken

Interviewleitfaden

Fragebogen

Die Autorin

Agnes Trattner, Dr. Phil., geboren 1979, studierte Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt im Bereich der Jugend(kultur)forschung. Sie ist Lektorin an der Karl-Franzens-Universität Graz und Trainerin in der Erwachsenenbildung. Zudem arbeitet sie als sozialpädagogische Betreuerin mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

VORWORT VON JOHANNA HOPFNER

Die Lebenswelten, Alltagsgewohnheiten, Cliquenbildungen, gesellschaftspolitischen Überzeugungen, Mode- und Musikrichtungen oder das Freizeit- und Sexualverhalten der Jugendlichen bilden kontinuierlich den Gegenstand sozialwissenschaftlicher wie historischer1 Jugendforschung. Denn Jugendliche benötigen und schaffen sich seit jeher eigene soziale Lebensformen und -räume, die sich den Versuchen einer Pädagogisierung widersetzen oder entziehen. Schon Ernst Lichtenstein galten Jugendkulturen als Ausdruck des „sozialen Eigenlebens der Jugend“.2 Es handelt sich oftmals um kultivierte Gegenwelten, die gerade in der gezielten Negation auf die Gesellschaft bezogen bleiben, von der sie sich abgrenzen wollen. Vieles erscheint den Jugendlichen so überkommen, kompliziert, undurchsichtig, verlogen, inkonsequent oder heuchlerisch, dass es dringend der Korrektur bedarf.

Im vorliegenden Buch gibt Agnes Trattner historisch fundierte und zugleich ebenso umfassende wie differenzierte und interessante Einblicke in zeitgenössische Jugendkulturen und Szenen, die sich mit existentiell bedeutsamen Fragen beschäftigen. Denn in unseren neoliberalen, an (Spitzen-)Leistungen, immerwährender Jugendlichkeit und Vitalität orientierten Gesellschaften nehmen Jugendliche vermehrt Anstoß an der Verdrängung von Schwäche, Alter, Leid und Tod. Sie präferieren Symbole, die an den Tod erinnern oder ihn gezielt mit dem Leben verbinden. Ohne selbst der verbreiteten Versuchung zu erliegen, diese Problemlagen auf Jugendliche zu beschränken, sie zu individualisieren und sozialpolitische Hintergründe weitgehend auszublenden, thematisiert Trattner zunächst exemplarisch die veränderte Haltung gegenüber Jugend und Tod in vormodernen und modernen Gesellschaften seit der Antike. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Verdrängungen von Alter und Tod und den spiegelbildlichen Verklärungen der Jugend konzentriert sich die Autorin auf jene Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung, die vorgängige Jugendstudien zwar ansprechen, aber keineswegs durchgehend und gründlich behandeln:3 Die Bewältigung von Vergänglichkeit wird überzeugend als die zentrale Aufgabe der adoleszenten Entwicklungsphase präsentiert. Geprägt von mehr oder weniger einschneidend erlebten physischen, psychischen und sozialen Umbrüchen verlangt Adoleszenz geradezu nach Initiationsritualen oder vergleichbaren, symbolträchtigen, identitätsstiftenden Handlungen.

Die Bedeutung von Todessymbolen in Jugendkulturen steht im Mittelpunkt der Untersuchung, die insbesondere Jugendliche aus dem Umfeld der Emo-Szene in den Blick nimmt. Qualitative Interviews mit einzelnen und Kleingruppen von 2-3 Jugendlichen, ergänzt um eine Fragebogenerhebung in der Szene und einschlägigen Internetforen sorgen für detaillierte Einblicke, die unaufgeregt und übersichtlich präsentiert werden.

Die mit den Todes- und Lebenssymbolen intendierten Provokationen gehen nicht zwangsläufig mit psychischen oder Beziehungsstörungen einher. Die meisten Probleme der Jugendlichen stammen – wie könnte es anders sein – aus dem Umfeld von Schule und Arbeitswelt. Agnes Trattner fokussiert im Vergleich zu anderen Studien auf die weibliche Jugend und deren teilweise verzweifelte Problemlösestrategien. Sie konstatiert zugleich entschieden und gut belegt an der Figur des sogenannten „Wannabe“, dass die Szene übertriebenen Weltschmerz oder selbstinszenierende Selbstverletzungen keineswegs goutiert. Die Studie gibt nicht nur bemerkenswerte Aufschlüsse über die jugendliche Subkultur und weist Parallelen zu analogen sozialwissenschaftlichen Forschungen aus, sondern trägt auch dazu bei, Vorstellungen über Jugendkulturen zu korrigieren, die unseren Jugendlichen und ihrem Verhältnis zu Tod und Vergänglichkeit nicht gerecht werden. Aus diesem Grund und, weil die Jugend als „Träger kultureller Neugestaltung Kredit“4 verdient, sind dem Buch viele aufgeschlossene Leserinnen zu wünschen.

Graz, im Juli 2013

DANKSAGUNG

Ein herzliches Dankeschön richte ich an

alle Jugendlichen, die ihre Zeit zur Verfügung stellten und vertrauensvoll Einblicke in ihre Lebenswelten gewährten sowie Auskunft über ihre Meinungen zu zum Teil gesellschaftlich und emotional negativ vorbelasteten Themen gaben,

Frau Univ. Prof.in Dr.in Johanna Hopfner für das Vorwort,

die Dekanin der URBI-Fakultät, Frau Univ. Prof.in Dr.in Barbara Gasteiger-Klicpera, für die Gewährung eines Doktoratsstipendiums, das mir die Finalisierung des Forschungsprojektes ermöglichte,

Frau Univ. Prof.in Dr.in Johanna Hopfner und Ao. Univ. Prof.in Dr.in Schmidlechner für die Betreuung und Begutachtung der Dissertation,

Bettina, Isa, Kathi und Lou für ihre Anmerkungen, kritischen Kommentare, Verbesserungsvorschläge und aufbauenden Gespräche,

meine Eltern Frieda und Rupert für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung sowie

meinen Freund Markus, der mich auch in schwierigen Zeiten immer wieder zum Lachen bringt.

EINLEITUNG

Jugendliche Gruppen wie die Emos oder Satanisten sind Gruppierungen von Jugendlichen bei denen die Faszination des Abscheulichen im Vordergrund steht, sie wollen durch eine Überbetonung von Verzweiflung, Trauer, Auseinandersetzung mit dem Tod auf der einen Seite provozieren, weil sie selbst massiv gestörte Beziehungen untereinander oder zu ihren Ursprungsfamilien haben und es ist der Versuch auf sich aufmerksam zu machen und letztlich ist es ein Hilfeschrei nach Nähe und nach Beziehung. (Lüdke 2008, Min. 2:47-3:20)5

Diese Aussage steht repräsentativ für das massenmedial dargebotene Bild von Emos, einer seit dem Beginn des neuen Jahrtausends international verbreiteten jugendkulturellen Szene. Seinem Lebenslauf6 bzw. seiner Homepage7 zufolge ist Lüdke promovierter Erziehungswissenschafter sowie approbierter Kinder- und Jugendpsychotherapeut und zumindest für den Sender RTL ein Experte auf ganzer Linie.

Lüdke bedient in seiner Aussage sämtliche Vorurteile, die man bereits von den Gothics kennt. Beide Jugendszenen werden gerne in einem Atemzug mit Satanisten genannt. Ihre Szeneangehörigen seien übermäßig traurig und würden sich allzu viel mit dem Tod beschäftigen. Ihre angebliche Todesaffinität und Faszination am Abscheulichen resultiere aus einer Lust an Provokation, fuße in problematischen Beziehungen mit bzw. in ihrem Umfeld und sei ein pathologischer Versuch Aufmerksamkeit zu erregen. Darüber hinaus wird Gothics wie Emos gerne vorgeworfen, dass sie selbstmordgefährdet seien. Insbesondere den Emos wird unterstellt, dass zu einer authentischen Szenezugehörigkeit selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen gehöre.

So unterschiedlich die Szenen der Gothics und Emos auch sind, zeigen doch beide in ihrem Stil todesaffine Symbole wie zum Beispiel die Farbe Schwarz, Totenköpfe, Skelette oder Knochen. Derartige Todessymbole weisen in der abendländischen Geschichte eine lange Tradition auf und sind seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der Selbstinszenierung verschiedener jugendkulturell geprägter Szenen. So finden sich Totenköpfe, Skelette oder Knochen in Form von Tattoos, auf Kleidungs- und Schmuckstücken sowie auf Accessoires beispielsweise bei den Rockabillies, Skinheads, Punks, Heavy Metals oder Gothics. Diesen Todessymbolen und der Farbe Schwarz kommt insbesondere bei den Gothics eine besondere Bedeutung zu, die nicht von ungefähr auch als „Schwarze Szene“ bezeichnet werden. Im Unterschied dazu kombinieren Emos die bereits aus anderen Szenen bekannten Todessymbole mit Lebenssymbolen wie Blumen, Schmetterlingen, Herzen sowie mit grellen und bunten Farben.

Symbole zeichnen sich in Cassierers Definition durch „Vielseitigkeit und Wandelbarkeit aus“ im Gegensatz zum Zeichen, das damit, worauf es sich bezieht, „fest und eindeutig verbunden“ ist (vgl. Cassirer 1990, S. 64f.). Symbole verbinden „die gegenständliche mit der nicht-gegenständlichen, der imaginären oder geistigen Welt“ und sind laut Seifert eine „Reaktion des Individuums auf seine Umwelt“, denn „Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsbewältigung korrespondieren mit symbolischer und kreativer Aneignung bzw. Auseinandersetzung“ (Seifert 2004, S. 24). Seiferts Einschätzung zufolge artikulieren Jugendkulturen in ihrem symbolischen Ausdruck nicht nur gesellschaftliche Probleme, sondern suchen auch nach kreativen Lösungsstrategien, indem sie starre Zeichen verändern und damit neue Wege sichtbar machen. Mit ästhetischen Mitteln verhandeln sie – meist unbewusst – gesellschaftlich relevante Themen auf einer symbolischen Ebene (vgl. ebd., S. 18f.).

Die Symbole der Emos verweisen auf ein gesellschaftlich verdrängtes Thema, indem sie Leben und Tod auf einer symbolischen Ebene zusammenführen und so den Tod ins Leben zurückholen.

Die Symbole der Emos verweisen auf ein gesellschaftlich verdrängtes Thema, indem sie Leben und Tod auf einer symbolischen Ebene zusammenführen und so den Tod ins Leben zurückholen. Durch ihren expressiven Stil werden Emos auf der einen Seite von Gleichaltrigen wie Erwachsenen pathologisiert, auf der anderen Seite findet ihr Stil inzwischen für Angehörige jeden Alters Eingang in die Massenwarenindustrie.

Die Szene der Emos ist mit nur einem wissenschaftlich ernst zu nehmenden Werk von Büsser et al. (2009) noch kaum untersucht. Büsser et al. geben zwar einen interessanten Einblick in die Szene, der symbolische Ausdruck erfährt aber wenig Aufmerksamkeit. Todessymbole werden auch in den Beschreibungen anderer Szenen vernachlässigt. Meistens werden sie als Randthemen behandelt ebenso wie der gesamtgesellschaftliche Rahmen der Todesverdrängung. Eine Ausnahme stellt die Studie von Helsper (1992) dar. Im Vordergrund seiner Betrachtung stehen allerdings Zusammenhänge der Symbolik von Gothics und Heavy-Metals mit Satanismus und Okkultismus. Obwohl Jugendkulturen seit den 1990er Jahren im Allgemeinen auch als potentielles Lernfeld gesehen werden, beleuchtet Helsper – wie andere Studien auch – Szenen, die eine Affinität zu Todessymbolen aufweisen, letztlich wieder unter den Gesichtspunkten ihrer Gefährlichkeit bzw. Gefährdung. Zudem beziehen die Studien zu spezifischen Szenen kaum entwicklungstheoretische Grundlagen zur Adoleszenz mit ein.

In entwicklungspsychologischen und pädagogischen Werken finden die symbolischen Ausdrucksformen von Jugendlichen ebenfalls kaum Beachtung. Die Adoleszenz wird nicht als eine Zeit der intensiven Konfrontation mit Vergänglichkeit im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Todesverdrängung und Idealisierung von Jugend erklärt. An mancher Stelle wird zwar darauf hingewiesen, dass durch die neue Fähigkeit zur Selbstreflexion in der Adoleszenz existentielle Fragen wichtig werden und damit auch die Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sinn des Lebens, dennoch bleiben diese Verweise mehr oder weniger an der Oberfläche. Die Themenkomplexe Jugend und Tod werden im erziehungswissenschaftlichen Diskurs außerhalb eines pathologischen Zusammenhangs kaum zusammengeführt. Spielt dieser Zusammenhang in den Überlegungen einschlägiger AutorInnen eine Rolle, werden in erster Linie die Themen Suizid, Depression und selbstverletzendes Verhalten untersucht. Erfolgt eine Verknüpfung der beiden Themen abseits pathologisierender Betrachtungen, dann meist in quantitativen Studien, die religiöse, ethische oder moralische Einstellungen der Jugendlichen messen, ohne sie in den sozialen Kontext der gesellschaftlichen Todesverdrängung einzubetten und ohne eingehende theoretische Fundierung der Lebensphase Jugend selbst.

In der entwicklungstheoretischen Sichtweise auf Heranwachsende kommt die Aufgabe der Bewältigung von Vergänglichkeit nicht vor. Daher bleibt in den vielfältigen Studien zur Adoleszenz offen, wie Jugendliche mit dem Thema Vergänglichkeit und der gesellschaftlichen Verdrängung des Todes bzw. der Verklärung von Jugend umgehen und welche Bedeutung dabei den Todessymbolen und den jugendkulturellen Gemeinschaften zukommt. Ungeklärt bleibt auch die Frage, ob die Todessymbole aus dem jugendkulturellen Kontext durch ihre Verweise auf Vergänglichkeit zu einer Enttabuisierung des Todes beitragen oder ob sie die gesellschaftliche Todesverdrängung bestätigen.

Um sich diesen Fragen anzunähern, beleuchtet die Arbeit in einem ersten Schritt die zentralen Unterschiede im Umgang mit Jugend und Tod zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften. Dieses Kapitel zeichnet die Veränderungen in der Bewertung der Lebensalter in der abendländischen Geschichte nach, zeigt die Gegensätze zwischen einem vormodernen zyklischen und dem modernen linearen Weltbild auf und stellt die Entwicklung von der Akzeptanz und Vergegenwärtigung des Todes zum Kampf gegen ihn dar. Die Jahrhunderte währende Tradition der symbolischen Vergegenwärtigung, der religiös-ritualisierten Einbettung und Sinnbelegung des Todes weicht dem säkularisierten Bild vom „natürlichen Tod“, das ihn mit dem Stillstand einer Maschine gleichsetzt. Die daraus entstehenden Machbarkeitsutopien der Todesüberwindung finden in den medizinisch-technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts ihre Fortsetzung.

Die Verschärfung des strukturellen Zusammenhangs zwischen der Verdrängung des Todes und der Verklärung von Jugend in der zweiten Moderne wird im nächsten Schritt herausgearbeitet. Auf der einen Seite wird die Weiterführung des modernen Bildes vom „Tod als Feind“ zum „Tod als Räuber“ näher verfolgt und auf der anderen der bis heute wirksame Jugendkult, zu dessen Entstehung die Jugendbewegung der Wandervögel und deren Rezeption von erwachsener Seite wesentlich beigetragen haben. Im jugendbewegten Zeitgeist der Wandervögel entstehen die ersten wissenschaftlichen Theorien zur Jugend. Die Arbeit geht der bis heute etablierten ambivalenten wissenschaftlichen Sicht auf Jugend nach, die sich zwischen einer verklärend-idealisierenden und einer problematisierenden, pathologisierenden Darstellung bewegt. Darauf aufbauend wird Jugend als Projektionsfläche und umkämpfter Raum der Gesamtgesellschaft entlarvt.

In ethnischen Gesellschaften regeln Initiationsrituale die Konflikte und Ängste im Zusammenhang mit dem Ende der Kindheit. In modernen Gesellschaften sind Jugendliche dazu angehalten, ihren Übergang vom Kind zum Erwachsenen selbst zu organisieren.

Der Idealisierung von Jugend wird die reale Situation, in der sich Jugendliche befinden, gegenübergestellt, wobei der Fokus auf die Bewältigung von Vergänglichkeit als zentraler Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz gerichtet ist. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Todesverdrängung werden um die entwicklungstheoretischen Besonderheiten der Adoleszenz erweitert. Der zukunftsorientierte Blick auf Jugend als „Aufbruch“, „zweite Geburt“ oder „zweite Chance“ wird um den Fokus auf adoleszenztypische Verlust- und Begrenzungserfahrungen ergänzt. Durch die Zusammenführung von aktuellen entwicklungstheoretischen Zugängen unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus den Geschlechterstudien, kulturanthropologischen Theorien und psychologischen Einsichten in die Entwicklung des menschlichen Todesbewusstseins wird erklärt, warum sich die Themen Tod und Vergänglichkeit in der Adoleszenz in besonderem Maße aufdrängen und eine Auseinandersetzung mit ihnen erforderlich wird. In ethnischen Gesellschaften regeln Initiationsrituale die Konflikte und Ängste im Zusammenhang mit dem Ende der Kindheit. Sie haben die Funktion, den Verlust der Kindheit zu bewältigen und Sinnfragen zu beantworten. Sie dienen der Bewältigung von Vergänglichkeit, indem sie einen Austausch von Leben und Tod inszenieren. In modernen Gesellschaften sind Jugendliche dazu angehalten, ihren Übergang vom Kind zum Erwachsenen selbst zu organisieren. Gleichaltrigen und jugendkulturellen Szenen kommt dabei eine bedeutende Rolle zu, bilden sie doch einen der wenigen Räume, der Initiationsäquivalente bezüglich einer Vergänglichkeitsbewältigung bietet. Jugendkulturellen Symbolen, insbesondere Todessymbolen, kommen in diesem Zusammenhang wichtige Funktionen zu. Neben der offensichtlichen Thematisierung von Vergänglichkeit demonstrieren sie die Zugehörigkeit zur Gruppe der Jugendlichen oder einer bestimmten Szene ebenso wie die Abgrenzung gegenüber der Kindheit und der Welt der Erwachsenen.

Mit einer empirischen Studie geht die vorliegende Arbeit der jugendlichen Artikulation von Vergänglichkeit am Beispiel von Todessymbolen auf den Grund. Dabei wurden zunächst halbstandardisierte Interviews mit Jugendlichen geführt, die in ihrem Stil eine gewisse Todesaffinität zeigen. Besonderes Augenmerk wurde auf Genderaspekte gelegt, da die Verbindung von Lebens- mit Todessymbolen vor allem bei Mädchen beliebt zu sein scheint und da Mädchen in der Jugendkulturforschung noch immer unterrepräsentiert sind. Aufbauend auf den Ergebnissen der qualitativen Erhebung wurde ein Fragebogen erstellt, einerseits um das bereits erhaltene Material an einer größeren Stichprobe zu überprüfen und andererseits um Fragen zu klären, die in der qualitativen Erhebung offen geblieben sind. Da der Fragebogen auch das Ziel verfolgt, erweiterte Einblicke in die aktuelle Jugendszene der Emos zu gewinnen, wurde dieser über einschlägige Internetforen verbreitet. Dieses Medium ist dafür geeignet, weil sich diese Szene besonders stark über das Internet austauscht. Ergänzend werden die Foren hinsichtlich der dort dominierenden Themen und der Selbstdarstellung der Nutzerinnen näher untersucht, um die Angaben der RespondInnen zu rahmen und das Sample genauer zu charakterisieren.

Das erhaltene Datenmaterial gibt Aufschlüsse über die Bedeutung von Todessymbolen bzw. über die jugendliche Wahrnehmung der Todessymbole zwischen provokativem Potenzial und „bedeutungsloser Mode“. Ein näherer Einblick in jugendkulturelle Gemeinschaften zeigt die Szene der Emos als Kanalisation der Todesverdrängung und ihren Bruch mit einem verklärten Bild von Jugend. Dabei wird der Frage nachgegangen, was eine authentische Szenezugehörigkeit ausmacht und ob die Pathologisierungen der Emos von Außenstehenden als Projektionsfläche ihrer eigenen Todesverdrängung interpretiert werden können. Die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den Themen Altern, Sterben und Tod wird in den Kontext der gesellschaftlichen Todesverdrängung gestellt. Es wird die Frage untersucht, ob ein Hang zu todesaffinen Szenen mit einer verstärkten Todesauseinandersetzung zusammenhängt bzw. ob das Verhältnis der Jugendlichen zu Vergänglichkeit als Spiegel der Gesellschaft gedeutet werden kann. Zusammenfassend werden die Besonderheiten der Lebensphase Jugend als Herausforderung für Wissenschaft beleuchtet.

Durch eine Betrachtung der Lebensphase Jugend im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Todesverdrängung und Idealisierung von Jugendlichkeit sowie der entwicklungsbedingten Konfrontation mit Vergänglichkeit liefert die vorliegende Arbeit neue theoretische Erkenntnisse zur Lebensphase Jugend und trägt zu einem besseren Verständnis aktueller jugendkultureller Ausdrucksformen bei, da expressive jugendkulturelle Szenen wie die der Emos jenseits der gängigen Emotionalisierung und Pathologisierung betrachtet werden. Darüber hinaus verfolgt die Arbeit das Ziel, zu einer Enttabuisierung der gesellschaftlichen Todesverdrängung beizutragen.

ZENTRALE UNTERSCHIEDE IM UMGANG MIT JUGEND UND TOD ZWISCHEN VORMODERNEN UND MODERNEN GESELLSCHAFTEN

Das Phantasma der Machbarkeit ersetzt in der Moderne zunehmend die Akzeptanz des Todes.

In vormodernen Gesellschaften werden Ängste und Konflikte im Zusammenhang mit Jugend und Tod in Form von Ritualen bewältigt, die in einem kollektiven, traditionell vorgegebenen und daher festgefügten Rahmen stattfinden. Diesem muss sich der einzelne Mensch unterordnen. Ebenso muss er sich in den von der Natur vorgegebenen jahreszeitlichen und lebenszeitlichen Rhythmus von Werden und Vergehen einfügen. Das Leben ist ewig, denn ein Weiterleben ist dem vormodernen Menschen gewiss. Im vormodernen zyklischen Weltbild ist alles in eine höhere Ordnung eingebettet, die jedem Vorfall – insbesondere dem Tod – Sinn verleiht. Im Unterschied dazu entsteht in der Moderne die Vorstellung von einem linearen Geschichtsverlauf, der durch Fortschritt und Entwicklung gekennzeichnet ist. Es entsteht die Idee, dass die Welt mittels Vernunft gestaltbar sei. Dadurch richtet sich das Sein auf eine Verbesserung der Zukunft. Das Phantasma der Machbarkeit ersetzt in der Moderne zunehmend die Akzeptanz des Todes und damit seine symbolische Vergegenwärtigung sowie den ritualisierten kollektiven Umgang mit ihm. Naturwissenschaft und Medizin schüren bis heute Hoffnungen, den Traum vom ewigen biologischen Leben im Diesseits zu verwirklichen.

VERÄNDERUNGEN IN DER BEWERTUNG DER LEBENSALTER

Obwohl das Mittelalter und die Frühe Neuzeit verschiedene Lebensalterseinteilungen kennen, gibt es Jugend noch nicht als eine eigenständige Lebensphase im Sinne eines psychosozialen Moratoriums. Jugend ist noch kein Experimentierraum, in dem erwachsene Pflichten wie Arbeit, Ehe oder Elternschaft vorerst aufgeschaben sind und in dem Jugendliche verschiedene Selbstentwürfe in altershomogenen Gruppen erproben können. In den abendländischen Gesellschaften ist die Sozialisation in erster Linie standesspezifisch bestimmt und der Übergang vom Kind zum Erwachsenen erfolgt vergleichsweise unvermittelt. Statt einer verlängerten Phase der Bildung und Ausbildung, wie wir sie heute kennen, erfolgt ein direkter Einstieg in das Arbeitsleben. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts beginnt sich Jugend allmählich als eigenständige Lebensphase zu formieren, da infolge von Familiarisierung und Scholarisierung altershomogene Gruppen entstehen. Ideologische Wegbereiter für ein jugendliches Moratorium sind neben Rousseau und Klopstock die Dichter des Sturm und Drang. Sie tragen wesentlich zur Etablierung der ideologischen Voraussetzung für ein jugendliches Moratorium bei, indem sie die Jugend positiv konnotieren und ihr die Fähigkeit zuschreiben, gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern.

JUGEND UND ALTER IM MITTELALTER UND DER FRÜHEN NEUZEIT

Der jugendliche Körper wird bereits im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wegen seiner Schönheit, Kraft und Vitalität geschätzt und verehrt. Jugend wird aber noch nicht verherrlicht und über alle anderen Lebensalter gestellt. Stattdessen dominiert von der Jugend im Allgemeinen ein negatives Bild. Dementsprechend ist ihr sozialer Status marginalisiert, während dem Alter positive Eigenschaften zugesprochen werden.

Generell werden in traditionalen Gesellschaften die Alten als den Jungen überlegen gedeutet, denn nur sie kennen die tradierten Ordnungen und Werte. Auch in der europäischen Geschichte bedeutet Jugend in erster Linie „noch ohne Macht zu sein“ (King 2004, S. 29; Hervorh. im Original). Wenn es zu gesellschaftlichen Veränderungen kommt, ist dies vor allem den Älteren zu verdanken (vgl. Quabius 1976, S. 175). Der Jugend wird noch keine aktive Rolle in der Gesellschaft zugestanden, wie der auf mittelalterliche Symbolgeschichte spezialisierte Historiker Pastoureau anhand ikonographischer Darstellungen zeigt (vgl. Pastoureau 1996, S. 304-313).

Die Darstellung der Größenverhältnisse sowie die bildliche Platzierung von Personen spiegeln in erster Linie ihren sozialen, politischen und rechtlichen Status wider. Jugendliche werden zwar im Allgemeinen größer als Kinder und kleiner als Erwachsene gemalt, wichtiger als eine Einteilung in Lebensalter ist in der vormodernen abendländischen Gesellschaft aber die standesspezifische Zuordnung. Deshalb wird zum Beispiel ein alter Bauer immer kleiner dargestellt als ein junger Adeliger (vgl. Pastoureau 1996, S. 305). Die Größenordnung der dargestellten Personen entspricht daher nicht unbedingt einer realistischen Abbildung, sondern verweist vielmehr auf die gesellschaftliche Wert- und Rangordnung: „Sie betont Kraft und Gewicht des Alters, den Respekt, den man ihm schuldet, die Macht, die ihm eignet. Umgekehrt verrät sie das geringe Ansehen, in welchem Kindheit und Adoleszenz bei der Gesellschaft und ihren diesbezüglichen Autoritäten stehen“ (ebd., S. 304). Deshalb werden junge Prinzen nicht mit den Insignien der Jugend ausgestattet, wenn diese bei der Thronbesteigung erst zwischen 12 und 15 Jahre alt sind. Um ihre Jugendlichkeit – die mit Macht nicht als vereinbar aufgefasst wird – zu kaschieren, werden sie älter gemalt als sie in Wirklichkeit sind (vgl. ebd., S. 312).

Neben der Größe macht auch die Platzierung der Personen auf dem Bild die Bewertung der Lebensalter sichtbar. Die Jungen haben nicht das Recht auf die Mitte des Bildes. Sie befinden sich in der Peripherie oder dem Bildrand. Ab dem späten 13. Jahrhundert haben Jugendliche oft gar kein Anrecht auf das Bild mehr, sondern werden außerhalb des Bildes auf Zierleisten gemalt. Pastoureau begründet diesen Umstand mit der gesellschaftlichen Rolle, die der Heranwachsende spielt: „Der Jugendliche nimmt auf dem Bild einen geringen Platz ein, weil er in der Gesellschaft einen geringen Platz einnimmt“ (ebd., S. 305).

Im Unterschied zu ihrer passiven Rolle in der Ikonographie werden Jugendliche in den Texten und Diskursen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit als „unruhig, laut, gefährlich“ (Pastoureau 1996, S. 313), als „Hort der Unruhe“ (Schindler 1996, S. 366) und die Jugend als Zeit der „Krawalle und der Gewalttätigkeiten“ (Crouzet-Pavan 1996, S. 248) geschildert. Das Alter der Jugendlichen, der sogenannten „iuvenes“, erstreckt sich über eine große Zeitspanne, nämlich von Anfang zwanzig bis Mitte dreißig. Das Alter ist aber nicht das Hauptkriterium der Eingrenzung. Vielmehr charakterisiert die Bezeichnung „iuvenes“ moralische Aspekte. Es ist die Zeit der am häufigsten von Moralisten beanstandeten Verhaltensweisen (vgl. Crouzet-Pavan 1996, S. 230f.). Crouzet-Pavan zeigt den Grundtenor von Predigten und moralischen Abhandlungen als steten Entwurf eines negativen Bildes von Jugend, in dem vor allem ihre vermeintliche Abhängigkeit von Leidenschaften angeprangert wird: „Die Jugend ist die Zeit der Begierde und ihrer Exzesse“, sie sei das „Alter der Fragilität, der Schwäche an Seele und Geist“ (ebd., S. 229) sowie des „wahl- und hemmungslosen Konsums aller Speisen und aller Vergnügungen“ (ebd., S. 238).

Ähnlich wie den Frauen werden auch den „iuvenes“ ein Hang zu Luxus bezüglich Kleidung und Schmuck sowie sittenlose und schändliche Gewohnheiten vorgeworfen (vgl. Crouzet-Pavan 1996, S. 239). Crouzet-Pavan fasst das negativ konnotierte Jugendbild der literarischen Quellen und amtlichen Akten des ausgehenden 15. Jahrhunderts folgendermaßen zusammen:

Die Reicheren werfen mit dem Geld um sich, leisten sich in Hülle und Fülle Kleider, Pferde, Frauen, Luxus und Vergnügungen. Die Ärmeren sind von diesem Fest nicht ausgeschlossen: sie erleben es in dem zahlreichen Gefolge, das die Reichen hinter sich herziehen, oder sie organisieren auf eigene Faust bei Nacht in den Straßen ihre eigenen gewalttätigen Spiele. Alle verletzen die christlichen wie die gesellschaftlichen Regeln. (Ebd., S. 248)

Die Moralisten sehen in den Jugendlichen und den Frauen eine Bedrohung der christlichen Gesellschaftsordnung.

Die Moralisten sehen in den Jugendlichen und den Frauen eine Bedrohung der christlichen Gesellschaftsordnung (vgl. Crouzet-Pavan 1996, S. 239).

Nicht nur unter christlichen Vorzeichen schätzt man das Alter gemeinhin mehr als die Jugend, sondern auch im Sinne der Aufklärung. Dort gelten Vernunft, ein ruhiger Verstand und Lebenserfahrung als positive Eigenschaften des Alters und werden höher bewertet als jugendliche Gefühlsempfänglichkeit oder körperliche Kraft. Daher werden im Schauspiel der Aufklärung auch „der reife erfahrene Mann“ und „der weise Greis“ als Vorbilder gezeigt (vgl. Quabius 1976, S. 84). Dieses Verständnis der Lebensalter ändert sich mit der Stilisierung von Jugend als Hoffnungsträger gesellschaftlicher Veränderungen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

DIE AUFWERTUNG DER MÄNNLICHEN JUGEND ZUM MOTOR DER GESELLSCHAFTLICHEN VERÄNDERUNG

Das Neue an der im 18. Jahrhundert aufkommenden Jugendkonzeption ist die positive Wertbesetzung der Lebensphase Jugend.

Das Neue an der im 18. Jahrhundert aufkommenden Jugendkonzeption ist die positive Wertbesetzung der Lebensphase Jugend. Rousseau gilt als Wegbereiter dieses modernen, bis heute gültigen Jugendkonzepts. In seinem 1762 erstmals veröffentlichten Erziehungsroman Émile entwickelt er die Vorstellung, „dass Jugendliche überhaupt einen Anspruch auf eine positive Berücksichtigung ihrer Jugendlichkeit haben sollten“ (Ecarius/ Eulenbach/Walgenbach 2011, S. 16). Damit gesteht er als Erster der Jugendzeit einen eigenen Wert und eine eigene Würde zu (vgl. Ecarius et al. 2011, S. 16; Zinnecker 2004, S. 482f.; Ecarius 2010, S. 570; Andresen 2001, S. 46; Wilbert 2007, S. 813; Dudek 2010, S. 262). Zudem bereitet Rousseau ein pädagogisches Bewusstsein für dieses Lebensalter vor, indem er dazu auffordert „die Jugendphase als eigenständige Lebenszeit sicherzustellen, in der Bildungsprozesse in Gang gesetzt werden“ (Ecarius 2010, S. 570).

Rousseaus Protagonist Émile soll in einem Schonraum ohne bedenkliche und schädliche Einflüsse aufwachsen, damit er nicht die vorgefundenen Traditionen übernimmt, sondern als „Neuerer ins soziale Getriebe“ (Zinnecker 2004, S. 483) eingreifen kann. Dafür ist es notwendig, dass er sich zuvor ungestört als Mensch entwickelt und seine Kräfte frei entfalten kann (vgl. ebd.). Rousseau prägt damit die moderne, bis heute gültige Vorstellung von Jugend als Moratorium (lat. mora = Aufschub, Verzögerung, Rast), als eine Zeit der Selbstfindung und Selbsterprobung, der Bildung und Ausbildung sowie der Entbindung von erwachsenen Verpflichtungen wie Arbeit, Ehe oder Elternschaft (vgl. Zinnecker 2004, S. 483f.; Zinnecker 2000, S. 37; Mierendorff/Olk 2010, S. 132; Ecarius 2010, S. 570; Ecarius et al. 2011, S. 17).

Rousseau spricht der Jugend aber nicht nur eine „natürliche Eigenwertigkeit“ zu (vgl. Dudek 2010, S. 262), sondern deutet die zuvor dominierende negative Sicht auf Jugend radikal um, indem er die Jugend verherrlicht und über alle anderen Lebensphasen stellt: Rousseaus Ansicht nach stehe der junge Mensch der Natur näher, wodurch er tugendhafter sei. Außerdem besitze das jugendliche Alter die notwendige Tatkraft die Gesellschaft zu reformieren und für eine bessere Zukunft zu sorgen (vgl. Quabius 1976, S. 179). Jugend wird damit zu einem empathischen Konzept, das dem Erneuerungswillen der bürgerlichen Aufklärung Ausdruck verleiht (vgl. Zinnecker 2004, S. 483; Ecarius 2010, S. 570; Dudek 2010, S. 362). „Jugendliche erhalten eine normative Aufwertung, denn sie gelten nun als die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft“ (Ecarius 2010, S. 570). Jugend wird als „erwünschter Träger gesellschaftlichen Fortschritts“ (Zinnecker 2004, S. 483) und damit als Motor der gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen.

Die moderne Sichtweise von Jugend im Sinne eines Moratoriums bezieht sich nur auf das männliche Geschlecht.

Die moderne Sichtweise von Jugend im Sinne eines Moratoriums bezieht sich allerdings nur auf das männliche Geschlecht. Während Emiles Erziehung auf Bildung und Freiheit von Fremdbestimmung gerichtet ist, zielt die Erziehung seiner späteren Gefährtin Sophie darauf ein fremdbestimmtes Leben zu führen (vgl. Garbe 1992, S. 32 und 36). Rousseau beschreibt das Erziehungsziel der Mädchen und Frauen folgendermaßen:

Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen. (Rousseau 1762/1985, S. 394)

Bei den Mädchen dient die Jugendphase nicht wie bei den Jungen der Selbstfindung, sondern – wie Jacobi es formuliert – der „Einübung und Bildung der späteren bürgerlichen ‚Hausfrau, Gattin und Mutter‘“ (Jacobi 1995, S. 222). Rousseaus Figur der Sophie repräsentiert dieses neue Ideal von Weiblichkeit (vgl. Schneider-Taylor 2006, S. 21; Garbe 1992, S. 20).

Rousseaus Konzept einer von Natur aus gegebenen Geschlechterpolarität weist jedem Geschlecht unterschiedliche Eigenschaften und Wirkungssphären zu. Die Wesenseigenschaften von Männern zeichnen sich demzufolge durch Aktivität, Produktion und Rationalität aus, die der Frauen dagegen durch Passivität, Reproduktion und Emotionalität. Diese Wesensdefinitionen konstituieren und legitimieren schließlich die Geschlechterrollen und die damit zusammenhängende separate Verortung von Männern und Frauen in den einander entgegengesetzten sozialen und ökonomischen Sphären von Welt und Haus (vgl. Schneider-Taylor 2006, S. 23; Garbe 1992, S. 19). Ein derartiger Eigenschaftenkatalog verbreitet sich nicht nur in den pädagogischen Schriften, sondern auch in psychologischen, medizinischen und literarischen Werken (vgl. Schneider-Taylor 2006, S. 23; Pellatz 1999, S. 67ff.). Mit dem Argument, dass dies nicht ihrer natürlichen Anlage entspreche, werden Frauen aus Öffentlichkeit, Kultur, Wissenschaft und Politik ausgeschlossen. Ihre Wirkungssphäre soll sich auf das Private, auf das Häusliche beschränken (vgl. Garbe 1992, S. 24 und 27).

Ein pädagogisches Moratorium ist bis ins 20. Jahrhundert nicht nur dem männlichen Geschlecht vorbehalten, sondern auch „Teil eines Standesprivileges“ (Zinnecker 2000, S. 42). Nur Adelige oder Jugendliche aus wohlhabenden Familien kommen in den Genuss von Bildung und Freiräumen der Selbstfindung (vgl. ebd.; Ecarius 2010, S. 571). Nicht einmal 1 Promille kann ein Leben führen, das sich durch eine Freistellung von Erwerbsarbeit auszeichnet (vgl. Ferchhoff 2000, S. 32).

Ein Teil dieser privilegierten Gruppe, die über ein Moratorium verfügte, waren die Dichter des Sturm und Drang. Sie führten Rousseaus Aufwertung der (männlichen) Lebensphase Jugend fort, lebten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese neue Art von Jugendlichkeit vor und gelten als Vorläufer der Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung der Jugendphase als Sturm-und-Drang-Zeit findet Eingang in die Jugendpsychologie und prägt bis heute das Verständnis der Lebensphase Jugend.

Bedeutende Vertreter des Sturm und Drang sind Herder, Goethe, Lenz, Klinger, Müller, Wagner und Schiller. Sie waren ca. zwischen 20 und 30 Jahre alt, hatten „eine deutliche Vorstellung vom Wesen der Jugend und fühlten sich ihr bewußt zugehörig“ (Quabius 1976, S. 77). Mit diesem Bewusstsein über die Eigenheiten der Jugend geht die Ansicht einer grundlegenden Wesensverschiedenheit der Lebensalter Jugend und Alter einher. Deshalb finden sich Äußerungen in diese Richtung bei den Stürmern und Drängern, wie Quabius zeigt, eindeutig öfter als bei früheren Dichtern (vgl. ebd., S. 76).

Vorbildliche alte Menschen treten bei ihnen nur als Randfiguren auf, wesentlich häufiger werden sie kritisiert (vgl. Quabius 1976, S. 88). Im Gegenzug preisen sie die Jugend. Herder verbindet beispielsweise das Greisenalter mit Kälte und Mattigkeit, Jugend dagegen mit Wärme und Lebensfrische (vgl. ebd., S. 92). Goethe schreibt mit seiner Figur des Egmont dem Alter zwar an sich positive Eigenschaften wie „Bedächtigkeit, Vorsorge, Klugheit, Sicherheit“ zu, im Unterschied zu seinem eigenen „vorwärtsdrängendem, jugendlichen Ungestüm“ erscheinen ihm diese Eigenschaften allerdings lebensfern: „Alter wird in seinen Augen gleichbedeutend mit Tod“ (ebd., S. 82).

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