Marlies Ferber

Null-Null-Siebzig

Operation Eaglehurst

Kriminalroman

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Für Angela

There was a young woman from Kent

Who thought death an unlikely event

»Not so«, I told her,

»Whilst we may grow older,

The chance is one hundred percent!«

Richard C. Long

Kapitel 1

James fuhr im Wagen vor. Es knirschte kein Kies, denn Eaglehurst war kein vornehmes Hotel in einem der besseren Orte an der englischen Südküste. Dies war Hastings, eine Stadt, deren glorreiche Zeit vorbei war. Es gab noch gute Wohnlagen, weiter im Hinterland, doch direkt an der einst prachtvollen Küstenstraße waren die Immobilienpreise gesunken, und die großen viktorianischen Hotels standen leer oder dienten anderen Zwecken: Büros waren hier untergebracht, Sprachschulen, billige Wohnungen. Eines der größten Gebäude, schräg gegenüber dem Pier, war früher das »Empire«. James blickte an der imposanten Fassade hoch, als die Tür des Taxis aufgeschoben wurde. Nichts deutete darauf hin, dass dies kein Hotel mehr war. Genau genommen ist es das ja auch noch, dachte James. Was ist ein Hotel anderes als eine Residenz auf Zeit? Für Leute, die, genau wie das Hotel, schon bessere Tage gesehen haben.

»Geht es, Mr Gerald?«, fragte der junge Mann und fasste kräftig unter seinen Arm, um ihn in das Gebäude zu führen.

»Danke.« James hatte sich inzwischen an die Fürsorglichkeit seiner Mitmenschen gewöhnt. »Verdammte Treppe«, fügte er leise hinzu.

Sie gingen durch die ehemalige Hotelhalle zur Rezeption. Als sie an einem großen Spiegel vorbeikamen, überprüfte James rasch sein Aussehen. Er war noch immer eine elegante Erscheinung: groß, schlank, gut gekleidet. Das Einzige, was diese Eleganz momentan trübte, war der Taxifahrer an seiner Seite: ein pickeliger Junge in ungebügeltem Hemd, Jeans und Chucks, der ihn so fest untergehakt hatte, dass es aussah, als seien sie siamesische Zwillinge. James seufzte.

»Geht es wirklich, Mr Gerald?«, fragte der Junge mitfühlend.

»Machen Sie sich keine Sorgen, nicht wahr«, erwiderte James.

Der Taxifahrer sah sich in der Halle nach einem Rollstuhl um. »Ah«, rief er erleichtert, »Mr Gerald, warten Sie bitte einen Augenblick hier.« Vorsichtig, als sei James eine Schaufensterpuppe, ließ er ihn los, vergewisserte sich, dass er sicher auf den Beinen stand, und holte den Rollstuhl.

»Mr Gerald, wie schön!« Die weißhaarige Dame am Empfang erhob sich breit lächelnd, als würde sie einen alten Freund begrüßen. Nach ihrem teigigen Händedruck war James’ Hand unangenehm feucht.

»Ich bin Josephine White.« Sie zwinkerte ihm zu. »Mir können Sie alles anvertrauen. Ich bin die Seele von Eaglehurst. Das sagen jedenfalls unsere Leutchen hier.«

»Aha«, sagte James und lächelte zurück. Dass dieses Lächeln dünn ausfiel, lag an der Erkenntnis, dass mit »unsere Leutchen hier« ab jetzt auch er gemeint war.

»Bitte, Mr Gerald, nehmen Sie Platz. Dann können wir in aller Ruhe die Anmeldeformalitäten erledigen.«

»Ich bleibe lieber stehen, danke.«

James sah sich in der Halle um, während Mrs White umständlich mit den Formularen hantierte. Früher musste dies ein gutes Hotel gewesen sein. Davon zeugten der Marmorboden, die stuckverzierte Decke und die große Freitreppe, die in einem eleganten Schwung nach oben führte. Die würde James fürs Erste nicht benutzen können, so viel war sicher. Er sah sich nach einem Aufzug um. Es gab zwei: einen alten, wenig Vertrauen erweckenden mit schmiedeeisern verziertem Aufzugschacht und einen nachträglich eingebauten mit Edelstahltüren, in den bequem ein Krankenbett passte.

»Sie werden im zweiten Stockwerk wohnen«, sagte Mrs White. »Sie haben Glück. Das Apartment ist erst vor Kurzem frei geworden. Es ist eines unserer besten, mit Blick auf das Meer und die Promenade. Sie werden begeistert sein.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte James. Mrs White blickte ihn irritiert an, nicht sicher, ob er das ernst gemeint hatte. Dann schaute sie auf die Uhr. »Oh, ich sehe, Sie haben noch mehr Glück. Nach dem Tee veranstalten wir Bingo. Unsere Leutchen hier lieben es. Wenn Sie möchten, können Sie gleich hier bei mir einen Spielschein kaufen.«

James hatte in seinem ganzen Leben noch nie Bingo gespielt, und ihm war auch jetzt nicht danach zumute, Zahlen einzukreisen, bis jemand Bingo! rief und womöglich einen Gutschein für eine medizinische Fußpflege gewann. Aber sein junger Begleiter fragte interessiert: »Wie viel kostet ein Schein?«

»Einer kostet ein Pfund, drei bekommen Sie für zwei Pfund.«

Der Taxifahrer sah James an: »Dann nehmen wir drei Scheine, ja?«

James gab einen resignierten Laut von sich, den die beiden als Zustimmung deuteten. Dann also Bingo.

Der Taxifahrer griff James wieder unter den Arm und führte ihn zu den Aufzügen.

»Sie können ruhig gehen, ich komme schon allein zurecht«, sagte James und wollte ihm sein Geld geben.

»Nein, Mr Gerald«, wehrte der Junge mit penetranter Gutmütigkeit ab, »ich bringe Sie noch in Ihr Apartment.« Er drückte den Knopf, um den altmodischen Aufzug zu holen.

»Sehr gut«, sagte James und forderte den modernen Aufzug an. »Sie besitzen noch die Vertrauensseligkeit und den Optimismus der Jugend. Bewahren Sie sich das. Ich aber werde dieses Museumsmodell keinesfalls benutzen.«

Im zweiten Stock angekommen, betrat James sein neues Zuhause, in dem die Umzugskartons mit seinen persönlichen Dingen schon auf ihn warteten.

»Aber James!«, hatte Sheila kopfschüttelnd zu ihm gesagt, als sie für ihn eine Umzugskiste nach der anderen füllte. »Das ist viel zu viel! Wo wollen Sie das denn lassen, da, wo Sie hingehen?«

»Sheila, Sie tun so, als ginge ich von hier geradewegs ins Jenseits. Ich darf Ihnen aber versichern, dass dies keineswegs meine Absicht ist. Ich ziehe lediglich für eine bestimmte Zeit um. Da ist es doch recht normal, dass ich meine persönlichen Dinge mitnehme, nicht wahr? Schließlich muss alles echt wirken.«

»Ach, James.« Sheila hatte ihn angesehen wie einen kleinen Jungen, der von seinen Plänen erzählt, sich auf den Mond schießen zu lassen. Sheila war seine langjährige Kollegin beim Secret Intelligence Service gewesen, und seit zwei Jahren war sie seine Nachbarin in London-Hampstead. Sie war die Einzige, die er in seine Pläne eingeweiht hatte, aber in diesem Augenblick hatte er es bereut.

Er hatte wirklich nur das Nötigste eingepackt. In den letzten Tagen vor seiner Abreise nach Eaglehurst hatte er es endlich fertiggebracht, seine alten Akten und Notizen in Papierstreifen zu verwandeln. Er war vor fünf Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, und es schien sinnlos, diese Sachen noch länger aufzubewahren. Sie schön altmodisch im Kamin den Flammen zu überlassen, wäre natürlich stilvoller gewesen. Das Knistern von Feuer war doch etwas anderes als das schäbige Kratzen des Aktenvernichters. Gleichzeitig hatte er sich über seine Sentimentalität gewundert. Alten Zeiten nachzutrauern war eigentlich nie seine Sache gewesen. Er konnte sich noch gut an den Beginn seiner Zeit beim Geheimdienst erinnern, als William Morat und er sich über die Kollegen lustig gemacht hatten, die störrisch an ihren überholten Arbeitsmethoden festhielten und sich nur schwer mit neuen Entwicklungen in der Waffentechnik oder der Informationsvermittlung anfreunden konnten. William und er, damals junge Burschen von Mitte zwanzig, hatten sich geschworen, nie so zu werden wie sie, sondern immer mit der Zeit zu gehen.

»Mr Gerald!« Der Taxifahrer riss ihn aus seinen Gedanken. »Denken Sie, Sie kommen jetzt allein zurecht?«

»Sicher. Vielen Dank!«

»Gerne.« Der Junge lockerte vorsichtig den Griff, als hätte er Sorge, James würde im nächsten Moment, seiner Stütze beraubt, in sich zusammensacken wie ein leerer Anzug. Doch James blieb stehen und steckte ihm endlich das Geld zu. »Es hat mich gefreut«, sagte er mit einem Anflug von Ironie, die dem Jungen entging. Er ergriff James’ Hand und lächelte breit. »Danke, Mr Gerald! Ich wünsche Ihnen alles Gute! Das ist eine anständige Einrichtung hier, heißt es. Sie haben Glück.«

Als James allein war, ging er langsam auf den Sessel zu, der vor dem großen Fenster stand. Noch eine halbe Stunde bis zum Tee. Es lohnte sich nicht mehr, mit dem Auspacken anzufangen. Das würde eine gute Aufgabe für den morgigen Tag sein. Er hatte gelernt, sich die Zeit und seine Energie einzuteilen. Ein leichter Husten zu Beginn des Winters hatte sich bald zu einer schweren Bronchitis entwickelt und ihn zum ersten Mal in seinem Leben zu einem längeren Krankenhausaufenthalt gezwungen. James ließ sich in den Sessel sinken und schaute hinaus. Der Himmel war düster, das Meer eine braungraue Masse, weiße Schaumflocken huschten, vom Wind getrieben, wie kleine Geister am Strand umher. James hatte die See noch nie gemocht. Aber es war nicht seine Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Nach Eaglehurst im Allgemeinen und in das Zimmer Nummer 214 im Besonderen. Das hatte William für ihn entschieden, und jetzt lag es an ihm, die bevorstehende Aufgabe zu lösen.

Kapitel 2

»Durch die zunehmende Vernetzung von Datenbanken und ein flächendeckendes System von Überwachungskameras haben die Behörden alle Werkzeuge in der Hand, die sie brauchen, um unser Leben vollständig zu kontrollieren«, ereiferte sich Thomas Maddison.

»Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht«, sagte Eleonora Hideous und nippte an ihrem Tee.

»Dort, sehen Sie doch«, fuhr Thomas Maddison erregt fort und deutete auf eine Ecke des Saals. »Selbst hier hat der Staat ein Auge auf uns! Man kann niemandem trauen.«

»Aber ich bitte Sie, Thomas«, sagte Edith Hideous vergnügt, während sie ihr mit Erdbeermarmelade bestrichenes Scone mit einem dicken Klecks Sahne versah und James zuzwinkerte. »Denken Sie wirklich, den Staat interessiert es, wer von uns beim Bingo gewinnt? Was meinen Sie, James?«

Sie saßen zu viert am Tisch: die Schwestern Edith und Eleonora Hideous, Thomas Maddison und James. Während die Schwestern und er höflich den weitschweifigen Ausführungen Maddisons über die Gefahren zunehmender staatlicher Kontrolle zuhörten, fragte sich James, warum Maddison wohl hier war. Er wirkte kerngesund und vital. Doch als er sich erhob, um die Teekanne in der Küche wieder auffüllen zu lassen, entdeckte James den kleinen Aufnäher hinten auf seiner Strickjacke: »Eaglehurst, Hastings«.

Eleonora bemerkte seinen Blick. »Thomas ist zuweilen etwas verwirrt«, erklärte sie. »Die Polizei hier kennt ihn schon. Sie bringen ihn immer wieder nach Hause. Aber stellen Sie sich vor, einmal hat er es sogar bis nach Brighton geschafft!«

Edith machte eine unmissverständliche Handbewegung zum Kopf hin. »Es gibt Tage, da redet er nur dummes Zeug«, ergänzte sie flüsternd.

»Ach.«

Eleonora lächelte. »Aber ansonsten ist er zuvorkommend, gebildet, und er hat gute Umgangsformen. Er war an der Universität Glasgow. Irgendetwas Naturwissenschaftliches hat er gelehrt. Was war es noch gleich?«

Thomas Maddison kam mit der Teekanne zurück. »Wem darf ich einschenken? Eleonora, meine Liebe, wie sieht es aus, noch eine Tasse Tee?«

Eleonora machte eine abwehrende Handbewegung. »Danke, ich habe genug. Aber sagen Sie, Thomas, was haben Sie an der Universität gelehrt? Es ist mir entfallen.«

Thomas Maddison schaute sie irritiert an. »Ich habe an der Universität Glasgow gelehrt«, sagte er langsam, so als versuche er sich zu erinnern, was genau es gewesen war.

Edith reichte ihm ihre Tasse. »Bitte nur ein Schlückchen!« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich muss an meine Blase denken. Es wäre zu schade, Bingo zu verpassen, nur weil ich zur Toilette muss.«

James verabscheute Tee. Ein Scotch, das wäre jetzt das Richtige. Mit einem Anflug von Vorfreude dachte er an einen der Umzugskartons, der zur Hälfte mit den Beständen seiner Bar gefüllt war. Das Alter mochte Jahr für Jahr etwas von der Liste streichen, das ihm Freude bereitete. Aber bis jetzt war genug von dem übrig geblieben, was das Leben lebenswert machte. Erinnerungen gehörten dazu. Das Theater, Bücher, das Rauchen. Und ganz entschieden auch Alkohol. Er fand es immer noch großartig, sich von Zeit zu Zeit zu betrinken.

Plötzlich wurden die Tische abgeräumt, nur die noch nicht geleerten Teetassen blieben stehen. Offensichtlich wusste jeder im Raum, was dies bedeutete, denn Papier raschelte, man kramte Bingo-Scheine und Bleistifte hervor.

»Was gibt es zu gewinnen?«, scherzte James. »Eine Reise nach Las Vegas?«

»Sie werden schon sehen«, meinte Eleonora, und Edith fügte trocken hinzu: »Erwarten Sie nicht zu viel!«

Dann ging alles ganz schnell. Die selbst ernannte Seele von Eaglehurst, Mrs White, verlas die Nummern, und es blieb kaum Zeit, aufzuschauen. Alle sahen konzentriert ihre Zahlenreihen durch, denn sie hatten samt und sonders das Angebot »Drei Scheine für zwei Pfund« wahrgenommen, einige Glücksspielbegeisterte hatten sogar sechs Scheine vor sich ausgebreitet. James erinnerte sich an frühere Besuche in den Spielcasinos der Welt. Und nun, mit siebzig, Bingo im Altenheim! Er stöhnte leise.

»Kein Glück?«, fragte Eleonora mitfühlend. »Warten Sie nur, das kommt vielleicht noch!«

»Chemie«, sagte Thomas Maddison plötzlich und prostete James lächelnd zu. Armer Kerl, dachte James, während er zusah, wie Maddison hastig trank und gleich wieder nach dem Bleistift griff.

»Sie waren Chemieprofessor?«, fragte James höflich nach. »Welch interessanter Beruf!«

Doch Thomas Maddison antwortete nicht, sondern sprang erregt auf und warf dabei fast seinen Stuhl um.

»Bingo!!«, rief er so durchdringend, dass alle am Tisch zusammenfuhren. Kaum war sein Ruf verhallt, zuckte er, verzog den Mund zu einer Grimasse, warf den Kopf zur Seite, griff sich an die Brust und sank vornüber auf den Tisch. Eine Tasse zerschellte laut klirrend auf dem Fliesenboden. Einige Leute schrien auf. Edith und Eleonora wichen zurück. Maddisons Kopf lag auf der Seite, seine hellblauen Augen waren starr und leblos.

Mrs White ließ ihr Mikrofon fallen und eilte herbei; aus der Küche kamen eine korpulente Frau mit Kochschürze sowie eine junge Frau hinzu, deren Namensschild sie als Pflegerin auswies.

Mrs White beugte sich zu Thomas Maddison herab. »Mr Maddison, Mr Maddison, ist Ihnen nicht wohl?« Dann fuhr sie die beiden Frauen an: »Nun stehen Sie nicht so dumm herum! Helfen Sie doch!«

Sie begreift es nicht, dachte James.

Edith räusperte sich. »Mrs White, ich glaube nicht, dass er noch lebt«, sagte sie leise.

Mrs White schaute sie bestürzt an. »Was sagen Sie da? Tot?«

Eleonora schluchzte und griff mit zitternden Händen nach einer Serviette auf dem Tisch, um die aufsteigenden Tränen abzutupfen.

»Sieht aus wie Herzversagen, nicht wahr?«, meinte James.

Die übrigen im Raum Versammelten waren inzwischen, soweit sie mobil waren, mit einer Mischung aus Betroffenheit und Sensationsgier näher getreten. Mrs White wuchs die Situation sichtlich über den Kopf. Die Köchin eilte in die Küche und kam mit Handfeger und Schaufel zurück, um die Scherben der Teetasse aufzufegen.

»Lassen Sie das, Mrs Simmons«, herrschte Mrs White sie an.

»Soll ich den Notarzt rufen?«, fragte die Pflegerin. Mrs White nickte, dann überlegte sie es sich anders. »Nein, Miss Hunt, das mache ich selbst. Bleiben Sie hier!«

Arme Miss Hunt, dachte James. Die junge Frau, die kaum älter als zwanzig sein mochte, stand wie festgewachsen da, mit großen Augen und blassem Gesicht.

»Setzen Sie sich doch, Miss Hunt«, sagte Edith und deutete auf den Stuhl, auf dem bis eben noch Thomas Maddison gesessen hatte. »Nicht dass Sie uns ohnmächtig werden.«

»Danke«, murmelte Miss Hunt, zog es aber vor, sich auf einen Stuhl am Nachbartisch zu setzen.

»Und wenn er nun doch noch lebt?«, mischte sich eine resolute Dame vom Nachbartisch ein. »Was, wenn er nur bewusstlos ist? Wenn er Hilfe braucht?«

»Ja«, pflichtete ihr ein älterer Herr bei, »wir müssen etwas tun, man kann ihn doch nicht einfach so liegen lassen!«

»Glauben Sie mir, Mr Peabody, er ist tot!«, sagte Edith.

»Wie wollen Sie da sicher sein?«, ereiferte sich Mr Peabody. »Den Tod kann nur ein Arzt feststellen.«

James beugte sich nach vorn und legte Maddison zwei Finger an den Hals. »Kein Puls«, stellte er nüchtern fest.

»Trotzdem sollten wir ihn aus seiner unglücklichen Lage befreien«, schlug Eleonora zögernd vor. Sie wendete sich an James. »Können Sie mit anfassen?«

James schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, meine gesundheitliche Verfassung lässt derartige Anstrengungen noch nicht zu.«

Miss Hunt hatte sich inzwischen von ihrem Schwächeanfall erholt und erhob sich. »Ich helfe Ihnen!« Auch Mr Peabody und Mrs Simmons fassten mit an, und gemeinsam schafften sie es, den leblosen Körper von Thomas Maddison seitlich vom Tisch zu rollen. Die Tischdecke und die Teetassen wurden mitgerissen. Unter das Klirren des Porzellans mischte sich Sirenengeheul. Bevor die Sanitäter und der Notarzt auftauchten, machte James mit seinem Handy unauffällig ein Foto von dem Toten, wobei er vorgab, seine Mails abzurufen.

Kapitel 3

Miss Hunt sagte kein Wort, während sie James zum Aufzug begleitete. Er überlegte, ob sie wohl zum ersten Mal einen Toten gesehen hatte.

»Wie alt war Mr Maddison eigentlich?«, fragte er, als sie den Aufzug betraten.

»Ich hätte nie gedacht, dass er der Nächste ist«, gab Miss Hunt zurück.

Das ist zwar nicht ganz die Antwort auf meine Frage, dachte James, aber wahrscheinlich ist die Arme noch ganz durcheinander. Oder war sie von Natur aus nicht sehr aufgeweckt? Er betrachtete Miss Hunt, als sie im Aufzug nebeneinander standen. Sie war hellblond, hatte ein gleichmäßiges Gesicht, eine Stupsnase, große Augen von kräftiger blauer Farbe und einen Mund, der aussah, als wäre er nur ausnahmsweise ernst. Er schätzte, dass sie Kleidergröße 40 trug, dabei wirkte sie trotz ihres großen Busens und ihrer kräftigen Statur sehr sportlich. Früher hätte er sie attraktiv gefunden. Inzwischen war sein Schönheitsideal mit ihm gealtert. Die Frauen, zu denen er sich hingezogen fühlte, waren meist jenseits der vierzig. Wahrscheinlich hatte das etwas mit seinem Realitätssinn zu tun und damit, dass das Interesse jüngerer Frauen an ihm inzwischen, falls überhaupt vorhanden, eher auf geistiger Ebene anzusiedeln, wenn nicht sogar fürsorglicher Natur war.

»Kürzlich mit Mr Morat war es ähnlich«, unterbrach Miss Hunt seine Betrachtungen. »Er starb ganz plötzlich. Von einem Augenblick auf den anderen.«

Als er den Namen seines Freundes hörte, wurde James hellwach. »Waren Sie dabei?« Miss Hunt hob fragend den Kopf. »Als er starb, dieser Mr …«, ergänzte James ungeduldig.

Der Fahrstuhl hielt an, und Miss Hunt reichte James ihren Arm. »Morat«, sagte sie, »Mr Morat. Ja. Ich habe ihn gefunden. Er war im Salon zusammengebrochen. Es war furchtbar. Er ist in meinen Armen gestorben.«

»Hat er noch etwas gesagt?«

»Nein. Er hat mich nur angeschaut, und dann wurden seine Augen …«

Miss Hunt schluchzte auf. James war bewusst, dass eigentlich er Miss Hunt tröstend den Arm um die Schulter hätte legen sollen, statt sich von ihr den Flur entlangführen zu lassen.

»Ich glaube, das ist nicht der richtige Beruf für mich«, stieß Miss Hunt hervor. Sie fuhr sich wie ein kleines Mädchen mit dem Ärmel über das Gesicht, um die Tränen wegzuwischen. Danach waren sowohl ihre Augen als auch der Ärmel ihres weißen Pullovers von Wimperntusche verschmiert. »Eigentlich wollte ich Erzieherin werden, aber ich habe keinen Ausbildungsplatz bekommen. Das hier ist furchtbar. Dieses Elend. Ich will nicht, dass das Leben so ist. Ich will nicht immer wieder mit ansehen, wie Leute sterben. Ich träume davon. Ich wache nachts mit Herzrasen auf, weil ich träume, ich selbst bin alt und wohne im Altenheim und …«

»Haben Sie heute Nachtdienst?«, unterbrach James ihren Gefühlsausbruch.

»Ja, warum?«, fragte sie erstaunt.

Er reichte der jungen Pflegerin ein Taschentuch. »Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass hier nachts jemand nach Ihnen klingelt, weil er Albträume hat?«

Miss Hunt sah ihn nachdenklich an, dann nahm sie das Taschentuch und schniefte in jede der Ecken einmal laut hinein. »Entschuldigen Sie bitte.«

»Nein, nein, schon gut. Ich wollte Ihnen nur vor Augen führen, dass viele Dinge von außen betrachtet schlimmer aussehen, als sie für den Betroffenen sind. Das gilt zum Beispiel für das Alter. Und ich glaube, sogar für das Sterben.«

Sie waren an der Tür von James’ Apartment angekommen. »Vielen Dank für die freundliche Begleitung«, sagte James. »Ich wünsche Ihnen einen – wie soll man sagen – möglichst guten Abend unter den gegebenen Umständen. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, die ganz Sache, lenken Sie sich ab!«

»Wie soll ich das denn anstellen?« Miss Hunt schloss die Zimmertür auf. »Ich habe Nachtdienst, und ich weiß genau, dass bis morgen früh ständig nach mir geklingelt wird, weil sie es alle kaum erwarten können, mit mir über Mr Maddison zu reden. Bei Mr Morat war es genauso. Die ganze Nacht haben sie geklingelt und mich ausgefragt, es war nicht zum Aushalten.«

Miss Hunt schickt der Himmel, dachte James. Sie ist ja noch nützlicher, als ich gedacht hatte. Eine Informationsquelle erster Güte.

»Halten Sie durch!«, riet er ihr väterlich. »Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass Sie den vielen verängstigten Menschen, die hier leben, damit einen großen mitmenschlichen Dienst erweisen, nicht wahr? Das kann man gar nicht hoch genug schätzen.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Ja, Miss Hunt, genau so ist es«, versicherte James. »Sie müssen verstehen, die Menschen, die den Tod dieses armen Mannes mit ansehen mussten, sind schockiert, und es tut ihnen gut, darüber zu reden. Auf diese Weise können sie das, was geschehen ist, verarbeiten. Und im Übrigen ist dies auch für Sie selbst das Beste. Indem man anderen hilft, hilft man auch sich selbst, ist es nicht so?«

Miss Hunt nickte tapfer. »Mr Gerald, Sie haben recht. Es tut mir leid, ich bin selbstsüchtig gewesen.«

»Aber nein, Miss Hunt, keineswegs«, beruhigte James die Pflegerin. Es war wichtig, dass sich seine Informationsquelle jetzt nicht in Selbstmitleid vergrub, sondern in dieser Nacht auf ihrem Posten blieb.

»Und ich verspreche Ihnen, dass zumindest ich Sie heute Nacht nicht belästigen werde. Ich werde schlafen wie ein Stein.«

Miss Hunt lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. »Bei Ihnen wäre es doch etwas anderes, Mr Gerald!« James fiel auf, dass ihre beiden oberen Schneidezähne besonders groß und kräftig waren, was ihr ein niedliches, nagetierhaftes Aussehen verlieh.

Nachdem Miss Hunt sein Zimmer verlassen hatte, zog James sein Handy hervor und wählte eine Nummer. David Grenville war gleich am Apparat.

»David, hier spricht James.«

»James! Wie geht es dir?«

»Gut so weit. Hör zu, es ist wichtig: Kannst du veranlassen, dass ein Leichnam obduziert wird? Ein Mann namens Thomas Maddison ist heute im Seniorenheim Eaglehurst in Hastings verstorben. Möglicherweise ist er vergiftet worden.«

»James, wie stellst du dir das vor? Das geht nicht einfach so, wenn aus Sicht des Arztes, der den Totenschein ausgestellt hat, kein Verdacht auf eine unnatürliche Todesursache besteht.« James sah das Kopfschütteln seines alten Freundes förmlich vor sich.

»Ich bin mir noch nicht darüber im Klaren, wie alles zusammenhängt. Und ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt. Aber auch William ist vor drei Wochen ganz plötzlich gestorben, und zwar hier, im Seniorenheim Eaglehurst.«

»Ja, ich habe gehört, dass er gestorben ist. Aber das war doch oben bei Glasgow, dachte ich? Hat er nicht seit ewigen Zeiten in Schottland gelebt?«

»Bestattet wurde er in Schottland, aber gestorben ist er hier in Hastings. Angeblich an einem Herzanfall, aber das glaube ich nicht. Er hatte mir kurz vorher noch einen merkwürdigen Brief geschrieben. David, du weißt, ich habe dich noch nie um etwas gebeten, wenn es nicht wichtig war.«

»Was genau stand in dem Brief, den William dir geschickt hat?«

»Ein Limerick.«

»Wie bitte? William hat dir einen Limerick geschickt?«

»Du kennst ihn bestimmt. Jedes Kind kennt ihn: There was a young lady from Riga …«

»… who smiled as she rode on a tiger«, fuhr David fort. »Ist das eine Art Geheimcode zwischen euch?«

»Nein, das nicht. Aber unter den Limerick hatte er noch geschrieben: Ruf mich an! Doch als ich das tat, erreichte ich niemanden. William war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Da stimmt etwas nicht.«

»Was hat denn der Arzt festgestellt, der den Totenschein ausgestellt hat?«

»Wie gesagt, Herzversagen.«

»Wer war der Arzt?«

»Ein Dr. Goat hier aus Hastings, anscheinend der Hausarzt des Seniorenheims.«

»Und Williams Leiche wurde nicht obduziert?«

»Nein, laut Totenschein war es ja eine natürliche Todesursache. Man hat den Leichnam bereits nach Schottland überführt, eingeäschert und in der Familiengruft beigesetzt.«

»Wenn ich dich richtig verstehe«, fasste David zusammen, »hat dir William ein lustiges kleines Gedicht geschickt. Kurz darauf erfährst du, dass er gestorben ist, und schließt daraus, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem lustigen kleinen Gedicht und seinem Tod gibt. Und dann reist du nach Hastings in das Seniorenheim und bringst den nächsten Toten auch damit in Verbindung.«

»So, wie du es darstellst, hört es sich lächerlich an«, sagte James unmutig.

»Das hast du gesagt«, gab David trocken zurück.

»Aber findest du es nicht auch äußerst merkwürdig, dass es keine zwei Stunden nach meiner Ankunft schon wieder einen Toten hier gibt?«

»James«, sagte David vorsichtig, »du bist in einem Altenheim.«

»Mag sein. Trotzdem. Wie sieht es aus, hilfst du mir nun oder nicht?«

»Wie hieß der Mann noch gleich?«

»Thomas Maddison.«

»Wie ist deine Telefonnummer? Sie erscheint nicht bei mir auf dem Display. Immer noch die alte?«

»Ja.«

»Gut, ich rufe dich wieder an.«

Eine halbe Stunde später klingelte James’ Handy. »Die Welt ist klein«, sagte David. »Rate, wen ich bei der Polizei an der Strippe hatte: Rupert Ruthersford. Er wird sich darum kümmern und meldet sich bei dir. Schöne Grüße übrigens.«

»Danke, David. Ich bin dir was schuldig.«

»Lass mich die nächste Runde Golf gewinnen.«

James lachte. »So viel nun auch wieder nicht.«

James legte auf und zündete sich eine Zigarre an. Rupert Ruthersford arbeitete also bei der Polizei in Hastings. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Ruthersford hatte vor Jahrzehnten einen Teil seiner Ausbildung bei ihm durchlaufen. Er war mit Abstand der schlechteste Schüler gewesen, den er je gehabt hatte, und war nicht lange beim SIS geblieben. Nun, offenbar hatte er seine Nische gefunden.

Kapitel 4

James hatte schlecht geschlafen. Er war den Verkehrslärm, der durch die einfachen Fenster ins Zimmer drang, nicht gewohnt. Natürlich hatte er bemerkt, dass die Tür zu seinem Zimmer in der Nacht leise geöffnet wurde. Schließlich war es lange genug sein Beruf gewesen, gerade die Menschen zu bemerken, die sich Mühe gaben, nicht bemerkt zu werden. Vom plötzlichen Luftzug hellwach geworden, hatte er sich sofort schlafend gestellt. Es war Miss Hunt. Sie schlich auf Zehenspitzen an sein Bett und blieb dort für einen Moment stehen, bevor sie sich ebenso geräuschlos wieder entfernte und die Tür hinter sich schloss.

Jetzt schien die Sonne durch die drei bodentiefen Fenster seines geräumigen Zimmers. James beeilte sich mit dem Ankleiden und wählte die Nummer des Empfangs. Mrs White war sofort am Telefon. »Mr Gerald, guten Morgen.«

»Guten Morgen, Mrs White. Sagen Sie, könnten Sie mir bitte einen Rollator bringen lassen? Ich möchte zum Frühstück gehen. Sie haben sicherlich bemerkt, dass ich noch etwas schwach auf den Beinen bin nach meinem Krankenhausaufenthalt. Eine Gehhilfe hat mir dort gute Dienste geleistet.«

»Oh, aber Mr Gerald, so etwas brauchen Sie hier nicht! Sie sind in Eaglehurst! Helfen mit Herz und Hand – das ist unser Leitspruch. Technik beschränken wir auf das Notwendigste. Unsere Betreuung ist intensiv und sehr persönlich, wie in einer großen Familie. Das ist es, was uns so einzigartig macht. Ich bin gleich bei Ihnen!«

Keine fünf Minuten später klopfte Mrs White an die Tür seines Apartments.

»Mr Gerald, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen trotz all der Aufregung gestern. Wirklich ein ausgesprochenes Unglück, dass Mr Morat gestern so plötzlich – nun ja.«

»Mr Morat?«, fragte James irritiert.

»Sagte ich Morat? Entschuldigen Sie, ich bin noch ganz durcheinander. Ich meinte natürlich Mr Maddison.«

James hakte sofort nach. »Wer ist Mr Morat?«

Mrs Whites Gesichtsausdruck wurde verschlossen. »Ein früherer Bewohner.«

»Ist er verstorben?«

»Ja.«

»Aha«, sagte James und versuchte es mit einem Scherz: »Etwa auch beim Bingo?«

Mrs White antwortete nicht, sondern schaute mit hochgezogenen Augenbrauen an ihm vorbei. James hatte ihren Sinn für Humor überschätzt. Schnell wechselte er das Thema und plauderte mit Mrs White über das Wetter, während sie wie ein altes Ehepaar untergehakt über den abgenutzten roten Läufer zum Aufzug schlenderten.

Im Speisesaal angekommen, steuerte Mrs White mit ihm auf die Schwestern Hideous zu. Eleonora nippte gerade an ihrem Tee, während Edith ihren Toast butterte. Beide nickten James lächelnd zu.

»Nein, Mrs White«, sagte James, »ich möchte heute Morgen gern an einem anderen Tisch sitzen. Ich habe es mir gewissermaßen zur Gewohnheit gemacht, keine festen Gewohnheiten anzunehmen. Das hält jung, meinen Sie nicht auch?«

»Wie Sie wollen«, sagte Mrs White frostig.

James ahnte, was sie dachte: Ein Sonderling mehr oder weniger unter den Bewohnern, darauf kam es auch nicht an. James winkte lächelnd zum Tisch der Schwestern hinüber und peilte mit Mrs White einen Tisch am Fenster an. Dort saß ein glatzköpfiger Herr im Tweedsakko, vor sich einen großen Teller mit Würstchen, Speck, gegrillten Tomaten, Spiegeleiern und Champignons. Aus einem kleinen Kassettenradio auf seinem Schoß schepperte Marschmusik, und er schaute konzentriert aus dem Fenster.

»Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?«, fragte James. Der andere nickte, wendete den Blick jedoch nicht vom Fenster ab. Mrs White zog sich zurück, nachdem James Platz genommen hatte. Erfreut sah er den kleinen Aufkleber auf der Thermoskanne, die vor ihm stand: Kaffee. Er goss sich eine Tasse ein und probierte. Instantkaffee, lauwarm. Das hätte er sich denken können. Er beobachtete seinen Tischnachbarn, der immer noch aufmerksam aus dem Fenster sah. Sein Kopf bewegte sich kaum merklich im Takt der Marschmusik. James folgte seinem Blick und wusste plötzlich, was mit ihm los war.

»Der Mann da hinten geht ganz genau im Takt der Musik!«, bemerkte James.

»Ja!«, rief sein Tischnachbar aufgeregt, »ist das nicht bemerkenswert? Und sehen Sie, die Frau da vorn! Sie ist zwar viel langsamer, aber es passt trotzdem. Und die Art, wie sie ihre Tasche dabei schwenkt, großartig: Dumm-di-di-di-dumm-di-di-di-dumm.«

James zeigte auf einen Halbwüchsigen, der mit kurzen Schritten daherzockelte. »Nur der da, das passt vorne und hinten nicht!«

Der Mann wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah James zum ersten Mal an: »Stimmt, der ist zu unmusikalisch!«

Einen Moment lang war James verwirrt, dann lachte der andere wiehernd, und James begriff, dass das ein Scherz gewesen war. Jetzt erkannte er ihn wieder: Es war der Mann, der gestern mitgeholfen hatte, Thomas Maddison auf den Boden zu legen.

James verbeugte sich andeutungsweise. »Gerald«, stellte er sich vor. »James Gerald.«

Seine Verbeugung wurde erwidert. »Julius Peabody. Sie sind neu hier, nicht wahr?«

James nickte.

»Scheußliche Sache gestern«, sagte Mr Peabody aufgeräumt, »und nicht gerade das, was Sie sich für Ihren ersten Tag in Eaglehurst erträumt hatten, was?« Er machte sich mit Appetit über seine Würstchen mit Speck und die gegrillten Tomaten her. »Aber keine Sorge«, fuhr er mit halb vollem Mund fort, »es ist nicht immer so aufregend hier – um die Wahrheit zu sagen: Es ist ziemlich eintönig, das Leben hier. Das liegt zum größten Teil an den Bewohnern. Mit den meisten ist nicht mehr viel los. Sie haben den Bingo-Abend gestern selbst miterlebt: der Höhepunkt der Woche. Kommentar überflüssig. Und es gibt alte Leute, die sitzen nur noch teilnahmslos herum in ihren Rollstühlen, ein deprimierender Anblick. Unter uns: Ich habe den Verdacht, dass das Pflegepersonal sie ruhig stellt. Also, bevor es mit mir mal so enden sollte, will ich vorher einen Schlag auf den Kopf bekommen! Na ja, dann gibt es zum Glück auch noch ein paar Leute wie die Schwestern Hideous, die wegen der guten Seeluft hier sind. Und natürlich, weil es so bequem ist. Es wird einem alles abgenommen.«

»Wie kommt man eigentlich zu so einem Frühstück, wie Sie es haben?«, fragte James interessiert. »Es sieht köstlich aus!«

»Es kostet extra«, verriet Mr Peabody, »aber es lohnt sich. Das Frühstück macht hier Mrs Simmons. Sie war eigentlich als Putzhilfe angestellt, aber irgendwann hat Mrs White herausgefunden, dass sie früher mit ihrem Mann eine kleine Frühstücksbude hatte, das Bridge Café. Als ihr Mann starb, gab sie es auf und nahm die Stellung in Eaglehurst an. Heute putzt Mrs Simmons nicht mehr, sondern hat praktisch die ganze Küche unter sich und bietet ein Frühstück, um das uns ganz Hastings beneidet.« Er beugte sich etwas näher zu James und senkte seine Stimme: »Als Putzfrau war sie ohnehin eine Fehlbesetzung, bei ihrer Körperfülle. Sie mag wahrscheinlich ihr eigenes Frühstück viel zu gern, und Sie sehen ja, wie nahrhaft es ist!« Er lachte, griff nach James’ Besteck, spießte eines der fettglänzenden Würstchen und einen Streifen knusprig gebratenen Frühstücksspeck auf und legte beides auf James’ Teller. »Probieren Sie mal!«

Während James sich das Würstchen schmecken ließ, erzählte Mr Peabody so angeregt weiter, dass James den Eindruck hatte, sein Gegenüber habe sich lange mit niemandem mehr unterhalten.

»Das Mittagessen wird leider von einer städtischen Kantine geliefert, eine trostlose Sache, ich sage es Ihnen. Völlig verkocht. Falls sie überhaupt würzen, dann heben sich alle Gewürze, die sie verwenden, gegenseitig auf. Schonkost nennen sie es. Ich persönlich halte es so, dass ich mich beim Frühstück richtig satt esse und am frühen Nachmittag eine Kleinigkeit in der Fußgängerzone zu mir nehme. Manchmal bringt Miss Hunt mir etwas von der Fisch-&-Chips-Bude am Strand mit, und zur Teezeit gehe ich oft rüber ins Gemeindecafé von St. Andrews und esse ein oder zwei Käsescones. Die Frau des Pfarrers macht sie selbst, sie sind wirklich köstlich. Zum Dinner nehme ich noch ein Gläschen Rotwein zu mir und bin zufrieden.«

»Apropos zufrieden«, unterbrach James den Redeschwall von Mr Peabody, »wie komme ich an mein Frühstück?«

Als wäre dies ihr Stichwort gewesen, kam Mrs White an den Tisch und brachte ein kleines Tablett mit Toast, Butter und zwei Töpfchen mit jeweils einem Klecks Erdbeer- und Orangenmarmelade. »Möchten Sie außerdem Cornflakes, Mr Gerald, oder lieber unser gesundes Müsli?«

»Nein, danke.«

»Wenn Sie Probleme mit den Zähnen haben, kann Mrs Simmons Ihnen auch eine Milchsuppe machen.«

»Ab morgen hätte ich gern dasselbe Frühstück wie Mr Peabody.«

»Das kostet drei Pfund extra.«

»Ich weiß.«

»Gut, ich sage Mrs Simmons Bescheid.« Sie wendete sich mit einem besonders freundlichen Lächeln an Mr Peabody. »Ist bei Ihnen alles zu Ihrer Zufriedenheit?«

Mr Peabody lächelte zurück. »Es könnte nicht besser sein, meine Liebe. Richten Sie Mrs Simmons bitte aus, dass es wieder einmal ausgezeichnet geschmeckt hat.«

»Mrs White ist die Seele des Hauses, nicht wahr?«, fragte James, als sie gegangen war.

»Eine ganz patente Frau«, sagte Mr Peabody nachdenklich, »sie erinnert mich an meine verstorbene Frau, Jane. Sie hat so etwas Zupackendes, Bestimmtes. Sie lässt sich durch nichts erschüttern.«

James wusste, was er meinte, und fragte sich, ob Mr Peabody glücklich in seiner Ehe gewesen war. Diese Sorte von Frauen schien aufgeschlossen und interessiert, kreiste aber im Grunde nur um sich selbst. Vermutlich hatte Mrs Peabody niemals auch nur eine Ahnung davon gehabt, was ihr Mann wirklich dachte oder fühlte.

»Nun«, sagte er, »aber gestern Abend war Mrs White eindeutig erschüttert, nicht wahr?«

Mr Peabody nickte heftig. »Aber wer wäre das nicht gewesen! Es ist schließlich das zweite Mal, dass so etwas passiert ist!«

»Ach ja?« Endlich war James am Ziel. Er war begierig zu hören, was Mr Peabody ihm zum Tod seines Freundes erzählen konnte.

»Es war erst vor drei Wochen, auch an einem Bingo-Abend«, erzählte Mr Peabody bereitwillig. »Ich weiß es noch genau. Es traf den armen William Morat, einen Herrn, der noch gar nicht lange hier lebte. Ich weiß nicht, was er beruflich gemacht hat, wahrscheinlich war er Musiker, Pianist oder so etwas. Ständig saß er am Flügel.«

James lächelte in sich hinein. William und sein Klavierspiel!

»Er saß oft bei mir am Tisch«, fuhr Mr Peabody fort, »wir haben uns glänzend unterhalten. Mr Morat war ein vielseitig interessierter Mensch.«

James konnte sich vorstellen, welche Eigenschaft es vor allem war, die William in den Augen von Mr Peabody zu einem guten Unterhalter gemacht hatte: Er konnte gut zuhören.

»Mrs White hatte gerade begonnen, die Bingo-Zahlen vorzulesen, als Miss Hunt hereinstürzte. Sie hatte Mr Morat im Salon gefunden. Dr. Goat meinte, es sei plötzlicher Herztod gewesen. So schnell kann’s gehen.«

»Dr. Goat?«

Mr Peabody lächelte. »Unser Hausarzt und Kügelchen-Guru. Er hat seine Praxis gleich nebenan. Ich persönlich halte nicht viel von Homöopathie, wissen Sie, aber die meisten Leute hier, besonders die Damen, beten den Doktor an.«

»War Mr Morat schon sehr alt?«, fragte James.

»Ich weiß nicht. Aber er wirkte viel jünger als die meisten hier, kaum älter als sechzig, denke ich. Keine Ahnung, ehrlich gesagt, was er hier machte.« Peabody zuckte mit den Schultern. »Nun ja, offensichtlich hatte er ein schwaches Herz.«

James lächelte. »Ja, man sieht den Leuten nicht immer an, was mit ihnen los ist, nicht wahr?« Sein Handy vibrierte, und er holte es aus seiner Jackettasche.

»Erwarten Sie einen Anruf?«

James drückte den Anruf weg. Sheila versuchte zum vierten Mal, ihn anzurufen. »Ich sehe nur nach, wer angerufen hat.«

»Ihre Kinder?«, fragte Mr Peabody neugierig.

»Nein, ich habe keine Kinder.«

»Ich auch nicht. Leider. Wir haben es lange versucht, aber es hat nie geklappt. Waren Sie verheiratet?«

»Auch das nicht.«

»Nie die Richtige getroffen?«, bohrte Peabody weiter.

»Ich fürchte, ich bin nicht der Richtige. Ich bin nicht sehr gesellig.«

Peabody lachte. »Apropos gesellig, da fällt mir ein, Mr Morat wohnte in genau dem Apartment, in dem Sie jetzt wohnen. Ich hoffe, Sie glauben nicht an Geister!«

»Meinen Sie, Mr Morat wird in meinem Zimmer spuken?«

»Wer weiß«, scherzte Mr Peabody. »Sie werden vielleicht noch froh sein über ein bisschen Gesellschaft an diesen öden Winterabenden. Außerdem, der Unterschied zwischen Tod und Leben ist hier in Eaglehurst sowieso nicht groß.«

»Aber Mr Morats persönliche Sachen sind ja wohl nicht mehr in meinem Zimmer, oder?«

»Wo denken Sie hin. Mrs White packt immer höchstpersönlich alles ein und schickt es an die Angehörigen. Das geht schnell hier. Ein Blatt fällt vom Baum, und die Vögel zwitschern weiter.«

James ließ sich von Mr Peabody beplaudern, während er sein Frühstück beendete und an William dachte. Er beschloss, möglichst bald Stella, William Morats Tochter, in Schottland anzurufen. Und er musste sich den Flügel genauer ansehen, auf dem William so oft gespielt hatte. Vielleicht würde der ihm einen Anhaltspunkt liefern. William war ein aufstrebender Konzertpianist gewesen. Aber eines Tages, er war noch keine zwanzig, hatte er bei einem Konzert in der Royal Albert Hall mitten im letzten Satz des zweiten Klavierkonzerts von Rachmaninoff die Nerven verloren. Er hörte einfach auf zu spielen, knallte den Deckel des Flügels zu und rannte hinaus, um nie wieder in einen Konzertsaal zurückzukehren. Einige Monate später trat er – sehr zur Enttäuschung seiner Eltern, die ihm die Klavierausbildung bei den besten Lehrern ermöglicht hatten – dem anonymen Heer der mittleren Staatsbediensteten bei, um fortan das wenig aufregende Leben eines Beamten zu führen. Doch dies bedeutete ganz unerwartet den Beginn einer neuen Karriere. Befreit vom Druck öffentlicher Auftritte, entfalteten sich seine intellektuellen Fähigkeiten in einem Ausmaß, das seine Vorgesetzten verblüffte und ihm schnell den Spitznamen ›The Genius‹ einbrachte.