Cover

Christopher Kloeble

Meistens alles sehr schnell

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Christopher Kloeble

Christopher Kloeble studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Beiträge von ihm erschienen u.a. in ›Die Zeit‹, der ›Süddeutschen Zeitung‹ und der ›taz‹. Er war Writer-in-Residence in Cambridge (GB), am Goethe Institut Bangalore (Indien) und des Deutschen Hauses in New York (USA). 2015 hat er die Max Kade Gastprofessur am Dartmouth College in Hanover (USA) inne. Für sein Romandebüt ›Unter Einzelgängern‹ wurde er mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet. 2009 erschien sein Erzählband ›Wenn es klopft‹. Sein erstes Drehbuch ›Inklusion‹ wurde 2011 für BR verfilmt und erhielt den ABU-Prize. 2012 veröffentlichte er viel beachtet ›Meistens alles sehr schnell‹. Er lebt in Berlin und in Delhi.

Über das Buch

Albert ist neunzehn, wuchs im Heim auf und kennt seine Mutter nicht. Sein Leben lang musste Albert ein Vater für seinen Vater Fred sein: Fred ist ein Kind im Rentenalter, ein schlaksiger Zweimeterriese, der nichts als Lexika liest, grüne Autos zählt und im Dorf als Held eines dramatischen Busunglücks gilt. Als sich herausstellt, dass Fred nur noch fünf Monate zu leben hat, machen sie sich auf die Suche nach Alberts Mutter. Ihre Reise wird zu einer Odyssee, die immer tiefer in die Vergangenheit führt. Albert muss herausfinden, dass die Menschen, die ihm am nächsten stehen, am meisten zu verbergen haben, und dass die Vergangenheit in der Erinnerung immer wahr ist. Es entspinnt sich eine überraschende Lebens- und Liebesgeschichte mit sehr liebenswerten Helden, die in einer Augustnacht 1912 beginnt und sich durch ein ganzes Jahrhundert zieht.

Impressum

Freds Zeichnung in Teil VIII stammt von Carolina Franzen.

 

Die Arbeit des Autors wurde vom Deutschen Literaturfond e.V. gefördert.

 

 

 

2015 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Lisa Höfner unter Verwendung von Fotos von Alamy

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-423-40950-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14381-3

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423409506

Für Saskya

PROLOG

Ich vergesse nichts. Ich kenne den Anfang und das Ende und alles, was dazwischenliegt. Ich habe erlebt, wie eine Geschichte zu Geschichte wurde, und andersherum.

Aber hier interessiert das niemanden. Meine greisen Zimmernachbarn können sich kaum für ein paar Minuten konzentrieren, ohne danach ein Nickerchen einlegen zu müssen. Und die viel zu jungen Pfleger haben Besseres zu tun, als den Erzählungen eines Achtzigjährigen zu folgen. Sie glauben, mich bemitleiden zu müssen. Dabei bemitleide ich sie. Wenn sie wüssten, was noch alles vor ihnen liegt! Die Armen denken, dass ihr Leben so verlaufen wird, wie sie sich das vorstellen. Irgendwann werden sie begreifen, man kann den Dingen nicht ihren Lauf nehmen. Das meine ich nicht nur im übertragenen Sinne: Blut muss fließen. Ich versuche, ihnen das zu erklären, ich will sie warnen. Und was machen sie? Tätscheln mir die Hand und sagen, ich soll mal nicht übertreiben.

Meine Erinnerung ist die bessere Gesellschaft. Sie schenkt mir den Geruch eines einzigartigen Brautkleids; sie schenkt mir die Liebe von Frauen, vielen Frauen; sie schenkt mir die Hitze eines verheerenden Feuers; sie schenkt mir die Hoffnung, dass meine Kinder irgendwo dort draußen leben; sie schenkt mir das Glitzern von Gold und die Angst in den Augen toter Soldaten.

Und mit Schmerz ist sie auch nicht sparsam.

Nur manchmal wünschte ich, sie würde mir Ruhe schenken. Selbst wenn ich schlafe, hört sie nicht auf und schickt mir Träume hinterher. Sie ist immer da. Sie lässt mich nichts vergessen.

TEIL I

Ein Held und ein Sohn

Fünf Finger

Am Himmel drifteten die letzten zwei Wolken aufeinander zu. Eine verschwommene Glühbirne und ein puffiges, weißes Etwas, das sich mit nichts vergleichen ließ.

Weiter unten stand Albert, flankiert von seinen Koffern, auf einem grasarmen Fleckchen Erde vor einer Haustür in Königsdorf, betrachtete den Klingelknopf und dachte nach. Wer Albert kannte – was nur wenige von sich behaupten können –, wusste, dass er nicht anders konnte. Früher hatten ihn andere Kinder Streber oder Brillenschlange genannt; dabei trug er gar keine Brille und war alles andere als fleißig. Wenn ihm eine Aufgabe gestellt wurde, versuchte er, sie zu lösen, indem er ausgiebig darüber nachdachte. Das war alles. Und es bedeutete auch nicht, dass er ausschließlich gute Noten schrieb. Für Albert gab es keinen unwirklicheren Satz als Das hätte ich nie gedacht. Wie konnte man etwas nicht denken? (Dachte er oft.)

Die schwierigste ihm bekannte Aufgabe – nach deren Lösung Albert schon seit neunzehn Jahren suchte – wartete hinter der Tür, deren Klingel er berührte, aber nicht drückte.

An diesem Nachmittag hatte Albert über siebzehn Stunden Reise hinter sich, mit dem Nachtzug, der Regionalbahn und der Buslinie 479, deren Fahrer jede einzelne Haltestelle im Voralpenland, von Pföderl über Wolfsöd bis hin zu Höfen, angesteuert hatte, obwohl weder jemand ein- noch ausgestiegen war, und nun, da nur noch ein Stückchen fehlte, war er nicht sicher, ob er überhaupt ankommen wollte.

Was Albert nie nicht dachte, wenn er nach Königsdorf kam: dass er Fred schon seit seinem dritten Lebensjahr besuchte, anfangs in Begleitung einer Ordensschwester aus Sankt Helena, dem Waisenhaus, später allein. Dass Fred und er sich nie besonders nah gekommen waren. Dass er, als er fünf wurde (und Fred sechsundvierzig), darauf geachtet hatte, dass Fred seine Schwimmflügel trug, wenn sie Hand in Hand in den Baggersee sprangen. Dass er mit neun für Fred an der Kasse bezahlt hatte, weil Albert das Wechselgeld errechnen konnte, ohne seine Finger zu verwenden. Dass er im Alter von zwölf Jahren Fred von dem Traum abgeraten hatte, Schauspieler zu werden. (Der diese Idee später nur deshalb verwarf, weil er nicht wollte, dass man ihn, wie er sagte, bei der Arbeit beobachtete.) Dass er im Jahr darauf immer noch auf Freds Schwimmflügel geachtet hatte. Dass er mit fünfzehn versucht hatte, Fred aufzuklären, der ihm, was das Thema betraf, bis heute nicht glaubte und bloß verlegen lachte, sobald Albert es ansprach. Dass Fred ihn immer nur Albert nannte und Albert ihn immer nur Fred. Dass er noch nie Vater zu ihm gesagt hatte.

Fred war eben Fred – die oberste Regel in Alberts Leben. Sie galt schon seit seiner Geburt, und sie würde auch dieses Jahr gelten.

Jedenfalls noch für wenige Monate.

Die Finger einer manikürten Hand hatte ihnen der Kardiologe gezeigt, und Albert hatte sich gefragt, ob der Arzt das immer so mache, ob er die Monate, die seinen Patienten blieben, vorzugsweise mit seinen Fingern angab, um sich die Suche nach einfühlsamen Worten zu sparen. Fünf Finger. Albert hatte sie kaum beachtet, hatte Fred an der Hand genommen und mit ihm das Krankenhaus verlassen und nicht auf die Rufe – wie auch später nicht auf die Anrufe – des Arztes reagiert.

Damit er nicht mit Fred sprechen musste, hatte Albert auf dem Heimweg viel geredet, vor allem über den Föhn, wie stark der sei, für diese Jahreszeit, wirklich ungewöhnlich stark.

»Fünf Finger sind schlimm«, hatte ihn Fred unterbrochen.

Albert war stehen geblieben und hatte nach Worten gesucht.

»Fünf Finger sind sehr schlimm, Albert.«

»Fünf Finger sind gar nicht so schlecht«, hatte Albert endlich erwidert.

»Wirklich? Wie viele hast du, Albert? Wie viele Finger hast du, bis du tot sein musst?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sind fünf viel?«

»Fünf sind ziemlich viel«, sagte Albert so ermutigend er konnte.

»Ich habe fünf Finger!« Ein erleichtertes Lachen. »Du, Albert, ich wette, du hast auch total viele Finger.«

Noch am selben Abend war Albert abgereist, um sich seinen Abiturprüfungen zu stellen. Eine Pflicht, die er in Anbetracht der Neuigkeiten als mindestens ebenso lächerlich empfunden hatte wie seine Entscheidung, ihr nachzukommen.

Eigentlich wollte er nur fort.

Zwei Monate später, nach dem Abitur, waren die meisten seiner Freunde in die Ferne geflüchtet. Australien und Kambodscha waren bei Waisenkindern besonders beliebt; wenn man von einer Reise nach Angkor oder ins Outback zurückkehrte, dann hatte man nicht nur zu sich selbst gefunden, sondern auch eine Vorstellung davon, wohin man gehörte und was man mit seinem Leben anfangen wollte. Angeblich. Albert – der noch nie verstanden hatte, weshalb manche Leute annahmen, dass Antworten, die nicht einmal in nächster Umgebung zu finden waren, in der Ferne warten würden – hatte sich entschieden, bei Fred einzuziehen. Was er sich davon erwartete, wusste er auch noch nicht, als er an diesem Nachmittag vor Freds Haus stand, er wusste nur: Was auch immer es war, ihnen blieb wenig Zeit dafür.

Noch drei Finger übrig, dachte Albert und klingelte, senkte den Kopf, packte die Griffe seiner Koffer und stand regungslos da. Die Hitze drückte ihm gegen den Schädel. An diesen Sommer würde man sich noch lange erinnern. Entgegen allen Prognosen verweigerte er bereits seit Wochen ein Gewitter. Der Rasen in Freds Garten war rostbraun, selbst das Zirpen der Grillen wirkte kraftlos, und die flirrende Hitze auf der Hauptstraße vor dem Grundstück spielte Alberts Augen Streiche.

Ambrosisch!

Jetzt öffnete sich die Tür und auf dem Treppenabsatz erschien ein schlaksiger Zweimeterriese, der verlegen den Kopf neigte.

Sie starrten sich an.

»Albert!«, rief Fred mit seiner hellen Stimme, und ehe Albert wusste, wie ihm geschah, wurde er hochgehoben und fest gegen Freds knochige Brust gedrückt.

»Hallo, Fred.«

»Du bist dick, Albert!«

»Danke«, sagte Albert und musterte ihn, aber er war sich, wie so oft, nicht sicher, ob Fred bewusst war, was er von sich gab. Albert kannte ihn gut genug, um zu spüren, dass er ihn gar nicht kannte. Zumindest in der Hinsicht schien er wie jeder andere Vater.

Abgesehen davon musste Albert sich eingestehen, dass Fred nicht ganz unrecht hatte. Nach einer Dusche wickelte er sich das Handtuch normalerweise so um den Körper, dass er seinen Bauch nicht sehen musste, wenn er vor den Spiegel trat. Woher der zusätzliche Speck gekommen war, konnte er sich selbst nicht erklären. Seiner Auffassung nach aß und trank er nicht mehr als andere Menschen. Vermutlich bewegte er sich nicht genug; regelmäßiges Joggen, Walken oder wenigstens Spazierengehen würde ihm, wie man so sagte, »guttun«. Aber die Vorstellung von Bewegung nur um der Bewegung willen wirkte nicht besonders attraktiv auf ihn.

»Sind wieder Ferien?«, fragte Fred.

»Nein, diesmal nicht. Diesmal bleibe ich länger.«

Fred sah ihn hoffnungsvoll an. »Bis wann?«

»Bis …«, Albert wich seinem Blick aus, »solange es geht.«

»Solange es geht kann lang sein!«, rief Fred fröhlich und klatschte in die Hände. »Das ist ambrosisch!«

»Ja. Ist schön.«

»Das ist ambrosisch!« Tadelnd hob Fred den Zeigefinger. »Du musst mehr Lexikon lesen, Albert.«

Lesen stand bei Fred in keinem Verhältnis zum Verstehen; selten merkte er sich über den Klang hinaus auch die Bedeutung der Wörter, die er mithilfe des Zeigefingers las. Und selbst wenn, meist verschwanden sie so plötzlich aus seinem Gedächtnis, wie eine Seifenblase platzen kann. Mit Ausnahme seiner Lieblingsvokabel.

Fred riss Albert die Koffer aus der Hand und marschierte ins Haus. Albert folgte ihm. In der Diele blieb er stehen. Obwohl der zuckrige Duft von Freds Zuhause ihn in all den Jahren bei jeder Ankunft begrüßte, überraschte er ihn doch jedes Mal.

»Albert?« Fred drehte sich zu ihm um. »Bist du schwach?«

»Nein«, Albert atmete tief ein, »es geht schon.«

Albert hängte seine Jacke an einen Kleiderhaken neben Freds königsblauen Poncho, in dessen Kragen eine kindliche Handschrift warnte: Das gehört Frederick Arkadiusz Driajes! Derselbe Name klebte auch neben seinem Klingelschild. Niemand redete ihn mit seinem vollständigen Namen an. Vielleicht, weil keiner wusste, wie man ihn aussprach. Natürlich gab es in Königsdorf ein paar Einfaltspinsel, die andauernd beim Gasthof Hofherr im Biergarten herumhingen, eine Hand am Weißbierglas, behaupteten, er sei langsam im Kopf, und ihn Freddie-bist-du-deppert? riefen. Aber für die meisten war er einfach Fred, mit gedehntem e, der Held vom Busunglück ’77, der den halben Tag an Königsdorfs einziger Bushaltestelle verbrachte, um alle vorbeifahrenden Autos auf der Hauptstraße zu zählen und die Fahrer zu grüßen.

Als Fred die Koffer vor der Treppe abstellte und ins verdunkelte, kühle Wohnzimmer vorausging, spürte Albert ein Déjà-vu auf sich zukommen, genauer gesagt: das Déjà-vu von etlichen Déjà-vus.

Er dachte: Sie würden sich zunächst auf eine abgewetzte, kirschrote Chaiselongue setzen, exakt dorthin, wo sie immer gesessen hatten, und egal, was er anfassen würde, Tausende von Krümeln würden an Alberts Händen kleben bleiben, und das würde ihn daran erinnern, dass es nun statt des Pflegers wieder an ihm war, für mindestens eine warme Mahlzeit täglich zu sorgen, Schnürsenkel zu binden, auf ordentlich geputzte Zähne zu achten, das Haus sauber zu halten. Sein Blick würde auf die an der Wand befestigte Weltkarte fallen, auf der ein grüner Filzstiftkringel, der Königsdorf markieren sollte, Bayern markierte, und er würde Fred fragen, wie es ihm gehe, worauf der natürlich antworten würde: »Ambrosisch«, um Albert im nächsten Moment zu bitten, ihm aus seinem Lieblingsbuch, dem silbernen Lexikon, vorzulesen, wie er es schon oft vor dem Schlafengehen oder der Mittagsruhe getan hatte. Fred würde sich an ihn schmiegen, seinen Kopf auf Alberts Schoß legen, die Augen schließen, und er würde sich warm anfühlen, trotz der Hitze draußen angenehm warm, und Albert würde es kaum wagen, sich zu rühren, und das Lexikon aufschlagen und irgendwo beginnen, bei Billard etwa, und nicht weiter kommen als bis Bindehaut. Fred würde schnarchen und im Schlaf noch jünger aussehen als sonst, höchstens wie Mitte vierzig. Albert würde das Lexikon zuklappen, ein Kissen unter Freds Kopf legen und eine viel zu kurze Vliesdecke über dessen viel zu lange Beine legen. In der Küche würde Albert etwas essen, seinen Magen mit dicken Scheiben Graubrot beruhigen, während er auf das von einem Sprung durchzogene und versiegelte Fenster über der Spüle blicken würde, dessen linke untere Ecke zwei spottende Buchstaben zierten, HA, von denen er weder wusste, wer sie hinterlassen hatte, noch wann, in denen er aber, da sie von außen ins Glas geritzt waren, nichts anderes lesen konnte als die Initialen seiner Großmutter Anni Habom, sechs winzige Kratzer nach bester Zorromanier. Albert würde sich vorbeugen, die linke Hand auf die Spüle gestützt, und das Fenster anhauchen, und in die beschlagene Scheibe würde er seine eigenen Initialen neben die seiner Großmutter schreiben, AD, fingerdick. Und er würde sie verblassen sehen. Danach würde er sich in seinem Zimmer im ersten Stock vergewissern, ob im Nachtschränkchen neben dem Bett noch genügend von Freds Medikamenten vorhanden waren. Erst dann würde er sich von der durchgelegenen Matratze locken lassen und die Müdigkeit herankriechen spüren, aber nicht einschlafen können.

Und genauso war es.

Obwohl sich Albert die ganze Zeit über sagte, er müsse etwas Besonderes empfinden, kein Déjà-vu, eher ein Dernier-vu. Schließlich kam er zum letzten Mal an.

Liebste Besitze

Albert hatte kaum zehn Minuten auf seinem Bett gelegen, bleiern, leer und mit einem Tuch über den Augen, weil die Sonne durch die Vorhänge schien, als würde dieser Tag niemals enden, da platzte Fred herein: »Schläfst du?«

Albert winkte ihn zu sich – was blieb ihm anderes übrig –, und Fred ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen.

»Sag mal«, Albert betrachtete sein Kinn, »wann hast du dich eigentlich zum letzten Mal rasiert?«

Fred blinzelte. »Gestern.«

»Bist du dir sicher?«

Fred blinzelte wieder. »Total sicher.«

»Hast wohl ein paar Stellen übersehen.«

Blinzeln.

»Frederick …«

»Mama sagt, ich sehe gut aus!«

Anni brachte Fred besonders gern ins Spiel, um zu betonen, dass diese oder jene Meinung nicht etwa seinem Kopf entsprungen war, sondern dem einer wesentlich höheren Instanz. Einer Instanz, die vor sechzehn Jahren das letzte Mal etwas zu Fred gesagt hatte. Albert war damals drei Jahre alt. Seine Erinnerung an sie konnte er kaum als solche bezeichnen, manchmal kam es ihm vor, als bildete er sie sich bloß ein, weil er zu oft die zahlreichen Fotos von ihr in Freds Haus betrachtet hatte, sein Gesicht mit ihrem vergleichend, auf der Suche nach Ähnlichkeiten. Ihr hatte man nie die Finger einer Hand gezeigt. Siebzig Jahre lang hatte sie gelebt, ein von chronischem Bluthochdruck geprägtes, offenbar hartes Leben, wie die kardiologische Diagnose resümierte, und dann trat eine systolische Herzinsuffizienz auf, d.h. eine krankhaft verminderte Pumpfunktion, d.h. ihr Herz erlag seiner imposanten Größe, und Alberts Großmutter, sein letzter Draht zum Früher, war gestorben. So viel wusste er. In wenigen Aktenordnern, deren Funktion in erster Linie gewesen war, das unterste Fach eines klapprigen Regals zu stützen, fand er lückenhaft geordnete Unterlagen, aus denen vor allem hervorging, dass sie nicht krankenversichert gewesen war. Offenbar hatte sie ihr Lebtag lang keinen Fuß in eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus gesetzt.

Albert setzte sich auf, ahmte mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere nach.

Fred bedeckte seine stacheligen Wangen mit den Händen: »Aber mein Paps hatte einen blonden Bart!«

Fred behauptete, sein Vater, Alberts Großvater Arkadiusz, sei Taucher gewesen. Ein Mann mit Ausnahmelunge, der unterirdische Kanalsysteme repariert hatte, der einmal ohne Hilfsmittel bis zum Grund der Ostsee getaucht war und der, als Fred kaum größer gewesen war als der Bauch, den er neun Monate lang bewohnt hatte, bei seiner Arbeit von einer Unterwasserströmung erfasst worden und für immer im weitläufigen Netzwerk der Röhren verschwunden war. Ob erfunden oder wahr, jedenfalls musste deswegen stets jemand für Fred das Klo spülen, da er sich noch mehr dagegen sträubte als gegen eine Rasur: »Mein Paps reist ewig durch die Rohre und ist mal in Amerika, mal bei den Polen und manchmal auch hier!«

Albert stand auf, ging ins Bad und steckte den Akkurasierer in die Steckdose, und als er zurückkehrte, war Fred weg. Nachdem Albert das ganze Haus abgesucht hatte, fand er ihn im Garten in dem BMW 321. Ein Oldtimermodell aus den späten dreißiger Jahren, das, obwohl Fred keinen Führerschein besaß, ihm angeblich gehörte. »Flitzer«, nannte ihn Fred. Das Minzgrün des Lacks wirkte, als hätte man ihn zu heiß gewaschen. Der Reifengummi hing in Fetzen. Das Hupgeräusch konnte man bestenfalls als Quengeln bezeichnen. Die aufgerauten Lederbezüge rochen – fand Fred – lecker muffig wie er zwischen den Zehen. Ein leerer Blumentopf hielt die Beifahrertür in den Angeln.

Albert nahm Platz neben Fred, der am Steuer hockte. Seine Bartstoppeln glänzten im Sonnenlicht und das Lexikon ruhte in seinem Schoß. Er hatte es bei T aufgeschlagen. T wie Tod. Mit dem Zeigefinger deutete er auf die Abbildung eines Grabsteins aus Carraramarmor. »Was ist das für eine Farbe?«

»Taubenweiß?«

»Gibt es auch schwanenweiß?«

»Bestimmt.«

»Krieg ich so einen?«

»Einen schwanenweißen Grabstein?«

Fred nickte. »Es muss ein sehr schöner Stein sein, Albert.«

»Abgemacht«, sagte Albert. »Ein schwanenweißer Grabstein für dich.«

Sie schwiegen eine Weile, und während draußen der Lärm vorbeifahrender Autos auf der Hauptstraße abflaute und sie ein letztes Mal von der Sonne geblendet wurden, bevor sie ins Moor tauchte, betrachtete Fred verträumt die Abbildung des Grabsteins.

»Alle sagen immer, Sterben ist schlimm. Ich glaube das nicht. Bestimmt ist es ganz anders. Ich stelle es mir toll vor. Wie eine Riesenüberraschung. Eigentlich freue ich mich schon darauf. Am liebsten will ich zusammen mit dir sterben, Albert. Nur wird das ziemlich schwer. Ich bin schneller.«

Albert versprach ihm: »Werde mich beeilen«, und prompt strahlte Fred ihn an wie ein Kind – ein in die Jahre gekommenes Kind mit Tränensäcken, grauen Schläfen und winzigen Falten um den Mund.

Dann wich das Lächeln aus Freds Gesicht: »Mama sagt, alle Liebsten Besitze sterben irgendwann.« Diesmal war der Tonfall ganz anders, als hätte er sich erst in dieser Sekunde daran erinnert, was Sterben eigentlich bedeutete.

»Und was soll das sein, ein Liebster Besitz?«, fragte Albert.

Fred lachte, als hätte Albert eine unglaublich dumme Frage gestellt: »Ein Liebster Besitz kann alles sein, was es gibt!«

»Zum Beispiel ein Vater?«

»Ja! Oder ein Auto.«

»Und was ist dein Liebster Besitz?«

Fred schnaubte und verdrehte die Augen. Er streckte seinen Arm aus, öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm eine verbeulte Blechbüchse, in der etwas klapperte. Beim Öffnen des zerkratzten Deckels beugte sich Fred über die Büchse und versperrte Albert den Blick, als wolle er sich zunächst vergewissern, ob das, was er erwartete, noch da war. Dann hielt er Albert einen kastaniengroßen Stein unter die Nase, der im Abendlicht metallisch glänzte. »Nimm!«

Seinen Gesichtsausdruck als stolz zu bezeichnen wäre untertrieben gewesen.

Albert wog den Liebsten Besitz in der Hand, er war erstaunlich schwer und sah aus wie ein zusammengeknülltes, versteinertes Blatt sattgelben Papiers. Ihm kam ein abwegiger Gedanke, den Fred prompt aussprach: »Gold.«

»Echtes?«

Er flüsterte: »Mein Liebster Besitz.«

Auch wenn Albert anerkennend nickte und die Unterlippe vorstülpte, war er skeptisch. Der Stein in seiner Hand entsprach exakt seiner Vorstellung von Gold, und gerade das weckte sein Misstrauen.

»Von wem hast du das?«, fragte Albert und gab Fred das Gold zurück.

Zufrieden verstaute Fred den Stein wieder in der Blechbüchse.

»Von wem du das hast, hab ich gefragt«, wiederholte Albert.

Fred sagte: »Das ist meins.«

»Hast du’s jemandem gestohlen?«

»Ich stehle nie.«

»War das immer hier? Wieso hast du’s mir nie gezeigt?«

»Wenn ich tot werde, dann darfst du es haben«, sagte Fred und sah ihn aufgeregt an; das Grün seiner Augen schimmerte wie das Wasser eines Sees, von dem man nicht weiß, ob er tief genug ist, um hineinzuspringen. »Du bist dann reich.«

Albert erwiderte seinen Blick und wünschte sich einmal mehr, er hätte Fred einfach eine Frage stellen und Fred sie ihm einfach beantworten können, ein ganz normales Gespräch, das wünschte er sich, bei dem Fred seinen Fragen nicht auswich, und am meisten wünschte er sich, er könnte Fred glauben und würde nicht an jeder seiner Aussagen zweifeln.

»Hm«, machte Albert.

»Hm«, machte Fred.

Im selben Moment krähte der Hahn des Nachbarn. Fred verzog das Gesicht und kurbelte das Seitenfenster hoch. »Der weiß nie, wann er aufhören soll!«

Albert tippte auf die stehengebliebene Uhr neben dem Tacho. »Es ist spät. Das Sandmännchen ruft.«

Papaaa

In dieser Nacht fand Albert keinen Schlaf. Er betrachtete einen fingernagelgroßen, sternförmigen Leuchtaufkleber auf dem Balken über dem Bett. Den hatte er, als er jünger war, jeden Abend so lange angesehen, bis ihm die Augen zugefallen waren; er hatte es als tröstlich empfunden, dass dieses winzige Licht für ihn leuchtete, trotzig gegen die Schwärze einer Nacht auf dem Land anleuchtete.

Aus einer Schublade im Bettkästchen entnahm er einen angegilbten Zeitungsartikel. Die zweite Aprilausgabe des Oberlandboten von 1977. Gleich auf Seite 1 begann ein Bericht von Frederick A. Driajes, den Albert als Kind oft vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Er trug den Titel:

Der Tag, an dem der Bus die Haltestelle angegriffen hat

An dem Tag, an dem der Bus die Haltestelle angegriffen hat, war der Regen so stark wie sonst nie. Jeder Tropfen war einzeln! Ich warte nie in dem Haus aus Holz, das man gebaut hat, damit die Leute nicht naß werden. Da drin hängt ein großes Bild von einem Clown von einem Zirkus, der Rusch heißt. Seine Augen sind schwarz und glänzen und man kann alle seine Zähne sehen. Ich warte lieber im Regen. Dafür habe ich ja meinen Poncho! Die Haltestelle von Königsdorf ist genau bei der Hauptstraße. Jeder, der durch Königsdorf fährt, fährt da vorbei. Die Autos haben alle Farben. Aber ich zähle nur die, die grün sind wie meine Augen. Einmal habe ich fast fünfzig grüne gezählt – das sind schon fast über fünfzig grüne Autos! Da ist auch noch ein Schild. Auf dem steht 479. Weiter weg steht der Glockenturm von der Kirche. Wenn es zwölfmal gongt, ist es zwölf Uhr und ich gehe nach Hause zum Mittagessen. Der 479, der um 6:30 Uhr kommt, war der Bus, der die Haltestelle angegriffen hat. Er ist aber schon um 6:15 Uhr gekommen! Der 479 ist bestimmt dreihundert Kilometer schnell gerast. Weil ich jeden Tag an der Haltestelle warte, kann ich das gut rechnen. Selbst wenn ich noch nie mit einem Bus gefahren bin. Ich werde nie mit einem Bus fahren. In einem Bus kann man tot werden.

Außer mir war da auch noch der Herr Strigl. Der Herr Strigl ist ein kleiner Mann mit Schnurrbart. Er arbeitet als Fahrlehrer. Aber er hat zu schnell gearbeitet und muß jetzt mit dem Bus fahren. Auch die Frau Winkler hat auf den Bus gewartet mit ihrem kleinen Kind. Mama sagt, die Frau Winkler ist ambrosisch. Wenn man einen ambrosischen Menschen sieht, dann ist das, wie wenn man gar nichts anderes sieht. Man kann nichts anderes sehen. Und wenn man doch etwas anderes sieht, dann sieht das wie gar nichts aus. Und dann hat auch noch ein Mann in einem Mantel auf den Bus gewartet. Mama kennt ihn nicht. Ich habe immer komische Sachen über ihn gedacht. Der Mann war wie die Spinne in meinem Zimmer. Ich stelle mir immer vor, daß sie über mein Gesicht geht, wenn ich schlafe. So war das auch mit dem Mann im Mantel. Ich habe nicht gedacht, daß er nachts über mein Gesicht geht, ich habe nur gedacht, daß er etwas macht, was ich nicht mag. Er hat nie gelächelt. Er war immer neben dem Bild von dem Clown und er hat nie geredet.

Am liebsten will ich den Punkt festhalten, bevor der Bus die Haltestelle angegriffen hat. Damit es nicht weitergeht und der Bus nie kommt. Aber die Zeit ist nichts Richtiges. Die Zeit ist nicht so wie der Flitzer oder mein Lexikon. Die Zeit kann man nicht anfassen. Die Zeit kann man nicht hören. Man kann sie auch nicht riechen. Oder schmecken. Oder sehen. Nicht richtig. Eine Uhr ist ja eine Uhr und nicht die Zeit selber. Deswegen kann man die Zeit nicht festhalten. Aber ich kann sie in kleine Stücke machen. Das habe ich auch gemacht, als der Bus die Haltestelle angegriffen hat. Und wenn ich die Augen zuhabe, dann kann ich das immer wieder machen. Ich sehe dann alles, ich sehe die ganzen kleinen Stücke von der Zeit. Ich sehe den Bus, der kommt ganz langsam zu mir, auch wenn er in echt ganz schnell war, seine Räder drehen sich und seine Scheiben glänzen vom Wasser vom Regen und seine Scheinwerfer sind viel weißer als normal. Ich sehe das Bild, auf dem der Clown mit seinem Mund lacht, wie wenn er Luft schlucken will. Ich sehe, daß der Bus sich so komisch nach rechts und links bewegt. Ich sehe die Frau Winkler, die ihren Babywagen packt, aber ihn nicht schieben kann, weil, der Mann im Mantel will weglaufen und knallt gegen den Babywagen. Ich sehe den Herrn Strigl, der den Mann mit dem Mantel voll anschreit. Ich sehe viele schwarze Vögel am Himmel. Ich sehe das Kind von der Frau Winkler, das im Babywagen mit den Händen fast kleine Fäuste macht. Ich sehe den Glockenturm.

Nur am Anfang und dann nicht mehr denke ich, dass ich jemanden totmachen muß. Das ist ein Gefühl, das ist weit weg von ambrosisch. Dafür gibt es überhaupt gar kein Wort. Der Mann im Mantel schubst die Frau Winkler, damit er wegrennen kann. Der Herr Strigl faßt die Frau Winkler an und zieht sie weg. Der Bus sieht schon doppelt so groß aus wie der normale Bus und die Scheinwerfer sind hell wie eine Sonne und noch eine Sonne. Der Mann im Mantel läuft vor dem Bus weg. Hinter dem Fenster vom Bus sitzt Ludwig, mit dem hab ich schon gespielt, wie ich klein war. Der Clown auf dem Poster sieht so echt aus, wie ein häßlicher Mensch sieht er aus, und lacht und benutzt lauter Wörter, die man gar nicht benutzen darf. Auf dem Glockenturm haben sich die Zeiger noch gar nicht bewegt. Mein Mund schmeckt ganz schlecht und mein Magen tut weh. Der Herr Strigl macht ein Gesicht, das gar nicht wie er aussieht, weil die Frau Winkler nicht will, dass er sie zieht, weil sie ja zu dem Babywagen will. Der Mann im Mantel läuft in das Häuschen von der Bushaltestelle. Der Bus macht ein Geräusch, das schon fast so hoch ist, daß es nur Hunde hören können, aber ich kann es noch hören. Die Wörter, die der Clown benutzt, sind sehr schlimm, sie machen mir ein hartes Gefühl in meinem Bauch, das ich noch nie gehabt habe, und seine Augen glänzen ganz schwarz. Das Kind von der Frau Winkler hat keine Fäuste mehr, es zappelt wie eigentlich oft. Die Vögel am Himmel fliegen immer noch. Der Herr Strigl hört nicht auf, die Frau Winkler zu ziehen. Woher das kommt, weiß ich nicht, aber ich höre Mari oder Marine oder Mina. Mir ist schlecht. Die Augen von der Frau Winkler sind rot und naß vom Regen, aber vielleicht weint sie auch, und sie schlägt den Herrn Strigl, weil der sie nicht loslässt.

Ich will jetzt etwas tun, wie mein Paps, ich will nicht nichts sein, ich will der Frau Winkler und ihrem Kind und dem Herrn Strigl sagen, daß sie weglaufen müssen, und das Plakat von dem Clown will ich kaputt machen, und sogar dem Mann im Mantel will ich helfen, aber ich weiß, ich kann nur ganz wenig machen, weil, der Bus ist viel zu schnell und alles ist schon viel zu spät.

Aber ich merke, daß ich den Poncho nicht mehr anhabe, der liegt neben mir, und dann denke ich, daß ich ohne Poncho vielleicht schneller sein kann, und dann renne ich los. Der Herr Strigl will mit der Hand, mit der er die Frau Winkler nicht festhält, mein Hemd nehmen, und ich glaube, er will eigentlich nett sein. Der Clown macht Harr-Harr-Harr, er macht Harr-Harr-Harr, und das klingt wie Kater Karlo. Die schwarzen Vögel tun so, wie wenn der Bus die Haltestelle gar nicht angreift, weil, sie wollen kreisen, weil, Mama sagt, sie warten auf noch mehr Vögel. Ich schlage dem Herrn Strigl ins Gesicht, damit er die Frau Winkler losläßt, und ich spüre alle meine Finger und dabei fühle ich mich ganz kurz ambrosisch, dabei weiß ich, daß man sich sehr schlecht fühlen muß, wenn man so was macht. Die Frau Winkler wird jetzt frei und fällt auf den Boden. Das Fenster vom Bus geht kaputt und Ludwig fliegt durch, wie wenn er fliegen kann, und die vielen kleinen Glasteile glitzern schön. Die Augen von dem Herrn Strigl werden groß. Der Bus ist viel langsamer jetzt, und wo seine Räder sind, da spritzt er etwas, das sieht aus wie kleine Stückchen Feuer, aber der Bus ist immer noch viel zu schnell für ein Kind und für mich und für den Herrn Strigl und für den Mann im Mantel. Der grosse Zeiger auf dem Glockenturm bewegt sich, glaube ich, ein bißchen. Der Mann im Mantel versteckt sich in dem Haus aus Holz. Ich nehme das Kind von der Frau Winkler aus dem Babywagen und es schreit so, daß mir die Ohren wehtun, und es fühlt sich an wie ein kleiner Hund und ich wünsche mir, ich wünsche mir, daß mein Paps hier ist und mir hilft und uns wegträgt. Es ist sehr schwer, nicht nichts zu sein. Ludwig fliegt gegen das Rohr an dem Häuschen von der Haltestelle, wo das Wasser vom Dach durchgeht, und die vielen kleinen Glasteile vom Fenster vom Bus, das es jetzt nicht mehr gibt, sehen aus wie Hagel. Der Herr Strigl steht nur da und schaut zum Bus und sieht aus wie ein Baum, der nicht weiß, was passiert, wenn der Bus ihn trifft. Harr-Harr-Harr, macht der Clown. Ich schreie zu dem Herrn Strigl, er soll weggehen, aber er bleibt stehen, wie wenn jemand das mit ihm gemacht hat, was Menschen in der Wüste mit Schlangen machen. Die Frau Winkler, die am Boden liegt, streckt ihre Arme nach mir aus. Der Mann im Mantel ist in einer Ecke von dem Haus aus Holz und ich schreie zu ihm, daß er weggehen soll, Mann im Mantel, schreie ich, geh weg, schreie ich, der Bus kommt, aber der Mann im Mantel macht nichts. Der große Zeiger am Glockenturm bewegt sich jetzt. Ludwig fällt neben dem Häuschen von der Haltestelle auf den Boden und sein Hals sieht so rot aus wie echtes Blut, aber sein Mund ist ein großes Lächeln.

Ich fühle mich, wie wenn ich keine Kraft mehr habe, und ich stelle mir vor, daß nicht ich in mir drin bin, nein, mein Paps ist in mir drin, und er hat mit den vielen Muskeln noch sehr viel Kraft, so viel, daß er alle retten kann, bevor der große Zeiger am Glockenturm stehen bleibt. Und dann bin ich mein Paps und das ist ein ganz schlimmes Gefühl, weil, ich merke, wie wenig mein Paps da ist, und dann springe ich, und der Bus bläst dicke Luft, die mich zur Seite drückt. Der Bus kommt und fällt schief und nimmt den Herrn Strigl mit und den Babywagen und versteckt den Mann im Mantel. Das ist ein Quietschen, das mir in die Ohren haut, und jetzt greift der Bus die Haltestelle an, und den Clown, und das Harr-Harr-Harr hört endlich auf, und der Bus macht das Holz von der Haltestelle kaputt und bleibt hinten stecken und es stinkt wie an der Tankstelle, und das Holz macht Geräusche, wie wenn es ihm nicht gutgeht, und dann fällt das Holz über dem Bus zusammen, weil es total kaputt ist, und dann ist da noch ein Schlangengeräusch, und dann wird es leise, und ich höre die Frau Winkler, sie weint, und ich gebe ihr ihr kleines Kind, und ich sehe den Bus und die Haltestelle, die es nicht mehr gibt, und auch Ludwig und den Herrn Strigl und den Mann im Mantel gibt es nicht mehr, und das tut mir leid, es tut mir leid, ich bin gar nicht wie mein Paps, ich bin nichts, das ist sehr wahr, ich bin nichts und das ist die ganze Geschichte, das ist alles, und mehr habe ich nicht gesehen, und das tut mir leid, es tut mir leid, und ich will die ganzen Sachen alle nie wieder sagen, und auch nicht erzählen, nein.

Wenn Albert den Bericht heute, als Neunzehnjähriger, las, erkannte er darin einiges wieder, was ihn an Fred störte, vor allem seine Art zu übertreiben und Dinge so darzustellen, dass man nie verlässlich sagen konnte, ob das nun an seiner geistigen Behinderung, seinem Charakter oder an einer Kombination von beidem lag.

In seiner Kindheit aber, daran erinnerte er sich sehr gut, hatte er Fred dafür, dass man ihn einen Helden nannte, über alles geliebt. Damals hielt er Fred für einen noch größeren Helden als He-Man oder Raphael, den Turtle mit rotem Bandana, der nach einem anderen Raphael benannt worden war, für den Schwester Simone schwärmte. In Sankt Helena gab Albert mit Fred an und zog damit den Neid und die Feindseligkeit von Waisenknaben auf sich, die nicht nur keinen Helden als Vater hatten; die hatten nicht einmal einen Vater. Warum er in Sankt Helena lebe, wenn Fred so toll sei, fragten sie und wackelten hämisch mit den Köpfen – Albert ignorierte das. Schwester Alfonsa hatte ihn auf solche Situationen vorbereitet; er folgte ihrem Rat, streckte den anderen Kindern nicht die Zunge raus und sagte sich, die wollten, weil sie niemanden hatten, so wie er sein, die seien nur neidisch und von einfachem Gemüt. Und das half Albert, der als Einziger von den Jüngeren im Waisenhaus wusste, was Gemüt bedeutete. In Sankt Helena bevorzugte Albert die untere Matratze im Stockbett, einerseits, weil er kein Freund von Höhen war, andererseits, damit er am Lattenrost über sich das befestigen konnte, was er als Letztes vor dem Einschlafen sehen wollte: Freds Bericht. Schon damals hatte er zu Fred nie Vater gesagt. Als Einjähriger hatte er ihn Ped, dann mit zwei Fed und danach für einige Monate stolz-spuckend Fred genannt. Das hatte ihm Anni so beigebracht. Und nach deren Tod wollte Schwester Alfonsa, dass es dabei blieb. Was Albert verwirrte. Oft wollte er ihn Papa rufen, mit einem langgezogenen zweiten a, das den Rachen weit und den Kopf frei machte. Fred wellte seine Zunge und klang wie eine verstimmte Türklingel. Dennoch vertraute er der Ordensschwester, denn trotz seiner Verstandesreife war er immer noch klein genug, um zu glauben, dass Erwachsene, zu denen er auch Fred zählte, alles wussten und stets das Richtige taten.

Erst mit fünf erkannte er seinen Irrtum.

Bei einem Besuch in Königsdorf lagen sie, wie so oft, auf der Chaiselongue im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät (nicht dem Fernseher, wusste Albert schon mit fünf Jahren; nur Menschen konnten Fernseher sein, und solche, die ein Fernsehgerät als Fernseher bezeichneten, hatten schon zu lange vor ebendiesem gesessen). Albert erinnerte sich nicht mehr daran, welches Programm damals lief. Darauf hatte er nie Wert gelegt, ihm ging es immer allein darum, sich an Fred zu schmiegen und dessen nie erlöschende Wärme zu spüren, wie auch an jenem Abend, an dem Albert, weil er aufs Klo musste, sich von Fred löste, der den Blick für keine Sekunde vom Fernsehgerät abwendete. Nachdem Albert auf der Toilette die Spülung gedrückt hatte, wartete er Fred zuliebe, bis sie keine Wassergeräusche mehr von sich gab, ehe er die Tür wieder öffnete. Als er zurück ins Wohnzimmer hopste, nah dran am Wunschlos-glücklich-Sein, sah er es.

Noch bevor Albert Schwester Alfonsa zum ersten Mal im Schach schlagen sollte, noch bevor er seine Deutschlehrerin mit aus Zitaten deutscher Schriftsteller komponierten Aufsätzen beeindrucken sollte (ohne je erwischt zu werden), noch bevor er damit beginnen sollte, die englische Originalversion seines Lieblingsbuches, The Hobbit or There and Back Again, auswendig zu lernen, noch bevor er einen streunenden Hund Maxmoritz taufen und dressieren sollte, Wurst aus der Küche zu klauen, noch bevor er, gelangweilt vom inflationären Gebrauch von Kindergartenschimpfwörtern wie etwa Doofian oder Kackarsch, seine Neider als Kretins bezeichnen sollte, noch bevor er Kretins, die bei Schulprüfungen durch die Bank weg schlechter als er abschnitten, erläutern sollte, dass Einstein nie ein schlechter Schüler gewesen war, sondern nur Schweizer – noch bevor all dies geschah, begriff Albert zum ersten Mal, wie wenig sein Vater begriff.

Fred lag unverändert auf der Chaiselongue, sein Blick aber erreichte nicht das, was im Fernsehgerät lief. Die Doppeldeutigkeit hätte Schwester Alfonsa entzückt: Fred schaute fern. Mit der konzentrierten, aber eindeutig verzweifelten Miene eines auf einer Insel Gestrandeten, der den Horizont nach Schiffen absucht, betrachtete Fred den Bildschirm.

Die ersten von Albert an Schwester Alfonsa gerichteten Worte nach diesem Besuch bei Fred waren: »Ist er verrückt?«

Beim Schmunzeln verbarg sie wie so oft die Zähne und begrüßte ihn mit einer ihrer groben Umarmungen – von Zahnspangen und Zärtlichkeit hatte man in ihrer Kindheit wenig gehalten. Für ihre undurchschaubare Mimik war sie weit über die Mauern von Sankt Helena hinaus bekannt. Albert hatte selbst miterlebt, wie ein draufgängerischer Waisenjunge – er hieß Rupert – ihr Schmunzeln einmal fälschlicherweise für ein unterdrücktes Lächeln gehalten hatte, als er auf das instabile Dach der Gartenhütte geklettert war, begleitet von Alfonsas Rufen, er solle ruhig weiterkraxeln, das habe überhaupt keine Konsequenzen, sie halte das für eine ausgezeichnete Idee, alle Jungs sollten den Versuch wagen, sich den Hals zu brechen. Fünfzig Vaterunser brachten Rupert dem Verständnis von Ironie deutlich näher. Man konnte meinen, alles, was Schwester Alfonsa von sich gab, sei emotionslos. Aber Albert spürte schon als Kind, das war nur die halbe Wahrheit. Manchmal kam es ihm vor, als hätte sie sich nach Sankt Helena verirrt. Etwas an ihr passte nicht dorthin. Was das genau war, konnte er nicht sagen. Aber er hatte eine Ahnung, dass es damit zu tun hatte, wie selten sie die Gebäude verließ und wie oft sie Frank Sinatra hörte.

»Ist Fred verrückt?«

Diesmal betonte Albert seine Frage so, als erwartete er ein Ja. Schwester Alfonsa schloss die Tür zu ihrem Büro und führte ihn zu einem Tischchen, auf dem ein Schachbrett aus gebeiztem Buchsbaum wartete. Links und rechts davon standen Holzhocker. Seit Kurzem brachte sie ihm Schachspielen bei – eine Ehre, die sie bloß alle paar Jahre einem Waisenkind zuteilwerden ließ, das ihrer Meinung nach das größte Potential mitbrachte oder, wie sie es formulierte, »helle genug« schien. Auf Schachfiguren wurde in Alfonsas Unterricht verzichtet. Einem klugen Kopf mussten ihrer Ansicht nach Dame-Spielsteine ausreichen, den Rest erledigte das Gedächtnis.

Albert zögerte, er hatte wenig Lust zu spielen, spürte aber, dass ihm keine andere Wahl blieb, wenn er ihre Meinung hören wollte. Durch ein winziges Fenster fiel mattes Tageslicht, es war einer dieser trüben Herbsttage. Albert nahm Platz. Seine Füße berührten den Boden nicht. Für einen Moment schwebte seine Hand über seiner knochenweißen Truppe, bevor er die Partie auf klassische Weise eröffnete (Bauer auf e4). Die Ordensschwester spiegelte seinen Zug (Bauer auf e5) und setzte sich dann.

»Du denkst, dein Vater ist verrückt?«

»Ja.«

»Vielleicht sind wir das auch.«

»Gar nicht.«

»Woher willst du das wissen?«

Albert machte seinen nächsten Zug (Springer auf f3), den sie wiederum nachahmte (Springer auf f6).

»Na gut«, sagte sie, »gehen wir davon aus, dass wir nicht verrückt sind und Fred schon. Ist das dann nicht bloß unsere These?«

Albert runzelte die Stirn (Springer schlägt Bauer), Schwester Alfonsa runzelte nicht (dasselbe).

»Was ist eine These?«

»Ein Anfang.« Sie schmunzelte. »In unserer Gesellschaft bestimmen die Stärkeren über die Schwächeren. Ein cleveres Kerlchen wie du legt fest: Fred ist verrückt. Und da Fred kaum in der Lage ist, das zu widerlegen, folgert man, du hast recht.«

»Ich hab recht.« (Bauer d3)

»Also schuldig, bis Unschuld bewiesen ist.« (Bauer d6) »Und wenn wir falsch liegen?«

»…«

(Bauer schlägt Springer, das Gleiche noch mal.)

»Was, wenn wir verrückt sind? Was, wenn die ganze Welt von Verrückten beherrscht wird, die jeden Gesunden wie Fred wegsperren, damit man ihnen nicht auf die Schliche kommt?«

»Das geht nicht.«

»Sagt wer?«

»Ich.«

»Alle Kinder sind verrückt.«

»Warum?«

»Das habe ich als die Stärkere von uns beiden soeben festgelegt.«

»Ich bin nicht verrückt!«

»Jetzt schon.«

Albert knallte den Spielstein neben das Schachbrett. »Ich mag nicht mehr!«

»War doch nur ein Beispiel.« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Willst du ehrlich wissen, was ich denke?«

Er nickte und schielte sie von unten an, um auszudrücken, dass er in den Arm genommen werden wollte.

»Ihr beide seid vollkommen verrückt.«

Keine Doppeldeutigkeit intendiert. Albert mochte weniger als die Hälfte von dem verstehen, was sie von sich gab, auch sein Talent hatte Grenzen, aber sein Gefühl verriet ihm, diesmal sprach sie mit Bewunderung. Sie sprach von vollkommener Verrücktheit.

»Das ist gut«, sagte er und schickte sicherheitshalber noch ein »Oder?« hinterher.

»Das ist besonders«, sagte sie, »und der Grund dafür, dass du ihn nur Fred nennen kannst. Ein richtiger Vater wird er nie sein.«

»Ich kann’s ihm erklären!«

Schwester Alfonsas Schmunzeln: »Das kann niemand. Nicht einmal du.«

Eine Woche später riss Albert zum ersten Mal aus. Im Monat darauf türmte er gleich vier Mal. Danach wiederholten sich seine Fluchtversuche mit verlässlicher Regelmäßigkeit. Im Durchschnitt kam er auf zwanzig pro Jahr. Anfangs scheiterte er an den Busfahrern, die keinen Knirps, besonders keinen neunmalklugen, ohne die Begleitung eines Erwachsenen mitnehmen wollten. Des Öfteren verpfiffen ihn andere Waisenknaben. Doch selbst wenn ihm die Flucht gelang, ließen sich die Ordensschwestern kaum aus der Ruhe bringen; sie wussten ja, wohin er jedes Mal floh. Und warum.

»Ich bin dein Sohn«, sagte Albert zu Fred.

»Du bist Albert«, sagte Fred zu Albert.

»Und ich bin dein Sohn«, sagte Albert. »Und du bist mein Vater.«

»Ich bin Fred.«

»Und mein Vater.«

Fred blinzelte.

»Verstehst du mich?«, fragte Albert.

»Ich verstehe immer alles«, sagte Fred.

»Was habe ich gesagt?«

»Du hast gesagt: Hast du mich verstanden? Ich habe dich verstanden, Albert.«

»Und das davor?«

»Du hast gesagt: Und mein Vater

»Du verstehst das?«

»Ja«, sagte Fred, »und ich habe Hunger.«

»Ich bin von dir«, sagte Albert, »ohne dich würde es mich nicht geben.«

Und Fred sagte: »Danke. Das ist nett. Kochen wir Pfannkuchen mit Himbeermarmelade? Pfannkuchen mit Himbeermarmelade sind ambrosisch.«

Dann, in Sankt Helena – es gab immer ein Dann-in-Sankt-Helena –, wehrte sich Albert gegen die Enttäuschung, indem er vor jedem Schlafengehen Freds Bericht las und sich vorstellte, dieses Kind, das von Fred gerettet worden war, sei er und nicht ein Mädchen namens Andrea, das, zusammen mit seiner Mutter, nach dem Busunglück Königsdorf für immer verlassen hatte.

Er hoffte stets und glaubte manchmal und wusste gelegentlich, dass Fred ihn eines Tages retten würde, dass Fred mitten in der Nacht den Schlafsaal stürmen würde, das Licht anknipsen, zu Alberts Bett laufen und ihn mit sich nehmen würde. Wohin, war unerheblich, Hauptsache weg.

Aber mit den Jahren schwand die Hoffnung. Da half auch grenzenlose Sehnsucht nicht. Wieder und wieder rannte er zu Fred und gegen Schwester Alfonsas Behauptung an; dieses Mal kann es klappen, sagte er sich, unverbesserlich, dieses Mal wird Fred begreifen – und dann begriff Fred doch nicht. Und alles blieb beim Alten. Und Fred eben Fred.

 

Albert legte Freds Bericht weg und zog sich einen Bademantel über. Im Garten steckte er sich eine Zigarette an. Rauchen konnte er nur zu später Stunde riskieren; Fred hatte ihn ermahnt: »Rauchen macht krank!«, und Albert wollte ihn nicht unnötig provozieren. Der Qualm verlor sich in der Nacht. Als sein Blick auf den BMW fiel, schnippte er die Kippe über den Gartenzaun; sie flog in hohem Bogen auf die Hauptstraße wie ein abstürzendes Glühwürmchen. Albert trat gegen den Kotflügel und erwartete, dass es wehtun würde, doch er spürte kaum etwas. Dieser Kotflügel schien wie dafür geschaffen, von ihm getreten zu werden, er probierte es noch einmal und schlug zusätzlich auf die Motorhaube, hieb mit beiden Fäusten auf sie ein. Er hoffte, jemand würde vorbeikommen und versuchen, ihn aufzuhalten, dann könnte er denjenigen verprügeln oder verprügelt werden. Aber niemand kam.

Außer Atem ließ er sich in den Beifahrersitz des BMW fallen und klappte das Handschuhfach auf. Er nahm die Blechbüchse und stellte sie auf das Armaturenbrett. Das schmeichelnde orangefarbene Licht der Straßenlaterne kaschierte einige ihrer Beulen und verlieh ihr einen kupferartigen Glanz. Albert wäre es lieber gewesen, sie hätte keinen glänzenden Stein enthalten, sondern handfeste Hinweise, Erinnerungsstücke, mit denen er etwas hätte anfangen können, ein Tagebuch von Anni etwa oder Familienfotos oder wenigstens irgendwelche Dokumente, er wusste nichts über seine Herkunft, seine Familie, er wusste nichts über seine Mutter, Albert hatte unendlich viele Fragen, und die einzige Hoffnung auf Antwort war Fred.

Albert betrachtete die Finger seiner linken Hand. Eine kleine, leise, schrumpfende Hoffnung.

Aus einem unbestimmten Bedürfnis heraus öffnete er die Blechbüchse und nahm das Gold in die Hand. Da entdeckte er eine Audiokassette am Boden der Büchse; auf deren angegilbtem Klebestreifen stand: Mein Liebster Besitz. Der schnörkelige Schulmädchenstil entsprach mitnichten Freds krakeliger Handschrift. Albert holte einen Walkman aus dem Wohnzimmer, fütterte das Kassettenfach, schob einen Knopf von OFF auf ON und sah das rote Lämpchen neben der Minutenangabe aufleuchten.

Albert drückte PLAY. Zuerst ein Knistern. Dann, langsam anschwellend, ein Rauschen, das ihm irgendwie bekannt vorkam, und fordernd. Es hörte sich an wie ein Schweigen. Er suchte darin, spulte vor und zurück, legte sein Ohr auf den Lautsprecher und überprüfte A- und B-Seite.

Nichts.

Er kletterte über die Mittelkonsole und setzte sich ans Steuer, nahm einen von Freds Kalendern aus dem Seitenfach in der Tür und schlug ihn auf. Mit der Hand fuhr er über eine magentafarben bekritzelte Seite, die süßlich roch wie die Luft im Haus, und fühlte die leichten Unebenheiten der von Fred in das Papier gedrückten Notizen. Montag, 24.5.2002: 76 grüne Autos, 8 grüne LKWs, kein grünes Motorrad. Dienstag, 25.5.2002: 55 grüne Autos, 10 grüne LKWs, 2 schöne grüne Motorräder, 1 grüner Traktor. Mittwoch, 26.5.2002 …

Albert warf den Kalender auf die Rückbank, schaltete den Walkman aus und spürte das Gewicht von Freds Gold in seiner Hand.

Hänselbrösel