Gudrun Pausewang

Kinderbesuch

Roman

 

Durchgesehene Auflage 2005

©1986, 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41166 - 0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 12749 - 3

 

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An einem Freitagmorgen – zwei...

Sie aßen schweigend...

Lorna saß steif neben...

Victor kehrte zu seiner...

Eine knappe Stunde später...

Um zwei Minuten nach drei...

Kurz vor halb fünf...

Der Hütte gaben nur...

Die Reparatur der Klimaanlage...

Bei dem frischen, rasch...

Ich konnte sie nicht...

Osorio schlief bis kurz...

Frisch geduscht und umgezogen...

Die Kinder schliefen schon...

Noch vor Mitternacht fuhr...

Die Hütte zitterte im...

Um vier vor halb...

Der Morgen war windig...

Geschrei hallte Herta Köberle...

Grunzend sank Marc Antonio...

Die Köberles sahen einander...

Juanito war auf seinem...

Das erste, was Kurt...

Herta Köberle drückte sich...

Die Kinder schwärmten an...

Herta Köberle wurde in...

Die Kinder hatten die...

Herta Köberle hinkte die...

Victor preschte nach Bellavista...

Am folgenden Tag fand...

Am übernächsten Tag stellte...

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[Informationen zur Autorin]

|5|  – Und es sind zwei Sprachen oben und unten

und zwei Maße zu messen

und was Menschengesicht trägt

kennt sich nicht mehr.

Bert Brecht,

›Die heilige Johanna der Schlachthöfe‹

 

Es wird auf die Dauer nicht möglich sein,

Wohlstand für Wenige

gegen die Armut der Vielen zu verteidigen.

Peter Atteslander

|7|An einem Freitagmorgen – zwei Tage vor den Geschehnissen auf dem Anwesen des Maklers Ernesto Rocas Lobos, die die Bewohner des vornehmsten Viertels der Stadt bis in ihre Träume hinein ängstigen sollten – frühstückten Don Ernestos Schwiegereltern, zu Besuch aus Deutschland, auf der Gartenterrasse der Villa. Sie frühstückten allein. Tochter und Schwiegersohn waren am Vortag nach Miami geflogen.

Noch voller Staunen über den Luxus im Hause Rocas Lobos genossen sie die ständige Beflissenheit des Personals, die Großzügigkeit von Villa und Garten, den reichgedeckten Tisch. Damals, in Deutschland, hatten sie ihre Tochter nur widerwillig einen Studenten der Wirtschaftswissenschaft heiraten lassen, einen Ausländer, einen exotisch wirkenden Südamerikaner, über dessen familiäre und finanzielle Verhältnisse sie nur Vermutungen hatten anstellen können. Nun aber erkannten sie, daß ihre Tochter die Frau eines der reichsten Männer der Stadt geworden war.

 

»Nein, hier fehlt es an nichts, Kurt«, sagte Herta Köberle. »Gut, daß wir Jutta diese Partie nicht ausgeredet haben.«

»Mich hat damals erst der Mercedes überzeugt«, antwortete Kurt Köberle. »Als Student konnte er sich einen Mercedes leisten – und nicht etwa einen aus zweiter Hand!«

»Dabei ist der Wagen nichts gegen diese Villa und alle die Reisen«, sagte sie lebhaft. »Man muß sich das mal vorstellen: Wann immer sie Lust haben, fliegen sie in die Staaten und amüsieren sich dort!«

|8|»Diesmal nicht«, seufzte er.

»Unsinn, diese Sorge«, sagte sie. »Nach Thomas sollte ich auch kein Kind mehr bekommen können, und sieben Jahre später kam Jutta. Sie sind doch erst zwei Jahre verheiratet. Und Jutta ist noch jung. Da kann noch viel werden.«

Schweigend frühstückten sie weiter, bis Kurt Köberle sagte: »Ich hätte wirklich Lust, ihre Einladung anzunehmen. Dann bliebe uns drüben der Winter erspart.«

»Ich habe auch schon darüber nachgedacht«, sagte sie. »Heute sind wir den fünften Tag hier. Unser Visum hat drei Monate Gültigkeit. Wenn ich Frau Bloch nun schriebe, daß sie unsere Wohnung regelmäßig lüften und die Blumen gießen soll? Thomas kann uns ja die Post nachschicken. Ich fühle mich hier wie im Paradies. Du auch?«

Während die junge indianische Köchin den Tisch abräumte, schlenderten sie hinab in den Garten. Die Luft war noch kühl, aber schon begannen die Mücken zu schwärmen. Auf die Krone des kleinen Goldregenbaums vor der Terrasse fiel die Sonne. Seine gelben Blütenkaskaden leuchteten.

Plötzlich blieb Kurt Köberle stehen und lauschte.

»Hörst du? Stimmen. Ganz leise Musik. Dort vom Meer her.«

Sie hörte nichts.

»Vom Meer her?« fragte sie. »Unmöglich. Es muß aus der Nachbarschaft kommen.«

Aber in der Villa nebenan wohnte zur Zeit niemand, das hatten sie von Ernesto erfahren. Sie stand zum Verkauf. Und der Nachbar auf der anderen Seite bereiste mit seiner Familie Europa. Nur ein Gärtner hütete das Haus.

»Ist ja auch egal«, sagte sie. »Uns geht das jedenfalls |9|nichts an.« Auf ihre künstlich geblondeten Locken fiel jetzt die Sonne. Sie hob ihr schmales Gesicht, auf dem sich schon Falten und Tränensäcke abzuzeichnen begannen. Von den Flügeln der scharfgeschnittenen Nase fielen tiefe Furchen durch die flaumige Haut zu den Mundwinkeln. Die braunen Augen blinzelten in den Himmel.

»Ist das nicht ein Aasgeier?« fragte sie überrascht. »Aber wo ist das Aas?«

Er überhörte ihre Frage. Statt dessen sagte er: »Wir sollten dem Personal zu verstehen geben, daß das Haus auch ohne Ernesto nicht herrenlos ist. Hast du heute eigentlich den Gärtner schon gesehen?«

»Du meinst Victor, den Chauffeur? Ja, er hat schon vor Sonnenaufgang den Rasen gesprengt. Ich war früh wach.«

Sie blieben beim Schwimmbad stehen und betrachteten die Villa, deren Dach in der Morgensonne schimmerte. Herta Köberle fand die Gitter vor den Fenstern häßlich. Auch die Gartenmauer störte sie.

»Wenn schon eine Mauer«, meinte sie, »warum dann so hoch, und noch dazu mit Glassplittern gespickt? Bei uns daheim in Koblenz kann man sich über den Zaun hinweg sehen und unterhalten.«

»Ernesto wird sich schon was dabei gedacht haben«, sagte er. »Vielleicht soll sie ein Schutz gegen Straßenlärm und Hundegebell sein.«

»Aber Ernestos Hunde bellen am lautesten, und die sind innerhalb der Mauer. Und was gibt’s denn schon für Lärm auf so einer Villenstraße wie hier?«

Sie warfen zwei lange Schatten auf den Rasen. Meistens überdeckte der breite den schmalen: Kurt Köberle war einen Kopf größer als seine Frau und doppelt so schwer. Seine Glatze glänzte. Ein Haarkranz von Ohr zu Ohr |10|plusterte sich über dem Stiernacken. Das Gesicht des Mannes: schmale Lippen zwischen gekerbtem Kinn und fleischiger Nase, rundliche, rosige Wangen, blaue Augen unter buschigen grauen Brauen. Was an ihm auffiel, waren die hellen Wimpern und die mit Sommersprossen übersäte Haut. Und ein erfahrener Arzt hätte ihm auch sein gefährdetes Herz angesehen. Wegen dieses Herzens war Kurt Köberle vorzeitig pensioniert worden. Er durfte sich nicht aufregen. Sein Hausarzt hatte ihn nur ungern reisen lassen.

Sie spazierten bis ans andere Ende des Gartens. Dort hatte die Mauer nur noch die Höhe einer Brüstung. Unter ihr fiel eine Felswand steil ab und gab den Blick frei auf das Meer. Der ferne Horizont verbarg sich in leichtem Dunst. Auf der blaugrünen, glitzernden Fläche kreuzten Boote, Segler und Jachten. Frachter zogen vorüber. Möwen kreischten.

»Was hat Jutta doch für Glück gehabt, ein so herrliches Stück Erde zu bekommen!« rief sie überwältigt. »Hier oben fühlt man sich richtig über den Dingen.«

»Na ja«, meinte er trocken, »die Aussicht ist zwar imposant, aber zum Fotografieren taugt sie nicht. Himmel und Erde allein, das ist zu wenig, das gibt nichts her. Wir müßten an den Strand hinunter. Aber so ganz sind wir hier oben dem Irdischen doch nicht entrückt. Es riecht nach Zwiebeln.«

Sie schnupperte und nickte.

»Das kann doch nicht aus dem Meer kommen?« fragte sie ratlos.

Sie beugten sich über die Brüstung und spähten hinab.

»Da stehen ja Häuser!« rief sie verblüfft.

»Tatsächlich«, staunte er.

|11|Ihr wurde schwindlig. Sie richtete sich auf.

»Häuser kann man das allerdings nicht nennen«, sagte er.

Zwei Pfahlbauzeilen, dazwischen ein Weg, auf dem kaum zwei Wagen aneinander vorbeikommen konnten. Ein schmaler Strand mit ein paar primitiven Booten. Schwärme von Kindern.

»Wenn ich nur nicht so kurzsichtig wäre«, klagte sie. »Glaubst du, es lohnt sich, die Brille aus dem Haus zu holen?«

Er zuckte die Schultern, dann sagte er: »Nur gut, daß wir so hoch darüber liegen, sonst wär’s hier kaum auszuhalten vor Lärm und Gestank.«

»Aber es wäre vielleicht ganz interessant, mal da unten entlangzufahren«, meinte sie. »So was kennt man doch nur aus dem Fernsehen. Glaubst du, das ließe sich machen? Was du für herrliche Dias bekämst: malerische Hütten, exotische Gesichter – und die Farben!«

»Stimmt«, sagte er. »Eine Fotosafari. Das wäre was. Warte, das werden wir gleich haben.«

Unternehmungslustig steuerte er auf den Seitentrakt der Villa zu, wo zwischen Gartenmauer und Garage eingezwängt Victors Kammer lag. Noch ehe er die schmale Tür hinter dem mächtigen, über und über rotblühenden Feuerbaum erreicht hatte, trat Victor mit einer kleinen Verbeugung heraus: ein magerer Mestize mittleren Alters mit glattem Indiohaar und hervorstehenden Backenknochen. Sein Oberkörper war nackt. Auf der linken Wange hatte er eine häßliche Narbe. Auch der linke Arm war zernarbt.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte er in einem flüssigen Karibik-Englisch.

|12|»Wir möchten ausfahren.«

»Sofort«, sagte Victor. »Wenn sich die Herrschaften einen Augenblick gedulden wollen?«

Er verschwand, ließ aber die Tür offenstehen. Im Innern des halbdunklen Raumes pendelte eine Hängematte. Als er wieder erschien, hatte er ein Hemd an. Er verbeugte sich mit ausdruckslosem Gesicht vor Herta Köberle, die inzwischen auch herbeigekommen war, und fragte: »Wohin wünschen die Herrschaften zu fahren?«

»In den Ort dort unten«, sagte Kurt Köberle und zeigte auf die Brüstung.

»Dort fährt man nicht hin, Sir«, sagte Victor und sah ihn starr an.

»Hast du das gehört?« fragte Kurt Köberle seine Frau verblüfft. »Ich vermute, daß er nur in seiner Hängematte weiterdösen möchte.«

»Warum wollen Sie nicht lieber einen Stadtbummel machen?« fragte Victor. »Oder durch den Simón-Bolívar-Park spazieren? Ich fahre Sie auch gern hinaus zu einem der Badestrände. Oder möchten Sie lieber die alte spanische Festung draußen auf der Insel sehen?«

»Also an der Faulheit kann’s nicht liegen, Kurt«, sagte sie. »Denn wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er uns ja sogar weiter fahren, als wir von ihm verlangt haben.«

»Und warum nicht dorthin?« fragte Kurt Köberle, zu Victor gewandt, und zeigte wieder zur Brüstung hinüber.

»Dort gibt es nichts zu sehen, Sir. Dort leben nur Arme.«

»Gerade die wollen wir uns aus der Nähe anschauen«, sagte Kurt Köberle.

»In unserem Land gibt es nämlich keine armen Leute«, |13|fügte seine Frau, freundlich lächelnd, in einem etwas holprigen Englisch hinzu.

Victor warf ihr einen unergründlichen Blick zu und antwortete: »Die Leute dort unten sind den Anblick von Reichen nicht gewohnt. Keiner von denen, die hier oben wohnen, fährt dort hinunter, verstehen Sie? Hier oben liegt das schönste Villenviertel der Stadt. Ich könnte Sie in diesem Viertel herumfahren. Es hat herrliche Gärten –«

»Ich bestehe darauf, daß Sie uns dorthin fahren, wo wir hingefahren werden wollen«, sagte Kurt Köberle scharf.

»Sir«, antwortete Victor, und Herta Köberle sah, daß Schweißperlen auf seine Stirn traten, »ich bin Don Ernesto gegenüber verantwortlich für den Wagen. Es ist ein teurer Wagen. Lehmwege und Schlaglöcher darf man ihm nicht zumuten. Und wenn dieser Wagen vor den Kindern des Viertels dort unten auftaucht, haben sie plötzlich die Hände voller Reißzwecken und Nägel. Die Reißzwecken streuen sie vor die Reifen, mit den Nägeln zerkratzen sie den Lack. Don Ernesto hat mir seinen Wagen anvertraut, ich darf ihn nicht in Gefahr bringen.«

»Er hat so einen merkwürdigen Akzent«, sagte sie. »Mit meinem Schul-Englisch verstehe ich ihn kaum. Kriegst du mit, was er meint?«

»Aber, Herta«, sagte er, »schließlich habe ich nach dem Krieg jahrelang bei den Amerikanern gearbeitet! Er behauptet, daß der Wagen dort unten leiden würde. Er sei für ihn verantwortlich.«

»Er will ihn also in Ernestos Interesse schützen«, meinte sie. »Das finde ich rührend. Wir sollten ihn nicht in Konflikte bringen. Warten wir doch, bis Ernesto wiederkommt. Vielleicht fährt er uns selbst einmal durch dieses Viertel am Strand.«

|14|»Also gut«, sagte Kurt Köberle zu Victor, »fahren Sie uns, wohin Sie wollen.«

Die Abfahrt verzögerte sich, denn er mußte noch seine Kamera holen, und seine Frau fand es angebracht, sich umzukleiden, und erschien erst nach geraumer Weile in Hellblau mit Brille und breitrandigem Strohhut.

 

Victor fuhr sie kreuz und quer durch das Viertel Bellavista: großzügige Villen, breite Alleen und eine Blumenpracht, die Tore und Einfahrten umrahmte und üppige Gärten vermuten ließ.

»Schön, daß wir auch mal diese Gegend in Ruhe kennenlernen«, sagte Herta Köberle. »Jutta und Ernesto sind mit uns immer nur auf dem kürzesten Weg in die Innenstadt gefahren.«

Kurt Köberle antwortete nicht. Er war mit seiner Kamera beschäftigt. Er richtete sie auf ein schwarzes Dienstmädchen in blütenweißer Rüschenschürze und weißen Stöckelschuhen, das zwei Pudel ausführte. Entzückt machte er einen Schnappschuß durch die geschlossene Scheibe, während der Blick seiner Frau ratlos die hohen Mauern streifte: Auch hier war jeder Garten ummauert wie eine Festung. Schon fiel die Sonne senkrecht durch das Laub der Alleebäume. Lautlos glitt der Wagen dahin. Nur die Klimaanlage rauschte. In fast jeder Straße patrouillierten Polizisten.

»Diese Stadt scheint auf Ordnung zu halten«, stellte Kurt Köberle zufrieden fest.

»Hübsche Kinder gibt es hier«, bemerkte sie. »Und alle so niedlich und sauber gekleidet.«

»Lauter Kinder von Reichen«, sagte er verstimmt. »Was ich so gern vor der Linse hätte, sind Rotznasen in |15|bunten Lumpen. Aber die lassen sich in diesem Viertel nicht finden.«

Plötzlich stutzte er, legte Victor von hinten die Hand auf die Schulter und befahl ihm, anzuhalten. Herta Köberle spähte aus dem Fenster. Sie erkannte vier kleine Jungen, die in einer Mülltonne wühlten. Zwei von ihnen trugen Säcke über den Schultern. Alle vier hatten nichts als zerfetzte Hosen an. Kaum hielt der Wagen, stieg Kurt Köberle hastig aus, überquerte die Fahrbahn und kniete sich mit der Kamera im Anschlag vor den Kindern nieder.

Aber schon stoben sie davon. Einer der Buben hielt ein halbverschimmeltes Weißbrot in der Hand. Er verlor es. Er hastete zurück, hob es auf und stolperte hinter den anderen her. Ehe Kurt Köberle seine Kamera schußbereit hatte, waren sie um die nächste Ecke verschwunden.

Mißgelaunt kehrte er zum Wagen zurück. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Unter seinen Achseln bildeten sich feuchte Flecken im Hemd. Grollend ließ er sich auf den Rücksitz fallen. Hinter ihm schloß Victor die Wagentür und sagte: »Es ist in diesem Viertel verboten, zu betteln oder in Mülltonnen zu wühlen. Wer dabei erwischt wird, kommt ins Gefängnis. Die Jungen hielten Sie für einen Polizisten in Zivil.«

»So kleine Kinder ins Gefängnis?« rief Herta Köberle erschrocken.

»Besserungsanstalten«, erklärte Victor. »Die sind gefürchtet.«

»Arme Dinger«, seufzte sie. »Was für ein barbarisches Land.«

Sie kamen an einer modernen Kirche aus Glas und Beton vorüber. An der Frontseite wurde ein mächtiges Kreuzrelief über dem Portal sichtbar. Auf den Eingangsstufen |16|hockte eine Gruppe armselig gekleideter Leute. Kurt Köberle stieß seine Frau an, deutete hinaus und gebot dem Chauffeur, wieder zu halten.

In diesem Augenblick öffneten sich die schweren Flügeltüren des Portals. Zwei Damen verließen die Kirche. Und schon kam Bewegung in die Bettlergruppe. Offene Hände streckten sich den beiden entgegen. Mit gerunzelter Stirn griffen die Damen in ihre Täschchen und warfen den Kauernden lässig ein paar Münzen hin, bemüht, sie nicht zu berühren. Die haschten gierig, schubsten einander, stürzten einer rollenden Münze nach. Ein nacktes kleines Kind fing ein Geldstück und versteckte es im Mund. Nachdem die Kirchgängerinnen die Stufen herabgeschritten und in ihren Wagen gestiegen waren, spuckte es die Münze seiner Mutter in die Hand.

»Das sind echte Bettler, Kurt«, flüsterte Herta Köberle.

»Hoffentlich laufen die nicht auch weg«, erwiderte er ungeduldig.

»Sie werden nicht weglaufen«, sagte Victor, als ob er ihn verstanden hätte, und bog auf den Parkstreifen ein. »Kein Polizist holt einen Bettler von Kirchenstufen herunter. Das ist hier ein ungeschriebenes Gesetz. Deshalb drängen sich da auch so viele.«

»Eine eindrucksvolle Gruppe«, sagte Kurt Köberle.

Victor öffnete den Schlag. Kurt Köberle stieg eilig aus. Seine Frau folgte ihm. Sie hielt die Krempe ihres Sonnenhuts fest.

»Geh du ein paar Schritte voraus«, flüsterte er ihr zu, »und wirf ihnen Münzen hin. Ich stehe dann schräg hinter dir und bekomme sie frontal. Aber wirf nicht gleich alles hin. Sorg dafür, daß ich Zeit genug habe. Jetzt geh, sie gaffen uns schon an.«

|17|Mit der Geldbörse in der Hand schritt sie vor ihm die Stufen zum Portal hinauf. Ein Chor flehenden Gemurmels empfing sie. Hände schnellten vor. Das nackte Kind setzte eine Jammermiene auf und faltete die Hände. Ihr wurde fast übel, als sie sah, daß eine Alte, die von weitem geradezu malerisch gewirkt hatte, nur noch eine halbe Nase hatte. Das hellrosa Naseninnere lag bloß. Sie schaute weg, starrte in ihre Geldbörse, griff einzelne Münzen und warf sie den Händen zu. Hinter sich hörte sie ihren Mann atmen.

»Geh mehr nach links«, flüsterte er ihr zu. »Nein – nach links, habe ich gesagt!«

»Bist du noch nicht fertig?« flüsterte sie zurück. »Die Münzen sind gleich alle.«

Er streckte ihr seine eigene Börse zu und trieb sie zur Eile an. Sie warf eine Münze nach der anderen. Die Bettler drängten einander weg, krochen auf den Stufen herum, schimpften und kreischten. Herta Köberle kam sich vor wie bei einer Fütterung im Zoo. Als sie es ein paarmal hinter sich klicken hörte, atmete sie auf.

»So«, sagte ihr Mann, »du kannst Schluß machen.«

Sie gab ihm seine Börse zurück. Er steckte sie wieder in die rückwärtige Hosentasche und klopfte sich die Knie ab.

»Schnell in den Wagen«, rief er. »Es ist abscheulich heiß hier.«

Aber kaum wandten sie den Bettlern den Rücken zu, als hinter ihnen ein vielstimmiges Gejammer begann, das ihnen folgte. Das nackte Kind lief ihnen nach und klammerte sich an Herta Köberles Rock. Zwei halbwüchsige Mädchen überholten sie und stellten sich ihnen in den Weg. Keuchend tappte die Alte die Stufen herunter. Zwei |18|Frauen mit einem Säugling im Arm liefen neben Kurt Köberle her und streckten die Hand nach ihm aus. Zurück blieb nur ein Mann mit verkümmerten Beinen auf einem handgezimmerten, fahrbaren Untersatz. Er lamentierte hinter den anderen her.

»Was ist das?« rief Herta Köberle verstört. »Was wollen sie von uns?«

Aber da stand schon Victor neben dem Wagen und hielt ihnen den Schlag auf. Atemlos flüchteten sie in die Geborgenheit des Wageninnern. In der Hast vergaß Herta Köberle, auf ihren Hut zu achten. Der Türrahmen streifte ihn ihr vom Kopf. Eine der Bettlerinnen bückte sich und griff danach. Aber Victor war schneller. Er schleuderte den Hut in den Wagen, schlug die Tür zu, schob sich hinter das Steuer und fuhr mit aufheulendem Motor davon. Im Rauschen der Klimaanlage ging das Geschrei der Bettler unter. Durch die Heckscheibe sahen die Köberles erhobene Hände und Fäuste enttäuscht herabsinken, sahen die Bettlerschar langsam zu ihrem Platz auf den Stufen zurückkehren.

»Wir haben sie zu reich beschenkt», murmelte Kurt Köberle, lehnte sich zurück und trocknete sich die Stirn mit einem Taschentuch. »Sie sind auf den Geschmack gekommen. Sie haben gehofft, da kommt noch mehr.«

»Ich verstehe ja, daß sie betteln«, sagte sie. »Aber warum sind sie so aufdringlich? Sie können sich doch wirklich nicht beschweren: Ich habe ihnen sicher mehr als zwanzig Mark zugeworfen. Und schon das kleine Kind haben sie zum Betteln abgerichtet. Armer Bub!«

»So kannst du das nicht sehen, Herta«, sagte er. »Diese Kinder kennen ja nichts anderes.«

»Aber es war ein so hübscher kleiner Junge. Es würde |19|mir Spaß machen, ihn mal richtig zu säubern und nett einzukleiden.«

»Du hast Ideen«, murmelte er.

»Ein Glück, daß es bei uns daheim keine Bettler gibt«, sagte sie. »Man könnte ja keinen gemütlichen Schaufensterbummel mehr machen. Entweder hätte man dauernd ein schlechtes Gewissen, oder man müßte immerzu die Geldbörse zücken. Aber davon würde man selbst arm.«

»So eine Armut, daß es überall von Bettlern wimmelt, wird es bei uns nie mehr geben«, sagte er. »Diese Zeiten sind vorbei. Außerdem sind wir ein ganz anderer Menschenschlag. Wir sind Europäer. Mitteleuropäer. Vergiß das nicht. Wir sind viel zu tüchtig, als daß wir’s in unserer Wirtschaftspolitik so weit kommen ließen.«

»Meinst du?« fragte sie mit einer Stimme, die Zweifel verriet.

 

Sie kamen an Tennisplätzen, an Schwimmbädern, an Schulen und Parkanlagen vorüber. Es war ein großes Viertel. Nach einer Kreuzung, auf der lebhafterer Verkehr herrschte, wurde Victor unruhig. Er drehte an Knöpfen, verstellte Hebel, fuhr schließlich langsamer.

»Kurt«, sagte Herta Köberle, »was ist das? Ich höre plötzlich Hunde bellen. Überall bellen Hunde. Bis jetzt haben wir doch auf dieser Fahrt keine Hunde bellen hören?«

»Du hast auf das Gebell bisher nur nicht geachtet«, antwortete er.

»Hör doch«, sagte sie mit vorgeneigtem Kopf, »das ganze Viertel scheint voller Hunde zu sein –«

»Hier kann man sich eben Hunde leisten. Ernesto hat ja auch zwei – und was für welche!«

|20|»Es wird alles viel lauter draußen, fällt dir das nicht auf?« rief sie.

»Mir fällt nur auf, daß es hierdrin stickiger wird«, sagte er und wischte sich das Gesicht trocken.

Da wandte sich Victor um und sagte: »Die Klimaanlage ist ausgefallen. Wir müssen umkehren, Sir. Es tut mir leid.«

»Also an der Klimaanlage hat’s gelegen«, sagte sie. »Sie rauscht nicht mehr. Das erklärt alles.«

Ein Eselskarren hielt den Verkehr auf. Ein Polizist schrie den Mann an, der den Esel führte. Kurt Köberle hob die Kamera, ließ sie aber wieder sinken. Schweißtropfen rannen ihm über die Schläfen.

»Kurbeln Sie die Scheibe herunter, Sir«, sagte Victor, »dann kühlt der Fahrtwind.«

Kurt Köberle ließ seinen Arm aus dem offenen Wagenfenster hängen. Das kühlte angenehm, während sie fuhren.

Sie hielten in einer Einbahnstraße, an der Mündung in eine belebte Avenida, dicht am Bürgersteig. An der Ecke lehnten mehrere Männer an einem Kiosk. Ein Bettler kauerte in der Nische eines Ladeneingangs, ein Zeitungsverkäufer schrie Schlagzeilen heraus.

»Dort drüben liegt das Präsidentenpalais«, sagte Victor. »Es ist gerade Wachablösung.«

Zwischen den vorüberpreschenden Wagen konnte das Ehepaar nur Bruchstücke des militärischen Schauspiels erspähen.

»Den Engländern abgeguckt«, sagte Kurt Köberle abschätzig.

Plötzlich schrie er auf und stürzte mit der Kamera um den Hals aus dem Wagen.

|21|»Die Uhr!« brüllte er. »Jemand hat mir meine Armbanduhr vom Handgelenk gerissen! Pack, elendes!«

Er fuchtelte empört mit den Armen.

»So tun Sie doch was!« schrie er Victor an, der hinter dem Steuer sitzengeblieben war.

»Tut mir leid, Sir«, antwortete Victor. »Da ist nichts zu machen. Die Schuld liegt bei mir. Ich hätte Sie darauf aufmerksam machen müssen, daß man den Arm nicht aus dem Wagenfenster halten darf.«

»Rufen Sie die Polizei!«

»Das hätte keinen Zweck. Die Stadt ist voller Diebe. Wegen einer gestohlenen Armbanduhr würde nicht einmal ein Protokoll aufgesetzt.«

»Dann rennen Sie

»Dann parken Sie den Wagen um die Ecke, verdammt noch mal!« schrie Kurt Köberle mit krebsrotem Gesicht. »Sie müssen hinter dem Kerl her!«

Hinter ihnen wurde immer lauter gehupt.

Als Victor wieder in die Einbahnstraße einbog, sah Herta Köberle ihren Mann von Schaulustigen umringt.

 

|22|

»Sie verstehen doch kein Englisch, Kurt!« rief sie.

Jemand kicherte.

»In welche Richtung ist er gelaufen?« rief Kurt Köberle ungeduldig. »Ich zahle eine gute Belohnung!«

»Bitte, Sir«, raunte ihm Victor zu, »bitte, sehen Sie ein, daß das alles keinen Zweck hat. Der Dieb ist längst über alle Berge.«

»Wie sah der Mann aus?« fragte Victor die Gaffer.

»Worüber lachen sie?« fragte Kurt Köberle unwirsch.

»Also war’s eine Frau?« fragte Kurt Köberle überrascht. »Ich bilde mir ein, ich hätte einen Mann gesehen –«

|23|»Was hat er gesagt?« fragte Kurt Köberle.

»Kein Mann, keine Frau – soll das ein Witz sein?« donnerte Kurt Köberle. »Die stecken ja alle unter einer Decke! Die machen sich noch lustig! Ein Scheißland ist das, ein verdammtes!«

 

Herta Köberle sah ihren Mann gestikulieren und hörte ihn schreien. Sie riß den Schlag auf, stürzte hinaus und schob die Gaffer beiseite.

»Aber es geht ums Prinzip!« schrie Kurt Köberle.

 

»Daß es so was gibt«, keuchte er immer wieder. »Auf offener Straße, und alle schauen zu, ohne einzugreifen!«

|24|»Ich fahre mit«, sagte Kurt Köberle.

»Aber er kennt meine Uhr nicht«, sagte er und fügte, zu Victor gewandt, auf englisch hinzu: »Sie kennen ja meine Uhr gar nicht.«

»Aber wird man sie Ihnen denn so ohne weiteres herausgeben?« fragte sie erstaunt.

»Wollen Sie mir sagen, daß ich meine eigene Uhr vom Dieb zurückkaufen müßte?« fragte Kurt Köberle ungläubig.

»Halte du dich ganz heraus«, sagte sie hastig. »Laß mich das allein mit Victor erledigen.«

»Aber krank.«

hinteren Tür, die in den Garten führte. Es überquerte den Rasen zur Terrasse hin. Im Eßzimmer war schon der Tisch gedeckt.

»Herta«, sagte er, »sie haben mir auch meine Geldbörse gestohlen –«