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Nr. 2671

 

Das Weltenschiff

 

Der Plan des Konstrukteurs – und der Tod eines Zwergandroiden

 

Christian Montillon

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1470 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5057 christlicher Zeitrechnung. Das heimatliche Solsystem ist vor mehr als drei Monaten spurlos von seinem angestammten Platz im Orionarm der Milchstraße verschwunden.

Damit die Liga Freier Terraner nicht ins Chaos sinkt, werden eine neue Regierung und ein Zentralplanet gewählt. Neuer Erster Terraner wird Arun Joschannan – und er muss sich gegen die Infiltrationen durch die Truppen der negativen Superintelligenz QIN SHI zur Wehr setzen.

In der weit entfernten Galaxis Escalian, dem »Reich der Harmonie«, ist QIN SHI ebenfalls am Werk und versucht dort eine Invasion. TANEDRAR, die in Escalian heimische Superintelligenz, hat die Gefahr erkannt. Sie beauftragt den Terraner Alaska Saedelaere damit, ihr zu helfen.

Gemeinsam mit dem Zwergandroiden Eroin Blitzer begibt sich Alaska auf die Suche nach dem geheimnisvollen Konstrukteur Sholoubwa. Als er ihn endlich erreicht, erweist sich dieser zunächst als nicht besonders kommunikationsbereit. Sholoubwa arbeitet an etwas, das er den »Freien Raum« nennt – und dazu benötigt er auch DAS WELTENSCHIFF ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Sholoubwa – Der Konstrukteur strebt nach dem Freien Raum.

Alaska Saedelaere – Der Maskenträger versucht, Fremden zu helfen.

Eroin Blitzer – Der Zwergandroide muss Entscheidungen treffen.

Julisch – Der Planetenbewohner trifft einen Fremden von den Sternen.

»Was auf rein biologische Weise lebt, werde ich nie verstehen.

Es ist so erhaben und zugleich so beschränkt.«

– Laire zugeschrieben –

 

 

1.

 

Eine Flammenspur raste über den Himmel, zerplatzte und regnete als tanzender Feuerfall herab.

Der Zwergandroide Eroin Blitzer legte den Kopf in den Nacken und starrte aus großen schwarzen Kinderaugen in die Höhe. »Ein Asteroid ist in der Atmosphäre zerbrochen.«

»Der Einschlag wäre sonst verheerend gewesen«, sagte Alaska Saedelaere matt. Er blickte über das leicht hügelige Grasland des Planeten, den er der Einfachheit halber wie das Sonnensystem Nahroin nannte. Eine plötzliche Windböe fuhr ihm ins Gesicht. Darin trieb Staub, der ihn zum Niesen reizte.

Das eintönige Gras rundum sah aus, als habe man es mit einem Messer bearbeitet – unwirklich spitz und scharf. Es knisterte im sanften Wind. Das Geräusch bohrte sich in das Gehör des Terraners, und wenn er auftrat, wurde es jedes einzelne Mal lauter. Es zehrte an seinen Nerven.

Am liebsten hätte er alles hingeworfen. Aufgegeben. Die Suche nach Samburi Yura schien ohnehin in einer Sackgasse angekommen zu sein.

Die letzten Stunden hatten ihn in jeder Hinsicht mitgenommen. Er hatte ein ganzes, unfassbares Leben in Ausschnitten miterlebt – die Existenz des Konstrukteurs Sholoubwa, der tatsächlich nur ein spezieller Roboter war, eine hoch entwickelte Positronik und doch weit mehr als das. Alaska Saedelaere waren kleine Abweichungen gegenüber jenem Bericht aufgefallen, den Nikomus Neuntau zuvor über seine Begegnungen mit Sholoubwa abgegeben hatte. Vielleicht hatte sich das Erinnerungsvermögen des greisen Zwergandroiden in der langen Zeit der Einsamkeit verwirrt. Vielleicht hatte Neuntau sich die Dinge auch einfach so zurechtgelegt, wie sie ihm am besten gefielen. Dass ein Roboter wie der Konstrukteur sein eigenes Gedächtnis manipuliert hatte, wollte der Maskenträger nicht glauben.

Der Feuerfall erlosch bis auf wenige Funken, die in weiter Ferne harmlos niedergingen. Die Rauchspuren am Firmament sahen aus wie schwärende Wunden. Nur langsam lösten sie sich auf, an anderen Stellen entstanden neue.

Der Himmel über Nahroin kam nicht zur Ruhe. Es war, als spiele sich dort ein Kampf auf Leben und Tod ab. Auf makabre Weise entsprach dieses Bild sogar der Wahrheit. Es ging um die Existenz oder den Untergang des Planeten und des gesamten Sonnensystems.

An den Anblick des brennenden oder rauchenden Firmaments waren die beiden einsamen Wanderer inzwischen gewöhnt – wenn sie ihm auch nur seltene, beiläufige Blicke gönnten, so beeindruckend das Naturschauspiel sein mochte. Andere Dinge beschäftigten sie, seit sie Einblick erlangt hatten in das Leben und den in vielen Einzelheiten makabren Werdegang Sholoubwas.

Alaska Saedelaere zog Eroin Blitzer weiterhin auf einer Trage durch das ausgedehnte, augenscheinlich endlose und leicht hügelige Grasland Nahroins. Es wirkte bedrückend auf den Maskenträger, er kam sich verloren vor, als wäre er nicht mehr als ein Grashalm dieses Meeres.

In gewisser Weise war er genau das.

Die Wunde des Zwergandroiden verheilte nur langsam. Sie nässte nach wie vor, durchweichte den Stoff seiner Oberkleidung und schien sich sogar eitrig zu entzünden. Der primitiv gearbeitete Speer eines Planetenbewohners hatte Blitzer gestreift, ehe die Waffe Nikomus Neuntau durchbohrt und getötet hatte.

Der Terraner und sein Begleiter waren seit vielen Stunden unterwegs, zurück zu Sholoubwas Pyramidenthron inmitten des geschützten Positronikwalds. Von dort hatte der Konstrukteur sie mit einem Transmitterfeld entfernt und in dem offenen Grasland ausgesetzt, wo es zu dem zufälligen Zusammenstoß mit den Einheimischen gekommen war, der für Neuntau tödlich geendet hatte.

Wobei sich Alaska fragte, ob es sich tatsächlich um einen Zufall gehandelt hatte. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr wuchs die Überzeugung, dass sie ganz bewusst in exakt jenem Moment an exakt jenen Ort versetzt worden waren. Ein Anschlag auf Neuntaus Leben wirkte wie eine elegante Art, ihn zu beseitigen.

In Hinblick auf diese Präzision zollte Alaska Sholoubwa – dem Mörder – widerwillig Respekt. Der Konstrukteur hatte damit eine perfekte Beobachtungsgabe und Berechnung bewiesen; zwar eiskalt, aber woher sollte eine bloße Positronik, egal wie weit entwickelt sie sein mochte, Skrupel oder ein Gewissen kennen?

Mittlerweile musste Saedelaere trotz des Zellaktivators seine ganze Kraft einsetzen, um die Trage weiterziehen zu können. Er zerrte sie seit einer gefühlten Ewigkeit in Richtung der Energiekuppel am Horizont, unter der Sholoubwas Positronikwald lag – und wo sich der Konstrukteur aufhielt, den sie suchten. Dass sie ihn ausgerechnet auf einem halb zerstörten, von einem Volk auf niedriger Entwicklungsstufe bewohnten, abgelegenen Planeten finden könnten, hätte Saedelaere vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten.

Inmitten der eigenartigen Anlage voller monolithischer Positroniksteine residierte Sholoubwa auf seinem Thron. Er führte unbegreifliche Experimente durch, die das gesamte Sonnensystem auf radikale Weise zerstörten. Der Roboter versuchte seinen eigenen Worten nach, den Freien Raum zu konstruieren, was immer das bedeuten sollte. Eine Erklärung zu diesem Schlagwort hatte er nicht mitgeliefert ...

Lärm tönte mit einem Mal über die Ebene; die Geräusche hastig trampelnder Schritte, gefolgt von einem schrillen Tröten, das den Terraner unwillkürlich an eine verstimmte Trompete oder an die eine oder andere Begegnung mit einem missgelaunten Zwergelefanten erinnerte. Es schmerzte in den Ohren.

»Hinter dem Hügel geschieht etwas, Alraska.« Eroin Blitzer wies geradeaus, wo eine sanft geschwungene, nicht einmal zehn Meter hoch aufragende Anhöhe ihnen die Sicht auf alles verwehrte, was dahinter lag. »Geh! Sieh es dir an.«

»Aber du ...«

»Geh! Ich komme zurecht!« Er klang bestimmt und verschränkte die kleinen Arme vor der Brust; eine Geste, die er wahrscheinlich seinem terranischen Begleiter abgeschaut hatte. Womöglich war sie ihm inzwischen tatsächlich in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie quasi automatisch anwandte.

Saedelaere legte die Trage ab. Er ging mit forschen Schritten voran, den Hügel hinauf. Der Lärm nahm zu. Als der Maskenträger die Kuppe erreichte, sah er hinab auf ein Dutzend gedrungene Tiere, die aus einem Rüssel trötend und mit jeweils mindestens zehn Beinen über die Ebene stampften. Sie mochten knapp einen Meter groß sein. Einer der humanoiden Planetenbewohner rannte hinter ihnen her und schwang dabei wild die drei Arme. Er war bis auf einen quer über die Brust gespannten Fellgürtel nackt.

Das Bild sprach für sich selbst; offenbar floh die kleine Herde vor diesem Mann. Nur – wo waren sie hergekommen? Hatte er sie zuvor als Nutztiere gehalten? Oder versuchte er sie überhaupt zum ersten Mal einzufangen?

Der Terraner entdeckte einige Meter unter sich eine Öffnung; einen Eingang, der in eine Höhle im Hügel führte. Die Tiere entfernten sich weiter in einer Stampede, der Humanoide rannte ihnen nach. Er passierte einen Baum mit dunklen Blättern und leuchtend roten Früchten in der oberen Hälfte der Krone; danach entschwand er Saedelaeres Blicken.

Die Höhle schien verlassen. Alaska ging hinein.

Im Inneren stank es. Exkremente lagen auf dem Boden; augenscheinlich eine Wohnhöhle, die zugleich als eine Art Stall diente. In einer Ecke lag ein Fell auf einem Berg von Laub, dabei handelte es sich wohl um die Schlafstätte des Humanoiden. Davor stapelten sich angebissene Reste von fahlgrünem Obst. Insekten krabbelten darüber. Ein summendes, an eine winzige Libelle erinnerndes Tier flog von einem Rest zum nächsten.

Obwohl die Bewohner dieses Planeten auf einer geringen Entwicklungsstufe standen, fühlte sich Saedelaere mit ihnen verbunden. Während einer Realitätsverschiebung, einer Folge von Sholoubwas unverständlichen Experimenten in diesem Sonnensystem, war Alaskas Bewusstsein mit einem dieser Wesen verschmolzen.

Kurzzeitig hatte er durch dessen Augen gesehen und dessen Gedanken gedacht. Wenn er die Lider schloss und die Stimmung auf sich wirken ließ, glaubte er, nicht nur eines, sondern ein ganzes Dutzend Leben auf diesem Planeten verbracht zu haben.

Alaska atmete den Gestank der Höhle und fühlte sich völlig fehl am Platz. Er war ein Fremdkörper auf dieser Welt, in die bereits ein anderer Fremder gekommen war, um sie zu beuteln – Sholoubwa, der robotisch-positronische Konstrukteur, der diese Welten auslaugte und zerstörte. Dabei ging er mit absoluter Rücksichtslosigkeit vor. Was sollte ihn daran hindern? Ein Gewissen jedenfalls ganz sicher nicht, so viel konnte Alaska mittlerweile sagen.

An den Wänden fand Saedelaere einfache Zeichnungen, die offenbar in das Gestein gekratzt worden waren. Er musterte sie, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Sofort tauchten die Bilder wieder vor seinen Augen auf. Die ... Erinnerungen.

Der Terraner durchlebte erneut all die Empfindungen der Zeit, während der er mit dem Bewusstsein eines der Planetenbewohner verschmolzen war. Direkt vor ihm, in den Stein gekratzt, sah er die einfache, simple Darstellung dessen, was er auf diesem indirekten Weg hatte miterleben müssen.

Wie ein Raumschiff landete und ihm Roboter entströmten – was die primitiven Bewohner nicht verstehen konnten. Es war der Beginn der Zerstörungen gewesen, die Sholoubwa über dieses Sonnensystem brachte.

Wie die riesigen Maschinenkolosse über die bis dahin unberührte Landschaft zogen und alles einebneten, die Natur zerstörten.

Wie Gruppen von Einheimischen gegen diese Monster kämpften, aber keinerlei Chance hatten, die Giganten aus Stahl und Metall mit ihren Speeren und Äxten zu besiegen.

Alaska hörte etwas hinter sich, erahnte eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Er drehte sich um.

»Wer bist du?«, fragte eine dürre Gestalt mit großen, kugelrunden Augen.

Saedelaere wunderte sich nur kurz darüber, dass er die Worte überhaupt verstand. Die Sprache der Planetenbewohner war zu einem Teil seiner Erinnerungen geworden. Er war einer von ihnen gewesen, in einer verschobenen Realität, die als Folge von Sholoubwas Experimenten wie ein Störfeld durch das System und über den Planeten wanderte.

»Ich bin hier, um euch zu helfen«, antwortete er und fragte sich, ob es der Wahrheit entsprach. Konnte er am scheinbar unausweichlichen Schicksal dieses Volkes etwas ändern? Deswegen war er zwar nicht auf diese Welt gekommen, aber das sprach ihn nicht davon frei, es wenigstens zu versuchen. Sholoubwas Experimente rissen alles in den Untergang. Jeder einzelne der Planetenbewohner schien dem Tod geweiht.

Der dürre Humanoide starrte ihn an. Seine drei Arme streckten sich dem Besucher entgegen, er richtete den leicht gekrümmten Rücken mühsam weiter auf; Saedelaere verstand, was er damit zum Ausdruck brachte. Angst.

»Helfen?«, fragte der Planetenbewohner. »Du bist einer, der den Sternen entstiegen ist, die vom Himmel gefallen sind. Du bist nicht wie ich. Du bist anders.«

»Ich bin ein Fremder«, gab Alaska mit ruhiger Stimme zu. »Aber ich bin auch nicht wie die, die deine Welt zerstören.«

»Du gehörst nicht zu den Fressern?«

Der Terraner bestätigte das und suchte nach beruhigenden Worten. »Trägst du einen Namen?«, fragte er schließlich. Er zögerte kurz. »Ich heiße Alraska«, nannte er danach die leichte Abwandlung, die Eroin Blitzer stets nutzte, aus Gründen, die Saedelaere noch immer nicht verstand.

»Alraska«, wiederholte der andere. Sein Gesicht war ausgeprägt flach, die Nase kaum mehr als eine winzige Erhöhung. Sein Atem ging mit einem Mal ruhiger als zuvor. »Ich bin Julisch.«

»Dir sind deine Tiere entflohen«, sagte Alaska.

»Hast du sie weggejagt?«

»Nein.«

»Wirst du mir helfen, sie wiederzufinden?«

»Nein. Aber ...«

»Wenn du das nicht kannst, geh! Ich habe dich nicht gebeten zu kommen.« Julisch ging ungerührt an Saedelaere vorbei zu dem Fell auf dem Blätterbett und legte sich darauf. Er griff nach einem Obstrest, schüttelte die Insekten ab, schaute ihn sich an, verzog das Gesicht und warf ihn wieder weg.

Einige Sekunden lang stand Alaska unschlüssig da, ehe er die Höhle verließ. »Ich werde euch helfen«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Euch allen.«

Er ging zu Eroin Blitzer, der noch immer auf der Trage lag, und hob sie an. Wortlos marschierte er los, in Richtung der Energiekuppel, unter der Sholoubwa residierte. Es gab Fragen zu klären, und diesmal würde er sich nicht abwimmeln lassen. Weder mit Worten noch mit einem Transmitterfeld.

 

 

Gedanken aus

Sholoubwas Positronik

 

Der Blick vom Thron auf der Spitze meiner Prozessor-Pyramide reicht weit, aber er ist beschränkt. So wie ich. So wie mein Denken. Mein Rechnen.

Viele organische Wesen sind gezwungen, zur Aufrechterhaltung ihrer visuellen Sinneseindrücke die dazu erforderlichen Augen mit einem Feuchtigkeitsfilm zu versehen. Das wird mit dem Öffnen und Schließen von Lidern bewerkstelligt.

Information: Dieser Lidschlag ist in einer mannigfaltigen Anzahl von Kulturen das Synonym für eine extrem kurze Zeitspanne. In einem solchen Augenblick konnte ich einst die Statik einer Brücke über einen Hunderte Kilometer umfassenden Ozean fertigstellen und zugleich den Weg einer Raumschiffsflotte über Äonen berechnen. Das ist nicht mehr möglich.

Ich bin eine Positronik. Ich fühle den Schmerz dieses Verlustes nicht, wie ihn Organische fühlen würden. Aber ich dokumentiere ihn. Jede Millisekunde und jeder Zugang zu meinen Memosektoren beweist mir, dass ich nun minderwertig bin. Das ist nicht akzeptabel.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es während meiner Existenz und unter den Umständen meiner Entwicklung so weit hat kommen können, beträgt 0,97 Prozent. Mein Schöpfer hätte es in seiner typisch biologischen Beschränkung nicht für möglich gehalten. Dennoch ist genau dieser Fall eingetreten.

Ich muss es ändern, denn es hinzunehmen ist ebenfalls nicht akzeptabel. Meine Programmierung steckt in einer Schleife, die immer wieder mit bohrender Unausweichlichkeit zu diesem Ergebnis führt.

Es lähmt mich, und es fordert zu viel von den Resten meiner einstigen Genialität. Mein schöpferischer Funke ist erloschen. Als die Hyperimpedanz anstieg, eine grundlegende Konstante des Universums, verlor ich mein Selbst. Ich wurde reduziert auf das, was ich nun bin:

Ein Nichts.

Eine Positronik wie Milliarden andere. Nur eins unterscheidet mich noch. Meine Erinnerungen; mein Speicherinhalt. Die bereits abgeschlossenen Projekte, die ich an vielen Orten im Kosmos vollbrachte und die von meiner Genialität zeugen.

Aber nun hat sich alles verändert. Ich muss neue Variablen in die quälend langsamen Rechenprozesse einbringen.

Denn drei Wesen waren in meine Prozessorbasis eingedrungen und bis zu meinem Thron gekommen, ehe ich sie mit einer Transmitterschaltung versetzt habe. Ich muss die beiden Überlebenden in eine Neuberechnung der voraussichtlichen weiteren Entwicklung der Dinge einbeziehen.

Eine dieser Kreaturen kannte ich; inzwischen ist sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,54 Prozent tot. Damit habe ich meinem ehemaligen Piloten Nikomus Neuntau einen letzten Wunsch erfüllt. Er wird es wohl als sentimentale Anwandlung aufgefasst haben. Mit dieser Einschätzung täuschte er sich. Wie so oft. Ich handelte aus reiner Logik heraus, denn dieser lästige Zwergandroide hätte mir und meinen Plänen gefährlich werden können. Er hat seine nützlichen Tage weit hinter sich gelassen.

Die zweite Person ist Neuntau ähnlich, ein Kunstgeschöpf wie er, von gleichem Äußeren. Schon deshalb schätze ich ihn als nicht vertrauenswürdig ein. Ein Sklave der Kosmokraten. Was soll man von ihm erwarten? Berechne ich alles ein, was die Vergangenheit mich lehrte, so spricht das Ergebnis gegen ihn. Es ist sogar möglich, dass er sich als Agent der Hohen Mächte entpuppen wird.

Am interessantesten ist das dritte Wesen, eine humanoide Erscheinung, die sämtlichen Bewertungsmaßstäben nach nicht aus Escalian stammt, obwohl es eine Maske über dem Gesicht trägt. Er hat mich nach der Frau Samburi Yura gefragt; um sie zu finden, ist er gekommen. Ein großes Ziel, doch es entspricht seiner Natur, wie ich sie erkannt habe.

Er sieht sich als kosmisches Lebewesen, und in der Tat ist er kein gewöhnlicher Sterblicher, was schon eine erste Abtastung seiner Biodaten und ein Scan seiner höherdimensionalen Bewusstseinskomponenten ergeben haben. Er ist ein komplexes Individuum, das von vielen höherwertigen Entitäten berührt worden ist. Ein Wesen voller Widersprüche.

Dieser Mann ist gefährlich. Aber womöglich kann er mir helfen. Ich habe Erfahrung mit biologischen Lebensformen dieses Niveaus. Man muss sie mit Vorsicht behandeln, aber wenn man es richtig angeht, können sie nützlich sein.

Diese Besucher haben die Situation verändert. Sie zwingen mich, die Parameter der Wahrscheinlichkeitsberechnungen der unmittelbaren Zukunft neu zu bestimmen.

Ich werde die Fremden für meine Zwecke benutzen. Es dauert lange, den korrekten Weg mit den größten Erfolgsaussichten zu finden. Damals, als ich noch ein kreativer, schöpferischer Konstrukteur war, hätte es weniger als einen Lidschlag in Anspruch genommen.

Aber es kann wieder so sein.

Bald.

2.

 

Alaska Saedelaere zog die Trage weiter, den Hügel hinauf und näher zu Sholoubwas Energiekuppel.

Der Zwergandroide kannte ihn inzwischen gut genug, um ihn seinen Gedanken zu überlassen und ihn nicht zu stören. Die Begegnung mit Julisch hatte in dem Terraner nicht nur Mitleid entfacht und den Wunsch zu helfen, sondern auch bodenlosen Zorn, in einem Maß, wie er ihn sonst nicht empfand.

Ist es der Splitter?, fragte er sich bange. Beeinflusste ihn TANEDRARS winziges Bruchstück auf einer fast unterbewussten Ebene, indem es seine Gefühle manipulierte?

Er hatte bereits vorher gewusst, welche Katastrophe Sholoubwa quasi im Vorübergehen anzettelte, wahrscheinlich, ohne es auch nur zu merken – doch nun hatte er es verstanden. Er fühlte die Konsequenzen für die Bewohner dieser Welt, für ein junges, unschuldiges Volk.

Die Erkenntnis war vom Kopf in sein Herz gerutscht ... eine Strecke, die kaum zwei Handspannen in Anspruch nahm, die aber weiter sein konnte als die Millionen Lichtjahre, die ferne Galaxien voneinander trennten.

Saedelaere fand keine Antworten auf die Fragen, die ihn umtrieben. Seine Gefühle verwirrten ihn.

»Alraska?«

Der Maskenträger zuckte zusammen; einen Augenblick hatte er geglaubt, Julisch hätte ihn angesprochen. »Was ...«

»Du trägst Wut in dir.«

Instinktiv wollte er widersprechen, abwiegeln – aber er entschied sich dagegen.