Rafael Ángel Herra

Der böse Erfindergeist

Übersetzung aus dem Spanischen:
Hans Jürg Tetzeli von Rosador

Editorial Costa Rica

„Im Anfang gab es keine Erzählungen. Ein Mann saß am Fluss und sah das Wasser vorüberfließen.“

Der Geist Aldebaran erzählt die gleiche Geschichte, die sich unaufhörlich wiederholt und sich dennoch verändert, sooft er sie erzählt: Ein Mann wartet am Fluss … Dieses Warten ist dramatisch und voller Überraschungen.

Aldebaran spricht zum Hund Diogenes, der mehr als nur ein Zuhörer sein wird.

Diogenes ist (wie sein Vorgänger Perropinto in dem Roman El genio de la botella, Der Geist in der Flasche) schlau und schelmisch und Komplize aller Geschichten, die Aldebaran erzählt.

Für Elke und Wolfgang

Für Marlies und Juan

Dank ihrem Zuhören

Aldebaran nahm die Feder und machte sich ans Schreiben. Sich nach Lust und Laune Geschichten zu erzählen, war das beste Mittel gegen die Einsamkeit. Seit den fernen Tagen, als die Erzählkunst noch nicht existierte, war er in den Grenzmarken der Fiktion als böser Geist bekannt, und nicht deshalb, weil er in einer Flasche eingeschlossen lebte und lästerte, sondern wegen der Tollheit seiner Geschichten. Er lernte, sich am Missgeschick anderer zu erfreuen, selbst wenn es erfunden war, um nicht am eigenen zu leiden. Dieser hoffnungslose Einschluss hatte ihm den Zugang zur Welt versagt, die deshalb nicht existierte. Die Fiktionen waren eine Form, die Welt zu erfinden. Sie zerstreuten ihn und linderten die Schmerzen, welche die Strafe verursachte. Vielleicht würde ihm an einem glücklichen Morgen eine von ihm erfundene Person helfen, den Korken zu ziehen. Die Welt könnte nur aus diesen Erzählungen geboren werden, und der Befreier wäre ein Teil davon. Wenn es ihm nicht gelänge zu entfliehen, hätte er sich wenigstens mit seinen Fabeln bereichert.

An jenem Nachmittag der Erfindung ersann er die erste Erzählung, aber er schrieb nichts, noch konnte er sie laut vortragen, nicht einmal einen Buchstaben zeichnete er. Er klopfte sich mit den Fingern an die Schläfe, drehte die Seite um und schloss das Tintenfass. Die Seite, die in das Heft mit den Fiktionen einführen sollte, blieb leer.

Als er die Feder beim Anbruch der Morgenröte erneut ergriff, verstand er den Ursprung seiner Zweifel. Der Grund war ganz einfach: Bevor er begann, sich Geschichten zu erzählen, musste er eine Person erfinden, die erste in dieser trostlosen Welt, die ihm zuhören würde. Die wichtigste Erfindung meiner Geschichten, sagte er sich, würde den Fabeln ihr Ohr leihen und sogar wagen, sie auf ihre Weise zu erzählen. Dank ihrem Zuhören werde ich glücklich sein.

An diesem Morgen, würdig in den Chroniken der Welt aufgezeichnet zu werden, wurde die Erfindung von Diogenes, dem Hund, der zuhört, auf die zweite Seite des großen Buches geschrieben.

Diogenes öffnete die Augen und sagte, sich schüttelnd und die Ohren aufstellend:

„Erzähle mir eine Geschichte!“

Aldebaran antwortete, ohne überrascht zu sein:

„Ich werde dir die erste Geschichte erzählen.“

Im Anfang gab es keine Erzählungen

Im Anfang gab es keine Erzählungen. Ein Mann saß am Fluss und sah das Wasser vorüberfließen.

Der Geist verstummte. Diogenes war ungeduldig, stand auf, drehte sich im Kreis, kratzte sich, ging auf und ab, bis er sich entschloss, die Stille unterbrechend zu sagen:

„Was du gesagt hast, Geist, ist keine Erzählung, weil nichts passiert und sich nichts verändert. Wenn es nirgends eine Geschichte gibt, bringt uns die Langeweile um. Fang noch einmal an, beeile dich, sprich, bewege die Zunge, erfinde, sag an, erfinde, was gerade passiert, und sieh zu, dass etwas passiert.“

Aldebaran sah ihn mit weit geöffneten Augen und gerunzelter Stirn nachdenklich an und stellte dann, nachdem er wie eine Sphinx streng geschwiegen hatte, eine Regel auf:

„Wenn nichts geschieht, gibt es keine Erzählung.“

Das Gesagte zum ersten Mal und mit unerbittlicher Miene anwendend, begann er von neuem und sprach auf diese Weise:

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Vielleicht dachte er an einem Freudentag an den Tod

Ein Mann, der am Fluss saß, beobachtete und zählte die Jahre. Er hatte Geduld, seine Geduld war so groß wie der Strom, der unermüdlich floss. Er wartete. Vielleicht würde er an einem Freudentag die Leiche seines Feindes auf den Wassern treiben sehen. Die Möglichkeit, diesen leblosen Körper vor seinen gierigen Augen zufällig zu entdecken, verkürzte ihm das Warten. Der Strom floss dahin.

„Halte nicht ein, Aldebaran.“

„Warum sollte ich einhalten? Ich mache nur eine Pause, um den Rest der Geschichte zu erfinden, und du Tor unterbrichst mich.“

„Fahre fort, fahre fort, ich möchte dein Werk nicht zerstören.“

Nun geschah es, dass der Mann, während er die Jahre zählte, an den Tod dachte. Ob seine Gedanken die späteren Ereignisse bewirkten, weiß ich nicht; dagegen kann ich versichern, dass auf das Wort ‚Tod‘ die Anwesenheit des Todes folgte. Wäre es nicht so gewesen, wie sollte man die vor seinen Augen vom Fluss fortgerissene Leiche erklären? Der Mann lächelte, als er sah, wie sie gegen die Felsen prallte und barst. Seitdem sollte dieses Lächeln Böswilligkeit heißen. Er hatte nicht vergeblich gewartet. Die Anstrengung, so viele Jahre am Flussbett geblieben zu sein, war der Mühe wert gewesen. Er ergötzte sich. Seine Freude war erbarmungslos. Bevor man sich Geschichten erzählte, existierte der Tod nicht. Vielleicht dachte der Mann an ihn, als er die kleinen Wellen des Flusses auf den Sand stürzen und zu seinen Füßen verschwinden sah. Seit der ersten Erzählung musste sich der Tod mit seinem umfassenden Unglückshauch auf das Leben werfen. Sein eigener Tod erschien ihm skandalös. Der des Feindes nicht. Der des Feindes erheiterte sein Gemüt.

„Warum Feind?“, wagte es der Hund, der mit gespannten Ohren zuhörte, überrascht zu unterbrechen.

„Wenn der, der im Wasser trieb, zu Lebzeiten bei dem Mann am Fluss gewesen wäre, hätte er ihm das Vorrecht streitig gemacht, das Wasser zu betrachten und zu warten, dass etwas geschehe.“

„Das glaube ich nicht“, sagte der Hund.

„Scheint es dir kein ausreichendes Motiv zu sein?“

„Es ist ein triviales Motiv. Du übertreibst.“

„Du irrst dich“, sagte der Geist mit bösem Lächeln. „Der Tod braucht keine starken Motive. Ich werde dir die Geschichte erzählen. Hör zu.“

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Der Tod braucht keine starken Motive

In einer unruhigen Nacht träumte der Mann, der am Fluss wartete, vom Tod: Der Tod machte ihm ein Zeichen. Als die Morgenröte anbrach, suchte er seinen älteren Bruder auf und erzählte ihm die Albträume. Da rief der ältere Bruder den Tod und schalt und verfluchte ihn, weil er den Schlaf der Sterblichen störte. Der Tod ging an ihm vorbei und sagte nichts. Tage später sah der Mann in der düsteren Abenddämmerung die Leiche seines Bruders vorbeitreiben, während er das Wasser mit forschendem Blick beobachtete.

„Die Geschichte ist nicht so.“

„Doch, mein Diogenes“, versetzte der Geist, diesmal mit prophetischer Miene. „Eine Geschichte ist das, was man aus ihr macht. Ich werde es dir in anderen Worten sagen: Irgendeine Geschichte, jede Geschichte ist das, was sie ist, durch die Form, wie sie erzählt wird. Präge dir diesen Grundsatz in deinen Schädel ein und hör schon auf, unnütz in den Wind zu bellen.“

Der Hund, der zuhörte, ohne ein Haar zu bewegen, stellte die Ohren auf und sprach und sagte mit Entschlossenheit:

„Ich werde dir die Fabel so erzählen, wie sie hunderte Jahre lang wiederholt werden wird. Danach, erst nachdem du sie gehört und mit ihr gespielt hast, kannst du sie nach Lust und Laune umformen. Jetzt werde ich sehen, ob du zuhören kannst. Sie geht so und so wird sie zu deinem Gedächtnis sein, Aldebaran, weil du danach strebst, der Erzähler aller Erzählungen zu sein, die eine einzige Erzählung sind.“

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Eine Geschichte ist das, was man aus ihr machen will

Ein mutiger Krieger, der mutigste aller Krieger, erscheint vor seinem Herrn und sagt, sich ihm zu Füßen werfend: „Heute habe ich den Tod auf dem Schlachtfeld gesehen. Kaum hatte ich ihn gesehen, als er mir ein Zeichen gab.“ „Beunruhige dich nicht“, antwortete ihm der Herr, „flieh, spring auf mein Pferd und eile, dich in der geliebten Stadt zu verstecken.“ Der mutige Krieger galoppierte davon, und sein Herr rief den Tod, um ihn zu schelten. Der Tod antwortete ihm mit fröhlicher Stimme: „Mach dir keine Sorgen um ihn. Unsere Verabredung ist morgen in der geliebten Stadt.“ Aber der fliehende Krieger weicht, das Unglück vorausfühlend, vom Wege ab, überquert die düsteren Schlachtfelder und kommt zum Strom, wo er sich zum Warten niederlässt. Warum spannt er die Muskeln an, den Körper gebeugt, den Ellbogen auf dem Knie, das Kinn auf der Faust der rechten Hand, die Augen in der Strömung verloren?

Der Mann wartet nicht vergeblich. Auf den Wassern treibt ein Körper. Es ist die Leiche seines Herrn. Der Tod hat triumphiert.

Der Geist war ungeduldig. Er sagte:

„Und wie geht es jetzt weiter? Deine Erzählung lässt uns ohne Abschluss zurück. Sie ist unnütz. Und auch ungerecht, denn der Herr war loyal zu seinem Soldaten.“

„Höre gut zu“, entgegnete der Hund, „die Geschichte verschweigt viele Dinge; sie sagt nicht, wer den Herrn verurteilte. Sie berichtet auch nicht, dass der Herr sein Vater war; und er war es auch, da ich es so erzähle. Als er vor dem Tod floh, verurteilte der Krieger seinen Vater endgültig zum Tod, und er wusste es. Als er beschloss, an den Wassern zu warten, beschwerte ihn ein großer Schmerz im Herzen, von dem er nicht wusste, ob die Wasser ihn wegwaschen könnten.“

„Du hast recht, Diogenes, die Geschichte sagt nicht, wer den Herrn zum Tode verurteilte. Es war umgekehrt. Als der Vater dem Krieger sein Pferd gab, schickte er ihn dorthin, wo ihn der Tod erwartete. Ohne es zu wissen, entschied der Vater, ihn zu verurteilen. Vergiss das nicht: In den heiligen Büchern werden die Väter ihre Kinder in den Tod schicken. Dann werden sie sich an den Fluss setzen, um zu warten.“

„Ich weiß es sehr wohl, Aldebaran: Die heiligen Bücher sind die Werke herzloser Geister.“

„Dank ihrer gibt es auch redselige Hunde wie dich.“

„Beklage dich nicht. Ich höre dir zu, ich begleite dich.“

„Deine Frechheit verstört mich. Ein Wimpernschlag und ich vernichte dich; aber nein, ich werde es nicht tun: Es würde mir genügen zu wünschen, dich zu vergessen. Du wirst so lange existieren, wie du meiner Erinnerung angehörst.“

„Das wird dir nichts nützen, Geist. Jetzt achte auf das, was ich dir sagen werde:

Im Anfang gab es keine Erzählungen; es gab nur deine einsame Vorstellungskraft. Wem würdest du deine Erfindungen erzählen, wenn du allein der wärest, der in der schändlichen Einsamkeit der Flasche spricht und zuhört? Du bist eingeschlossen, die Jahre vergehen, die Konstellationen kommen und gehen, und was tust du? Du erfindest mich. Du durchbrichst die Belagerung, indem du mich in der Vorstellung schaffst und mich dir gegenüberstellst, damit ich ein dir würdiger Gesprächspartner sei und dir zuhöre: Ich höre dir zu, du hörst mir zu, wir sind die Herren der Fabeln. Du beginnst den großen Roman der Welt, indem du die Geschichte eines Mannes erzählst, der den Strom vorbeifließen sieht.“

„Du hast recht. Es ist nicht der Mühe wert, dich aus meinen Erfindungen zu löschen, da ich kaum begonnen habe, sie zu erzählen.“

„Wenn es dir gefällt, o Geist, schlage ich vor, dass wir zu unserer Fabel zurückkehren.“

„Hier stehe ich als dein Zuhörer bereit, obwohl du auf die Welt gekommen bist, um zuzuhören, und nicht ich.“

Diogenes sprach so:

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Wenn ihm der Fluss gleichgültig wäre …

Ein Mann sieht den Strom vorbeifließen. Das ist alles. Weiter wird nichts über ihn gesagt, aber ich bitte dich aufzupassen: Wenn wir ihn sorgfältig ansehen, fällt Licht auf seine Seele. Der Mann ruht auf einem Stein, die Füße in den Sand gesetzt, in die Ferne spähend. Aus seinem Blick können wir schließen, dass er etwas erwartet. Er lauert mit fast irritierender Aufmerksamkeit. Und es besteht kein Zweifel: Er mutmaßt, er greift vor, er sieht ein Ereignis voraus, dessen Folgen außerordentlich sein werden. Wenn ihm der Fluss gleichgültig wäre, würde er ein entspanntes Gesicht zeigen, ohne diese fast obsessive Intensität, die in seinen Augen brennt. Wir könnten uns entfernen, ihn vergessen und dann zurückkehren und würden ihn finden, wie er weiter die Ferne flussaufwärts mit starrem Blick verschlingt. Was geschehen wird, wird auf den Wassern kommen. Das Schicksal kommt durch das Flussbett gestürzt, in Schaumgarben an den Felsen berstend. Er weiß es. Weil er auch weiß, dass der Fluss Zukunft und Vergangenheit hat. Er hat gerade die Zeit entdeckt. Die Zeit wird mit dem Fluss geboren, der immer derselbe ist und sich immer verändert. Angesichts einer solchen Niedertracht zeigt er Anzeichen von Unruhe. Der Mann ist nervös, er hat seine Starre verloren, er erhebt sich, geht hin und her. Sollte es ein Motiv dafür geben, dass er so sehr leidet? Die Zukunft erzeugt die Ungeduld. Wir können annehmen, dass etwas geschehen ist oder dass etwas geschehen wird und dass unbekannte Ereignisse dem Warten voller Fragezeichen voraufgehen. Manchmal bleibt er stehen und überwacht wieder den Lauf des Flusses, dort in der Ferne, wohin das Wasser dumpfe Geräusche hervorrufend flieht; und er fixiert den Blick, als wäre ihm etwas entgangen und er es im letzten Augenblick erspähen wollte, bevor es hinter dem nebligen Mäander verschwände. Dann denkt er nach und fährt fort, die Strömung, die Katarakte, die Strudel und die ruhigen Stellen zu untersuchen. Worauf wartet er? Der Tod hat ihm gesagt: „Unsere Verabredung ist morgen am Fluss“, aber der Tod kommt nicht und lässt den Mann seine Zeit verschwenden. Und so war es, bis an einem dämmernden Tag die Leiche seines Bruders auf den von kupferfarbenem Feuer verwundeten Wassern trieb. Die Brüder hatten sich gestritten.

„Die Geschichte ist nicht so. Ich werde dir die wahre Geschichte erzählen.“

„Hier gibt es keine Wahrheiten und, selbst wenn du vorgibst, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen, wenn du erzählst, werde ich dir zuhören, Aldebaran, denn ich bin nachsichtig.“

„Du hast recht, mein Freund, und dies erkläre ich zu einer weiteren Regel: Von heute an soll gelten, dass die Erzählungen weder wahr noch falsch sind.“

So sprach er und erzählte die Geschichte von einem Mann, der am Fluss wartet:

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Das Heilmittel gegen die Einsamkeit war, sich in sich selbst zu verlieben

Der Mann wartet am Fluss. Das Warten ist lang, absurd, intim. Ihn begleiten die Schreie des Urwalds. Der Fluss fließt zu seinen Füßen, sich mit dumpfem Brausen ankündigend. Die Jahreszeiten vergehen. Er altert. Er hat mit niemandem gesprochen. Niemand hat ihn gesehen, er weiß nicht, ob jemand auf der anderen Seite wohnt und ihn, auf ein außergewöhnliches Ereignis wartend, unter der Sonne beobachtet. Der Fluss trennt sie. Vielleicht wird diese Trennung für immer sein. Wenn wir bedenken, dass der Mann durch die zerstörerische Kraft der Jahre bereits gebeugt ist, wie viele Winter hat er das Wasser sich trüben sehen? Wie oft musste er zurückweichen, um dem Hochwasser zu entgehen? Welch seltsames Schicksal wäre ihm zuteilgeworden, hätte ihn eines Wintertages die Strömung fortgerissen und jemand weiter unten hätte, nach wer weiß wie vielen Biegungen des Flusses, seine Leiche auf den stillen Wassern einer ruhigen Stelle treiben sehen!

Die Brise weht vorbei und verfließt, die Jahre vergehen, das trübe und lehmig gewordene Wasser kommt wieder, es fallen neue, durch den Sturm heruntergerissene Äste, Jahr für Jahr werden die Felder von der Trockenheit heimgesucht. Die Umgebung, die Triller des Distelfinks, der bestirnte Himmel, alles vergeht und kehrt wieder, außer dem Warten, das eine Leere ist. Der Mann lebt von Mutmaßungen. Niemand kann zweimal in demselben Fluss baden, dachte er mit einem Lächeln auf den Lippen, und hier ist das Paradox, das Leben an einem Fluss zu vergeuden, der sich nicht verändert.

Niemand kam und der Mann weigerte sich, das Ufer zu verlassen.

Es waren noch die langen Jahre des Enthusiasmus. Es gefiel ihm, Spuren im Sand zu hinterlassen und über die glattgeriebenen Steine zu springen. An vielen unerträglichen Nachmittagen, wenn die Sonne am Himmel strahlte, tauchte er bis zu den Oberschenkeln ins frische Wasser und sprang dann zum Schwimmen hinein. Während der sommerlichen Tage warf ihm das ruhige Wasser der Buchten ein düsteres Spiegelbild zurück. So sah er es, obwohl er sich für glücklich hielt: vom Grund des Wassers sah ihn ein melancholisches Gesicht an. Sein erster Eindruck war eine Explosion, und er zittert noch, wenn dieser in sein Gedächtnis zurückkehrt. Er war zu dem Wasserspiegel gekommen, angezogen von den weißen Blumen und einem Aroma so nutzlos wie seine ganze Umgebung. Zwischen den Seerosen sah er es und sah, dass er sich selbst anschaute. Sein Lächeln entzündete ihm das Blut. Viele Jahre lang kettete ihn das unvermeidliche Spiegelbild an den Fluss. Aber was erwartete er dann? Eine Leiche? Etwas, dem es gelingen würde, die auf den Enthusiasmus folgende Langeweile zu durchbrechen? Eine Erklärung? Suchte er sich selbst und glaubte, die Antwort in dem Abbild zu finden, das nur ein wenig durch die Wellenbewegung auf der Oberfläche des stillen Wassers verformt wurde? Sehnte er sich danach, jenes glänzende Ebenbild zu finden, das ihm sein Lächeln zwischen den Seerosen erwiderte? Sein eigener Blick war eine Herausforderung unaufschiebbarer Liebschaften. Ohne die Augen abzuwenden, sagte er sich: Ich bin glücklich. Nichts war schöner als die Verdoppelung seines Gesichts. So verliebt, wie er sich fühlte, gab er sich friedlos der vergeblichen Selbstliebe hin, bis er in absolute Verlassenheit verfiel; seine Nachforschungen gerieten in Vergessenheit und, wenn er die Mäander beobachtete, tat er es nachlässig und sogar irritiert. Jede Anstrengung, das Hören der Triller und des Murmelns eingeschlossen, störte die Leidenschaft, die in seiner Brust brannte. Die Jahreszeiten kehrten wieder, der Sommer, der Herbst, die Nordwinde, die Konstellationen drehten sich am Firmament, die Zeit verging und das stille Wasser trübte sich wieder und seine Liebe blieb unberührt. Den Strom untersuchend, machte er sich Illusionen über etwas, was er weiterhin nicht kannte, aber jenes unbestimmte Glück würde nicht dem Vergessen anheimfallen, denn seit dem Tag des Spiegels und für immer musste er sein Spiegelbild in den stillen Wassern lieben.

Das beste Heilmittel gegen die Einsamkeit war, sich in sich selbst zu verlieben.

„Deine Geschichte ist verworren“, unterbrach ihn der Hund, ohne abzuwarten, bis Aldebaran sie zu Ende erzählt hatte.

„Was sagst du, du Narr? Wir haben schon die Regel aufgestellt, dass eine Geschichte so ist, wie man sie erzählt.“

„Ich möchte mit dir eine Einzelheit klären, über die du vorgezogen hast zu schweigen.“

„Was man in einer Geschichte verschweigt, zählt auch. Die Stille zählt. Die Lücken zwischen den Wörtern sind voller Gemurmel.“

„Hör zu, Geist, und stopfe dich voll mit dem, was ich sagen werde.“