Ulinka Rublack

Der Astronom und die Hexe

Johannes Kepler und seine Zeit

Aus dem Englischen übersetzt von Hainer Kober

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Astronomer and the Witch. Johannes Kepler’s Fight for his Mother« im Verlag Oxford University Press, Oxford

© 2015 by Ulinka Rublack

Für die deutsche Ausgabe

© 2018, 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © akg-images / Science Source

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98243-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11507-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Für Francisco

Zeitleiste

mit den wichtigsten Lebensdaten und Veröffentlichungen von Johannes Kepler

1571

Johannes Kepler wird am 27. Dezember in Weil der Stadt geboren; seine Eltern sind Heinrich Kepler und Katharina Kepler, geborene Guldenmann

1575

Die Familie Kepler zieht in das nahe gelegene Leonberg, in das lutherische Herzogtum Württemberg

1578

Johannes Kepler kommt in die örtliche Lateinschule

1579

Die Familie zieht nach Ellmendingen in Baden

1583

Johannes Kepler kehrt nach Leonberg zurück und besteht das Landesexamen in Stuttgart

1584

Johannes tritt in die niedere Klosterschule Adelberg ein

1586

Johannes kommt an die höhere Klosterschule Maulbronn

1589

Johannes schreibt sich an der Universität Tübingen ein

1590

Sein Vater Heinrich stirbt

1591

Er legt das Magister-Examen ab und bleibt in Tübingen, um Theologie zu studieren

Graz

1594

Kepler beginnt, an der protestantischen Stiftsschule in Graz die Söhne Adliger in Mathematik zu unterrichten

1596

Kepler veröffentlicht sein erstes Buch – Mysterium cosmographicum (Das Weltgeheimnis)

1597

Er heiratet die Lutheranerin Barbara Müller

1600

Johannes und Barbara werden gezwungen, Graz im Oktober zu verlassen

Prag

1600

Johannes Kepler arbeitet mit Tycho Brahe zusammen

1601

Apologia Tychonis contra Ursum

1601

Tycho stirbt, und Rudolf II. ernennt Kepler zum kaiserlichen Mathematiker

1602

Geburt der Tochter Susanna

1604

Veröffentlichung der Abhandlung über Optik

1606

Veröffentlichung von De stella nova (»Vom neuen Stern«)

1607

Geburt des Sohns Ludwig

1609

Johannes Kepler reist nach Württemberg, veröffentlicht die Astronomia nova (»Neue Astronomie«) und beendet eine Abhandlung über Astrologie, Tertius interveniens

1610

Er antwortet auf Galileis Entdeckungen in seiner Dissertatio cum nuncio sidereo (»Unterredung mit dem Sternenboten«)

1611

Barbara Müller stirbt; Veröffentlichung von Dioptrice (»Dioptrik«)

1612

Rudolf II. stirbt

Linz

1612

Wegen der Gegenreformation muss Johannes Kepler Prag mit seinen Kindern verlassen. Er erhält eine neue Stellung als Mathematiker der Oberösterreichischen Stände in Linz

1613

Er heiratet seine zweite Frau Susanna Reuttinger

1615

Katharina Kepler wird wegen Hexerei angeklagt

1617

Johannes Kepler reist nach Württemberg, um seiner Mutter zu helfen

1617–​1630

Ephemerides novae

1618

Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs; Kepler beginnt, sein Lehrbuch Epitome astronomiae copernicanae zu veröffentlichen

1619

Veröffentlichung seines Hauptwerks Weltharmonik (Harmonice mundi)

1620

Johannes Kepler reist nach Württemberg, um seine Mutter zu verteidigen

Anmerkung zu den Daten

Der gregorianische Kalender wurde in den katholischen deutschen Ländern 1582 eingeführt, nachdem Papst Gregor VIII. seine Bulle Inter gravissimas veröffentlicht hatte; das hatte zur Folge, dass zehn Tage sofort gestrichen wurden und entsprechend einem exakten Zeitplan in den folgenden Jahrhunderten weitere Tage entfielen. Allerdings hielten sich die meisten protestantischen Territorien, unter ihnen auch Württemberg, weiterhin an den julianischen Kalender. Folglich gab es eine Diskrepanz von mehr als zehn Tagen zwischen protestantischen und katholischen Gebieten.

Liste der Abbildungen

Abb. 1

Johannes Kepler, Porträt, in: Jean Jacques Boissard, Bibliotheca chalcographica, 1650–​1654, nach einem Stich von Jacob van der Heyden aus dem Jahr 1620

Abb. 2

Albrecht Dürer, frühe Darstellung einer alternden Hexe, die rückwärts auf einer Ziege reitet und schlechtes Wetter macht, Radierung, ca. 1500

Abb. 3

Aus Birnenholz geschnitzte Statue einer sinnenden Frau, Süddeutschland, 1520–​1525

Abb. 4

Holzschnitt aus Keplers Lehrbuch Epitome

Abb. 5

Holzschnitt, der eine Ernte in Württemberg zeigt, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 6

Rekonstruktion Leonbergs im späten 16. und im 17. Jahrhundert

Abb. 7

Marktplatz in Leonberg mit dem Rathaus rechts im Bild (ca. 1480) und dem 1566 verzierten Brunnen

Abb. 8

Epitaph für den wohlhabenden Leonberger Bürger Sebastian Dreher

Abb. 9

Leonberger Haus, ähnlich demjenigen, in dem Katharina Kepler mit ihrem alten Vater und ihren Kindern gelebt haben dürfte

Abb. 10

Großer Saal im Neuen Lusthaus in Stuttgart, Radierung, 1619

Abb. 11

Das Württemberger Wunderbad in Bad Boll, ca. 1644

Abb. 12

Früheste Darstellung des Heilbads und des Friedrichsgartens in Boll, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 13

In Boll ausgegrabene Fossilien, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 14

Das Interesse an der Beobachtung der Natur und ihrer von Gott geschaffenen Vielfalt erstreckte sich nun auch auf Insekten, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 15

Petasites (Pestwurz), dargestellt von Leonhart Fuchs in seiner De historia stirpium, Holzschnitt, 1542

Abb. 16

Sibylla von Anhalt, Herzogin von Württemberg, Öl auf Leinwand

Abb. 17

Herzogin Sibyllas Garten in seiner gegenwärtigen Gestalt

Abb. 18

Kurfürst Friedrich von der Pfalz und Elisabeth Stuart als junges Paar, Stich von Renold Elstrack, 1613–​1614

Abb. 19

Das Haus des königlichen Vogts in Leonberg, wo Katharina zum ersten Mal mit der Anschuldigung konfrontiert wurde, sie sei eine Hexe

Abb. 20

Das Wappen des Vogts von Einhorn

Abb. 21

Johannes Kepler, Modell eines Trinkbechers mit Zapfhähnen, die Verbindungen zur Sonne in der Mitte aufweisen

Abb. 22

Johannes Kepler, Modell eines heliozentrischen Universums

Abb. 23

Darstellung des Tübinger Astronomieprofessors und wichtigsten frühen Förderers von Johannes Kepler, Michael Mästlin, im Alter von fünfundvierzig Jahren, 1596

Abb. 24

Tobias Stimmer, Astronomische Uhr im Straßburger Münster nach der Renovierung durch Conrad Dasypodius, Stimmer und andere, 1571–​1574, Holzschnitt, 1574

Abb. 25

Johannes Kepler, Holzschnitt aus Astronomia nova zur Entfernungsberechnung

Abb. 26

Seite aus Heinrich Schickhardts Inventar

Abb. 27

Babyrassel aus vergoldetem Silber, mit Wolfszahn zur Abwehr von Krankheiten, Süddeutschland, 17. Jahrhundert

Abb. 28

Üppig koloriertes Flugblatt über den Kometen von 1618

Abb. 29

Johannes Kepler, Titelseite der Weltharmonik, deren vierter Teil sich auch mit psychologischen Fragen beschäftigt

Abb. 30

Johannes Kepler, Weltharmonik, Ausschnitt aus der Passage über seine Mutter als Urheberin der Wirren in Leonberg

Abb. 31

Darstellung eines nächtlichen Hexensabbats an einem wüsten Ort, der von ganzen »Rotten« neuer Hexen besucht wird, Broadside, ca. 1630

Abb. 32

Friedrich, Kurfürst von der Pfalz, als König von Böhmen, mit Prag im Hintergrund, Kupferstich von Matthäus Merian, ca. 1620

Abb. 33

Holzschnitt in: Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 34

Johannes Kepler auf einem Porträt, das 1620 für Bernegger angefertigt wurde

Abb. 35

Michael Mästlin als alter Mann auf einem Bild für die Galerie Tübinger Professoren, 1619

Abb. 36

Wilhelm Schickard, Keplers Freund und Mitarbeiter während des Prozesses

Abb. 37

Der Jurist Christoph Besold, porträtiert von seinem Freund Wilhelm Schickard, 1618

Abb. 38

Seite aus Keplers abschließender Verteidigungsschrift für seine Mutter mit seinen Randbemerkungen

Abb. 39

Seite aus Keplers Der Traum, mit Fußnoten

Abb. 40

Brunnenfigur der Katharina Kepler in Eltingen

Abb. 41

Rudolf Sirigatti, Büste seiner Mutter Cassandra, mit der Widmung: »Rudolfo, den ich gebar, schuf dies als Zeichen seiner Liebe«, Marmor, 1578

Liste der Abkürzungen

Caspar und von Dyck

Max Caspar, Walther von Dyck (Hg.), Johannes Kepler in seinen Briefen, München 1930, 2 Bde.

Frisch, Opera

Christian Frisch (Hg.), Joannis Kepleri astronomi opera omnia, Frankfurt am Main/Erlangen 1858–​1871.

HStASt

Hauptstaatsarchiv Stuttgart

KGW

Johannes Kepler, Gesammelte Werke, hg. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1937–2017.

Pfeilsticker, Dienerbuch

Walther Pfeilsticker, Neues württembergisches Dienerbuch, Stuttgart 1957–​1974.

StAL

Stadtarchiv Leonberg

UAT

Universitätsarchiv Tübingen

WLB

Württembergische Landesbibliothek

Karten

Prolog

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Welt von Johannes Kepler (1571–​1630), einem der berühmtesten Astronomen, der je gelebt hat. Kepler verteidigte das kopernikanische Weltbild, dem zufolge sich die Planeten um die Sonne drehen. Er entdeckte, dass sie diese in Ellipsen umrunden, und stellte die drei Gesetze der Planetenbewegung auf. Um diese Leistungen zu würdigen, hat man einen Planeten, eine NASA-Mission und ein Weltraumteleskop nach ihm benannt. New York hat seine Kepler Avenue, Rom die Via Giovanni Keplero und Paris die Rue Kepler. Johannes Keplers erstaunlich weit gespanntes Werk liegt in fünfundzwanzig großformatigen Bänden vor und umfasst bahnbrechende Forschungsarbeiten zur Optik und Mathematik sowie Schriften über Astrologie und Religion. Eine Oper, die (1)Philip Glass komponiert hat, entführt Menschen rund um den Globus in die Gedankenwelt eines Mannes, der alles daransetzte, Glauben und Vernunft miteinander zu versöhnen. Mehrere Romane beschäftigen sich mit Kepler, doch eine der faszinierendsten Episoden in der Biografie dieses Mannes wartet noch auf eine angemessene Untersuchung und zeigt uns den Astronomen und seine Zeit in einem neuen Licht.

◇ ◇ ◇

Am 29. Dezember 1615 treffen wir Johannes Kepler in der oberösterreichischen Stadt Linz an, in der er mit seiner Familie lebte. Er war gerade vierundvierzig geworden und bereitete sich auf die Neujahrsfeierlichkeiten vor, eine wichtige Zeit im Jahr, in der Gönner und Freunde mit Grüßen und Geschenken bedacht wurden. Plötzlich klopfte ein Bote an die Tür und übergab ihm einen Brief, der drei Monate zuvor abgeschickt worden war. Als Kepler die Handschrift seiner Schwester erkannte, entfaltete der hoch angesehene Mathematiker der großen Habsburger Kaiser rasch das verschlissene Papier. Die Nachricht hätte kaum schlimmer sein können: Seine betagte Mutter war der Hexerei angeklagt worden und hatte die Ankläger augenblicklich wegen Verleumdung angezeigt. Darüber hinaus war der württembergische Vogt an der Anklage beteiligt und die Fraktion gegen Katharina Kepler entsprechend stark. All dies hatte sich bereits im August ereignet. Johannes Kepler war außer sich, weil seine Geschwister ihn nicht sofort benachrichtigt hatten, und vermutete, dass das noch nicht das Ende jener Geschichte war (Abbildung 1).

Schließlich fanden sich vierundzwanzig Zeugen aus dem Städtchen Leonberg, die gegen Katharina Kepler aussagten, einschließlich des örtlichen Lehrers, der ein Schulkamerad ihres prominenten Sohns gewesen war. Er beklagte sich, die des Lesens und Schreibens unkundige Witwe habe ihn ständig mit dem Wunsch belästigt, er möge ihr die Briefe vorlesen, die Johannes aus Prag geschickt hatte (wo der Mathematiker damals in Diensten von Kaiser (1)Rudolf II. stand). Sie sei auch mittels Zauberei durch geschlossene Türen gegangen und habe ihn aufgefordert, für sie einen Brief an Johannes zu schreiben. An einem Tag hatte Katharina den Lehrer angeblich auf der Straße angehalten, obwohl er auf dem Weg in die Kirche war. »Ihr habt so viel für mich getan, und ich habe einen sehr guten Wein in meinem Keller. Kommt und trinkt einen Schluck«, bat ihn die alte Frau. Er habe an dem Getränk nur genippt, aber sofort Schmerzen in seinen Oberschenkeln verspürt. Schon bald habe sich der Schmerz so weit ausgebreitet, dass er beim Gehen zwei Stöcke habe zur Hilfe nehmen müssen. Schließlich sei er gelähmt gewesen.

Die Ermittlungen, die zu einem Strafprozess gegen Katharina führten, beschäftigten Johannes Kepler sechs Jahre lang. Er stand zu dieser Zeit auf der Höhe seiner beruflichen Laufbahn. In der bahnbrechenden Arbeit, die Kepler damals zur Veröffentlichung vorbereitete, der Weltharmonik, präsentierte der Autor sich selbstbewusst als der ideale Interpret des Universums. Er behauptete, Gott habe sechstausend Jahre lang auf einen »geeigneten Betrachter« gewartet, der seine göttlichen Baupläne vollständig verstehe. Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung der Weltharmonik wurde Katharina in den frühen Morgenstunden des 7. August 1620 von ihrer Tochter geweckt. Der herzogliche Vogt und seine Männer seien gekommen, um sie in Gewahrsam zu nehmen; sie solle sich rasch verstecken. Als man sie fand, lag die dreiundsiebzigjährige Frau nackt unter ihrem Bettzeug in einer großen Truhe. Auf des Herzogs Befehl wurde Katharina ins Gefängnis gebracht.

Abbildung 1: Johannes Kepler, Porträt, in: Jean Jacques Boissard, Bibliotheca chalcographica, 1650–​1654, nach einem Kupferstich von Jacob van der Heyden aus dem Jahr 1620. © Cambridge University Library.

Im selben Jahr übernahm der kaiserliche Mathematiker offiziell die Verteidigung seiner Mutter vor Gericht. Kepler unterbrach sein gesamtes Leben in Linz, verstaute seine Bücher, Papiere und Instrumente in Kisten, zog mit seiner Familie nach Süddeutschland und verbrachte dort fast ein Jahr mit dem Versuch, seine Mutter aus dem Gefängnis zu holen. Doch selbst seine engsten Freunde rechneten nicht damit, dass er Katharina vor dem Scheiterhaufen bewahren würde.[1]

◇ ◇ ◇

Ihr Pessimismus war gerechtfertigt. Katharina Kepler wurde zu einer Zeit angeklagt, in der die Menschen große Angst vor Hexen hatten und die Frauen, die als solche galten, oft erbarmungslos verfolgt wurden. Mit Zahlen ist es bekanntlich schwierig, aber selbst die verlässlichsten Schätzungen sind schockierend. Zwischen 1500 und 1700 wurden in ganz Europa ungefähr dreiundsiebzigtausend Männer und Frauen wegen Hexerei angeklagt und vierzigtausend bis fünfzigtausend von ihnen hingerichtet. Innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschland wurden von 1560 bis zum Ende der Hexenverfolgung etwa zweiundzwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Menschen hingerichtet – fünfundsiebzig Prozent der Angeklagten waren Frauen. 1631 schrieb der Jesuit (1)Friedrich Spee, ein früher Kritiker der Hexenverfolgungen, anonym: »In Deutschland werden mehr Hexen vermutet als andernorts, überall brennen die Scheiterhaufen.«[2]

Katharina Kepler, eine Witwe, die zwar weder lesen noch schreiben konnte, aber nicht arm war und seit vielen Jahren in ihrer lutherischen Gemeinde lebte, wurde eine der vielen Tausend Deutsch sprechenden Frauen, die am Ende ihres Lebens einen solchen Prozess über sich ergehen lassen mussten. Vehement bestritt sie, Gifttränke zusammengebraut zu haben, die Freunden und Nachbarn tödliche Krankheiten bringen sollten. Wie andere, die in den Strudel solcher nachbarschaftlichen Anschuldigungen gerieten, sahen sich auch die Keplers plötzlich in ein Familiendrama verstrickt, das sie auf sich nehmen mussten, um ihre Mutter zu retten.

Als die Anklage gegen seine Mutter erhoben wurde, machte sich Johannes Kepler keine Illusionen darüber, wie prekär seine eigene Lage war. Viele seiner Ideen standen im Widerspruch zu den zentralen Auffassungen seiner Zeit, einer Ära erbitterter religiöser Gegensätze. Die Protestanten waren in zwei große Lager gespalten: Das eine hing der Lehre des deutschen Reformators (1)Martin Luther an, das andere folgte den Auffassungen des Franzosen (1)Johannes Calvin. Gelegentlich verabscheuten sie sich gegenseitig genauso heftig, wie sie Katholiken hassen konnten, und stellten Glaubenssätze auf, die jeder, der unter dem Dach der jeweiligen Kirche geboren wurde, strikt befolgen musste. Katharina hatte Johannes als Lutheraner erzogen. Doch als Jugendlicher hatte er mit einer der schwierigsten Glaubensvorstellungen gerungen – der Auffassung, dass Christus allgegenwärtig und beim Abendmahl, wenn die Gläubigen Brot und Wein empfingen, wahrhaftig anwesend sei. Als Erwachsener weigerte er sich aus diesem Grund lange, die Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche – die Konkordienformel von 1577 – zu unterzeichnen. Daher galt Kepler vielfach als Anhänger der Calvinisten. Heutzutage sind den meisten Christen solche doktrinären Auseinandersetzungen herzlich egal, doch die Theologen in Keplers Heimat Württemberg warnten den Mathematiker, die Grenzen seines Berufs nicht zu überschreiten und die Finger von allen religiösen Spekulationen zu lassen. Dieser vermeintliche Dissens war der Grund, warum ihm seine Alma Mater, die Universität Tübingen, nie eine Stellung anbot.

Als Kaiser (2)Rudolf II. im Januar 1612 starb, engten sich Keplers berufliche Möglichkeiten weiter ein. Rudolf hatte an seinem Hof eine ungewöhnlich heterodoxe und tolerante Atmosphäre intellektueller Betätigung geschaffen. (1)Matthias, der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, beließ Kepler auf seinem Posten, sodass dieser die Umlaufbahnen der Himmelskörper weiterhin anhand seiner Beobachtungen berechnen konnte. Gleichzeitig aber betrieb Matthias in den Habsburger Ländern die kriegerische Durchsetzung des Katholizismus. Dadurch wurde es für Kepler unmöglich, als Protestant in Prag zu leben.

Dank der Unterstützung einiger adliger Gönner konnte Kepler ab 1612 an einer winzigen Schule in der lutherischen Enklave Linz, der oberösterreichischen Landeshauptstadt, unterrichten. Im Rahmen einer zusätzlichen Tätigkeit als »Landschaftsmathematiker« reiste er in den Bergen und Dörfern umher, um eine Karte der Region anzufertigen. Das tat aber seinem internationalen Ruf keinen Abbruch; 1616 wurde ihm sogar eine Stellung an der Universität Bologna angeboten. Aber wie sollte er die annehmen? Er wusste nur zu gut, dass italienische Gelehrte, die die kopernikanische Auffassung vertraten, die Erde drehe sich um die Sonne, von der katholischen Kirche der Ketzerei verdächtigt wurden und Gefahr liefen, vor die Inquisition gebracht zu werden. (1)Giordano Bruno, der heterodoxe dominikanische Mathematiker (der Kepler entsetzte, weil er an die kosmische Unendlichkeit und das Chaos glaubte), war 1600 in Rom verbrannt worden. (1)Galileo Galilei, für dessen Ideen sich Kepler in seinen Schriften eingesetzt hatte, wurde 1616 vom Heiligen Offizium gezwungen, zu erklären, dass er gewillt sei, »die besagte Auffassung ganz aufzugeben, dass nämlich die Sonne das Zentrum der Welt sei und unbeweglich und dass die Erde sich bewegt; noch sie zukünftig zu behaupten, zu lehren oder zu verteidigen in irgendeiner Weise, weder in Wort noch Schrift«. Schon bald wurden Keplers eigene Werke auf den römischen Index gesetzt, weil er nicht nur behauptete, dass die Erde sich um die Sonne bewege, sondern auch, dass die Erde eine Seele besitze und also lebendig sei.[3]

Im Januar 1616 schrieb Kepler an den Magistrat der württembergischen Stadt Leonberg, dass sich seine »geliebte, betagte Mutter« in ihrem Alter zunehmend »der Bequemlichkeit beraubt« sehe. Er gab zu, dass er befürchtete, sie könnte sich zu unüberlegten Äußerungen hinreißen lassen, die ihr die Folter durch schlecht ausgebildete Richter oder sogar den Tod einbringen könnten. Es folgten einige verärgerte Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen seinem eigenen Schicksal und dem seiner Mutter:

… offenbar scheint der Bericht anzudeuten, dass auch ich verbotener Künste angeklagt werde, sodass diese schamlose Gegenpartei, aufgeblasen durch wer weiß was für Trinkrituale, mich und meine fünfzehn Jahre in kaiserlichen Diensten gewissermaßen übers Haus geblasen hat und darauf aus ist, meiner Mutter das Herz gänzlich aus dem Leib zu reißen.[4]

Selbst für jene Zeit war das eine eigenartige Wortwahl. Sie zeigt, wie tief Keplers Furcht saß, der Fall könnte all seine Verdienste zunichtemachen und Katharina vollkommen zugrunde richten. Daher bat er wenig später um die Erlaubnis, nach Württemberg reisen und unter Einsatz seines Lebens und Eigentums für das Recht seiner Mutter zu streiten. Als Nächstes würde er alle Freunde, Förderer und die Menschen, deren Gunst er sich erworben hatte, mobilisieren. Die Gerechtigkeit sollte siegen.

Einleitung

Dieses Buch führt in eine entrückte Welt, in der fast jeder glaubte, dass es Hexen und den Teufel gibt (Abbildung 2). Seit Mitte der 1970er-Jahre versuchen Historiker, die geistige Verfassung von Gesellschaften zu erklären, die sich auf dem Höhepunkt der Verfolgungen, zwischen 1580 und 1650, außergewöhnlichen Herausforderungen gegenübersahen. Durch klimatische Veränderungen, die dazu führten, dass auf extrem kalte Winter- und Frühjahrsperioden relativ kalte und regnerische Sommer folgten, kam es über mehrere Jahre hinweg zu Missernten. Kepler sagte für das Jahr 1595 einen dieser strengen Winter voraus und berichtete später, österreichische Hirten seien mit erfrorenen Nasen heimgekehrt, die in Stücke zerfallen seien, als sie sie geputzt hätten. Ihre Gliedmaßen hätten zu faulen begonnen, und schließlich seien die Männer gestorben.[1] Die Hagelstürme waren so heftig, dass sie nicht nur Ernten und Vieh vernichteten, sondern auch Kirchtürme und andere Gebäude zerstörten. Durch das Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert wurden Ressourcen und Arbeitsplätze knapper. Die Preise stiegen, Hunger breitete sich aus, Pest und andere Krankheiten brachten den Tod.

Jeder konnte es mit Hexerei zu tun bekommen. In einigen Regionen begann diese schreckliche Vorstellung das soziale Vertrauen zu untergraben. Das Unheil konnte durch Berührungen übertragen werden, aber auch durch scheinbar harmlose Geschenke: einen Apfel, einen Kuchen oder ein Getränk. Hexen konnten Nachbarn, Freunde oder Hausangestellte sein, die zum Hexensabbat in Massen zusammentrafen und mit Teufeln verkehrte Messen feierten. Die Bilder und reißerischen Schriften des 16. Jahrhunderts machten aus der furchterregenden Figur der dämonischen Hexe ein missgünstiges altes Weib auf einem Besenstiel, das wild entschlossen ist, alle Fruchtbarkeit zu vernichten, und sich beim Hexensabbat zügellosen Tänzen hingibt.[2]

◇ ◇ ◇

Abbildung 2: Albrecht Dürer, frühe Darstellung einer alternden Hexe, die rückwärts auf einer Ziege reitet und schlechtes Wetter macht, Radierung, ca. 1500, 11,4 × 7,1 cm. © Trustees of the British Museum.

Dank genauer Forschungen können wir nachvollziehen, wie sich die Hexenverfolgung im Lauf der Jahre verschärfte. In einer kleinen lutherischen Grafschaft bei Württemberg kam es zwischen 1562 und 1564 zur ersten großen Welle mit mehr als sechzig Hinrichtungen wegen Zauberei.[3] Überaus besorgt äußerte der Arzt (1)Johann Weyer die Ansicht, Hexen seien verblendete, häufig depressive Frauen, die dringend einer medizinischen Behandlung bedürften. Ihr Pakt mit dem Teufel (den er für real hielt), bestehe nicht zwischen gleichberechtigten Partnern, sondern beruhe auf Macht und Angst. Er könne nicht Gegenstand einer weltlichen Strafe sein. Doch wegen der langen Periode von Missernten, die Deutschland und andere Teile Europas zwischen 1569 und 1575 erlebten, blieben Weyers Bedenken weitgehend ungehört.[4]

Zwischen 1580 und 1599 nahm die Verfolgung extreme Ausmaße an. Im katholischen Erzbistum Trier wurden Hunderte von Menschen angeklagt. In der großen Region waren alle Ernten bis auf zwei vernichtet worden. Zu den Opfern, die aus allen Schichten kamen, gehörten neben Frauen auch eine beträchtliche Zahl von Männern. (1)Peter Binsfeld, Weihbischof von Trier, war der erste Geistliche seit (1)Heinrich Kramer, dem Verfasser des berüchtigten Hexenhammers aus dem Jahr 1486, der ein aktualisiertes, praktisches Handbuch vorgelegt hatte, mit dem sich die Hexenverhöre durch Leitfragen zum Sabbat strukturieren ließen. Nach Binsfelds Ansicht rechtfertigte eine einzige Denunziation durch eine für schuldig befundene Person die Folter aller Verdächtigten, die jene erwähnt hatte. Dieses Verfahren führte zu Massenprozessen.[5]

Zeitgleich wandte sich der französische Staatstheoretiker (1)Jean Bodin entschieden gegen (2)Weyers These, Hexen seien eine gefährliche Sekte, die von männlichen Hexenmeistern organisiert werde. Bodin hielt das Verbrennen von Hexen für eine wirksame Maßnahme zur Rettung des Landes.[6] Auch im Herzogtum Lothringen wurden Hexen jetzt unbarmherzig verfolgt. Zwischen 1580 und 1630 resultierten aus kommunalen Klagen in jedem Jahrzehnt bis zu dreihundert Zaubereiprozesse, von denen bestürzende achtzig Prozent mit Todesurteilen endeten. Ein Ankläger meinte, sein Fallmaterial liefere »über jeden Zweifel erhabene Beweise« dafür, dass Frauen und Männer anderen Menschen durch teuflische Praktiken realen Schaden zufügen könnten.[7]

Zwanzig Jahre nach Beginn dieser Massenhinrichtungen legte der gelehrte Jesuit (1)Martin Delrio eine der einflussreichsten dämonologischen Abhandlungen vor. Seine Schrift Disquisitionum magicarum (1600) war nicht nur ungewöhnlich umfangreich, sondern enthielt auch entsetzliche Fallbeschreibungen. Einmal wird höchst anschaulich geschildert, wie die zehn Monate alte Tochter eines Arztes fast gestorben wäre, weil jemand ständig »Werkzeuge der Bosheit« wie Knochen und Koriandersamen in ihr Kinderbettchen gelegte habe. Der Mann ließ zweimal einen Exorzisten kommen und seine Frau vermutete, dass, weil ihre geliebte Tochter »sehr anziehend« sei, die Ursache »in der Eifersucht oder dem bösartigen Hass einer zauberkräftigen alten Frau« liegen müsse. Delrio lieferte eine anschauliche Schilderung des Hexensabbats und erinnerte, dem Beispiel (2)Binsfelds und (2)Bodins folgend, allzu nachsichtige Richter daran, dass Gott sie dazu aufgerufen habe, das böse Hexenheer auszurotten.[8]

Nicht alle in Europa oder Deutschland waren mit solch militanten Ansichten einverstanden. In Bayern lösten die seit den 1590er-Jahren ansteigenden Verfolgungszahlen heftige Debatten über die Frage aus, ob es notwendig und gerecht sei, Hexen hinzurichten und die von ihnen denunzierten Menschen zu verhaften. Viele angeklagte Frauen widerriefen mutig ihre (gewöhnlich durch Folter abgepressten) Aussagen. Einige beteuerten, Gott selbst werde jene bekämpfen, die »sie in Hexen zu verwandeln trachteten«.[9]

(1)[10]