Norbert Büning

Lernen im Unternehmen

Mythen – Konzepte – Neue Wege

Unter Mitarbeit von

Roman Schachtsiek und Vera Schierholt

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1. Auflage 2012

© 2012 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

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Redaktion: Desirée Šimeg, Gersthofen

Umschlagabbildung: Kristin Hoffmann

Illustrationen: Comicademy, Bad Oeynhausen/Berlin. Zeichner: Marko Finkenstein

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-86414-298-7

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Vorwort

Unlängst fragte mich ein Freund, was mich an meiner Arbeit als Begleiter von Lern- und Veränderungsprozessen am meisten fasziniere. Ich musste nicht lange überlegen: Daran mitwirken zu können, dass Menschen sich laufend weiterentwickeln und besser werden – Mitarbeiter und Führungskräfte, Kunden und Kollegen.

Seit zwanzig Jahren beschäftige ich mich beruflich mit dem Lernen in Unternehmen. Nicht immer aber arbeitete ich so wie heute. In den zurückliegenden zwei Dekaden gab ich eine Menge vertrautes Denken auf und lernte Neues hinzu, das auch meine Arbeit veränderte. Mitunter lief das wie von selbst und ohne große Widerstände. Häufig lernte ich aus Fehlern, aus eigenen oder aus fremden. Nicht selten peinigten mich Selbstzweifel. Oft freute ich mich und war stolz, wenn ich etwas gelernt hatte. Manchmal war ich auch eher beschämt, weil ich Dinge nicht früher gesehen zu hatte, die nun wie selbstverständlich meine neue Denkwelt bestimmen. Auf jeden Fall lernte ich immer dann gut, wenn ich mich zuvor aktiv für eine Veränderung entschieden hatte. Allerdings konnte das auch bedeuten, dass ich mich zuvor lange gegen ein Dazulernen gewehrt hatte. Beim Überwinden der eigenen Lernwiderstände halfen mir dann Menschen, die mich beim Verändern unterstützten – mal eher indirekt und sanft, mal durchaus drängend und fordernd.

Ähnliche Erfahrungen der Unterstützung durch anderen Menschen, durch ihr anderes Denken und Handeln, machen wir wohl alle beim Lernen. So erfahren wir, dass Lernen neue Perspektiven eröffnen und konstruktive Veränderungen möglich machen kann – für die Gesellschaft, für eine Organisation und für uns selbst.

Rückblickend war auch das Schreiben dieses Buches ein Lernprozess, und dafür bin ich dankbar. Danken möchte ich den vielen Menschen, die zum Werden dieses Werkes beigetragen haben. Zuvorderst meinem Buchcoach Jens Schadendorf. Er hat dieses Buchprojekt von Anfang an begleitet – von der ersten Idee über die Konzeption bis hin zur Umsetzung und Verschriftlichung. Ich danke sehr für die intellektuellen Sparrings und das manchmal nötige Beharren, für inspirierende Ermutigungen und couragiertes Voranschreiten, für gedankliche Genauigkeit und große Geduld.

Dieses Buchprojekt hat es mir ermöglicht, meine Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zu durchdenken, mit vielen Kollegen zu diskutieren und im Lichte der modernen Lern-, Bildungs- und Hirnforschung neu zu grundieren. Zwei wunderbare Kollegen haben mich während des gesamten Buchprozesses begleitet und wesentliche Teile beigetragen: Roman Schachtsiek und Vera Schierholt. Ich danke beiden sehr für die großartige Zusammenarbeit, ihre inhaltlichen Bereicherungen und die Unterstützung – oft bis spät in die Nacht.

Nicht alle lernen gleich, wir brauchen daher möglichst Konzepte, die individualisiertes und selbststeuerndes Lernen ermöglichen – so lautet eine Botschaft dieses Buches. Mich selbst bezeichne ich als »Lernender im Dialog«, denn ich sitze nicht im stillen Kämmerlein, entwerfe dort neue Modelle und berausche mich daran. Vielmehr brauche ich den geistigen und emotionalen Austausch mit anderen und hoffe zugleich, durch meine Lernart auch andere zu bereichern. Viele Diskussionen mit Kollegen, Kunden und Experten haben mir entscheidend geholfen, dazuzulernen und mich zu verbessern. Das gilt besonders für die letzten Jahre, als ich die globale Verantwortung für den Geschäftsbereich Learning & Collaboration im Beratungsunternehmen Accenture trug. In dieser Zeit diskutierte ich mit vielen Menschen aus China, Indien, den USA, Deutschland, Großbritannien und weiteren Ländern und durfte sie bei ihren Lern- und Entwicklungsprozessen begleiten. Es sind zu viele, als dass ich sie hier alle nennen könnte. Dennoch möchte ich mich an dieser Stelle bei ihnen allen für die vielen wertvollen Gedanken, die in unseren Gesprächen entstanden sind, bedanken. Auch sie haben dieses Buch inspiriert. Ich hoffe und bin überzeugt, dass unsere Dialoge auch in meiner nun beginnenden Selbstständigkeit weitergehen.

Ein großer Dank geht ebenfalls an meinen ehemaligen Arbeitgeber Accenture, dem ich nach zwei Jahrzehnten spannender gemeinsamer Zeit Lebwohl gesagt habe. Das in mich gesetzte Vertrauen war außergewöhnlich, die mir eröffneten Entwicklungsmöglichkeiten waren es ebenfalls. Ich habe spektakuläre und bereichernde Berufsjahre erleben dürfen, menschlich und fachlich. Die in diesem Buch erwähnten innovativen Lernkonzepte der Performance-Workbenches und Lernketten sind in Zusammenarbeit mit Accenture-Kollegen entstanden. Ich habe also vielen ehemaligen Kollegen zu danken, besonders aber Johannes Cruyff, David Smith, Rene Kemp, Diego Sanchez de Leon, Dr. Markus Klimmer, Fred Marchlewski, Walter Hagemeier, Yaarit Silverstone, Hsin Ning Yong, Will Castle, Raj Ramachandran, Mathias Otte, Sven Bohnert, Karin Deuser, Nora Heger, Dennis Formann, Timo Krützner, Anna-Maria Fröbel und Tanja Kopietz.

Mein Ziel war immer, Lernen durch viele Facetten interessant zu machen. Auch deshalb finden sich in diesem Buch Comicstrips. Sie sind entstanden in reibungsloser Zusammenarbeit mit der Comicademy, die sich wunderbarerweise selbst dem Lehren und Lernen verschrieben hat. Mein herzlicher Dank geht an Torsten Hesse für die Koordination und an Marco Finkenstein für seine Comic-Kunst.

Danken möchte ich ebenfalls Dr. Susanne Maria Schmidt und Dr. Anja Voss für die kritische Durchsicht des Manuskripts und viele Verbesserungsvorschläge.

Mein größter Dank schließlich gilt meiner Familie. Sie ist nicht nur der Mittelpunkt meines Lebens, sie ist auch emotionale Kraft- und stetige Lernquelle. Meine Frau, Karin Vennen, hat mich zudem bei diesem Buchprojekt unterstützt. Intensive Gespräche und ihre profunde Kompetenz und Erfahrung in Organisationsentwicklung und Coaching haben entscheidend zu »Lernen im Unternehmen« beigetragen. Ohne unsere beiden Söhne, Tim und Jan, würde ich heute vermutlich ganz anders über Lernen im Allgemeinen und über betriebliches Lernen im Speziellen denken. Ihre manchmal größere, manchmal kleinere Lernlust hat mich in den letzten Jahren immer wieder dazu gebracht, darüber nachzudenken, was gelingendes Lernen bestimmt. Davon hat nicht nur unser Familienleben profitiert, es hat vielmehr auch die Weiterentwicklung meiner beruflichen Kompetenz und damit dieses Buch bereichert.

Norbert Büning

Mönchengladbach, im September 2012

Anstatt einer Einleitung – Lernen und Veränderung in Unternehmen

Was wären wir ohne Lernen? Wir sind geprägt von Ideen, Konzepten und Grundannahmen über die Welt und haben diese auf verschiedenste Weise gelernt – in Familie, Kindergarten und Schule, von Freunden und an der Universität, in Unternehmen und Gesellschaft. Peter M. Senge spricht hier von mentalen Modellen. Manche Modelle sind uns bewusst, die meisten sind es nicht oder nicht mehr. Auf jeden Fall beeinflussen sie aber unser Denken, Fühlen und Handeln entscheidend.

Das gilt auch für die Vorstellungen, die wir etwa von Strategie, Management oder Erfolg, von Organisationen oder Lernen, Change und Transformation in Unternehmen haben. Wer aber in Unternehmen arbeitet, entscheidet und Verantwortung trägt, für den lohnt es sich, immer einmal wieder zu hinterfragen, welche gedanklichen Konzepte sein Handeln leiten. So praktisch automatisierte Denk- und Handlungsmuster oft sein mögen: Manager und Mitarbeiter sollten ihnen nicht allzu lange unreflektiert ausgeliefert sein – um sie gegebenenfalls rechtzeitig ändern zu können. Denn schneller Wandel stellt bislang Bewährtes heute noch schneller infrage als früher. Das gilt in besonderer Weise für Unternehmen.

Immer schon, mehr noch aber in Zeiten großer Veränderungen, wie wir sie seit den Neunzigerjahren durch rasant fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung erlebt haben, wird nach neuen, prägenden Managementkonzepten gerufen. Die Erwartungen an sie sind meist immens: Sie sollen den Unternehmen, ihren Managern und Mitarbeitern einfache Rezepte an die Hand geben, um den Wandel zu managen und nachhaltig Wettbewerbsvorteile zu sichern. Der Ruf nach einfachen Lösungen erklingt dabei umso lauter, je komplizierter und komplexer die Welt erscheint – und in der Tat erleben wir diese, wer will es bezweifeln, derzeit als immer komplexer werdend und schwieriger zu gestalten.

Manchmal werden diese einfach scheinenden Konzepte zu veritablen Moden. Alle wollen sie dann plötzlich verstehen und nutzen. Berater, Trainer und Weiterbildungsanbieter verdienen an ihnen – bis irgendwann Katerstimmung aufkommt: bei Managern auf allen Ebenen und bei Mitarbeitern, die in Schulungen und Trainings auf das Neue eingestimmt werden sollen. Große Hoffnungen und große Konzeptverheißungen ziehen also – auch in der Welt der Unternehmen – nicht selten große Enttäuschungen nach sich.

Lernen als entscheidender Wettbewerbsvorteil

Manchmal aber wirken neue Managementkonzepte breit, lang und – vermeintlich – vor allem positiv. Doch selbst dann lohnt es sich genau hinzuschauen, ob sie wirklich einlösen, was sie einst versprachen. Häufig nämlich scheint es nur so. Manchmal haben sie sich überlebt, ohne dass es so richtig bewusst ist. Manchmal sind sie zu einer Sammlung von mythisch daherkommenden Schlagworten und Glaubenssätzen verkommen, die wir wie selbstverständlich hinnehmen, die aber bei näherer Betrachtung im Widerspruch zu betrieblichen Realitäten stehen.

So zum Beispiel das Konzept und die Begriffswelt von Peter M. Senge, der 1990 mit seinem Buch Die fünfte Disziplin ein neues Denkmodell prägte, das seither Entscheidungsträger in Unternehmen und auch Wissenschaftler nicht mehr loslässt: das der »lernenden Organisation«. Senge versteht sie – damals neu – als ein lernendes System, das seine Fähigkeit, die eigene Zukunft zu gestalten, laufend verbessert. Er versteht sie als einen Ort, »an dem die Menschen kontinuierlich entdecken, dass sie ihre Realität selbst erschaffen. Und dass sie sie verändern können«. Alle Manager und Mitarbeiter sollten dafür, so fordert er, in die Lage versetzt werden, eigene Fähigkeiten, eigene Kompetenzen und eigenes Wissen zum Nutzen des Gesamtunternehmens permanent weiterzuentwickeln. Individuelles lebenslanges Lernen, das Erkennen und Infragestellen von Denkmodellen, die Entwicklung verbindender gemeinsamer Visionen und das Teamlernen stehen dabei als vier Disziplinen neben der sie verbindenden fünften Disziplin: dem Systemdenken, verstanden als »Rahmen zum Aufspüren wechselseitiger Beziehungen anstelle linearer Kausalketten und zum Erkennen von Prozessen des Wandels anstelle statischer Schnappschüsse«.

Was sich heute für manchen vertraut, sympathisch oder zumindest theoretisch plausibel anhört, war vor mehr als zwanzig Jahren in der von Senge unprätentiös und gründlich vorgetragenen Weise neu. Doch das gilt für viele erstmals verkündete Managementkonzepte. Kaum ein Vordenker der jüngeren Zeit aber war so nachhaltig einflussreich wie Senge. Sein besonderer Verdienst: Er rückte die Idee des Lernens in das Blickfeld, ja in das Zentrum der theoretischen Managementforschung und des betrieblichen Alltags. »Schneller und besser zu lernen als die Konkurrenz ist der ultimative Wettbewerbsvorteil der neunziger Jahre – das ist die Botschaft von Peter Senges Buch«, schrieb Praxisvordenker Thomas Sattelberger, viele Jahre Personalvorstand in mehreren Dax-Unternehmen, in einer Lobpreisung vor gut fünfzehn Jahren.

Auch Lern- und Change-Prozesse verändern sich

Er hatte recht. Mehr noch als damals gilt diese Aussage angepasst auch heute. Unternehmen, denen es nicht gelingt zu ermöglichen, dass ihre Mitarbeiter schneller und besser lernen als jene in Konkurrenzunternehmen, haben mittel- bis langfristig keine Chance, auf dem Markt erfolgreich zu bleiben. Der Unterschied zu den Neunzigerjahren und auch zum ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ist lediglich, dass heute noch schneller und noch besser gelernt werden muss. Und es liegt auf der Hand, dass von der Idee des lernenden Unternehmens die Ideen des betrieblichen Wandels und der Transformation nicht zu trennen sind. Alles ist im Fluss – aber wie kann man den Fluss des Unternehmens und des Marktes verstehen? Wie seine Richtung beeinflussen? Wie unnötige Überschwemmungen verhindern und nützliche – etwa zur Landgewinnung – zulassen? Wie gegebenenfalls den Fluss vergrößern, wo begradigen und wo renaturieren?

Wachsende Komplexität und Handlungsdruck angesichts rasanten Wandels bedeuten nicht die Aufforderung, in Panik zu verfallen – auch wenn es manchmal so scheint, dass Aktionismus und immer neue Initiativen Unternehmensentwicklungen kaum zum Besten beeinflussen. Komplexität und Handlungsdruck sensibilisieren vielmehr dafür, wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Vor allem bedeuten sie den Aufruf zu verstehen, welche Herausforderungen Unternehmen heute grundsätzlich bewältigen müssen und wie sie gestaltet werden können.

Dies ist ein Buch über das Lernen und den damit verknüpften erfolgreich gestalteten Wandel in Organisationen. In meiner Zeit bei Accenture habe ich mich ausgiebig mit den Themen Lernen, Bildung und Wandel in Unternehmen befasst. Ich habe Manager und Mitarbeiter in vielen renommierten Unternehmen bei komplexen und anhaltenden Lern- und Change-Prozessen begleiten dürfen – und meine Teams und ich waren dabei geprägt von der Sengeschen Idee der lernenden Organisation, die wir mit neueren Forschungserkenntnissen aus verschiedensten Fachdisziplinen laufend anreicherten und zusammen mit unseren Kunden anpassten und weiterentwickelten. Dabei waren auch in den begleiteten Unternehmen die Konzepte, Gedanken und Rhetorik Peter Senges in verschiedensten Formen mehr oder weniger bekannt oder unbewusst präsent, insbesondere bei Personal- und Change-Managern.

In vielen Lern- und Change-Projekten waren wir erfolgreich – in anderen waren wir es etwas weniger. Doch da fängt es schon an: Wann ist ein Projekt, in dem es um Lernen und die Befähigung zu Wandel und erfolgreichem Handeln geht, überhaupt erfolgreich? Wenn auf den »Happy Sheets« am Ende steht: »Die Trainer waren exzellent«, »Die Erwartungen wurden übertroffen«, »Ich fühle mich gut«?

Und worum geht es bei solchen Fragen? Um Qualitätsbeurteilungen am Ende eines Seminars oder Projekts? Um Stimmungen? Um die Möglichkeit, jene, die ein Lern- oder Change-Projekt aufgesetzt und begleitet haben, »nach oben« zu rechtfertigen und abzusichern?

Wie kann oder wie sollte man den Erfolg von Lern- und Change-Projekten am besten erfassen und einordnen? Was sollte gelernt werden? Wie sollte das genau organisiert sein, welche Methoden sollten verwendet werden? Und dahinterstehend: Welche gedanklichen Konzepte sollten die Lern- und Change-Prozesse grundieren und begleiten?

Das alles sind Leitfragen für dieses Buch. Es ist einerseits aus meiner praktischen Erfahrung als Lern- und Change-Experte gewachsen. Andererseits reflektiert es diese Erfahrung auch selbstkritisch und blickt darüber hinaus, möchte Wegweiser sein für ein neues Verständnis von Lernen und gestaltetem Wandel in Unternehmen.

Gerade meine erste berufliche Tätigkeit als Erzieher im Kinderheim und auch meine persönliche Entwicklung über den zweiten Bildungsweg haben mir früh verdeutlicht, wie wichtig richtiges Lernen und sinnvolle Veränderung für die Chancen eines Menschen sind. Und das Gleiche gilt für Organisationen. Das bedeutet nicht, dass Lernen und Wandel – als Einzelner, als Team oder als Unternehmen – immer nur pure Freude bereiten. Im Prozess des Lernens und Veränderns tut manches auch weh, führt an Grenzen, derer wir uns nicht bewusst waren, und manchmal sogar darüber hinaus. So freudvoll sinnvoll organisierte Lernprozesse sein können – ohne Mühe geht es häufig nicht.

Vertrautes hinterfragen und neu denken

Das gilt gerade dann, wenn wir uns der Aufgabe widmen, zu hinterfragen, welche Denkmodelle uns in unserem Leben und unserer Arbeit leiten. Es ist mühsam, weil wir uns der meisten dieser Modelle nicht bewusst sind und weil wir, eingebettet in feste Kommunikationsnetze von Kollegen und Kunden, uns wechselseitig unreflektiert im gleichen Denken bestärken.

Daran ist nichts Schlechtes, es ist vielmehr teilweise unvermeidlich – umso mehr deshalb, weil wir schnell und erfolgreich sein müssen und wollen. Und doch ist es auch gefährlich, weil wir neue Impulse, Bedrohungen für unser Unternehmen oder Möglichkeiten für Innovationen übersehen. In unseren Interaktionen konstruieren wir unsere Wirklichkeit miteinander – wenn aber diese Konstruktionen zu starr werden, werden wichtige Lern- und Veränderungsprozesse blockiert.

Genau das spiegelt auch die Wirklichkeit in vielen Unternehmen wider, wie ich sie in den letzten Jahren verstärkt erlebt habe. Die Idee der lernenden Unternehmen in ihren vielgestaltig gelebten Formen und Begriffen ist vielfach zu einem erstarrten Mythos geworden. Es ist wie mit Bildung: Niemand ist gegen sie, alle sind dafür – und nun? Analog ist niemand gegen das lernende Unternehmen, das klingt schön und positiv. Alle sind dafür – und jetzt? Gleiches gilt für diverse Weiterentwicklungen der Sengeschen Ur-Idee in Wissenschaft und Praxis, ebenfalls für viele daraus abgeleitete Schulungs-, Trainings- und Change-Programme. Alle sind für die Entwicklung des individuellen Potenzials, für lebenslanges Lernen, für Teamlernen, für kritisches und systemisches Denken. Und doch sind diese im Prinzip großartigen Gedanken im betrieblichen Alltag für viele hohl geworden, weil nicht mehr gefragt wird, was sie eigentlich bedeuten könnten oder sollten.

Nicht ohne Grund sind die Reaktionen oft innere Immigration, Abwehr oder auch Zynismus. Gerade der Begriff des lebenslangen Lernens – der ja eigentlich etwas Schönes verheißt, nämlich permanent neues Verstehen und neue Chancen – wird oft mit dem Begriff »lebenslänglich« verbunden, weil das individuelle Erleben im starken Kontrast zu den im Laufe der Zeit häufig nicht eingehaltenen Versprechungen und Verheißungen steht. Über eine so gefärbte Unternehmens-, Team- und Lernkultur kann nicht einfach hinweggegangen werden, auch wenn die Versuchung groß ist, eben das zu tun, um Lern- und Change-Projekte zunächst formal aufzusetzen und dann vermeintlich gut zu Ende zu bringen.

Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Ich habe größten Respekt und größte Wertschätzung für alle, die sich in Unternehmen mit Lern-, Weiterbildungs- und Veränderungsprozessen beschäftigen, in welcher Funktion auch immer. Mit vielen Verantwortlichen bin ich gut bekannt oder befreundet. Uns alle eint, dass es uns wichtig ist, in unseren jeweiligen Funktionen dazu beizutragen, dass Lernen und Weiterentwicklung gelingen. Manchmal aber, so hat sich auch in unseren gemeinsamen Projekten und Gesprächen gezeigt, sind wir in alten unbewussten Denkmodellen gefangen. Und wir sehen nicht mehr, was wichtig ist oder was besser gemacht werden kann.

So betrachtet ist dieses Buch auch als Angebot gemeint, in einen Dialog einzutreten und mit gründlicher Betrachtung ein wenig Abstand zu gewinnen vom sonst vertrauten Denken, Fühlen und Handeln. Die Begegnung mit dem anderen, das dieses Buch bieten möchte, unterstützt dann vielleicht dabei, das Denken, Fühlen und Handeln mit Blick auf Lern- und Weiterentwicklungsprozesse nach und nach zu verändern.

Lernmythen und Lernexzellenz im Unternehmen

Wie immer beim gründlichen Betrachten kommt es auf die Details an. Mythisch aufgeladene Schlagworte, die immer auch Bestandteil unseres Denkens sind, und damit verbundene Konzepte müssen reflektiert werden. Denn Mythen haben es an sich, dass sie für sich stehen – ihrem Wesen nach sind sie (meist) unhinterfragt.

Daher widmen wir uns im ersten Kapitel den acht Mythen des Managements von Lern- und Change-Prozessen in Unternehmen.

1. Alle Menschen lernen gleich.

2. Kompetenzen werden durch formelles Lernen erworben, vor allem in klassischen Seminaren oder web-basierten Trainings.

3. Lernen ist Transfer von Wissen von außen nach innen.

4. Lernen ist mühsam. Mitarbeiter müssen zum Lernen gedrängt werden.

5. Die Lernkultur im Unternehmen ist die Basis für lebenslanges Lernen.

6. Lernerfolg ist messbar und muss gemessen werden.

7. Elektronische Medien sind für erfolgreiche Lernprozesse unverzichtbar.

8. Ständige Veränderung ist notwendig.

Dabei wird deutlich: Es gibt irreleitende Mythen des Lernens, Weiterbildens und Veränderns, die sich in vielen Unternehmen festgesetzt haben. Sie prägen das Denken und Handeln oft unbewusst und sind nicht leicht zu überwinden. Diese Mythen zu benennen und zu analysieren hilft schon dabei, vermeintlich Vertrautes auf seine Sinnhaftigkeit hin zu hinterfragen. Der zweite Schritt ist, den Mythen die Wirklichkeit gegenüberzustellen und sich darüber klarzuwerden, welche Bad Practice und welche Good Practice mit beiden, Mythen und Wirklichkeit, verknüpft sind oder verknüpft sein könnten. Bereits vereinzelt in der Praxis genutzte innovative Lernkonzepte, Erfolgsstorys und aktuelle Lern-, Bildungs- und Hirnforschung verdeutlichen erste Ansätze, wie zielgerichtete Lernprozesse in Zukunft gestaltet werden könnten.

Der zweite Teil umreißt zunächst das neue Ziel gelingender Lernprozesse in Unternehmen, die »Lernexzellenz«. Er entwickelt dann ein neues Modell, den »Lernexzellenz-Ansatz«, kurz LEA, der die Bausteine dafür liefert, wie Lernexzellenz in Unternehmen am besten zu erreichen ist. Dieses Modell wird als Ganzes und in seinen Zusammenhängen vorgestellt, danach stehen die einzelnen Bausteine und ihre Konkretisierung in der Praxis im Fokus. Weder den Begriff der Lernexzellenz noch das später vorgestellte Modell dazu gibt es bislang in der etablierten Wissenschaft und Praxis. Begriff und Modell werden daher in diesem Buch erstmals präsentiert.

Es wird deutlich: Lernexzellenz im Unternehmen und beim Einzelnen kann je nach Unternehmen, Lernzielgruppe, Zielen und anderen Faktoren unterschiedlich aussehen. Diese Unterschiede müssen in Zukunft deutlich stärker als bislang in der Praxis berücksichtigt werden. Allerdings gibt es daneben auch zentrale gemeinsame Kriterien, die Unternehmen heute erfüllen müssen oder die manche bereits erfüllen, um lernexzellent zu werden und zu bleiben. Zu diesen Kriterien gehört die Organisation von Lernprozessen, die deutlich individueller, prozesshafter, selbststeuernder und ganzheitlicher als bislang angelegt sein sollten. Zu diesen Kriterien gehört auch die Förderung des Erlebens von echter Relevanz und Zielgerichtetheit bei Lern- und Change-Projekten.

Wie aber können Unternehmen diese und weitere Exzellenzkriterien erfüllen? Wie also kann Lernexzellenz im Unternehmen (und für Manager und Mitarbeiter) entwickelt und nachhaltig weiterentwickelt werden? Die ausführliche Vorstellung der Bausteine des LEA-Modells gibt darauf Antworten – mit Praxisbeispielen illustriert und mit neuerer Forschung unterfüttert. Erste Schritte zur Umsetzung des Lernexzellenz-Ansatzes im Unternehmen lassen zudem verstehen, dass je nach Situation des Unternehmens partikular-pragmatische Vorgehensweisen sehr fruchtbar sein können.

Der Idee der lernenden Organisation und den damit verknüpften, teilweise laufend weiterentwickelten Konzepten zu Lernen, Weiterbildung und Change verdanken wir einiges. Doch die Zeiten haben sich geändert, Unternehmen und Märkte haben sich geändert, und sie tun es mit großer Geschwindigkeit weiterhin. Es ist daher an der Zeit, die im Umfeld dieser Idee entstandenen Konzept-, Begriffs- und Erlebniswelten, wie sie im betrieblichen Alltag von Unternehmen anzutreffen sind, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Lernen im Unternehmen tut dies und geht mit dem Lernexzellenz-Ansatz noch ein Stück weiter. Es wird deutlich: Das lernende Unternehmen ist nicht am Ende – im Gegenteil könnte es erst am Anfang stehen. Lernen und Veränderungsfähigkeit sind mehr denn je die Basis der Wettbewerbsvorteile, aber sie müssen anders gedacht und in der Praxis anders umgesetzt werden als bislang.

Die acht Mythen des Managements von Lern- und Change-Prozessen in Unternehmen