Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Kapitel 1
  5. Kapitel 2
  6. Kapitel 3
  7. Kapitel 4
  8. Kapitel 5
  9. Kapitel 6
  10. Kapitel 7
  11. Kapitel 8
  12. Kapitel 9
  13. Kapitel 10
  14. Kapitel 11
  15. Kapitel 12
  16. Kapitel 13
  17. Kapitel 14
  18. Kapitel 15
  19. Kapitel 16
  20. Kapitel 17
  21. Kapitel 18
  22. Kapitel 19
  23. Kapitel 20
  24. Kapitel 21
  25. Kapitel 22
  26. Kapitel 23
  27. Kapitel 24
  28. Kapitel 25
  29. Kapitel 26
  30. Kapitel 27
  31. Kapitel 28
  32. Kapitel 29
  33. Kapitel 30
  34. Kapitel 31
  35. Kapitel 32
  36. Kapitel 33
  37. Kapitel 34
  38. Kapitel 35
  39. Epilog
  40. Die Autorin
  41. Impressum

CLAIRE KELLS

Die Oberfläche des Glücks

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Ralf Schmitz

Zu diesem Buch

Das Flugzeug macht einen weiteren Satz. Durch das Fenster unter der geöffneten Sonnenblende sehe ich dunkle Kiefern, die wie in einem viel zu schnell ablaufenden Film an uns vorüberrasen. In einiger Entfernung glitzert ein See, in dem sich das bleiche Mondlicht spiegelt. Das ist doch nicht so übel, denke ich. Unmittelbar vor unserem Tod etwas so Großartiges und Natürliches zu sehen. Ich habe das Wasser immer geliebt: Seen, Meere, Schwimmbäder. Ich habe mich im Wasser immer zu Hause gefühlt.

Dann lasse ich alles los und finde stattdessen Colins glühenden Blick. Jetzt gibt es nur noch uns, unsere Wege treffen sich im wirbelnden Nirgendwo. Eine seltsame Gelassenheit überkommt mich. Als wären die Abertausende schrecklicher Momente vor diesem irgendwie zu etwas Bedeutsamen destilliert. Zu so etwas wie einem Schicksal. »So blaue Augen wie deine habe ich noch nie gesehen«, sage ich.

Eine einzelne Träne rinnt über seine Wange, so wie Tränen immer ohne Vorwarnung und ganz unerwartet fließen. Ich will sie berühren. Ich will machen, dass alles wieder gut wird.

Dröhnen. Als würden Gottes Finger über den Bauch der Maschine kratzen. Ein knirschendes Kreischen, das mein Blut in Wallung versetzt.

»Keine Angst«, haucht er.

Und dann schlagen wir auf.

Für Mom

KAPITEL 1

Seit jeher liebe ich das Wasser. In meiner ersten Erinnerung öffne ich im Pool der Nachbarn die Augen und sehe die Welt auf diese ganz andere Weise. Niemand war überrascht, als ich im Alter von drei Jahren Schwimmunterricht wollte, obwohl ich so viel kleiner als meine älteren waghalsigeren Brüder war. Als meine Mutter mich in dem Sommer, bevor ich in den Kindergarten kam, vom Sprungbrett segeln sah, bekam sie es mit der Angst zu tun, überrascht war sie nicht. Sie wollte mir eine Woche lang Poolverbot erteilen, doch mein Dad hatte eine bessere Idee: Steck sie ins Schwimmteam.

Nach dem Absturz änderten sich meine Instinkte. Selbst ein Säugling weiß, dass man unter Wasser besser nicht Luft holt, trotzdem lehnte sich mein Verstand irgendwie gegen alles auf, was ich mal gewusst hatte. Und ich dachte, das bleibt jetzt so.

Ich dachte, die Angst geht nie mehr weg.

KAPITEL 2

Die Schlange vor der Sicherheitsschleuse bewegt sich wie üblich quälend langsam voran. Stop and Go. Ständig fällt mir das Gepäck anderer Leute auf die Füße. Nach einer halben Stunde halbherziger Entschuldigungen winkt mich einer der TSA-Männer zu sich.

Er hält mir meinen Massachusetts-Führerschein unter die Nase und grinst breit. »Sicher, dass Sie das sind?«

»Yep.« Ich ringe mich zu einem Lächeln durch. Das Foto gehört nicht gerade zu denen, auf die ich am stolzesten bin: die blonde Mähne wild vom Wind zerzaust, blutunterlaufene Augen, die sommersprossige Haut weiß wie ein Babypopo. Aufgenommen im Februar, in der Woche vor den Zwischenprüfungen. Man sollte sich den Führerschein niemals im Februar ausstellen lassen.

»Sie sind jetzt brünett.«

»Yep.« Kostbare Sekunden vergehen.

»Okay«, sagt er und gibt mir den Ausweis. »Sie können durch.«

Ich nehme meinen Führerschein und wende mich der nächsten Schlange zu. Eine sechsköpfige Familie drängelt sich vor, sie haben lauter UGGs und Disney-Rucksäcke und ein ganzes Sortiment Regenschirme dabei. Ein Knirps leert seine Taschen, und lauter Pennies klimpern über den Boden. Ich sammele sie mit ein, während seine Eltern ihren übrigen Kindern nachjagen.

Fünf endlose Minuten später bin ich durchleuchtet und warte ohne Schuhe an den Füßen und mit seitlich angelegten Armen auf das Urteil. »In Ordnung«, sagt die Frau, mit so viel Begeisterung, wie man von jemandem, der das heute schon tausendmal gesagt hat, erwarten darf.

Die Menge teilt sich nicht gerade vor mir, als ich zum Gate renne, aber ich beherrsche das inzwischen wirklich gut. Manche Menschen laufen ungeschickt, mit fliegendem Handgepäck, während ihr Koffer hinter ihnen über den Teppichboden hüpft. Geschäftsleute gehen mit geübter effizienter Eleganz. Ich liege irgendwo dazwischen: ein bisschen gestresst, ohne in Panik zu geraten. Das Abendessen ist trotzdem gestrichen. Mit knurrendem Magen laufe ich an den Bars und Frozen-Yoghurt-Ständen vorbei.

Die Sache ist die, ich hätte mir das alles sparen können. Ich hätte pünktlich ankommen und vor dem Flug ein anständiges Abendessen oder wenigstens abgepacktes Sushi genießen können. Phil Markey hatte mir heute früh nach dem Training angeboten, mich zum Flughafen zu fahren, was echt ein Schock war, weil Oberstufenschüler nur äußerst selten mit Zehntklässlerinnen reden. Und am wenigsten mit Zehntklässlerinnen, die im Schwimmbecken nicht gerade den Ton angeben. Ich hab mir darüber allerdings nicht weiter Gedanken gemacht. Eine Fahrt mit dem Co-Captain? Da sag ich nicht Nein.

Meine Begeisterung ließ jedoch nach, als Phil mit Colin Shea auf dem Beifahrersitz vor dem Wohnheim aufkreuzte. Colin Shea: ernsthaft, still und über alle Maßen talentiert. Beängstigend talentiert. Ich war ihm seit dem ersten Tag meines ersten Jahres aus dem Weg gegangen. Und der Gedanke an den Versuch, Phil den Grund dafür auseinanderzusetzen …

Also stieg ich aus. Meine Entschuldigung ergab nicht mal ansatzweise Sinn – irgendwas darüber, dass mir im Auto schlecht würde und über Country Music. Phil war das egal. Colin nicht. Ihm war nie etwas egal.

Und wie auf ein Stichwort kommt Colin zum Vorschein, als ich bei Starbucks um die Ecke biege. Er zahlt gerade für einen Kaffee – einen Venti, um genau zu sein. Wer trinkt vor einem Nachtflug noch Kaffee? Und dann auch noch einen extragroßen. Ohne sich lange mit Milch und Zucker aufzuhalten. Er dankt der übermüdeten Barista, steckt Trinkgeld in die Box, als sie gerade nicht hinsieht, und läuft zum Gate.

Er wird ohne Frage als Letzter an Bord gehen. Na ja, als Vorletzter. Warum hat er so lange gewartet? Ich bete zu Gott, dass er nicht auf mich gewartet hat. Phil wusste, dass wir alle denselben Flug nach Boston gebucht haben, und Colin verfügt über ein merkwürdiges Verantwortungsgefühl. Wahrscheinlich denkt er, dass ich wegen ihm so spät dran bin. Was ja auch stimmt, aber das wird er niemals erfahren.

Ich warte noch eine Minute und checke im letzten Moment ein, bevor die Türen geschlossen werden. Hoffentlich sitzt er irgendwo weit hinten. Durch ein cleveres Täuschungsmanöver habe ich mir einen Platz direkt am Notausgang ergattert, während Colin sich bestimmt für den billigsten Platz entschieden hat.

Die Frau am Check-in-Schalter reagiert genauso auf ihn wie vorhin die Barista: überwältigt von seiner Größe und dem glänzend kahlen Kopf und besänftigt von seinem Lächeln. Sie prüft seine Bordkarte, gibt sie ihm zurück und kriegt sogar ein freundliches Guten Flug auf die Reihe.

Ich setze mich erst in Bewegung, als der letzte Aufruf ertönt, an Bord zu gehen. Im Terminal ist es ruhiger, fast still geworden. Morgen, am Tag vor Thanksgiving, wird hier wieder die Hölle losbrechen. Ein Hausmeister leert riesige Werkstofftonnen. Zwei Asiatinnen wischen den Tresen von einem Panda Express. In einem Massagesessel sitzt ein Bärtiger, drückt sein Handy ans Ohr und reibt sich die Schläfen, während die Uhr langsam auf Mitternacht zurückt.

Die Schalter-Frau schenkt mir ein für Fluggäste reserviertes, nichtssagendes Lächeln, von der Sorte, die man nicht zurückgeben muss. »Guten Flug.« Sie ist müde. Ich auch. Ich habe die katastrophale Begegnung mit Colin Shea vermieden. Und jetzt will ich nur noch ankommen.

Als ich um die Ecke biege, gähnt mich die offene Kabinentür an. Eine Flugbegleiterin überwacht den Übergang vom Skywalk zum Flugzeug und begrüßt mich mit einem putzmunteren »Willkommen an Bord!«. Es scheint sie nicht zu stören, dass ich im allerletzten Moment aufgetaucht bin, die Passagiere der Business Class sehen das jedoch anders. Sie wringen ihre heißen Handtücher aus und funkeln mich an, als hätte ich in ihren Begrüßungsschluck gepinkelt.

Ich eile durch die begehrten Reihen und betrete die beengte, anrüchige unter dem Namen Holzklasse bekannte Abteilung. Ein vertrautes Bild: müde Eltern, quengelnde Babys, alte Männer mit Stöcken, Collegestudenten, die ihre allerletzte SMS verschicken. Ein bisschen Raum für sich allein kann man in der Holzklasse vergessen. Die Passagiere sitzen aneinander gelehnt und übereinander gebeugt. Phil hat einen Fensterplatz. Glückspilz. Er zwinkert mir zu, wie das so seine Art ist, und ich lächle zurück.

»Geschafft«, sagt er.

»Grad so.«

»Die Seuche, oder?« Er deutet mit einer vagen Geste auf den hinter ihm brodelnden Hexenkessel.

»Die Pest«, sage ich und gebe mir alle Mühe, witzig zu sein.

Er nickt und wendet sich wieder dem Sportscenter-Stream auf seinem iPad zu. Nicht der gelungenste Gedankenaustausch, aber immerhin etwas. Wenigstens hat er mich zur Kenntnis genommen. Dabei hatte ich mir schon Sorgen gemacht, er würde nach dem Fahrgemeinschaftsdesaster nicht mehr mit mir reden.

Nach einem kurzen Schwenk über unbekannte Gesichter senke ich den Blick und dränge weiter. Vor mir tritt ein Mann von beachtlicher Größe auf den Gang hinaus. Erwischt mich zuerst mit dem Ellbogen, dann mit dem Knie. Keine Entschuldigung. Kein Problem. So ist das eben an einem der hektischsten Reisetage des Jahres. Die meisten kämpfen mit den Gepäckfächern, doch ein paar Passagiere starren mich auf meinem Weg durch den Mittelgang an. Ein unerschrocken blickender Teenager dreht sich sogar nach mir um und gafft mir lüstern auf den Hintern.

Zehn … elf … zwölf. 12F. Fensterplatz. Zwar nicht die Business Class, aber auch nicht 32B. Ich bleibe stehen und schaue hoch. Regel Nummer eins besagt, dass man nach Kindern im Umfeld Ausschau hält. Kinder sind übel. Kleinkinder ein Albtraum. Zwei Exemplare der zweiten Kategorie belegen die Plätze direkt hinter mir. Der Kleine auf 13E trägt ein Baseballtrikot, und 14D versinkt fast in einer winzigen indischen Kurta. Alle vier Elternteile schenken mir dasselbe unverbindliche Grinsen, als sei eine positive Einstellung schon der Schlüssel zu einem geschmeidigen Flug ohne großes Gezeter. In Reihe 15 sitzt noch ein Junge, vielleicht sechs, sieben Jahre alt, aber der ist vollauf mit der Unterhaltungselektronik seines Vaters beschäftigt. Ein gutes Zeichen. Ich hoffe bloß, die Kleineren haben heute ihren Mittagsschlaf ausgelassen.

Der einzige weitere Passagier in meiner Reihe ist ein Typ um die vierzig in einem schlecht sitzenden Anzug. Er klebt am Handy und weist einen bedauernswerten Praktikanten an, den Papierkram noch vor den Feiertagen fertig zu machen. Der Kerl sieht aus, als hätte er seit den Achtzigern nicht mehr gelächelt. Trotzdem freue ich mich über seine Gesellschaft. Denn geschwätzig ist er wohl eher nicht.

Ich manövriere um seine Beine herum und besetze meinen begehrten Fensterplatz. Die Sichtblende ist bereits oben und eröffnet den Blick auf das nächtliche Spektakel des Internationalen Flughafens von San Francisco und der Skyline von Oakland weit dahinter. Die Hügel im Osten sind mit gelben Lichtpunkten gesprenkelt, die im Dunst zwischen Headlands und Himmel allmählich verschwimmen. Im Westen verbirgt sich San Francisco hinter einer Steilwand aus Nebel.

»Verzeihung.«

Die Flugbegleiterin beugt sich in meine Reihe und schürzt in einer gelassenen Zurschaustellung von Professionalität die Lippen. Mein Blick bleibt allerdings nicht lange an ihr hängen, sondern fliegt zu dem eins neunzig großen, breitschultrigen Jungen hinter ihr.

Colin.

Ich schlucke einen Kloß im Hals runter. »Ja?«

»Dieser Herr wird sich zu Ihnen an den Notausstieg setzen.«

Der billige Anzug auf dem übernächsten Sitz stöhnt. Colin bedankt sich kaum hörbar bei der Flugbegleiterin und zwängt sich umständlich auf den gefürchteten Sitz in der Mitte. Offenbar hat er seine langen, sperrigen Beine als Vorwand für einen Platz in einer geräumigeren Reihe benutzt. Ärger schlägt über mir zusammen wie eine Welle. Das hat er doch geplant – als er mich durch den Mittelgang gehen und meinen Platz einnehmen sah, hat er eine Entschuldigung aus dem Ärmel gezaubert, seine Beine seien zu lang für 32B oder wo auch immer er eigentlich hatte sitzen sollen.

Während Colin sich auf seinem Sitz einrichtet, mache ich mich daran, geschäftig in der Tasche zwischen meinen Knien herumzukramen. Laptop, E-Reader, Stifte, eine vergammelte Badekappe. Eine Handvoll Münzen und irgendwelches Zeug, das meine Finger nicht identifizieren können. Ich setze meine Suche fort.

Laptop. Das ist es. Ich drücke mir Stöpsel in die Ohren und fahre das Gerät hoch. Doch der Akku ist leer. Wie konnte das denn passieren? Also greife ich zum Handy. Darauf ist nur ein einziger Song gespeichert, der Mustersong meines Telefonanbieters, aber das muss fürs Erste genügen.

So weit, so gut. Colin streckt derweil die Beine aus und winkelt die Ellbogen an den Körper. Erstaunlich für einen so großen Kerl, wie wenig Platz er einnimmt. Die meisten Menschen parken ihre Ellbogen in Missachtung jeglicher Privatsphäre auf den Lehnen ihrer Sitznachbarn. Ein beträchtlicher Teil nickt anschließend schnarchend ein oder, noch schlimmer, verbringt den Flug mit dem Kopf an meiner Schulter. Colin nimmt wenigstens Rücksicht auf seine Umgebung. Entweder das, oder er bemüht sich über Gebühr.

Er fährt sich mit seiner Pranke leicht über den kahlen Schädel, bevor er zu einer eselsohrigen Ausgabe von Charles Dickens’ Große Erwartungen greift. Obwohl ich mir alle Mühe gebe, in die andere Richtung zu schauen, kann ich nicht umhin, die handschriftliche Aufforderung zu bemerken, das Buch, falls es gefunden würde, zurückzugeben. Colins Name und Anschrift in Dorchester sind auf die Innenseite des Umschlags gekritzelt. Ich widerstehe dem unerklärlichen Impuls, zu fragen: Du kommst aus Dorchester? Als wir uns vor einem Jahr kennenlernten, sagte er mir, er stamme aus Boston. Was nicht unbedingt gelogen ist, auch wenn man bei Boston eher an Country Clubs und alten Reichtum denkt. Dorchester hingegen heißt, dass man vermutlich in einem öffentlichen Freibad hinter einem Maschendrahtzaun schwimmen gelernt hat.

Aber ich nehme an, die Einzelheiten spielen keine Rolle. Am besten, ich tue desinteressiert, mache die Augen zu und lasse die Stunden vorüberziehen. Denn das werden sie, und sobald wir gelandet sind, gehen wir wieder getrennte Wege.

Die Beleuchtung wird gedimmt, die Reifen rucken, das Flugzeug rumpelt rückwärts. Der Miesepeter im Anzug bellt die letzten Befehle in sein Handy, während der Herr hinter mir bereits schnarcht. Es klingt, als würde sein Kehlkopf mit den Stimmbändern ringen, definitiv ein Kampf auf Leben und Tod. Ich drehte den Mustersong auf. Und allmählich gehen die Fluggeräusche in ein friedvolles Dröhnen über.

Ich schließe die Augen. In sechs Stunden bin ich am Ziel.

Zu Hause.

Vor mir erstreckt sich eine graue Küste unter einem wolkig grauen Himmel. Eine endlose Szenerie, Sand und Himmel, zwei riesenhafte Gespenster in gottverlassener Umarmung. Das Wasser schlägt gegen den Strand. Entrückt. Überspült meine Füße, meine Knöchel, meine Knie. Dann weicht es zurück.

Weiter draußen steigt die Brandung. Schwarz, formlos, unausweichlich. Während mein Verstand die Gefahr verarbeitet, weigert sich mein Körper, darauf zu reagieren. Die Muskeln wollen sich nicht anspannen. Die Lungen nicht mit Luft füllen. Paralysiert starre ich die Wasserwand an, die sich vor mir aufbaut und Kraft sammelt, um über mir zusammenzustürzen.

Doch die Welle besteht nicht aus Wasser, sondern aus Lauten: menschliche Laute. Rufen. Schreien. Das ferne Echo menschlicher Stimmen. Schrill vor Angst.

Ich schlage die Augen auf und stelle fest, dass ich nicht allein an einer unüberschaubaren grauen Küste gestrandet bin. Ich sitze auf meinem Platz. Von der Decke baumeln Plastikschläuche. Auf den Tischen klappern die Tabletts. Die Kabinenbeleuchtung flackert, während ich durchs Fenster einen grimmigen, sternenlos schwarzen Himmel sehe.

Der Mann neben Colin hat irgendwas fallen lassen. Nun kriecht er auf allen vieren auf dem Boden nach vorne. Das Flugzeug neigt sich in dieselbe Richtung, sodass wir alle nach vorne überkippen, wie auf einer schlecht ausbalancierten Wippe. Ich blinzle ein paarmal, um den Blick scharf zu stellen, und bete, dass die Bilder einfach verschwinden – aber die Geräusche geben ihnen Wirklichkeit. Gott, diese Geräusche …

Ich presse die Hände auf die Ohren, spüre aber nur den Widerstand der Ohrstöpsel. Das Kabel baumelt gewichtslos, und in einem abgelegenen Winkel meines Hirns denke ich über die Bedeutung eines verlorenen Handys nach. Als das Flugzeug in den Sinkflug geht, wende ich meine Aufmerksamkeit dem Fenster zu.

Die Sichtblende ist noch oben und eröffnet den Blick auf ein makelloses, höhnisches Nichts. Wir könnten uns ebenso gut auf dem Meeresgrund wie eine Million Meilen von der Erde entfernt im Weltraum befinden – das lässt sich unmöglich feststellen. Ich drücke die Stirn gegen das Glas und versuche, etwas zu erkennen. Irgendetwas. Lichter, Menschen, Häuser, Autos. Oder eine einladend erleuchtete Landebahn.

Aber da draußen ist nichts. Ich habe noch nie eine so undurchdringliche Finsternis gesehen. Wir könnten überall und nirgends sein.

Sauerstoffmasken hüpfen über den Sitzen wie an Spiralfedern. Eine Reisetasche mit Leopardenprint landet im Durchgang zwischen Business- und Touristenklasse. Die Beleuchtung flackert. Alarmtöne plärren. Das Brausen der Luft will mir die Trommelfelle zerfetzen, obwohl ich noch die Ohrstöpsel drinhabe. Ich ziehe sie raus, um mich der Wucht der Ereignisse auszusetzen.

Endlich wird mir klar, dass wir abstürzen. Und es gibt andere Menschen, die diesen Albtraum mit mir teilen, zweihundert Menschen, die denselben Horror sehen, dieselbe Verzweiflung durchmachen und dasselbe Stakkato tosender Luft und Turbinen hören. Unsere Wege sollten sich in Boston wieder trennen, aber dazu ist es nicht gekommen. Hier sind wir. Und sterben. Gemeinsam.

Ich kenne diese Menschen nicht. Ich liebe sie nicht, sie bedeuten mir nichts, ich weiß nicht mal, wie sie heißen. Wäre es dann einfacher? Wären wir uns dann näher? Oder würden wir noch lauter schreien und uns an unseren Lieben festklammern?

Die Maschine macht einen Satz, mein Kopf knallt gegen die Rückenlehne. Ein scharfer Schmerz fährt mir durch die Brust und lässt wieder nach. Dann spüre ich eine Hand auf meinem Arm, warm, weich, ruhig. Und in dem Moment wird es still. Ruhig.

»Geht’s dir gut?«

Colin.

Seine Stimme ist weicher, als ich sie in Erinnerung habe. Und ich brauche einen Moment, um zu erkennen, warum: Die Unsicherheit ist verschwunden. Genau wie die Schüchternheit. Die Fassade, mit deren Hilfe er unsere affektierten Wortwechsel bewältigt hat, ist von ihm abgefallen und durch eine andere, stärkere, aufrichtigere Persönlichkeit ersetzt worden.

In diesem Moment drängt sich mir eine einzige Frage auf: Wieso?

Wieso ist Colin Shea jetzt hier, bei mir, wo er doch ganz woanders hatte sitzen sollen? Wieso versucht er sich nicht, wie so viele andere, erst mal selbst in Sicherheit zu bringen? Wieso ruft er nicht seine Mutter oder seinen Vater oder sonst wen an, der ihm irgendwas bedeutet?

Und wieso fühlt es sich auf einmal so an, als hätte ich ihn schon mein ganzes Leben lang gekannt?

Ich sehe wieder klarer. Ich kann seine Augen jetzt ganz genau erkennen: ein pulsierendes, turbulentes Blau von der Farbe des Himmels kurz vor Sonnenaufgang. Dunkel, doch trotzdem irgendwie tröstlich.

»Alles gut«, antworte ich.

Er klappt die Armlehne hoch und nimmt meine Hand; sofort legt sich die Panik, die mich hinten im Hals gekitzelt hatte. »Ich will nur nicht sterben«, sage ich mehr zu mir selbst als zu ihm, doch offenbar hört er, was ich sage, denn er drückt meine Hand nun noch fester.

»Wirst du nicht.« Er schließt unsere Sicherheitsgurte und gibt mir ein Kissen, das er von dem mittlerweile leeren Platz neben sich erbeutet haben muss.

»Das ist nicht mein –«

»Ich weiß«, sagt Colin. »Versuch trotzdem, es dir in den Nacken zu stopfen.«

Die Schreie schwellen mit dem Sinkflug der Maschine an und ab; irgendwo schlägt eine Tür gegen irgendeinen Widerstand, während der Getränkewagen führerlos durch den Mittelgang trudelt. Colin bleibt in dem Durcheinander nicht nur ruhig, er schöpft sogar irgendwie Ruhe daraus; die Hysterie ringsum berührt ihn überhaupt nicht.

Er glaubt wirklich, wir hätten eine Chance.

»Hast du ein Handy?« Ich mache mich daran, das Fach in der Rückenlehne vor mir zu durchwühlen und fördere Magazine und die Instruktionen für den Gebrauch der Schwimmweste zutage. Meine Hände zittern, und vor meinen Augen verschwimmt alles. »Wir sollten versuchen, jemanden anzurufen …«

»Wir werden nicht sterben.« Damit drückt er mir das Kissen in den Nacken und legt dann seine starke, ruhige Hand in die Mulde zwischen meinen Schulterblättern. Eine kleine, in einer anscheinend schrumpfenden Welt jedoch bedeutsame Geste. Er ist so warm. Und so ruhig, als wäre er genau für so etwas geschaffen. Dafür, hier zu sein, in diesem Augenblick, aus Gründen, die ich nie im Leben verstehen werde.

Zusammen machen wir uns so klein, wie unsere Körper und unsere Plätze es zulassen. Die Zeit kriecht und bleibt dann ganz stehen. Die Sauerstoffmasken flattern über meinen Rücken wie aufgescheuchte Vögel. Schreie werden zu Schluchzern. Das Flugzeug bricht nach oben, unten und zur Seite aus. Ich würde so gerne aus dem Fenster sehen, um meine Orientierung wiederzugewinnen. Um einen letzten Blick auf einen Stern, ein Haus oder auch nur den Himmel zu werfen, bevor ich sterbe. Bevor alles aufhört.

Stattdessen starre ich meine Schuhe an. Ein altes, abgetragenes Paar Nikes, die nach den ungezählten Stunden am Schwimmbecken den Geruch von Chlor ausdünsten. Ein Schnürsenkel ist offen, aber ich kann ihn mit um die Knie verschränkten Armen unmöglich zubinden. Also kauere ich da, starre das vergilbte Nike-Markenzeichen an und schaue zu, wie meine Tränen den billigen blauen Teppichboden beflecken. Wie furchtbar, kurz bevor man stirbt, nichts anders zu sehen als Limonadenflecken, Staub und eine tote Spinne. Andererseits habe ich viel zu viel Angst, um etwas anderes anzusehen. Ich traue mich nicht mal, mich zu rühren, bis Colin meinen Namen sagt und das blanke Entsetzen abermals sofort nachlässt.

Wir sind keine zwanzig Zentimeter auseinander, unsere Gesichter kommen sich so nahe, dass ich den Pfefferminzhauch in seinem Atem registriere. Er muss sich nach dem Kaffee vorhin die Zähne geputzt haben, was, wie ich genau weiß, in diesem Moment ein Wahnsinnsgedanke ist, der mir aber trotzdem durch den Kopf schießt, wie ein Körnchen Trost im Chaos.

Ich bin froh, dass er hier ist – jemand Vertrautes, jedenfalls im weitesten Sinn. Wahrscheinlich denkt er an seine Familie, seine Eltern, seine Geschwister, falls er welche hat. An die Menschen, die ihn großgezogen und jetzt in Erwartung seiner Heimkehr ihren Wecker auf fünf Uhr gestellt haben.

Die Frage kommt mir einfach so über die Lippen: »Wirst du deine Familie nicht vermissen?«

Er schaut mich lange an. Ein gequälter Ausdruck fliegt über sein Gesicht und vergeht wieder. »Wir schaffen das, Avery.«

Etwas daran, wie er meinen Namen ausspricht, lässt mich die umherfliegenden Gepäckstücke und die blinkenden Lichter vergessen, obwohl das Flugzeug zuerst einen Satz macht und dann nach einem harten Stoß durchsackt. Sofort erhebt sich ein Chor neuer Schreie. Etwas prallt gegen die Decke und fällt dann schlaff auf den Boden. Kurz erkenne ich einen Kopf und schließe die Augen so fest, dass es wehtut.

Als hätte es noch irgendetwas zu bedeuten, kommt jetzt eine Durchsage über die Lautsprecher. »Hier spricht Ihr Flugkapitän. Bereiten Sie sich auf den Aufprall vor.«

Diesmal sehe ich durch das Fenster unter der geöffneten Sonnenblende dunkle Kiefern, die wie in einem viel zu schnell ablaufenden Film an uns vorüberrasen. In einiger Entfernung glitzert ein See, in dem sich das bleiche Mondlicht spiegelt. Das ist doch nicht so übel, denke ich. Unmittelbar vor unserem Tod etwas so Großartiges und Natürliches zu sehen. Ich habe das Wasser immer geliebt: Seen, Meere, Schwimmbäder. Ich habe mich im Wasser immer zu Hause gefühlt.

Dann lasse ich alles los und finde stattdessen Colins Blick. Jetzt gibt es nur noch uns, unsere Wege treffen sich im wirbelnden Nirgendwo. Während ich zu verarbeiten versuche, was es bedeutet, in diesem Moment bei diesem vertrauten Fremden mit seinem sanften Lächeln und seinem festen, glühenden Blick zu sein, überkommt mich eine seltsame Gelassenheit. Als wären die Abertausende schrecklicher Momente vor diesem irgendwie zu etwas Bedeutsamen destilliert. Zu so etwas wie einem Schicksal. »So blaue Augen wie deine habe ich noch nie gesehen«, sage ich.

Eine einzelne Träne rinnt über seine Wange, wie sie ohne Vorwarnung und ganz unerwartet fließt. Ich will sie berühren. Ich will machen, dass alles wieder gut wird.

Dröhnen. Als würden Gottes Finger über den Bauch der Maschine kratzen. Ein knirschendes Kreischen, das mein Blut in Wallung versetzt.

»Keine Angst«, haucht er.

Und dann schlagen wir auf.

KAPITEL 3

Das Datum schreit mich von dem Krankenhaus-Whiteboard an: Mittwoch, 10. Dezember.

Wieso ist plötzlich der zehnte Dezember?

Während ich noch darüber nachdenke, huscht die Krankenschwester herein und teilt mir mit, dass jetzt Frühstückszeit ist. Sie stellt das Tablett auf meinem Tisch ab, worauf der Geruch von Fließbandeiern den Raum erfüllt. Anders als gestern oder in den Tagen davor darf ich mir heute kein Mittagessen aussuchen.

Weil ich heute entlassen werde.

In der Ecke liegt ein Stapel Decken zum Wechseln. An der Wand gegenüber windet sich ein Elektrokabel hinter einem nicht angeschlossenen Flachbildfernseher hervor. Ich starre stundenlang auf den leeren Bildschirm und projiziere die Bilder von rabiaten Reportern und ihren sensationslüsternen Schlagzeilen darauf. Immer wieder dieselben betagten Fotos der abgelegenen Bergregion, wie ein zu oft gezeigter Werbespot. Ich wollte andere Sender sehen. Bücher lesen oder in Zeitschriften blättern. Selbst jetzt noch höre ich die Nachrichten aus dem abgeschalteten Monstrum und sehe ihre Gesichter und wünsche mir, es würde endlich aufhören.

Vor ein paar Tagen kam eine Dame mit feuerrotem Haar zum Interview. Man bürstete meine Haare und versuchte, die Spuren des Windbrands so gut es ging unter Make-up zu verstecken. Irgendwer gab mir einen hellroten Sweater, den ich über mein Krankenhaushemd ziehen sollte, jemand anderes half mir beim Zuknöpfen.

Bis dahin kam mir alles fast ganz normal vor, wie ich so in diesem Zimmer vor dem Fernseher saß und den blauen Himmel hinter dem Fenster sah, während meine Eltern am Fuß des Bettes saßen wie Vögel auf der Stange. In langen, traumlosen Nächten schlief ich den Schlaf der Sedierten. Die Tage ein Kreislauf aus Frühstück und Mittagessen und Nickerchen. Ich lebte in einem Nebel – einem warmen, dumpfen, wunderbaren Nebel.

Dann begann die Dame mit dem roten Haar mir Fragen zu stellen.

Wie haben Sie den Flugzeugabsturz erlebt?

Hatten Sie Angst?

In welchem Verhältnis standen Sie zu Colin Shea?

Und natürlich: Was ist da draußen passiert?

Schließlich feuerte ich die Fernbedienung aus dem Fenster, was ihr Hipster-Kameramann natürlich im Bild festhielt. Zwei Krankenschwestern drängten die beiden daraufhin aus dem Zimmer. Der Nebel hatte sich trotzdem gelichtet. Danach träumte ich in grellem Rot und schlierigem Blau. Ich sah bleiche, erstarrte Gesichter, deren Münder sich lautlos bewegten, wie bei sterbenden Fischen. Ich sah Gürtel ohne Schnallen, Flammen ohne Ursache, einen See ohne Grund. Ich sah drei kleine Jungen, die tot in meinen Armen lagen. Und ich sah Colin, wie er jemanden rettete.

Die Ärzte sagen, dass damit zu rechnen war. Sie sagen, das Vergessen sei das beste Mittel gegen die psychischen Verheerungen nach einem traumatischen Erlebnis und es würde mir besser gehen, wenn ich mich nicht erinnere. Mag sein, die Medienleute sehen das anders, aber die müssen sich auch nicht mit diesen Träumen herumschlagen. Sie wachen nicht mitten in der Nacht auf, krallen ihre Finger in die Bettlaken und fragen sich, ob sie in dieser Nacht jämmerlich erfrieren müssen. Die Träume lassen mich wünschen, ich wäre mit den anderen bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Dann gäbe es keine Medienleute, keine Dame mit rotem Haar, keine Fragen. Nur eine einfache, logische Erklärung. Ein Sturm aus Fotos und traurigen Geschichten. Eine Schlagzeile in schaurig schwarzen Lettern: FLUGZEUGABSTURZ IN DEN ROCKIES! KEINE ÜBERLEBENDEN. Stattdessen bin ich das Sternchen am Ende des Textes. Das Fragezeichen. Und auf jeden, der mein Glück preist, kommt ein anderer, der fragt. Warum gerade sie?

Während ich noch mit den Zehen wackle, betritt mein Dad das Krankenzimmer. Ich habe mir das mit den Zehen zur Gewohnheit gemacht, als tägliche Prüfung, ob sie mir noch gehorchen.

»Gut geschlafen?« Er reicht mir eine dampfend heiße Tasse Kaffee. Schwarz, ein bisschen dünn. Eigentlich trinke ich meinen Kaffee mit Milch und Zucker, aber im Moment kommt es mir nur auf die Wärme an. Als mich die heiße Flüssigkeit durchströmt, fühle ich mich endlich wieder wie ein Mensch.

»Nicht wirklich.«

»Das wird besser.« Aus ihm spricht ein wahrer Arzt. Mein Dad ist natürlich nicht mein behandelnder Arzt, trotzdem verwischt der Umstand, dass ich im Krankenhaus liege, die Grenze zwischen Patientin und Tochter. Dem Personal gegenüber schweigt er, beschwert sich aber grummelnd bei jedem, der ihm zuhört, über meine anstehende Entlassung. Nur nicht bei mir. Ich stehe im Dauerfeuer gebellter Rehabilitationsbefehle: Du musst mehr essen! Ich will, dass du aufstehst! Wenn man nur im Bett liegt, fühlt man sich gebrechlicher, als man eigentlich ist! Heute drehst du fünf Runden ums Gelände! Und morgen sechs! Und so weiter. Kein Wunder, dass ich so erschöpft bin.

»Wo ist Mom?«, frage ich.

»Draußen.«

»Draußen?«

Er sieht mich unverwandt an und sagt: »Avery, ich denke, es wird Zeit –«

»Nein.« Kaffee schwappt über den Becherrand und prickelt heiß auf meinen Oberschenkeln. Dad entwindet mir den Becher. Sein geübter Blick bemerkt die kleinen roten Flecken auf meiner Haut. Sobald er zu dem Schluss kommt, dass es nichts Schlimmes ist, verschränkt er die Arme vor der Brust und funkelt mich an.

»Du hast heute zum letzten Mal Gelegenheit, diese Jungen zu treffen, bevor wir nach Hause fahren.«

»Das kann ich auch noch in Boston.«

»Avery –«

»Ich will sie aber nicht sehen.« Ich wende mich dem Fenster zu; wie ich es hasse, dass meine Stimme so zittert. »Die Ärzte meinten, sie würden sich sowieso an nicht viel erinnern.«

Wäre ich eine Patientin in seiner Notaufnahme, würde er jetzt einfach aufstehen und gehen. Mein Vater streitet sich mit niemandem. Was anderen egal ist, ist ihm auch egal. Aber ich bin seine Tochter, also steht er da und wartet schweigend ab.

»Schön«, sagt er dann.

»Schön?«

»Du willst dich nicht mit dem, was geschehen ist, auseinandersetzen. Deine Entscheidung. Aber irgendwas musst du ihnen liefern.«

Er geht raus, zum Stationszimmer, kommt aber kurz darauf zurück. Gott sei Dank allein. Aber er hat die Hände voll und seinen todernsten Ärzteblick aufgesetzt.

»Was wird das jetzt?«

»Ich zeige dir die Optionen auf.« Dann breitet er eine Sammlung von Gegenständen vor mir aus: sein Handy, einen Stift, mehrere Blätter Papier, drei Umschläge, Autoschlüssel, sein iPad. Schließlich schreibt er eine Adresse auf, darunter eine Telefonnummer.

»Mehr brauchst du nicht, um dich mit den Jungen in Verbindung zu setzen.«

»Dad –«

»Mir ist egal, wie du es machst. Wirklich. Aber du wirst hier, verflucht noch mal, nicht weggehen, als sei überhaupt nichts passiert, Avery. So schwach bist du nicht.«

Doch, ich bin schwach. Ein stärkerer Mensch hätte die Fragen der Medien in allen Einzelheiten beantwortet, Stück für Stück, bis auf die Knochen aufrichtig. Stattdessen hatte ich der Welt eine auf Verleugnung und Selbstschutz basierende Geschichte erzählt. Überleben. Was für eine großspurige Lüge!

Er schiebt den Klapptisch in meine Richtung. »Ich bin in einer Stunde wieder hier.«

Meine Eltern kommen auf die Minute pünktlich mit meinem Entlassungsbrief zurück. Dad schaut zu, wie ich aus dem Bett krieche, ein mühevolles, erbärmliches Unterfangen, das mich bis ins Mark demütigt. Meine Mom schweigt klugerweise. Der Rollstuhl ist schon vor Tagen auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ich habe den Verdacht, dass mein Dad ihn, während ich schlief, aus dem Fenster geworfen hat.

»Du kannst ja laufen, nicht wahr?«

Er fragt nicht, ob ich laufen kann. Seine Erwartung steht fest. Er gibt mir eine Strickjacke und sieht zu, wie ich mit den Ärmeln kämpfe. Er drängt mich nicht, hilft mir aber auch nicht.

Als es vollbracht ist, schiebe ich drei Umschläge in meine Gesäßtasche. Dad steckt die Autoschlüssel ein. Meine Mutter gibt ihr Bestes, das Schritttempo vorzugeben. Langsam. Quälend, therapeutisch langsam. Auf dem Gang überholt uns ein an Sauerstoff angeschlossener Achtzigjähriger.

Gemeinsam schaffen wir es zu den Aufzügen. Ich will gerade den Knopf drücken, da deutet mein Vater auf das Treppenhaus. Er gibt einfach nicht auf.

Die Treppe ist, so stellt sich heraus, eine gute Therapie. Meine Beine fühlen sich mit jedem Schritt stärker an, als würden meine Muskeln sich endlich darauf besinnen, wieder zu funktionieren. Die Kälte hat alles erstarren lassen: Knochen, Muskeln, Gelenke. Mein Körper war dabei, den Betrieb einzustellen.

»Gut«, sagt Dad. »Das sieht schon kräftiger aus.«

Ich weigere mich, das versteckte Kompliment zur Kenntnis zu nehmen, während wir auf die Schiebetüren zugehen. Der Weg bis zum Parkplatz ist lang. Doch wir lassen uns Zeit. Dad gestattet mir Pausen – allerdings nicht viele. Schließlich öffnet er die Hintertür und hilft mir beim Einsteigen.

»Du kennst die Adresse«, sage ich.

Die Fahrt durch die Stadt zum Children’s dauert zwölf Minuten. Die Fassade ist wie bei den meisten Kinderkrankenhäusern hell und freundlich, und es gibt so viele Fenster, dass sie auf ganzer Breite die Sonne widerspiegeln. Auf dem Gelände wimmelt es in der Art Chaos, in dem Hoffnung gedeiht, von Eltern und Kindern und Babys und Ärzten.

Dad hält vor dem Haupteingang; offenbar ist er der Meinung, dass ich für einen Tag genügend Auslauf hatte. »Wir parken und treffen dich dann drinnen«, sagt er und duldet keinen Widerspruch.

Meine Eltern fahren Richtung Parkplatz davon. Die ersten Schritte kriege ich kaum richtig mit, während ich mich gegen meine Nervosität und das bevorstehende Verhängnis stemme. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als sich die Eingangstüren vor mir öffnen, mit einem Fauchen, das jetzt, da ich so viele Stunden hinter ähnlichen Schiebetüren zugebracht habe, ganz anders klingt.

Der Wartebereich der Notaufnahme vibriert von den fiebrigen Ängsten der Mühseligen und Beladenen. Babys schreien. Eltern warten mit angehaltenem Atem, während die Schwestern Namen sortieren und aufrufen.

Die Briefe in meiner Gesäßtasche rascheln bei jedem Schritt, eine ständige Erinnerung an das, was ich nun tun werde. So war das nicht geplant. Ich habe versprochen, dass es nicht so laufen würde. Und doch ist es genau so gekommen.

Was würde Colin jetzt von mir denken?

Ich schaffe es bis zur Anmeldung, bevor die Wände sich um mich zu drehen beginnen. Eine Frau mit Achtzigerfrisur und lila Sonnenbrille strahlt mich an.

»Hallo, ich begrüße Sie im Children’s. Was kann ich für Sie tun?«

Ich möchte ihre Namen aussprechen: Tim. Liam. Aayu. Ich sehe vor mir, wie ich es tue; fast kann ich ihre Gesichter erkennen, ihre winzigen Hände, ihre kleinen Körper, wie sie in den mit Enten bedruckten Krankenhaushemden für Kinder versinken.

»Ma’am?«

»Ich –«

Während ich noch dastehe und mit dem Inhalt meiner Gesäßtasche kämpfe, geht ein Alarm los. Nicht das gleichmäßige, einschläfernde Pulsen der Monitore, sondern ein schrilles, verzweifeltes Kreischen, das Schlimmstes verkündet.

»Kode Blau, Zimmer 438! Kode Blau, Zimmer 438!«

Hier spricht Ihr Flugkapitän. Bereiten Sie sich auf den Aufprall vor.

Dann höre ich nicht mehr nur das Leiern einer Krankenhausdurchsage, sondern werde von einer grausigen Welle verschluckt, die mir die Luft abschnürt. Mir wird eisig kalt, von den Füßen angefangen das Rückgrat hinauf bis ins Mark. Fast wie im Fieber, wie Eiswasser in den Adern.

Ich wende mich dem Ausgang zu, bin aber nicht schnell genug. Meine Beine knicken ein, und die Krankenhausbeleuchtung hüllt sich in Schatten. Ich beschließe, mich nicht dagegen zu wehren, weil das zu meinem neuen geschädigten, traumatisierten, verlorenen Ich gehört.

Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt irgendwas überlebt habe.