Cover

Val McDermid

Ein Ort für die Ewigkeit

Aus dem Englischen von Doris Styron

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Val McDermid

Val McDermid wurde 1955 in Kirkcaldy im schottischen Fife geboren und wuchs dort in einer Bergarbeiterfamilie auf. Nach der Schulzeit studierte sie Englisch in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften Zeitungen lebt sie heute als freie Autorin in Manchester und in einem kleinen Dorf an der englischen Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten Autorinnen im Spannungsgenre und ist außerdem als Krimikritikerin der BBC, der Times, des Express und der Krimi-Website Tangled Web sowie als Jurymitglied mehrerer Krimipreise eine zentrale Figur in der britischen Krimiszene. Ihre Kriminalromane und Thriller sind weltweit in mehr als 25 Sprachen übersetzt. Für ihr Lebenswerk erhielt sie 2010 die angesehenste Auszeichnung, die es in Großbritannien für Kriminalromane gibt: den Diamond Dagger der britischen Crime Writers’ Association.

Über dieses Buch

Düster der Ort und verschlossen die Menschen von Scardale, einem 30-Seelen-Dorf, wo an einem rauen Dezembertag ein Mädchen verschwindet. Es gibt einen Mörder, aber keine Leiche, es gibt Gerechtigkeit, aber keine Wahrheit.

In brillanten Spannungsbögen zeichnet Val McDermid nicht nur das Psychogramm eines leidenschaftlichen Kommissars, sondern eines ganzen Dorfes, das – so scheint es – den Mantel des Schweigens über ein entsetzliches Verbrechen gelegt hat.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 1999 Val McDermid

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2000 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Collection Albert-Kahn, Departement des Haute-de-Seine

ISBN 978-3-426-41497-2

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To my evil twin;

laissez les bons temps rouler, cher.

Und man wird dich zu dem Ort bringen, von dem du gekommen bist, und von dort zu dem rechtmäßigen Ort der Hinrichtung. Dort sollst du am Hals gehängt werden, bis der Tod eintritt, und danach soll dein Körper in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Gelände des Gefängnisses begraben werden, wo du zuletzt vor der Hinrichtung festgehalten wurdest; und möge Gott sich deiner Seele erbarmen.

 

Das offizielle Todesurteil nach dem englischen Gesetz.

 

 

LE PENDU: DER GEHÄNGTE

 

Bedeutung für die Weissagung: Die Karte bedeutet Leben in der Schwebe. Umkehrung des Geistes und der Lebensweise. Übergang. Aufgeben. Verzicht. Die Veränderung der Lebenskräfte. Neuerliche Anpassung. Regeneration. Wiedergeburt. Verbesserung. Anstrengungen und Opfer mögen nötig sein, um sich einem Ziel zu nähern, das vielleicht nicht erreicht wird.

 

Die Weisheit der Tarotkarten –
zum Vergnügen und zur Voraussagung der Zukunft.
S. R. Kaplan

Erstes Buch

Einleitung

Wie Alison Carter wurde ich im Jahr 1950 in Derbyshire geboren. Wie sie wuchs ich in einem Tal in der Gegend um den White Peak auf und kannte die schroffen Kalksteintäler und die winterlichen Schneestürme gut, durch die wir oft vom übrigen Land abgeschnitten waren. Nur in Buxton war es möglich, daß im Monat Juni ein Kricketspiel gegen eine andere Grafschaft wegen Schneefalls abgebrochen werden mußte.

Als Alison Carter im Dezember 1963 verschwand, bedeutete das für mich und meine Klassenkameradinnen mehr als für die meisten anderen Leute. Wir kannten Dörfer wie das, in dem sie aufgewachsen war. Wir kannten die Dinge, mit denen sie sich jeden Tag beschäftigt hatte. Wir durchlitten ähnliche Schulstunden, und wenn wir danach unsere Mäntel holten, führten wir ähnliche Diskussionen darüber, welcher der glorreichen Vier für uns der tollste Beatle war. Wir glaubten, wir hätten die gleichen Hoffnungen, Träume und Ängste wie sie. Deswegen waren wir alle von Anfang an sicher, daß Alison Carter etwas Schreckliches passiert war, denn wir wußten auch, daß Mädchen wie sie und wie wir nicht wegliefen. Jedenfalls nicht in Derbyshire mitten im Dezember.

Nicht nur die dreizehnjährigen Mädchen dachten so. Mein Vater war einer aus der Schar der Hunderte von Freiwilligen, die die Hochmoore und die waldigen Täler um Scardale absuchten, und sein grimmiger Gesichtsausdruck nach einem ergebnislosen Tag ist mir noch lebhaft im Gedächtnis.

Wir verfolgten die Suche nach Alison Carter in den Zeitungen, und noch wochenlang setzte täglich irgend jemand in der Schule neue Vermutungen in Gang. Und nach all den Jahren hatte ich immer noch mehr Fragen an den pensionierten Polizeibeamten George Bennett, als er beantworten konnte.

Ich habe mich beim Schreiben meines Buches nicht ausschließlich auf die damaligen Notizen George Bennetts und seine heutigen Erinnerungen gestützt. Während der Recherchen zu der Geschichte besuchte ich Scardale und die Umgebung mehrmals und sprach mit vielen Personen, die in dem Geschehen um Alison Carter eine Rolle gespielt hatten, sammelte ihre Eindrücke, verglich ihre Aussagen über die Ereignisse, wie sie sie erlebt hatten. Ohne die Hilfe von Janet Carter, Tommy Clough, Peter Grundy, Charles Lomas, Kathy Lomas und Don Smart hätte ich das Buch nicht schreiben können. Bei den Gedanken, Gefühlen und Aussagen der Personen habe ich einige Freiheit walten lassen, aber die Grundlage dieser Textpassagen sind meine Gespräche mit den noch lebenden Hauptpersonen, die bereit waren, mich in meiner Bemühung um ein wahrheitsgetreues Bild sowohl von einer Gemeinde als auch ihrer einzelnen Mitglieder zu unterstützen.

Über einige der Dinge, die an jenem schrecklichen Dezemberabend im Jahr 1963 geschahen, werden wir natürlich nie etwas erfahren. Aber für jeden, der auch nur von ferne mit Alison Carters Leben und Tod in Berührung gekommen ist, gibt George Bennetts Bericht einen faszinierenden Einblick in eines der grausamsten Verbrechen der sechziger Jahre.

Allzulang lag ihre Geschichte im Schatten der verständlicherweise weit bekannter gewordenen Moor-Morde. Aber Alison Carters Schicksal ist nicht weniger schrecklich, nur weil sie das einzige Opfer ihres Mörders war. Und ihr Tod hat uns auch heute noch etwas zu sagen. Wenn Alison Carters Geschichte eine Botschaft vermittelt, dann ist es die, daß sich die größten Gefahren hinter einem freundlichen Gesicht verbergen können.

Nichts kann Alison Carter ins Leben zurückbringen. Aber die Erinnerung an das, was ihr geschah, kann vielleicht andere davor bewahren, zu Schaden zu kommen. Wenn mein Buch dieses Ziel erreicht, wird das sowohl für George Bennett als auch für mich eine gewisse Genugtuung bedeuten.

 

Catherine Heathcote
Longnor, 1998

Prolog

Das Mädchen nahm Abschied von seinem Leben. Und es war kein leichter Abschied.

Wie alle Teenager hatte sie sich immer über jede Menge Dinge zu beklagen gehabt. Aber jetzt, wo sie im Begriff war, dieses Leben zu verlieren, schien es plötzlich sehr wertvoll. Endlich begann sie zu verstehen, warum ihre älteren Verwandten so zäh an jedem kostbaren Augenblick hingen, selbst wenn er von Schmerzen erfüllt war. So schlimm dieses Leben auch war, die Alternative war unendlich viel schlimmer.

Sie hatte sogar angefangen, gewisse Dinge zu bereuen. Zum Beispiel, daß sie ihrer Mutter oft den Tod gewünscht und gewollt hatte, ihr Traum, ein Wechselbalg zu sein, möge in Erfüllung gehen; wenn sie ihre Mitschüler, die sie beschimpften, weil sie nicht zu ihnen gehörte, voller Haß betrachtet hatte; wenn sie sich heftig danach gesehnt hatte, erwachsen zu sein und all diese Qualen hinter sich zu haben. All das schien nun nicht mehr wichtig. Das einzige, was eine Rolle spielte, war ihr unersetzlich kostbares Leben, das sie nun verlieren sollte.

Sie muß große Angst gehabt haben. Angst vor dem, was jetzt unmittelbar auf sie zukam, und vor dem Danach. Sie war im Glauben an den Himmel erzogen worden und auch an sein notwendiges Gegenstück, die Hölle, die gleich große und entgegengesetzte Kraft, die die Welt im Gleichgewicht hielt. Sie hatte ihre eigenen, sehr klaren Vorstellungen davon, wie dieser Himmel aussehen würde. Inbrünstiger, als sie sich je etwas in ihrem kurzen Leben erhofft hatte, wollte sie glauben, daß dies jetzt vor ihr lag, erschreckend nah.

Aber sie hatte schreckliche Angst, in die Hölle zu kommen. Sie wußte nicht genau, worin diese bestand. Sie wußte nur, daß sie im Vergleich zu allem, was sie im Leben haßte, noch viel schlimmer sein würde. Und da dies nicht wenig war, hieß das, es würde wirklich sehr schlimm sein.

Trotzdem hatte sie keine andere Wahl. Das Mädchen mußte von seinem Leben Abschied nehmen.

Für immer.

TEIL 1

Der Anfang

Manchester Evening News,
Dienstag, 10. Dezember 1963, Seite 3

 

Junge vermißt
100 Pfund Belohnung

 

Die Polizei setzte heute die Suche nach einem zwölfjährigen Jungen, John Kilbride, fort. Man hofft, daß die Aussetzung einer Belohnung eine neue Spur zutage bringen wird.

Ein ortsansässiger Betriebsleiter hat jedem 100 Pfund geboten, der Hinweise zur Auffindung von John geben kann, der seit 18 Tagen aus seinem Elternhaus in der Smallshaw Lane in Ashton-under-Lyne verschwunden ist.

1

Mittwoch, 11. Dezember 1963, 19 Uhr 53

Helfen Sie mir. Sie müssen mir helfen.« Die Stimme der Frau zitterte, sie drohte in Tränen auszubrechen. Der Polizeibeamte vom Dienst hatte den Hörer abgenommen und hörte etwas wie einen Schluckauf, als hätte die Frau am Apparat Schwierigkeiten, zu sprechen.

»Dafür sind wir ja da, Madam«, sagte Constable Ron Swindells apathisch. Er hatte fast fünfzehn Jahre lang in Buxton Dienst geschoben, und während der letzten fünf Jahre hatte er oft das Gefühl, er erlebe die ersten zehn noch einmal. Er fand, es gab nichts Neues auf der Welt. Diese Sicht der Dinge sollte von den kommenden Ereignissen bald erschüttert werden. Aber fürs erste begnügte er sich noch mit der Phrase, die sich bis heute immer bewährt hatte: »Was ist passiert?« fragte er mit seiner tiefen, sanften, aber unpersönlichen Baßstimme.

»Alison«, sagte die Frau schwer atmend. »Meine Alison ist nicht heimgekommen.«

»Alison ist Ihre Kleine, oder?« fragte Constable Swindells demonstrativ gelassen und versuchte dadurch, beruhigend auf die Frau einzuwirken.

»Sie ist gleich mit dem Hund rausgegangen, als sie aus der Schule kam. Und bis jetzt ist sie nicht heimgekommen.« Hysterische Erregung ließ die Stimme der Frau höher klingen. Swindells warf automatisch einen Blick auf die Uhr. Sieben Minuten vor acht. Die Frau machte sich zu Recht Sorgen. Das Mädchen mußte schon fast vier Stunden von zu Haus weg sein, und zu dieser Jahreszeit war das nicht lustig. »Könnte sie vielleicht zu Freunden gegangen sein, spontan, weil es ihr gerade in den Sinn kam?« fragte er und wußte bereits, daß sie das schon überlegt hatte, lange bevor sie ihn überhaupt anrief.

»Ich hab an alle Türen im Dorf geklopft. Sie ist weg, sag ich Ihnen. Meiner Alison ist etwas zugestoßen.« Jetzt fing die Frau zu weinen an, sie stieß die halb erstickten Worte in den Pausen zwischen den Schluchzern hervor. Swindells glaubte, eine andere Stimme im Hintergrund murmeln zu hören.

Dorf, hatte die Frau gesagt. »Von wo rufen Sie eigentlich an, Madam?« fragte er.

Nach einem gedämpft klingenden Wortwechsel war eine klare männliche Stimme zu hören, ein unverkennbar aus dem Süden stammender Akzent, aus dem energische Autorität sprach. »Philip Hawkin hier, vom Manor House in Scardale«, sagte er.

»Ich verstehe, Sir«, sagte Swindells argwöhnisch. Obwohl diese Auskunft eigentlich nichts an der Situation änderte, ließ sie den Polizeibeamten vorsichtiger werden, da er sich bewußt war, daß Scardale in mehr als einer Hinsicht außerhalb seiner gewohnten Einflußsphäre lag. Scardale war nicht nur eine ganz andere Welt als das geschäftige Marktstädtchen, wo Swindells wohnte und arbeitete; es hatte den Ruf, nach seinem eigenen Gesetz zu leben. Daß ein solcher Anruf aus Scardale kam, bedeutete, daß etwas recht Außergewöhnliches geschehen sein mußte.

Die Stimme des Anrufers rutschte ein Intervall tiefer und vermittelte jetzt den Eindruck, er wolle mit Swindells von Mann zu Mann reden. »Sie müssen das meiner Frau nachsehen. Sie ist ziemlich aufgeregt. So emotional, die Frauen, finden Sie nicht auch? Also, ich bin sicher, daß Alison nichts Schlimmes zugestoßen ist, aber meine Frau bestand darauf, Sie anzurufen. Ich bin sicher, sie wird jede Minute hier auftauchen, und ich möchte schließlich auf keinen Fall Ihre Zeit unnötig in Anspruch nehmen.«

»Wenn Sie mich über die Einzelheiten aufklären könnten, Sir«, sagte Swindells gleichgültig und zog seinen Notizblock näher zu sich heran.

 

Inspector George Bennett hätte schon längst zu Haus sein sollen. Es war fast zwanzig Uhr, weit über die Zeit hinaus, zu der man leitende Kriminalbeamte noch an ihrem Schreibtisch erwartete. Eigentlich hätte er schon in seinem Sessel sitzen sollen, die langen Beine vor dem lodernden Kohlenfeuer ausgestreckt, ein gutes Essen im Bauch und Coronation Street auf dem Fernsehschirm vor ihm. Während Anne das Geschirr wegräumte und abwusch, ging er dann oft auf ein Bier und einen Schwatz in den Duke of York oder das Baker’s Arms. Durch nichts konnte man so schnell ein Gefühl für eine Gegend bekommen wie durch Gespräche an der Bar. Und er brauchte diesen Vorsprung mehr als irgendein anderer seiner Kollegen, da er erst vor sechs Monaten neu zugezogen war. Er wußte, daß die Stammgäste ihm nicht genug trauten, um viel von ihrem Tratsch an ihn weiterzugeben, aber nach und nach fingen sie an, ihn wie das Mobiliar zu behandeln und zu vergeben und zu vergessen, daß sein Vater und sein Großvater in einer anderen Ecke der Grafschaft beim Abendessen zu sitzen pflegten.

Er schaute auf seine Uhr. Nur wenn er Glück hatte, würde er es heute abend überhaupt noch zum Pub schaffen. Nicht daß er das als großen Verlust empfunden hätte. George saß eigentlich nicht gern herum und trank. Wenn er nicht durch seinen Beruf verpflichtet gewesen wäre, den Geschehnissen in der Stadt auf der Spur zu bleiben, hätte er wohl die ganze Woche kein Pub betreten. Er wäre viel lieber mit Anne zu einer der neuen Beatgruppen, die regelmäßig in den Pavilion Gardens spielten, tanzen oder mit ihr ins Kino gegangen. Oder einfach zu Hause geblieben. Sie waren seit drei Monaten verheiratet, und George konnte es immer noch kaum glauben, daß Anne ihr ganzes Leben mit ihm verbringen wollte. Es war ein Wunder, das ihm in den schlimmsten Zeiten seiner Arbeit Kraft gab. Bisher hatte diese eher Einförmigkeit als abscheuliche Verbrechen mit sich gebracht. Die Ereignisse der nächsten sieben Monate sollten dieses Wunder allerdings einer härteren Prüfung unterziehen.

An diesem Abend war der Gedanke an Anne, die strickend vor dem Fernseher saß und auf seine Rückkehr wartete, jedoch eine viel größere Versuchung als jedes Glas Bier. George riß einen Zettel von seinem Notizblock ab und legte ihn, um die Stelle zu markieren, in die Unterlagen, die er durchgesehen hatte, klappte die Akte zu und legte sie in seine Schreibtischschublade. Er drückte seine Gold-Leaf-Zigarette aus, leerte den Aschenbecher in den Papierkorb beim Schreibtisch, was er immer als letztes tat, bevor er seinen Trenchcoat und, etwas befangen, den breitkrempigen Filzhut nahm, mit dem er sich immer ein wenig lächerlich vorkam. Anne war davon begeistert; sie sagte immer, er sehe damit wie James Stewart aus. Er selbst fand das nicht. Nur daß er ein längliches Gesicht und welliges blondes Haar hatte, machte ihn noch nicht zum Filmstar. Er schlüpfte in den Mantel und bemerkte, daß er jetzt fast zu eng war wegen des wattierten Futters, das zu kaufen Anne von ihm verlangt hatte. Obwohl der Mantel über seinen breiten Kricketspieler-Schultern jetzt ein bißchen spannte, wußte er doch, daß er froh darum sein würde, sobald er den Hof des Reviers betrat mit dem beißenden Wind, der vom Moorland herunter immer durch die Straßen Buxtons zu fegen schien.

Er ließ den Blick ein letztes Mal in seinem Zimmer umherschweifen, um sicher zu sein, daß er nichts hatte liegenlassen, was die Augen der Putzfrau nicht sehen sollten, und schloß die Tür hinter sich. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß niemand mehr im Büro der Kriminalpolizei war, und so ging er noch einmal zurück, um sich einen kurzen Augenblick der Eitelkeit zu gönnen. DETECTIVE INSPECTOR G. D. BENNETT stand in weißen Lettern auf einem kleinen schwarzen Plastikschild. Es war etwas, auf das man stolz sein konnte, meinte er. Noch nicht dreißig und schon Detective Inspector. Jede öde Minute der drei Jahre endlosen Büffelns für sein Juraexamen hatte sich gelohnt, da es ihm den Weg zum schnellen Aufstieg geebnet hatte. Er war einer der ersten, dem sich nach abgeschlossenem Studium der neue, beschleunigte Beförderungsweg bei der Polizei in Derbyshire eröffnet hatte. Jetzt, sieben Jahre nach seinem Amtseid, war er der jüngste Kriminaloberkommissar, den die Grafschaft je gesehen hatte.

Da niemand da war, der den Mangel würdiger Haltung bei ihm hätte bemerken können, rannte er schnell die Treppe hinunter. Mit Schwung kam er durch die Pendeltüren in die Polizeiwache. Drei Köpfe wandten sich abrupt nach ihm um, als er eintrat. Einen Augenblick wußte George nicht, warum es so still war. Dann erinnerte er sich. Die halbe Stadt war beim Gedenkgottesdienst für den kürzlich ermordeten Präsidenten Kennedy, einer für alle Konfessionen offenen Messe. Man hatte den ermordeten Staatsmann als Sohn der Stadt adoptiert. Schließlich war JFK nur Monate vor seinem Tod hier gewesen, um das Grab seiner Schwester zu besuchen, das nur ein paar Meilen entfernt in Edensor auf dem Gelände von Chatsworth House lag. Daß eine der Krankenschwestern, die den Chirurgen bei ihrem erfolglosen Kampf um das Präsidentenleben in einer Klinik in Dallas beigestanden hatte, aus Buxton war, hatte in den Augen der Einwohner die Verbundenheit nur noch verstärkt.

»Nichts weiter los hier, Sergeant?« fragte er.

Bob Lucas, der Polizeibeamte vom Dienst, runzelte die Stirn und zuckte eine Schulter. Er sah auf ein Stück Papier in seiner Hand. »Bis vor fünf Minuten nicht, Sir.« Er richtete sich auf.

»Wahrscheinlich ist es gar nichts«, sagte er. »Eins zu hundert, bis wir hinkommen, hat es sich schon erledigt.«

»Irgendwas Interessantes?« fragte George beiläufig. Er wollte nicht, daß Bob Lucas dachte, er sei einer dieser Kriminalkommissare, die ihre Kollegen in Uniform behandelten, als wären sie die Affen und er der Drehorgelmann.

»’n Mädchen wird vermißt«, sagte Lucas und streckte ihm den Zettel hin. »Constable Swindells hat gerade den Anruf angenommen. Er kam direkt, nicht über die Notrufnummer.«

George versuchte sich vorzustellen, wo Scardale wohl auf einer Karte der Umgegend lag. »Haben wir einen Mann dort, Sergeant?« fragte er, um Zeit zu gewinnen.

»Das ist nicht nötig. Es ist nur ein Weiler. Höchstens zehn Häuser. Nein, für Scardale ist Peter Grundy in Longnor zuständig. Es ist nur zwei Meilen von dort. Aber die Mutter dachte offensichtlich, es sei zu wichtig für Peter.«

»Und was denken Sie?« George war vorsichtig.

»Ich glaube, ich sollte den Streifenwagen nehmen, nach Scardale rausfahren und mit Mrs. Hawkin reden, Sir. Ich hole Peter ab und nehme ihn mit.« Während er sprach, griff Lucas nach seiner Mütze und setzte sie sich gerade aufs Haar, das fast ebenso schwarz und glänzend war wie seine Stiefel. Seine roten Wangen sahen aus, als hätte er Pingpongbälle im Mund. Zusammen mit den glitzernden dunklen Augen und den geraden schwarzen Augenbrauen gaben sie ihm Ähnlichkeit mit der bunten Puppe eines Bauchredners. Aber George hatte schon gemerkt, daß Bob Lucas sich keineswegs von irgend jemandem Worte in den Mund legen ließ. Er wußte, daß er eine ehrliche Antwort bekommen würde, wenn er Lucas eine Frage stellte.

»Würde es Sie stören, wenn ich mitkäme?« fragte George.

* * *

Peter Grundy legte sachte den Hörer auf die Gabel. Er kratzte sich mit dem Daumen am Kinn, das von den seit dem Morgen nachgewachsenen Stoppeln rauh wie Schmirgelpapier war. Er war an jenem Abend im Dezember 1963 zweiunddreißig Jahre alt. Fotos zeigen einen Mann mit frischem Gesicht, einer kurzen, spitzen Nase und einem schmalen Kinn, das von einem fast militärisch kurzen Haarschnitt betont wird. Sogar wenn er lächelte wie auf den Urlaubsschnappschüssen mit seinen Kindern, schienen seine Augen wachsam.

Nachdem die Kinder gebadet und zu Bett gebracht waren, hatten zwei Anrufe innerhalb von zehn Minuten den üblichen Abendfrieden mit seiner Frau Meg vor dem Fernseher unterbrochen. Es war ja nicht so, daß er den ersten Anruf nicht ernst genommen hätte. Aber als die alte Ma Lomas, Auge und Ohr von Scardale, sich der Mühe unterzog, mit ihren arthritischen Gliedern die Behaglichkeit ihres Häuschens zu verlassen, um in der beißenden Kälte zur Telefonzelle auf der Dorfwiese zu gehen, da mußte er reagieren. Zwar hatte er gedacht, er könnte bis zum Ende der Sendung um acht Uhr warten, bevor er etwas unternahm. Schließlich mochte Ma zwar als Grund ihres Anrufs die Sorge über ein verschwundenes Schulmädchen angeben, aber Grundy war sich nicht sicher, ob das nicht nur ein Vorwand war, um die Mutter des Mädchens ein wenig in Aufregung zu versetzen. Er hatte gehört und wußte, daß es einige Leute in Scardale gab, die meinten, Ruth Carter habe sich ein bißchen schnell mit Philip Hawkin eingelassen, auch wenn er seit dem Tod ihres Roy der erste Mann war, der es geschafft hatte, ihre Wangen wieder rosig glühen zu lassen.

Dann hatte wieder das Telefon geklingelt, was dazu führte, daß seine Frau das Gesicht verzog und ihn aus seinem gemütlichen Sessel in den kalten Flur hinausrief. Diesmal konnte er die Aufforderung nicht unbeachtet lassen. Sergeant Lucas in Buxton wußte über das vermißte Mädchen Bescheid, und so machte er sich auf. Als wäre es nicht schon schlimm genug, daß die Kerle von Buxton dort herumtrampelten; sie wollten auch noch den Professor mitbringen. Es war das erste Mal, daß Grundy oder irgendeiner seiner Kollegen mit jemandem zusammenarbeiten mußte, der studiert hatte, und er wußte durch die Tratschgeschichten, die er bei seinen gelegentlichen Besuchen der Unterabteilung in Buxton gehört hatte, daß niemand sich bei dem Gedanken daran wohl fühlte. Er hatte sich gleich dem unzufriedenen Murren angeschlossen, das da behauptete, schließlich sei das Leben der beste Lehrer und das beste Studium für einen Polizisten. Diese Akademiker – man konnte sie Samstag abends nicht auf den Marktplatz in Buxton schicken. Sie hatten im Leben nie eine Schlägerei in einem Pub gesehen, und noch viel weniger wußten sie, wie man damit umging. Soweit Grundy wußte, war das einzig Gute, was sich über Kommissar Bennett sagen ließ, daß er eine geschickte Hand beim Kricket hatte. Und das war kein hinreichender Grund für Grundy, sich über sein Eintreffen in seinem Bezirk zu freuen, wo er die sorgsam gepflegten Kontakte durcheinanderbringen würde.

Mit einem Seufzer knöpfte er den Hemdkragen zu. Er zog sich die Uniformjacke über, setzte die Mütze auf dem Kopf zurecht und nahm seinen Mantel. Mit einem beschwichtigenden Lächeln auf dem nervösen Gesicht steckte er den Kopf ins Wohnzimmer. »Ich muß nach Scardale«, sagte er.

»Scht«, ermahnte seine Frau ihn ärgerlich. »Jetzt wird es gerade spannend.«

»Alison Carter ist verschwunden«, fügte er hinzu, schloß boshaft die Wohnzimmertür hinter sich und eilte den Flur entlang, bevor sie reagieren konnte. Und reagieren würde sie, das wußte er nur zu gut. Ein Kind in Scardale verschwunden, das ging einem in Longnor viel zu nah, als daß man nicht einen kalten Schauer im Nacken gespürt hätte.

 

George Bennett folgte Sergeant Lucas hinaus in den Hof, wo die Autos standen. Er wäre viel lieber in seinem eigenen Wagen gefahren, einem schicken Ford Corsair, der so neu war wie seine Beförderung, aber die Vorschriften verlangten, daß er sich auf den Beifahrersitz des als Polizeiauto gekennzeichneten Dienstwagens, eines Rovers, setzte und Lucas ans Steuer ließ. Als sie auf der Hauptstraße in südlicher Richtung über den Marktplatz fuhren, versuchte George, die prickelnde Erregung zu unterdrücken, die er empfunden hatte, als er die Worte »Mädchen vermißt« hörte. Es konnte sein, wie Lucas schon richtig bemerkt hatte, daß nichts hinter alledem steckte. Mehr als fünfundneunzig Prozent der Fälle vermißt gemeldeter Kinder endeten mit der Versöhnung vor dem Zubettgehen oder im schlimmsten Fall vor dem Frühstück.

Aber manchmal war es anders. Manchmal blieb ein vermißtes Kind lang genug verschwunden, daß die Gewißheit wuchs, er oder sie werde nie mehr nach Hause kommen. Gelegentlich war dies deren eigene Entscheidung. Öfter war der Grund, daß das Kind tot war, und die Frage für die Polizei war dann, wie lang es dauern würde, bis sie die Leiche fanden.

Und manchmal schienen sie so absolut verschwunden, als habe sich die Erde aufgetan und sie verschluckt.

In den letzten zwei Monaten hatte es zwei solche Fälle gegeben, beide weniger als dreißig Meilen von Scardale entfernt. George machte sich immer sorgfältig Notizen zu allen Meldungen von außerhalb der Grafschaft sowie von anderen Dienststellen in Derbyshire, und er hatte diese beiden Vermißtenfälle besonders genau beobachtet, weil sie nah genug waren, daß die Kinder in seiner Gegend auftauchen konnten. Tot oder lebendig.

Pauline Catherine Reade war der erste Fall gewesen. Dunkelhaarig, mit haselnußbraunen Augen, sechzehn Jahre alt, ein Lehrmädchen bei einem Süßwarenverkäufer aus Gorton, Manchester. Schlank, etwa 1,52 Meter groß, mit einem rosa und goldfarbenen Kleid und einem hellblauen Mantel angetan. Kurz vor zwanzig Uhr am Freitag, dem 12. Juli, war sie aus dem Reihenhaus getreten, wo sie mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder wohnte, um zum Twisttanzen zu gehen. Sie wurde nie wieder gesehen. Es hatte zu Hause oder bei der Arbeit keine Probleme gegeben. Sie hatte keinen Freund, mit dem sie sich verkracht haben könnte. Sie hatte kein Geld, mit dem sie hätte weglaufen können, sogar wenn sie das hätte tun wollen. Die Gegend war weiträumig abgesucht worden, drei Staubecken wurden geleert, alles, ohne eine Spur von Pauline zu entdecken. Die Polizei von Manchester war jedem Hinweis nachgegangen, aber keiner davon hatte zu dem verschwundenen Mädchen geführt.

Das zweite Kind, das vermißt wurde, schien mit Pauline Reade nichts gemeinsam zu haben, außer der unerklärlichen, fast magischen Art seines Verschwindens. John Kilbride, zwölf Jahre alt, 1,32 Meter groß, schlank, dunkelbraunes Haar, blaue Augen und mit frischer Gesichtsfarbe. Er trug eine graukarierte Sportjacke, eine lange graue Flanellhose, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe mit stumpfen, viereckigen Vorderkappen. George hatte von einem der Kriminalpolizisten aus Lancashire beim Kricket erfahren, daß er kein besonders intelligenter Junge war, aber nett und zuvorkommend. John war mit Freunden Samstag nachmittags ins Kino gegangen, am Tag nachdem Kennedy in Dallas starb. Danach verließ er die Freunde und sagte, er wolle zum Marktplatz in Ashton-under-Lyne gehen, wo er sich oft ein paar Pennies verdiente, indem er Tee für die Marktfrauen und Verkäufer machte. Er wurde zum letzten Mal ungefähr um halb sechs gesehen, an eine Mülltonne gelehnt.

Die darauffolgende Suche hatte gerade am Tag zuvor einen letzten verzweifelten Auftrieb bekommen, als ein Geschäftsmann der Stadt eine Belohnung von hundert Pfund ausgesetzt hatte. Aber offenbar hatte sie nichts genützt. Derselbe Kollege hatte erst letzten Samstag bei einem Tanzfest der Polizei zu George gesagt, John Kilbride und Pauline Reade hätten wohl mehr Spuren hinterlassen, wenn sie von grünen Männchen in einem UFO entführt worden wären.

Und jetzt wurde ein Mädchen in seinem Revier vermißt. Er starrte aus dem Fenster auf die im Mondlicht liegenden Felder an der Straße nach Ashbourne, auf die stoppeligen, von Rauhreif überkrusteten Wiesen und die Trockenmauern, die sie voneinander trennten und im silbernen Licht zu leuchten schienen. Eine dünne Wolke schob sich vor den Mond, und George fröstelte trotz seines warmen Mantels bei dem Gedanken, in einer solchen Nacht und einer so unwirtlichen Gegend ohne Unterschlupf zu sein.

Über sich selbst entrüstet, da er vor Begeisterung über einen wichtigen Fall die Sorge um das Mädchen und ihre Familie verdrängt hatte, wandte sich George an Bob Lucas und sagte: »Erzählen Sie mir von Scardale.« Er nahm seine Zigaretten heraus und bot dem Sergeant eine an, der aber den Kopf schüttelte.

»Danke, Sir, ich nehme keine. Ich versuche, weniger zu rauchen. Scardale könnte man das Land nennen, das von der Zeit vergessen wurde«, sagte er. Im kurzen Leuchten von Georges Streichholz sah Lucas’ Gesicht grimmig aus.

»Wie meinen Sie das?«

»Es ist noch wie im Mittelalter da unten. Nur eine Straße führt rein und raus, und an der Telefonzelle auf der Dorfwiese hört sie auf. Es gibt ein großes Haus, das Gutshaus, zu dem wir jetzt unterwegs sind. Dann sind da noch ungefähr ein Dutzend andere kleine Häuser und die landwirtschaftlichen Gebäude. Kein Pub, kein Laden, keine Post. Mr. Hawkin ist das, was man den Gutsherrn nennen könnte. Ihm gehören alle Häuser in Scardale sowie das Gut und das ganze Land im Umkreis von einer Meile. Alle, die dort wohnen, sind seine Pächter und arbeiten für ihn. Es ist, als seien sie alle sein Eigentum.« Der Sergeant bremste, um von der großen Straße rechts auf einen schmalen Weg abzubiegen, der am Steinbruch vorbeiführte. »Es gibt nur drei Familiennamen am Ort, glaube ich. Man ist entweder ein Lomas, ein Crowther oder ein Carter.«

Kein Hawkin, fiel George auf. Er verschob die nähere Betrachtung dieser Ungereimtheit auf später. »Aber die Leute müssen doch weggehen, um zu heiraten oder Arbeit zu bekommen?«

»O ja, die Leute gehen weg«, sagte Lucas. »Aber sie bleiben durch und durch Leute aus Scardale. Das legen sie nie ab. Und in jeder Generation heiraten ein oder zwei von ihnen jemand von außerhalb. Es ist die einzige Möglichkeit, zu vermeiden, daß man seine Cousins heiratet. Aber ziemlich oft wollen die, die nach Scardale eingeheiratet haben, ein paar Jahre später die Scheidung. Das Komische ist, daß sie die Kinder immer zurücklassen.« Er warf George einen schnellen Blick zu, fast so, als wolle er sehen, wie er dies aufnahm.

George zog an seiner Zigarette und dachte einen Moment darüber nach. Er hatte von solchen Orten gehört, nur noch nie einen besucht. Er konnte sich das Leben in einem so abgelegenen, eingegrenzten Winkel der Welt kaum vorstellen, wo alles über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Menschen ein Wissen sein mußte, das der ganzen Gemeinde bekannt war. »Es ist kaum zu glauben, daß es einen solchen Ort so nah bei der Stadt geben kann. Wie weit ist es? Sieben Meilen?«

»Acht«, sagte Lucas. »Es ist historisch bedingt. Sehen Sie sich mal an, wie steil diese Straßen sind.« Er deutete auf die scharfe Linkskurve, die in das Dorf Earl Sterndale hineinführte, wo sich die von der Steinbruchfirma für ihre Arbeiter gebauten Häuser wie ein zusammengedrängtes Rugbyteam an den Berghang kauerten.

»Bevor es Autos mit brauchbaren Motoren und geteerte Straßen gab, brauchte man im Winter fast einen ganzen Tag von Scardale nach Buxton. Wenn der Weg nicht überhaupt von Schneeverwehungen blockiert war. Die Leute waren auf sich selbst angewiesen. Und in manchen Orten dieser Gegend haben sie sich das nie abgewöhnt.

Nehmen Sie zum Beispiel das Mädchen, Alison. Sogar mit dem Schulbus braucht sie wahrscheinlich fast eine Stunde, um jeden Tag zur Schule und wieder zurück zu kommen. Die Verwaltung der Grafschaft versucht schon lange, die Eltern dazu zu kriegen, daß sie die Kinder als Internatsschüler von Montag bis Freitag in der Schule lassen, um ihnen die lange Fahrt zu ersparen. Aber von Orten wie Scardale wird das einfach kategorisch abgelehnt. Sie sehen es nicht als Hilfsangebot der Grafschaft an. Sie meinen, die Behörden wollen ihnen die Kinder wegnehmen. Die lassen nicht mit sich reden.«

Sie brachten mehrere scharfe Kurven hinter sich und fingen an, mit angestrengt brummendem Motor einen steilen Bergrücken zu erklimmen, wobei Lucas durch die Gänge schaltete. George öffnete das Dreieckfenster und warf den Rest seiner Zigarette auf den Seitenstreifen. Ein Schwall eisiger Luft, die leicht nach Kohlenfeuer roch, reizte seinen Rachen, und er machte hastig das Fenster wieder zu. »Und trotzdem hat Mrs. Hawkin uns sofort gerufen.«

»PC Swindells hat gesagt, sie hätte vorher an jede Tür in Scardale geklopft«, sagte Lucas trocken. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie haben nichts gegen die Polizei. Sie sind nur … nicht sehr mitteilsam, das ist alles. Sie wollen, daß wir Alison finden. Und deshalb geben sie sich mit uns ab.«

Der Wagen quälte sich den Hang hinauf und fuhr auf dem langen, abfallenden Stück Straße in das Dorf Longnor hinein. Die Kalksteinhäuser lagen geduckt und schmutzigweiß wie schlafende Schafe im Mondlicht, und Rauchwolken stiegen aus allen Kaminen ringsum. An der Kreuzung in der Dorfmitte sah George die unverkennbaren Umrisse einer Gestalt in Polizeiuniform, die mit den Füßen aufstampfte, um sich warm zu halten.

»Das ist Peter Grundy«, sagte Lucas. »Er hätte drinnen warten können.«

»Vielleicht ist er gespannt zu erfahren, was passiert ist. Es ist schließlich sein Revier.«

Lucas brummelte: »Eher nörgelt seine bessere Hälfte, daß er abends noch weg muß.«

Er bremste ein bißchen zu scharf, und der Wagen stieß an den Randstein. PC Peter Grundy beugte sich herunter, um zu sehen, wer auf dem Beifahrersitz saß, dann stieg er hinten ein.

»’n Abend, Sergeant«, sagte er und neigte dann den Kopf ein wenig zu George hinüber. »Gefällt mir gar nicht, die Geschichte.«

2