Arthur Schnitzler

Sterben


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HörGut! Verlag, 2012

Sterben

Die Dämmerung nahte schon, und Marie erhob sich von der Bank, auf der sie eine halbe Stunde lang gesessen hatte, anfangs in ihrem Buche lesend, dann aber den Blick auf den Eingang der Allee gerichtet, durch die Felix zu kommen pflegte. Sonst ließ er nicht lange auf sich warten. Es war etwas kühler geworden, dabei aber hatte die Luft noch die Milde des entschwindenden Maitages.

Es waren nicht mehr viel Leute im Augarten1, und der Zug der Spaziergänger ging dem Tore zu, das bald geschlossen werden musste. Marie war schon dem Ausgange nahe, als sie Felix erblickte. Trotzdem er sich verspätet hatte, ging er langsam, und erst, wie seine Augen den ihren begegneten, beeilte er sich ein wenig. Sie blieb stehen, erwartete ihn, und wie er ihr lächelnd die Hand drückte, die sie ihm lässig entgegengestreckt hatte, fragte sie ihn mit sanftem Unmut im Ton: »Hast du denn bis jetzt arbeiten müssen?« Er reichte ihr den Arm und erwiderte nichts. »Nun?« fragte sie. »Ja, Kind«, sagte er dann, »und ich habe ganz vergessen, auf die Uhr zu sehen.« Sie betrachtete ihn von der Seite. Er schien ihr blässer als sonst. »Glaubst du nicht«, sagte sie zärtlich, »es wäre besser, du würdest dich jetzt ein bisschen mehr deiner Marie widmen? lass doch auf einige Zeit deine Arbeiten. Wir wollen jetzt mehr spazieren gehen. Ja? Du wirst von nun ab immer schon mit mir vom Hause fort.«

»So ...«

»Ja, Felix, ich werde dich überhaupt nicht mehr allein lassen.« Er sah sie rasch, wie erschreckt an. »Was hast du denn?« fragte sie.

»Nichts!«

Sie waren am Ausgange angelangt, und das abendliche Straßenleben schwirrte heiter um sie. Es schien über der Stadt etwas von dem allgemeinen unbewussten Glücke zu liegen, das der Frühling über sie zu breiten pflegt. »Weißt du, was wir tun könnten«, sagte er. »Nun?« »In den Prater gehen.«

»Ach nein, neulich war es so kalt unten.«

»Aber sieh'! Es ist beinahe schwül hier auf der Straße. Wir können ja gleich wieder zurück. Gehen wir nur!« Er sprach abgebrochen, zerstreut.

»Ja, sag', wie redest du denn, Felix?«

»Wie?« ...

»Woran denkst du denn? Du bist ja bei mir, bei deinem Mädel!«

Er sah sie an mit starrem, abwesendem Blicke.

»Du!« rief sie angstvoll und drückte seinen Arm fester.

»Ja, ja«, sagte er, sich sammelnd. »Es ist schwül, ganz bestimmt. Ich bin nicht zerstreut! Und wenn, so darfst du's mir nicht übel nehmen.« Sie nahmen den Weg durch die Gassen dem Prater zu. Felix war noch schweigsamer als sonst. Die Lichter in den Laternen brannten schon.

»Warst du heute bei Alfred?« fragte sie plötzlich.

»Warum?«

»Nun, du hattest ja die Absicht.«

»Wieso?«

»Du fühltest dich ja gestern abend so matt.«

»Freilich.«

»Und warst nicht bei Alfred?«

»Nein.«

»Aber siehst du, gestern warst du noch krank, und nun willst du in den feuchten Prater hinunter. Es ist wirklich unvorsichtig.«

»Ach, es ist ja gleichgültig.«

»Rede doch nicht so. Du wirst dich noch ganz verderben.«

»Ich bitte dich«, sagte er mit fast weinerlicher Stimme, »gehen wir nur, gehen wir. Ich sehne mich nach dem Prater. Wir wollen dorthin, wo es neulich so schön war. Weißt du, in den Gartensalon, dort ist's ja auch nicht kühl.«

»Ja, ja.«

»Wirklich nicht! Und heute ist es überhaupt warm. Nach Hause können wir ja nicht. Es ist zu früh. Und ich will auch nicht in der Stadt nachtmahlen2, weil ich heute keine Lust habe, mich zwischen die Gasthauswände zu setzen, und dann schadet mir der Rauch, – und ich will auch nicht viel Menschen sehen, das Geräusch tut mir weh!« – Anfänglich hatte er rasch geredet und lauter als sonst. Die letzten Worte ließ er aber verklingen. Marie hing sich fester in seinen Arm. Ihr war bang, sie sprach nicht mehr, weil sie Tränen in ihrer Stimme fühlte. Seine Sehnsucht nach dem stillen Gasthof im Prater, nach dem Frühlingsabend im Grün und Stillen hatte sich ihr mitgeteilt. Nachdem sie eine Weile beide geschwiegen, gewahrte sie auf seinen Lippen ein langsames und mattes Lächeln, und wie er sich nun zu ihr wandte, versuchte er in sein Lächeln einen Ausdruck des Glückes zu legen. Sie aber, die ihn gut kannte, fühlte das Gezwungene leicht heraus.

Sie waren im Prater. Dort die erste Allee, die vom Hauptwege abbog und beinahe ganz im Dunkeln verschwand, führte zu ihrem Ziele. Dort stand das einfache Wirtshaus; der große Garten war kaum erleuchtet, die Tische standen ungedeckt da, die Sessel lehnten an ihnen. Daneben in den kugeligen Laternen auf den schlanken, grünen Pfählen flackerten trübrote Lichter. Ein paar Gäste saßen da, der Wirt selbst unter ihnen. Marie und Felix schritten vorbei, der Wirt stand auf und lüftete die Kappe. Sie öffneten die Tür zum Gartensalon, in dem ein paar zurückgedrehte Gasflammen fauchten. Ein kleiner Kellnerjunge hatte schlummernd in einer Ecke gesessen. Er erhob sich rasch, beeilte sich, die Gashähne besser aufzudrehen, und war den Gästen beim Ablegen behilflich. Sie setzten sich in eine Ecke, in der es recht dämmerig und traulich war, und rückten ihre Sessel ganz nahe zusammen. Sie bestellten etwas zu essen und zu trinken, ohne lange zu wählen, und waren nun allein. Nur vom Eingange her blinkten die trübroten Laternenlichter. Auch die Ecken des Saales verschwammen im Halbdunkel.

Noch immer schwiegen beide, bis endlich Marie, gequält, mit zitternden Worten begann: »So sag's nur, Felix, was hast du denn? Ich bitte dich, sag' mir.«

Wieder kam jenes Lächeln über seine Lippen. »Nichts, Kind«, sagte er, »frag' nicht. Meine Launen kennst du ja – oder kennst du sie noch immer nicht?«

»Gewiss, deine Launen, o ja. Aber du bist nicht übel gelaunt; du bist verstimmt, ich seh' es ja; das muss seinen Grund haben. Ich bitte dich, Felix, was gibt's denn? Sag's doch, ich bitte dich!«

Er machte ein ungeduldiges Gesicht, denn eben trat der Kellner herein und brachte das Bestellte. Und wie sie noch einmal wiederholte: »Sag' es mir, sag' es mir«, wies er mit den Augen auf den Jungen und machte eine ärgerliche Bewegung. Der Junge ging. »Nun sind wir allein«, sagte Marie. Sie rückte näher zu ihm, nahm seine beiden Hände in die ihren. »Was hast du? Was hast du? Ich muss es wissen. Hast du mich denn nicht mehr lieb?« Er schwieg. Sie küsste seine Hand. Er entzog sie ihr langsam. »Nun, nun?« Er schaute mit den Augen wie hilfesuchend umher. »Ich bitte dich, lass mich, frag' nicht, quäl' nicht!« Sie ließ seine Hand frei und sah ihm voll ins Gesicht. »Ich will's wissen.« Er stand auf und tat einen tiefen Atemzug. Dann griff er sich mit den beiden Händen an den Kopf und sagte: »Du machst mich noch wahnsinnig. Frag' nicht.« Noch eine ganze Weile blieb er so stehen mit starrem Auge, und sie folgte angstvoll seinem Blick, der ins Leere ging. Dann ließ er sich nieder, atmete ruhiger, und eine müde Milde breitete sich über seine Züge. Nach ein paar Sekunden schien aller Schauer von ihm gewichen, und er sagte zu Marie leise, liebenswürdig: »Trink' doch, iss doch.«

Sie nahm gehorsam Gabel und Messer und fragte ängstlich: »Und du?« »Ja, ja«, erwiderte er, blieb aber regungslos sitzen und berührte nichts. »Da kann ich auch nicht«, sagte sie. Da begann er denn zu essen und zu trinken. Bald aber legte er schweigend Gabel und Messer hin, stützte den Kopf in die Hand und sah Marie nicht an. Sie betrachtete ihn eine kleine Weile mit aufeinandergepressten Lippen, dann zog sie seinen Arm weg, der ihr sein Gesicht verbarg. Und nun sah sie, wie es in seinen Augen schimmerte, und im Augenblicke, als sie aufschrie: »Felix, Felix«, begann er zu weinen, heiß und schluchzend. Sie nahm seinen Kopf an ihre Brust, strich ihm über die Haare, küsste ihm die Stirn, wollte ihm die Tränen wegküssen. »Felix, Felix!« Und er weinte leiser und leiser. »Was hast du, Schatz, angebeteter, einziger Schatz, sag's doch!« Und er, den Kopf noch immer an ihre Brust gepresst, so dass seine Worte dumpf und schwer zu ihr heraufdrangen: »Marie, Marie, ich hab dir's nicht sagen wollen. Ein Jahr noch, und dann ist es aus.« Und nun weinte er heftig und laut. Sie aber, mit aufgerissenen Lidern, totenblass, verstand nichts, wollte nichts verstehen. Etwas Kaltes und Entsetzliches schnürte ihr die Kehle zusammen, bis sie plötzlich aufschrie: »Felix, Felix!« Dann stürzte sie vor ihn hin und schaute ihm ins verweinte, verstörte Gesicht, das nun auf die Brust heruntergesunken war. Er sah sie vor sich knien und flüsterte: »Steh' auf, steh' auf.« Sie stand auf, mechanisch seinen Worten gehorchend, und setzte sich ihm gegenüber. Sie konnte nicht sprechen, sie konnte nicht fragen. Und er, dann wieder nach ein paar Sekunden tiefen Schweigens, plötzlich, laut klagend mit nach oben gerichtetem Blick, als laste etwas Unbegreifliches auf ihm: »Entsetzlich! Entsetzlich!« –

Sie fand ihre Stimme wieder. »Komm, komm!« Aber weiter brachte sie nichts hervor. »Ja, gehen wir«, sagte er mit einer Bewegung, als wollte er etwas von sich abschütteln. Er rief den Kellner, bezahlte, und beide verließen rasch den Saal.

Draußen umfing sie schweigend die Frühlingsnacht. In der dunklen Allee blieb Marie stehen, fasste die Hand ihres Geliebten: »Erklär' mir nun endlich –«

Er war vollkommen ruhig geworden, und was er ihr nun sagte, klang einfach, schlicht, als wenn es eigentlich nichts so Besonderes wäre. Er machte seine Hand los und streichelte ihre Wangen. So dunkel war es, dass sie einander kaum sehen konnten.

»Musst aber nicht erschrecken, Mizzel, denn ein Jahr ist lang, so lang! Nämlich nur ein Jahr mehr habe ich zu leben.« Sie schrie auf: »Aber du bist verrückt, du bist verrückt.«

»Es ist erbärmlich, dass ich dir's überhaupt sage, und sogar dumm. Aber weißt du, es ganz allein zu wissen und so einsam herumgehen, ewig mit dem Gedanken – ich hätte es ja wahrscheinlich doch nicht lange ausgehalten. Vielleicht ist es sogar gut, dass du dich daran gewöhnst. Aber komm doch, was stehen wir denn da? Ich selbst, Marie, bin ja den Gedanken schon gewohnt. Dem Alfred habe ich schon lange nicht mehr geglaubt.«

»Du warst also nicht bei Alfred? Aber die anderen verstehen ja nichts.«

»Siehst du, Kind, ich habe so fürchterlich gelitten die letzten Wochen unter der Ungewissheit. Nun ist's besser. Jetzt weiß ich's wenigstens. Ich war beim Professor Bernard, der hat mir wenigstens die Wahrheit gesagt.«

»Aber nein, er hat dir nicht die Wahrheit gesagt. Der hat dir sicher nur Angst machen wollen, damit du vorsichtiger wirst.«

»Mein liebes Kind, ich habe sehr ernst mit dem Manne gesprochen. Ich hab' Klarheit haben müssen. Weißt du, auch deinetwegen.«

»Felix, Felix«, schrie sie und umfasste ihn mit beiden Armen. »Was sagst du da? Ohne dich werde ich keinen Tag leben, keine Stunde.«

»Komm«, sagte er still. »Sei ruhig.« Sie waren am Ausgange des Praters. Lebendiger war es um sie geworden, laut und hell. Wagenrasseln auf den Straßen, Pfeifen und Klingeln der Trams, das schwere Rollen eines Eisenbahnzuges auf der Brücke über ihnen. Marie zuckte zusammen. All dies Leben hatte mit einem Male etwas Höhnisches und Feindliches, und es tat ihr weh. Sie zog ihn mit sich, so dass sie nicht auf die breite Hauptstraße kamen, sondern durch die stillen Nebengassen den Weg nach Hause einschlugen.

Einen Augenblick fuhr es ihr durch den Kopf, dass er einen Wagen nehmen sollte, aber sie zögerte, es ihm zu sagen. Man konnte ja langsam gehen.

»Du wirst nicht sterben, nein, nein«, sagte sie dann halblaut, ihren Kopf fest an seine Schulter drückend. »Aber ohne dich lebe ich auch nicht weiter.«

»Mein liebes Kind, du wirst anders denken. Ich hab' mir alles wohl überlegt. Ja gewiss. Weißt du, wie so mit einem Male die Grenze gezogen war, sah ich so scharf, so gut.«

»Es gibt keine Grenze.«

»Freilich, mein Schatz. Man kann's nicht glauben. Ich glaube es ja selber nicht in diesem Augenblick. Es ist etwas so Unbegreifliches, nicht wahr? Denk' einmal, ich, der da neben dir hergeht und Worte spricht, ganz laute, die du hörst, ich werd' in einem Jahr daliegen, kalt, vielleicht schon vermodert.«

»Hör' auf, hör' auf!«

»Und du, du wirst aussehen wie jetzt. Genau so, vielleicht noch ein bisschen blass vom Weinen, aber dann wird wieder ein Abend kommen und viele, und der Sommer und der Herbst und der Winter und wieder ein Frühling, – und dann bin ich schon ein Jahr lang tot und kalt. Ja! – Was hast du denn? –«

Sie weinte bitterlich. Die Tränen flossen ihr über Wangen und Hals herunter.

Da ging ein verzweifeltes Lächeln über seine Züge, und er flüsterte zwischen den Zähnen hervor, heiser, herb: »Entschuldige.«

Sie schluchzte weiter, während sie vorwärts gingen, und er schwieg. Ihr Weg führte sie am Stadtpark vorbei, durch dunkle und stille, breite Straßen, über die von den Sträuchern des Parkes her ein leichter, trauriger Fliederduft geweht kam. Langsam gingen sie weiter. Auf der anderen Seite eintönig graue und gelbe hohe Häuser. Die mächtige Kuppel der Karlskirche, in den blauen Nachthimmel ragend, näherte sich ihnen. Sie bogen in eine Seitenstraße und hatten bald das Haus erreicht, in dem sie wohnten. Langsam stiegen sie die schwach erleuchtete Treppe hinauf und hörten hinter den Gangfenstern und Türen die Dienstmädchen plaudern und lachen. Nach ein paar Minuten hatten sie die Tür hinter sich geschlossen. Das Fenster war offen, ein paar dunkle Rosen, die in einer einfachen Vase auf dem Nachttische standen, dufteten durch das Zimmer. Von der Straße klang leises Summen herauf. Beide traten zum Fenster. Im Hause gegenüber war alles still und dunkel. Dann setzte er sich auf den Diwan3, sie schloss die Läden und ließ die Vorhänge herab. Sie machte Licht und stellte die Kerze auf den Tisch. Er hatte all das nicht mehr gesehen, sondern saß da, in sich versunken. Sie näherte sich ihm. »Felix!« rief sie. Er schaute auf und lächelte. »Nun, Kind?« fragte er. Und wie er diese Worte mit weicher und leiser Stimme sagte, überkam sie ein Gefühl unendlicher Angst. Nein, sie wollte ihn nicht verlieren. Nie! Nie, nie! Es war auch nicht wahr. Es war gar nicht möglich. Sie versuchte zu sprechen, wollte ihm das alles sagen. Sie warf sich vor ihn hin und fand die Kraft der Rede nicht. Sie legte den Kopf auf seinen Schoß und weinte. Seine Hände ruhten auf ihren Haaren. »Nicht weinen«, flüsterte er zärtlich. »Nicht mehr, Miez.« Sie erhob den Kopf; wie eine wunderbare Hoffnung kam es über sie. »Es ist nicht wahr, wie? Nicht wahr?« Er küsste sie auf die Lippen, lang, heiß. Dann sagte er beinahe hart: »Es ist wahr« und stand auf. Er ging zum Fenster hin und stand dort ganz im Schatten. Nur zu seinen Füßen spielte der Kerzenflimmer. Nach einiger Zeit begann er zu sprechen. »Du musst dich an den Gedanken gewöhnen. Denk' einfach, wir gingen so auseinander. Du musst ja gar nicht wissen, dass ich nicht mehr auf der Welt bin.«

Sie schien nicht auf ihn zu hören. Ihr Gesicht hatte sie in den Kissen des Diwans verborgen. Er sprach weiter: »Wenn man philosophisch über die Sache denkt, so ist es nicht so fürchterlich. Wir haben ja noch so viel Zeit, glücklich zu sein; nicht, Miez4

Sie schaute plötzlich auf mit großen, tränenlosen Augen. Dann eilte sie zu ihm hin, klammerte sich an ihn und hielt ihn mit beiden Armen an ihre Brust gedrückt. Sie flüsterte: »Ich will mit dir sterben.« Er lächelte. »Das sind Kindereien. Ich bin nicht so kleinlich, wie du glaubst. Ich hab' auch gar nicht das Recht, dich mit mir zu ziehen.«

»Ich kann ohne dich nicht sein.«

»Wie lange warst du ohne mich? Ich war ja schon verloren, als ich dich vor einem Jahre kennen lernte. Ich wusste es nicht, aber ich hab' es schon damals geahnt.«

»Du weißt es auch heute nicht.«

»Ja, ich weiß es, und darum geb' ich dich heute schon frei.«

Sie klammerte sich fester an ihn. »Nimm's an, nimm's an«, sagte er. Sie antwortete nicht, sah zu ihm auf, als könnte sie's nicht verstehen.

»Du bist so schön, oh! und so gesund. Was für ein herrliches Recht hast du ans Leben. Lass mich allein.«

Sie schrie auf. »Ich hab' mit dir gelebt, ich werde mit dir sterben.«

Er küsste sie auf die Stirne. »Du wirst es nicht, ich verbiete es dir, du musst dir diese Idee aus dem Kopfe schlagen.«

»Ich schwöre dir –«

»Schwöre nicht, du würdest mich eines Tages bitten, dass ich dir deinen Schwur zurückgebe.«

»Das ist dein Glaube an mich!«

»Oh, du liebst mich, ich weiß es. Du wirst mich nicht verlassen, bis –«

»Nie, nie werd' ich dich verlassen.« Er schüttelte den Kopf. Sie schmiegte sich an ihn, nahm seine beiden Hände und küsste sie.

»Du bist so gut«, sagte er, »das macht mich sehr traurig.«

»Sei nicht traurig. Was immer kommt, wir beide haben dasselbe Schicksal.«

»Nein«, sagte er ernst und bestimmt, »lass das. Ich bin nicht wie die anderen. Ich will es nicht sein. Alles begreife ich; erbärmlich wäre es von mir, wenn ich länger auf dich hören wollte, mich von diesen Worten berauschen lassen, die dir der erste Augenblick des Schmerzes eingibt. Ich muss gehen, und du musst bleiben.«

Sie hatte wieder zu weinen begonnen. Er streichelte und küsste sie, um sie zu beruhigen, und sie blieben beim Fenster stehen und sprachen nichts mehr. Die Minuten vergingen, die Kerze brannte tiefer herab.

Nach einiger Zeit entfernte sich Felix von ihr und setzte sich auf den Diwan. Eine schwere Müdigkeit war über ihn gekommen. Marie näherte sich ihm und setzte sich an seine Seite. Sie nahm leise seinen Kopf und legte ihn an ihre Schulter. Er blickte sie zärtlich an und schloss die Augen. So schlief er ein.

Der Morgen schlich blass und kühl heran. Felix war erwacht. Noch lag sein Kopf an ihrer Brust. Sie aber schlief tief und fest. Er entfernte sich leise von ihr und ging zum Fenster, sah auf die Straße hinunter, die menschenleer im Morgengrauen dalag. Es fröstelte ihn. Nach einigen Minuten schon streckte er sich angekleidet auf's Bett und starrte auf die Decke.

Es war hellichter Tag, als er erwachte. Marie saß auf dem Bettrand, sie hatte ihn wachgeküßt. Sie lächelten beide. War nicht alles ein böser Traum gewesen? Er selbst kam sich jetzt so gesund, so frisch vor. Und draußen lachte die Sonne. Von der Gasse herauf drang Geräusch; es war alles so lebendig. Im Hause gegenüber standen viele Fenster offen. Und dort auf dem Tische war das Frühstück vorbereitet wie jeden Morgen. So licht war das Zimmer, in alle Ecken drang der Tag. Sonnenstäubchen flimmerten, und überall, überall Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung!

 

Der Doktor rauchte seine Nachmittagszigarre, als ihm eine Dame gemeldet wurde. Es war noch vor der Ordinationsstunde5, und Alfred ärgerte sich eigentlich. »Marie«, rief er erstaunt aus, als sie eintrat.

»Seien Sie nicht böse, dass ich Sie so früh störe. Oh, rauchen Sie nur weiter.«