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Roy Palmer

Das Grab
am
Rio Grande

Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-748-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Wolken wurden vom auflandigen Wind ins Innere von Neuspanien getrieben, sie wirkten wie scheue, flüchtende Schatten. Große Flächen blauen Himmels waren frei geworden, die Sonne warf an diesem Morgen des 10. September 1593 wieder ihre Strahlen auf die ramponierten Decks der „Isabella IX.“.

Keiner der Männer hatte in dieser Nacht auch nur ein Auge zugetan. Zu dramatisch war die Situation gewesen. Die „Isabella“ hatte Zuflucht in der Lavaca Bay gefunden, doch die ganze Zeit über drohte die Ankertrosse zu brechen. Das Schiff wäre dann auf Legerwall geworfen worden.

Jetzt aber, im Nachlassen von Wind und Seegang, schien die Gefahr gebannt zu sein. Philip Hasard Killigrew stand auf dem Achterdeck und ließ seinen Blick langsam über sein Schiff wandern.

„Die Schäden sind groß“, sagte er zu Ben Brighton, zu Big Old Shane, Ferris Tucker und den beiden O’Flynns. „Aber wir haben trotzdem Glück gehabt. Wir hätten in dem Hurrikan leicht mit Mann und Maus untergehen können.“

„Das stimmt“, sagte der alte O’Flynn. „Ich dachte schon: Jetzt geht die Welt unter.“

„Diesmal pflichte ich dir sogar bei“, sagte Big Old Shane. „Das war wirklich einer der höllischsten, verfluchtesten Stürme, den wir je abgeritten haben.“

„Was wohl aus den Spaniern geworden ist?“ fragte Ben. „Ob sie es ebenfalls geschafft haben, in einer Bucht Schutz zu finden?“

„Wir sollten uns nicht damit aufhalten, Vermutungen über ihr Schicksal anzustellen“, sagte der Seewolf. „Für uns ist das Wichtigste, daß sie uns vorerst nicht mehr in die Quere geraten.“

Dan wies auf den Großmars. „Der Ausguckposten kann jetzt wieder besetzt werden. Ich melde mich freiwillig. Vielleicht kann ich die Mastspitzen der Dons irgendwo entdecken. Auf jeden Fall werde ich nach allen Seiten Ausschau halten.“

„Damit wir vor jeder Art von Überraschung sicher sind“, sagte Hasard. „Einverstanden, Dan.“ Er blickte die anderen Männern an, dann gab er Carberry, der sich fluchend über das Hauptdeck bewegte und die Schäden in Augenschein nahm, einen Wink. „Los jetzt. Ed, ruf die Männer zusammen! Wir krempeln die Ärmel auf und packen zu. Es gibt viel zu tun.“

„Alle Kerls an Deck!“ brüllte der Profos.

Die Männer eilten auf dem Hauptdeck zusammen und umringten ihn. Sie alle sahen abgekämpft, verbiestert und müde aus. Der Hurrikan hatte erheblich an ihren Energiereserven gezehrt. Aber geschlagen gaben die Arwenacks sich deswegen nicht. Sie schauten sich die Bescherung an: Der Besanmast war mitten im dicksten Sturm gebrochen und außenbords gegangen, auch der Bugspriet war weggeknickt, die Decks boten einen Anblick heillosen Durcheinanders. Der „Lady“ waren die Segel weggefetzt worden, Teile des Schanzkleids waren ramponiert, die Nagelbank des Großmastes war zerbrochen, in den Stauräumen stand Leckwasser. Alles bot ein trostloses, desolates Bild.

„Scheiße“, sagte Blacky. „Aber das alles kann uns trotzdem nicht erschüttern, oder?“

„Wo fangen wir an, Sir?“ rief Smoky.

„Fünf Mann runter in die Stauräume, das Lenzwasser muß als erstes abgepumpt werden“, sagte der Seewolf. „Ferris, du nimmst dir zwei Männer und baust aus der Ersatzspiere einen neuen Bugspriet. Alle anderen fangen damit an, die Decks aufzuklaren. Als erstes werden die Manntaue geborgen und aufgeschossen. Löst die Verschalkungen der Luken und Schotts. Danach werden die Lücken im Schanzkleid ausgebessert, anschließend ist die Nagelbank an der Reihe.“

„Aye, Sir!“ riefen die Männer.

Ferris enterte auf das Hauptdeck ab. „Jack und Paddy“, sagte er. „Folgt mir, wir bewaffnen uns mit Hammer, Säge und Beitel.“ Jack Finnegan und Paddy Rogers schlossen sich ihm an. Sie verschwanden in der Zimmermannswerkstatt.

„Matt Davies, Gary Andrews, Stenmark, Jeff Bowie und Will Thorne!“ rief der Profos. „Abrücken zum Lenzen!“

Die fünf gingen ins Vordeck, ihre Schritte polterten die Niedergänge hinunter. Carberry brüllte weitere Befehle, und der Rest der Crew verteilte sich auf die Decks und begann damit, die Manntaue zu lösen und aufzuschießen.

„Das gibt viel Arbeit“, sagte Roger Brighton. „Wenn wir mit den Decks fertig sind und auch das Schanzkleid wieder in Ordnung ist, muß das laufende und stehende Gut neu gerichtet werden, dann muß das Schiff neu aufgetakelt werden.“

„Ein Glück, daß es uns nur die Sturmsegel zerhauen hat“, sagte Bob Grey. „Aber es gibt auch so genug zu flicken. Vergeßt nicht die Löcher, die die Dons uns im Gefecht vor dem Sturm ins Rigg geblasen haben.“

„Die vergißt keiner“, sagte Batuti grimmig. „Und der Teufel soll die verdammten Dons holen.“

Es war eine schwere Schlacht gewesen, die die Spanier ihnen im Golf geliefert hatten. Zwei Galeonen hatten die Seewölfe versenkt, ein drittes Schiff hatten sie mit den Kanonen der „Isabella“ manövrier- und somit kampfunfähig geschossen. Doch die drei restlichen Galeonen – allen voran die „Santa Veronica“ – waren im Begriff gewesen, ihren Feind zu umzingeln und ihm den Rest zu geben.

Böse hatte es für die Seewölfe ausgesehen, dann aber hatte der Hurrikan die Lage geändert. Hasard und seinen Männern war die Flucht nach Westen gelungen – und der Sturm hatte den Restverband spanischer Schiffe auseinandergerissen. Beide Parteien hatten sich im Toben der entfesselten Naturgewalten aus den Augen verloren.

Dan hatte den Großmars geentert, zog seinen Kieker auseinander und spähte in alle Himmelsrichtungen.

„Kein fremdes Schiff in Sicht!“ rief er schließlich zum Achterdeck hinunter. „Wir sind hier vorläufig sicher!“

„Gut so“, sagte der Seewolf. „Ich will den Dons wirklich nicht wünschen, im Sturm gesunken zu sein, trotz allem, aber wahrscheinlich haben sie die Küste tatsächlich nicht mehr erreicht.“

„Oder sie sind irgendwo aufgebrummt“, sagte Old O’Flynn. „Die Möglichkeit besteht auch noch.“

Das Kombüsenschott öffnete sich, der Kutscher, Mac Pellew und die Zwillinge, gefolgt von Plymmie, der Wolfshündin, erschienen. Die beiden Männer und die Jungen begannen, das Frühstück an die Crew auszuteilen: Heißes Wasser mit einem kräftigen Schuß Rum, Schiffszwieback und Speck. Die Männer hielten kurz in ihrer Arbeit inne, stürzten das Gebräu herunter und bissen herzhaft in das Hartbrot und den Speck.

„Es wurde aber auch Zeit, daß wir wieder was zwischen die Zähne kriegen“, sagte Carberry zwischen zwei Bissen. „Kutscher, Mac, wo, zum Teufel, habt ihr so lange gesteckt?“

„Wir haben uns noch mal um unsere Verwundeten gekümmert“, erwiderte der Kutscher, „und ihre Verbände gewechselt.“

„Und wie geht es ihnen jetzt?“ fragte Hasard. Er stand an der Querbalustrade des Quarterdecks und stützte die Hände auf dem Holzlauf ab.

„Besser“, erwiderte Mac grinsend. „Sie haben den Wunsch geäußert, wieder zum Dienst antreten zu dürfen.“

„Abgelehnt“, sagte Hasard. „Sie sollen ihre Blessuren ordentlich auskurieren. Wenn die Wunden wieder aufbrechen und neu zu bluten anfangen, wird ihre Lage kritischer.“

„Das habe ich Nils, Al, Luke und Bill auch erklärt“, sagte der Kutscher. „Aber meine Worte stoßen auf taube Ohren.“

Carberry schluckte den letzten Bissen herunter und sagte: „Soll ich mal mit ihnen reden? Mich verstehen auch Schwerhörige.“

„Das ist nicht nötig, Ed“, sagte der Seewolf. „Ich unterhalte mich nachher noch mit ihnen. Sie werden schon einsehen, daß es besser ist, vernünftig zu sein.“

Ben war neben ihn getreten. „Was unternehmen wir wegen des Besanmastes?“ fragte er. „Wir haben keinen Ersatz an Bord und brauchen ein ordentlich gewachsenes Stück Holz.“

Hasard legte den Kopf in den Nacken und blickte zu Dan hoch, der seine Betrachtungen inzwischen auf das Land konzentriert hatte.

„Dan, etwas weiter im Inneren gibt es Wald, wenn mich nicht alles täuscht!“ rief er.

„Ja! Was für Bäume es sind, kann ich aber noch nicht genau erkennen. Vielleicht Kiefern – oder Pinien!“

„Pinien wären nicht schlecht“, sagte der Seewolf. „Aber noch besser wäre eine Eiche. Ich spreche nachher mit Ferris darüber, er wird mit einem Trupp an Land gehen, wenn der Bugspriet fertig ist.“

Das Frühstück war beendet, die Männer gingen wieder an die Arbeit. Das Wasser wurde mit den Lenzpumpen aus dem Schiffsbauch geholt, es lief durch die Speigatten ab. Überall an Deck wurde gehämmert und gezimmert, aufgeklart, gesägt und kalfatert. Die Laute, begleitet von den Flüchen und barschen Anweisungen Carberrys, hallten durch das ganze Schiff.

Luke Morgan richtete sich von seiner Koje auf, schwang die Beine über die Umrandung und ließ sie baumeln.

„Verdammter Mist“, sagte er. „Hört ihr das?“

„Ja“, erwiderte Al Conroy und seufzte. „Es herrscht reger Betrieb. Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen.“

„Ich auch“, sagte Bill, der auf seinem Lager lag und auf der Unterlippe herumkaute. „Die anderen schuften, und wir sind zum Nichtstun verdammt. Das ist nicht richtig.“

„Ganz meine Meinung“, pflichtete Nils Larsen ihnen bei. „Ich habe von dem Faulenzen auch die Nase voll.“

Luke ließ sich vom Kojenrand rutschen und ging im Logis auf und ab. „Also los, Männer. Melden wir uns zum Dienst zurück. Auf was warten wir noch?“

„Der Kutscher hat uns gewarnt“, gab Al zu bedenken.

„Blödsinn“, sagte Luke. Sein hitziges Gemüt geriet wieder einmal erheblich in Wallung. „Ich will dir mal was sagen, Mister Conroy: So schlimm sind unsere Verletzungen gar nicht. Oder hast du vielleicht eine Kugel im Kreuz stecken?“

„Natürlich nicht, das weißt du doch.“

„Ja. Und ich weiß auch noch was anderes. Der Kutscher und Mac haben uns vom Krankenraum ins Logis verfrachtet. Das ist ein gutes Zeichen. Wir brauchen keine Behandlung mehr, wir sind wieder auf dem Damm. Glaubt einer von euch, daß er sich aufgrund seiner Verwundung nicht aus der Koje erheben kann?“

„Ich glaub’s nicht“, sagte Nils und stand ebenfalls auf. „Und was mich betrifft, ich kann frische Luft ganz gut vertragen. Hier unten fallen mir vor lauter Langeweile die Balken auf den Kopf.“

Al stieß ein zustimmendes Brummen aus. „Das gilt auch für mich.“ Er setzte sich auf.

Bill stand nun auch auf und reckte die Arme. „Einverstanden. Die Lady muß geflickt und instand gesetzt werden, das ist eine Arbeit von mehr als einem Tag. Jede Hand wird gebraucht. Aber das Problem ist, was wird der Kapitän sagen?“

„Gar nichts“, entgegnete Luke. „Er ist froh, wenn wir mit anpacken.“

„Und der Profos?“ fragte Bill.

„Mit dem rede ich“, erklärte Luke energisch. „Ich kann genauso laut brüllen wie er.“

Sie vernahmen jetzt das Gepolter, das aus der Zimmermannswerkstatt und Schmiede herüberdrang, und Nils sagte: „Ich glaube, das ist Ferris. Mal sehen, vielleicht kann er unsere Hilfe brauchen.“

Die vier verließen das Logis und enterten in die Werkstatt auf, die ein Deck höher lag. Nils hatte die Führung übernommen. Als er im offenen Schott verharrte und Luke, Al und Bill hinter ihm stoppten, drehten sich Ferris, Jack und Paddy zu ihnen um. Sie hatten sämtliche erforderlichen Werkzeuge wie Schlegel, Sägen, Dechsel, Beitel, Bolzentreiber, Stangenbohrer, Scharfeisen und Zimmermannsaxt bereits an Deck gebracht und waren jetzt dabei, die Ersatzspiere anzuheben und hinauszutragen.

„Sieh mal, wen wir da haben“, sagte Jack Finnegan.

„Donnerwetter“, sagte Paddy Rogers. „Seid ihr schon wieder munter?“

„Klar“, erwiderte Luke hinter Nils’ Rücken. „Und wir können es kaum erwarten, irgendwo kräftig mit anzupacken.“

Ferris Tucker schüttelte den Kopf. „Daraus wird nichts. Schlagt euch das aus dem Kopf. Hasard hat den Befehl gegeben, daß ihr im Logis bleibt.“

„Reich mal die Spiere rüber“, sagte Al. „Die trage ich ganz allein nach draußen. Genügt das als Beweis?“

„Quatsch“, sagte der rothaarige Riese. „Du scheinst einen Hirnriß zu haben, Mister Conroy. Der muß sorgfältig ausgeheilt werden. Oder soll ich dir von Will ein paar feine Nadelstiche verpassen lassen?“

„Nichts sollst du“, sagte Al. „Und über deine Witze kann ich auch nicht lachen.“

Ferris grinste. „Na, das Schott könnt ihr ja schon wieder ganz schön aufreißen. Aber wie ihr ausseht – wie die wandelnden Leichen.“

„Wie Mumien“, sagte Jack und grinste ebenfalls. „Das Großsegel hat wohl nicht ausgereicht, für eure Verbände, meine ich.“

„Wir brauchen uns das nicht anzuhören“, sagte Luke grimmig. „Los, wir melden uns beim Kapitän.“

„Nein, ihr marschiert zurück ins Logis“, sagte Ferris.

„Hör mal zu, Mister Tucker“, sagte Nils Larsen. „Eigentlich hast du uns gar keine Befehle zu geben, weißt du das?“

„Macht doch, was ihr wollt. Aber laßt wenigstens Bill aus der Sache raus.“

„Ich bin kein kleiner Moses mehr“, sagte Bill energisch. „Ich kann meine Entscheidungen allein treffen.“

„So?“ Ferris’ Stimme klang sarkastisch. „Hat der Mensch da noch Töne? Die Luft im Logis scheint euch wirklich den Geist vernebelt zu haben, ihr Helden. Nur zu. Meldet euch bei Hasard und teilt ihm mit, was ihr entschieden habt.“

„Kehrt marsch“, sagte Nils. „Ab zum Achterdeck.“

Wenig später erschienen sie durch das Vordecksschott auf dem Hauptdeck und schritten in Kiellinie auf die Hütte zu. Die Kameraden sahen verblüfft von ihrer Arbeit auf, Carberry klappte der Unterkiefer herunter. Für einen Augenblick wußte er tatsächlich nicht, was er sagen sollte. Er lief aber dunkelrot im Gesicht an und stemmte die Fäuste in die Seiten, was ein untrügliches Zeichen für ein bevorstehendes Gewitter mit Wolkenbruch war.

Nils, Luke, Al und Bill erreichten dennoch unbehelligt die Querwand des Achterkastells.

Hasard hatte seinen Platz an der Querbalustrade nicht verlassen. Er blickte die vier „Helden“ verwundert an, seine Augenbrauen hoben sich.

„Was hat denn das zu bedeuten?“ fragte er.

„Wir melden uns zum Dienst“, erwiderte Nils Larsen.

„Wir sind wieder wohlauf, Sir“, fügte Luke hinzu.

„Wir dachten, wir werden vielleicht gebraucht“, sagte Al tapfer, und Bill räusperte sich und sagte: „Ich könnte Dan O’Flynn im Großmars ablösen oder sonst was tun, Sir.“

„Sonst was tue ich gleich mit euch, wenn ihr nicht augenblicklich verschwindet!“ brüllte Carberry hinter ihrem Rücken. „Mister Morgan, bist du der Anstifter dieser Meuterei? Laß bloß Dampf ab, sonst fahre ich mit dir in der Jolle spazieren, und du kannst was erleben!“

Luke drehte sich zu ihm um. „Mister Carberry, wir zeigen nur unseren guten Willen, und ich weiß nicht, warum du auf mir herumhackst.“

„Ruhe“, sagte der Seewolf. „Euren guten Willen in Ehren, aber der Kutscher und Mac Pellew haben uns eben gemeldet, daß ihr noch nicht wieder einsatzbereit seid.“

„Das entspricht nicht ganz den Tatsachen“, sagte Nils. „In der Zwischenzeit haben wir erhebliche Fortschritte erzielt.“

„Da brat mir doch einer einen Hecht“, sagte Big Old Shane grinsend. „Bei euch scheint es mit der Genesung ja verdammt schnell zu gehen.“

„Ja“, sagte Luke. „Und wir haben vom Herumhängen die Schnauze voll.“