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Burt Frederick

Gefangen auf Flores

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Der Sonnenaufgang an diesem Morgen des 20. Juni 1593 war ein grandioses Schauspiel. Östlich der Azoren-Insel Flores färbte sich der Himmel blaßrot und tauchte bald darauf die zerklüfteten Berg-Formationen in ein mildes Licht. Von Minute zu Minute wurde die Helligkeit stärker und verdrängte die Dunkelheit in den tiefer gelegenen Regionen der Insel.

Die Männer an Bord der „Isabella“ hatten keinen Blick für die Schönheit der Natur. Für sie war diese Insel nichts weiter als ein häßlicher Buckel, der aus dem Atlantik ragte und mitsamt seinen durchtriebenen Bewohnern besser in der Tiefe verschwunden wäre. Da sich ein solcher Wunsch aber nicht erfüllte, galt es, einen anderen Ausweg zu finden, um den Seewolf und seine Begleiter zu befreien.

Die Dreimastgaleone ankerte vor jener Bucht, in der in der Nacht zuvor Philip Hasard Killigrew und seine kleine Einsatzgruppe an Land gegangen waren. Seit Batuti mit der alarmierenden Nachricht vom Scheitern der Unternehmung zurückgekehrt war, hatte keiner der Arwenacks mehr ein Auge zugetan.

Ein durchdringender Warnruf ertönte unvermittelt aus dem Großmars. Bill hatte seinen Posten als Ausguck bezogen und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den öden Landstrich, der nur um Kanonenschußweite entfernt lag.

Schlagartig war es mit der Ruhe an Bord vorbei. Schritte polterten über die Decksplanken, Stimmengewirr setzte ein. Die allgemeine Aufregung erfaßte auch das „Viehzeug“ an Bord, wie Ed Carberry die Tiere auf der „Isabella“ liebevoll zu nennen pflegte.

Arwenack, der Schimpanse, enterte mit hellem Keckem in den Großmastwanten an Steuerbord auf. Sir John, der karmesinrote Papagei, verließ seinen ruhigen Platz in der festgezurrten großen Jolle und flatterte mit schrillem Keifen hinauf zum Fockmars. Und Plymmie, die Wolfshündin, fegte wie ein geölter Blitz zum Backbord-Schanzkleid, stützte sich mit den Vorderpfoten und spähte hechelnd zur Insel.

Im selben Moment brach der Wortwechsel der Männer jäh ab.

Silhouetten erschienen oberhalb der Bucht und zeichneten sich vor der aufgehenden Sonne wie scharf umrissene Scherenschnitte ab. Über einen gewundenen Pfad begann die Kolonne den Abstieg zur Bucht.

Fünf Männern waren die Arme auf den Rücken gebunden. Außerdem hatte man ihnen einen Strick um das rechte Fußgelenk geschlungen. Durch den Strick waren sie miteinander verbunden, in einem Abstand von jeweils etwa zwei Yards.

Die restlichen Silhouetten waren deutlich als spanische Soldaten zu identifizieren. Ihre Brustpanzer und die Helme glänzten im frühen Sonnenlicht, matte Reflexe blinkten auf dem Laufstahl ihrer Musketen.

Den Arwenacks lief ein Schauer über den Rücken. Betroffen starrten auch die Schiffbrüchigen von der spanischen Galeone „Confianza“ zur Bucht.

Ein heiseres Knurren drang tief aus Plymmies Kehle. Sie schien zu begreifen, was für eine niederschmetternde Bewandtnis es mit der Marschkolonne dort drüben an Land hatte.

Ed Carberry fand als erster die Sprache wieder.

„Diese dreimal verlausten Zwiebelfresser“, sagte er wild, „denen drehe ich höchstpersönlich und eigenhändig das Genick um. Aber vorher ziehe ich ihnen die Haut in Streifen von ihren verdammten Affenärschen.“

„Wenn’s soweit ist, bin ich dabei“, sagte Ferris Tucker grollend, „ich meine, wir sollten sie kielholen, anschließend teeren und federn und dann an der Großrah zum Trocknen aufhängen.“

„Eins nach dem anderen“, entgegnete der Profos und reckte sein Rammkinn in die Morgenbrise, „notfalls stimmen wir darüber ab.“

Auf dem steilen Weg zur Bucht gerieten die Gefangenen mehrmals ins Stolpern, denn sie konnten den Gleichschritt nicht halten. Jedesmal wurden sie von den Soldaten mit brutalen Kolbenhieben wieder auf die Beine gebracht und vorangetrieben.

Die Männer auf der „Isabella“ begannen vor Wut zu kochen. Am schlimmsten war das Gefühl der Ohnmacht, die Tatsache, das Verhängnisvolle ansehen zu müssen und nicht das Geringste tun zu können.

Dann, nach endlosen Minuten, erreichte die Formation von Gefangenen und Bewachern den Strand. Die fünf Gefesselten wurden unmittelbar ans Wasser getrieben und mußten sich in einer Reihe aufbauen.

Zehn Soldaten postierten sich in Reihe hinter ihnen und richteten die schußbereiten Musketen auf die Rücken der Gefangenen. Die restlichen Soldaten formierten sich in Hab-Acht-Stellung nur wenige Yards abseits.

Ben Brighton beobachtete das Geschehen zähneknirschend durch sein Spektiv.

„Batuti!“ rief er, ohne den Kieker abzusetzen.

Der herkulische Gambianeger enterte mit wenigen langen Sätzen zum Achterdeck auf.

„Erkläre mir, wer diese Kerle sind“, sagte Ben Brighton gepreßt. Er ließ das Spektiv sinken und drückte es Batuti in die Hand.

Dem Gambianeger genügte ein kurzer Blick durch die Optik. Dann gab er dem Ersten Offizier den Kieker zurück. „Dieser kantige Kerl mit dem schwarzen Bart auf der Oberlippe ist der Teniente. Der hat letzte Nacht den Angriff auf die Fischerhütte geleitet. Und der andere, dieser Aufgeblasene mit dem Spitzbart, das kann nur der Kommandant sein. Ich nehme an, daß der Teniente ihn holen ließ.“ Batuti atmete tief durch, und seine Stimme vibrierte, als er weitersprach. „Ist verdammt miserabel, hier an Bord zu stehen. Und die anderen da drüben …“ Er brach ab. Der Zorn schnürte ihm die Kehle zu.

Ben Brighton schüttelte energisch den Kopf.

„Hör auf damit, Batuti. Du hast absolut richtig gehandelt. Wenn dir die Flucht nicht geglückt wäre, wüßten wir nicht, was mit Hasard und den Männern passiert ist. Dann könnten uns die Spanier schmoren lassen, solange sie wollen.“

Der schwarze Herkules preßte die Lippen aufeinander. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, doch wer Batuti kannte, wußte, daß er selten so niedergeschlagen gewesen war wie in diesem Moment. Alle Beschwichtigungen nutzten nichts. Er würde mit seinen Selbstvorwürfen nicht eher aufhören, bis sich alle fünf Gefangenen in Freiheit befanden.

Ben Brighton setzte erneut das Spektiv ans Auge.

Der Seewolf stand regungslos, hoch aufgerichtet und mit ausdrucksloser Miene. Neben ihm Adriano de Mendoza y Castillo, der jetzt wahrscheinlich endgültig davon überzeugt war, welche freundlichen Absichten seine Landsleute ihm gegenüber hegten. Castillo war schlank, mittelgroß und kräftig gebaut. Durch sein mittelblondes Haar sah er nicht so aus, wie man sich einen typischen Spanier vorstellte. Er stammte aus der Nähe von Barcelona, wo seine Familie ihren Sitz auf einem angesehenen, alteingesessenen Weingut hatte.

Ebenso wie die anderen Gefangenen war Castillo von den Spuren des Kampfes gezeichnet. Unter seinem rechten Auge leuchtete eine rote Schürfwunde, seine Kleidung war verschmutzt und eingerissen.

Als die „Confianza“ versenkt worden war, hatte Castillo nicht glauben wollen, daß er den Fangschuß seinen Landsleuten auf dem Flaggschiff „Vencedor“ verdankte. Erst Al Conroy, der Stückmeister der „Isabella“ hatte ihm exakt auseinandergesetzt, was sich wirklich ereignet hatte: daß die „Confianza“ im Gefechtsgetümmel zwischen dem Verband des Seewolfs und den Spaniern nach einem gezielten Schuß von der „Vencedor“ auf Tiefe gegangen war.

Hasard hatte Castillo versprochen, ihm dabei zu helfen, auf Flores die Wahrheit herauszufinden. Daß es sich um eine grausame Wahrheit handelte, der sie auf der Spur waren, bewiesen die Geschehnisse der vergangenen Nacht.

Dan O’Flynn stand neben Castillo, und auch die Miene des schlanken, hochgewachsenen Mannes zeigte nicht die geringste Spur von Respekt vor den spanischen Bewachern.

Die beiden weiteren Gefangenen waren Alfredo Vergara und Juan Luis Benitez. Vergara, Erster Offizier der „Confianza“, stammte aus Madrid. Groß, schlank und dunkelhaarig, war er der Typ, der in jedem Hafen weibliche Blicke auf sich lenkte. Nichtsdestoweniger gehörte er zur gleichen ehrlichen Sorte wie sein Kapitän. Benitez stammte ebenfalls aus Barcelona. Von der Statur und der Haarfarbe her ähnelte er Castillo. An Bord der versenkten Galeone war Benitez Zweiter Offizier gewesen.

Ben Brighton schwenkte den Kieker weiter.

Jener Mann, den Batuti als Inselkommandanten bezeichnet hatte, stolzierte wie ein Pfau vor den angetretenen Soldaten hin und her. Die Optik zeichnete ein scharfes Bild von ihm. Der Mann hatte ein verlebtes Gesicht, unter den stumpfen Augen lagen dunkle Ränder. Graue Strähnen durchzogen den Spitzbart und das schwarze Haar, soweit es unter seinem breitkrempigen Federhut zu sehen war. Seine gold- und silberbetreßte Uniform und die kostbaren Schnallenschuhe drängten den Vergleich mit einem eitlen Pfau geradezu auf.

Er beendete seine Musterung der Soldaten, wandte sich dem Teniente zu, und an seinen herrischen Gesten war zu erkennen, daß er Befehle erteilte. Der Teniente salutierte und stelzte ans Wasser. Dort blieb er breitbeinig stehen und hob den rechten Arm zu einer unmißverständlichen Geste.

Die Männer an Bord der „Isabella“ konnten es auch mit bloßem Auge sehen.

„Der Mistkerl meint uns“, sagte Batuti grimmig.

„Was hast du sonst erwartet?“ entgegnete Ben Brighton und setzte das Spektiv ab. „Dieser ehrenwerte Kommandant hat die Gefangenen nicht aus Spaß aufmarschieren lassen. Jetzt wird man uns Bedingungen stellen.“

Der schwarze Herkules antwortete nicht. Er mußte sich noch immer mächtig anstrengen, um seine Wut nicht hinauszubrüllen.

Ben Brighton trat an die Querbalustrade.

„Mister Carberry!“

„Sir?“ Der Profos wandte sich um, warf den Kopf in den Nacken und stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Laß die kleine Jolle abfieren und mit sechs Mann besetzen. Unbewaffnet!“

Ed schluckte trocken.

„Hab mich wohl verhört, was, wie? Ich denke, wir versohlen den Dons den Hintern, oder? Willst du allen Ernstes …“

„Es geht um das Leben der Gefangenen“, entgegnete Ben, „alles andere zählt nicht. Wir werden uns anhören, was man uns zu sagen hat. Ich bitte um Ausführung meines Befehls.“

„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Profos knapp. Gegen die Borddisziplin gab es keine Argumente.

Capitán Manuel Orosco Torres rieb sich die Hände. Dabei wandte er allerdings dem vor Anker liegenden Schiff den Rücken zu, denn die Britenbastarde brauchten nicht unbedingt zu sehen, wie sehr er sich freute. Er winkte den Teniente zu sich, und gemeinsam entfernten sich die beiden Männer einige Schritte von den Soldaten.

„Menacho“, sagte Torres mit wohlwollendem Lächeln, „ich habe leider bislang keine Zeit gefunden, Ihnen meine Anerkennung auszusprechen. In der Hast der Geschehnisse unterbleibt so etwas oft. Ich hole es hiermit nach. Sie und Ihre Männer haben hervorragende Arbeit geleistet.“

Teniente Menacho deutete eine steife Verbeugung an, konnte sich aber nicht verkneifen, irritiert die linke Augenbraue hochzuziehen.

„Ich habe nur meine Pflicht getan, Capitán“, entgegnete er schnarrend, „und als einen vollen Erfolg können wir die Angelegenheit ohnehin noch nicht betrachten. Vergessen Sie nicht, daß die Hundesöhne bislang keinen Ton von sich gegeben haben.“

Torres winkte ab und lachte meckernd.

„Halten Sie das für ein Problem? Warten Sie nur ab. Sie sollten meine Methoden kennen, jemanden zum Reden zu bringen.“

„Ich zweifle nicht an Ihren Methoden, Capitán. Nur habe ich das Gefühl, daß wir es hier mit einer unglaublichen Verschwörung zu tun haben. Ich fürchte, die Kerle werden sich eher die Zunge abschneiden lassen, als daß sie auch nur ein einziges Wort sagen.“

„Ihr Gefühl in allen Ehren, Menacho.“ Torres lachte abermals. „Aber Sie nehmen die Dinge wirklich etwas zu ernst. Das ist ein Haufen englischer Piraten, der sich mit ein paar spanischen Strolchen verbündet hat. Sie schickten einen Stoßtrupp an Land, um die Möglichkeit für eine Plünderung auszukundschaften. Dabei wurden sie erwischt. Und jetzt ziehen wir ihnen die Hammelbeine lang. Das ist alles.“

Menacho bewegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Erlauben Sie, daß ich widerspreche, Capitán.“

„Oh, tun Sie sich keinen Zwang an“, sagte Torres gönnerhaft, „es ist Ihre Aufgabe als Offizier, mitzudenken. Also lassen Sie Ihre Gegenargumente hören.“

„Es handelt sich um die drei Landsleute, die wir festgenommen haben. Ich meine, sie sehen nicht aus wie verbrecherische Subjekte. Und kommt Ihnen der eine nicht bekannt vor?“

Torres runzelte die Stirn.

„Welchen meinen Sie?“

„Den Blonden. Und dann ist da noch dieser große dunkelhaarige Engländer. Wie ein einfacher Pirat scheint er mir ebenfalls nicht auszusehen.“

Torres schüttelte verwirrt den Kopf.

„Menacho, Sie bringen mich zum Nachdenken. Nun, wenn Sie mit Ihren Vermutungen recht haben sollten, dann ist Ihr Verdienst natürlich um so größer.“

„Es war nicht meine Absicht, das hervorzukehren, Capitán.“

Torres nickte gedankenverloren. Dann gab er sich einen Ruck und stolzierte auf die Front der angetretenen Gefangenen zu. Zwischen ihnen und dem seichten Uferwasser war nur knapp ein Yard Platz.

„Tretet einen Schritt zurück, ihr Hunde!“ befahl der Kommandant schneidend.

Der Seewolf und die vier anderen Männer gehorchten.

Auf einen Wink des Teniente begab sich auch die waffenstarrende Reihe der Bewacher in neue Position. Jeweils zwei Musketen waren auf den Rücken eines Gefangenen gerichtet.

Capitán Torres legte die Hände auf den Rücken und schritt mit der gelangweilten Grandezza eines Sonntagsspaziergängers vor den Gefesselten auf und ab.

Unvermittelt blieb er vor dem Seewolf stehen und musterte ihn nachdenklich.

„Du bist nicht irgendwer“, sagte Torres. „Du wirst mir nicht den Gefallen tun, mir deinen Namen zu verraten, wie?“

Hasard verzog die Mundwinkel zu einem verächtlichen Lächeln.

„Das habe ich erwartet“, sagte Torres und nickte, „aber du brauchst dich nicht zu bemühen, Engländer. Ich finde es auch ohne deine Mithilfe heraus. Ich habe das Gefühl, daß mir dein Name auf der Zunge liegt. Es fehlt nur noch der zündende Funke, gewissermaßen.“ Der Capitán lachte und entblößte dabei eine häßliche Reihe schadhafter Zähne.

Hasard gab sich keinen Illusionen hin. In Spanien war er fast so bekannt wie ein bunter Hund, und nach dem Kopfgeld, das die spanische Krone auf ihn ausgesetzt hatte, gierte so mancher. Dieser schmierige Kommandant lebte auf seiner Insel ein wenig isoliert, deshalb war ihm nicht sofort aufgegangen, wen er da in seine Gewalt gebracht hatte.

Torres trat einen Schritt weiter und baute sich vor Castillo auf.

„Und du, Landsmann? Auch von dir kein Sterbenswörtchen?“

Castillo spie aus, voller Verachtung.