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Roy Palmer

Feind im
Visier

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Mitte März 1594 betrat ein finsterer Geselle mit verschlagenem Gesicht und muskelbepacktem Oberkörper die Kaschemme „Yerba Buena“ an der Bucht von Matamano. Er war ein Kreole und hieß Cariba, und er gehörte zu der gefürchteten Crew der Black Queen, aber das wußte keiner der Anwesenden, weder der Schankwirt noch die Männer und Frauen, die sich an den Tischen und in den Nische vergnügten.

Cariba trat an die Theke und sagte zu dem Schankwirt nur ein einziges Wort: „Rum.“

Der Wirt, ein hagerer Mann mit lichtem Haarwuchs und wachen, listigen blauen Augen, füllte wortlos einen Becher. Cariba leerte ihn mit einem Zug und setzte den Becher hart ab.

„Der taugt nicht viel“, sagte er. Sein Gesicht nahm einen drohenden, herausfordernden Ausdruck an. „Hast du keinen besseren Tropfen?“

„Doch. Der kostet aber mehr.“

Cariba schob ihm den Becher hin. „Laß mich probieren. Ich kann bezahlen. Na los, auf was wartest du?“

Der Wirt zuckte mit den Schultern und erfüllte ihm den Wunsch. Selten wurde in dieser Kneipe ein besseres Getränk verlangt. Das Gelichter, das sich hier herumtrieb, wollte billigen Wein und noch billigeren Rum. Das letzte Mal, daß ein Kerl einen „guten Tropfen“ verlangt hatte, lag, wie der Wirt sich entsinnen konnte, zwei Jahre zurück.

Die Kaschemme, ein flacher und langgestreckter Schuppen aus Stein, Holz, Mattengeflecht und Schilfstroh als Dach, stand genau an dem Ort, der an der Südküste von Kuba 1515 von Diego Velasquez ursprünglich als Hafen gegründet worden war. Später, 1519, war dieser Hafen jedoch als „San Cristobal de la Habana“ – Havanna also – fast gegenüber an die Nordküste der Insel verlegt worden. Übriggeblieben waren in Matamano ein Kai und eine Reihe von Piers, die bald dem Zahn der Zeit anheimfielen und schon ziemlich verrottet waren. Die wenigen Steinbauten waren verfallen oder nur noch als Ruinen vorhanden. Das halbe Dutzend erbärmlicher Hütten – von denen die „Yerba Buena“ noch die stabilste war –, das Galgenstricken und Tagedieben Unterschlupf bot, war erst viel später, ab 1575, errichtet worden, als eine Handvoll Kerle auf die Idee verfallen war, hier kurzfristig ihr Lager aufzuschlagen.

Die Hütten hatten seither viele „Besitzer“ gehabt, die immer wieder wechselten. 1588 hatte Alvaro, der Wirt, die Kaschemme gebaut. Seitdem schenkte er den Kerlen, die hier landeten, Wein, Bier und Schnaps aus und besorgte ihnen Frauen, wenn sie welche haben wollten. Diese Art der Vermittlung bedeutete für ihn einen wichtigen Nebenverdienst.

Die „Yerba Buena“ war – wie alle Kneipen und Kaschemmen auf den Inseln der Karibik – ein wichtiger Treffpunkt für Männer, die etwas kaufen oder verkaufen wollten. Oder sie hatten die letzten Neuigkeiten zu verkünden, suchten selbst Informationen oder wollten sich nur mal wieder kräftig „einen antörnen“. Ein Umschlagplatz also. Hier traf man sich und hatte was zu erzählen, heckte derbe Späße aus und feilschte miteinander.

Frauen waren in jeder Nacht die begehrteste Ware, aber das Angebot erfüllte nicht die Nachfrage. Alvaro konnte immer nur drei „Prachtweiber“ weiterempfehlen und „verschaffen“: Die rote Dolores, Teta-Maria mit dem großen Busen und Lilian, genannt „die Krabbe“. Sie waren fast ständig beschäftigt.

Cariba stellte den Becher auf die Theke zurück. „Der schmeckt schon besser. Was verlangst du für ein Faß?“

„Zwei Dublonen.“

„Verrückt. Mehr als eine Dublone gebe ich für zehn Gallonen nicht.“

Alvaro musterte ihn mit wachsendem Interesse. „In meinen Fässern sind fünfzehn Gallonen Rum. Es sind große portugiesische Kastanienholzfässer.“

„Trotzdem zahle ich nicht mehr als eine Dublone pro Faß.“

„Wie viele Fässer würdest du denn kaufen?“ fragte Alvaro lauernd.

„Vielleicht ein halbes Dutzend“, erwiderte Cariba und reichte ihm erneut seinen Becher.

„Zehn Dublonen für sechs Faß“, schlug Alvaro vor.

„Wucher“, sagte Cariba und grinste wild. „Aber wir verhandeln nachher noch weiter. Ich schlage dir ein einmaliges Angebot vor: Sechs harte spanische Dublonen für fünf Fässer von deinem Gesöff. Laß dir das durch den Kopf gehen. Wir reden noch darüber.“ Wieder leerte er seinen Becher, den Alvaro geschickt und schnell aufgefüllt hatte, dann beugte er sich leicht vor und fragte: „Wie sieht es mit einem Weiberrock aus? Ich brauche unbedingt eine Frau.“

„Ich weiß nicht – im Moment scheint keine von ihnen frei zu sein. Du bist zum ersten Male hier, wie?“

„Ja, sonst würden wir uns kennen.“

„Aber neulich traf ein Neger mit einer einmastigen Jolle ein und wollte Wein kaufen – und vor drei Wochen hatten wir Besuch von einem narbigen Mulatten, der auf der Suche nach Dörrfleisch war.“

Cariba grinste nicht mehr. „Na und? Was habe ich damit zu tun?“

„Ich dachte, die beiden seien vielleicht Freunde von dir.“

Cariba griff nach Alvaros Hand und preßte sie auf der rohen Holzplatte des Tresens fest. Er verfügte über immense Kräfte, besonders in den Händen. Alvaro vermochte sich nicht zu befreien. Sein Gesicht war verzerrt, seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen.

„Das Denken solltest du den Walen überlassen“, sagte Cariba mit dunkler Stimme. „Die haben den größeren Schädel. Ich habe keine Freunde. Ich will hier einen saufen, mir ein Weib angeln und vielleicht ein wenig Rum bei dir einkaufen. Das ist alles. Kapiert?“

Alvaro beeilte sich, eifrig zu nicken. „Natürlich. Du scheinst aber keinen Spaß zu verstehen.“

Cariba ließ ihn wieder los, und Alvaro massierte seine schmerzende Hand.

„Doch“, sagte der Kreole. „Aber ich habe was gegen zu neugierige Leute.“

„In Ordnung.“ Alvaro sah ein, daß er einen Fehler begangen hatte. Er fragte seine Gäste sonst auch nicht aus. Nur bei diesem Cariba hatte er es nicht lassen können. Es wurde nämlich gemunkelt, die Black Queen halte sich irgendwo an der Südküste von Kuba auf, und er hätte zu gern gewußt, ob etwas Wahres daran war. Er, Alvaro, hätte diese legendäre Piratenführerin gern einmal aus der Nähe gesehen, es wurden die haarsträubendsten und unglaublichsten Geschichten über sie erzählt.

Cariba jedoch hütete sich, etwas über die Queen verlauten zu lassen. Er hatte klare Anweisungen von ihr erhalten – wie alle Männer, die sie zur Proviantbeschaffung an Land schickte. Der Ankerplatz der „Caribian Queen“ war streng geheim. Nichts durfte darüber bekannt werden. Nach den letzten Erlebnissen waren die Queen und Caligula außerordentlich vorsichtig geworden. Ehe die Queen von ihrer Blessur nicht völlig genesen war, wollte sie sich ohnehin nicht wieder „unter Leute“ begeben.

Der Grund, warum Cariba mit einer Jolle nach Matamano gesegelt war, bestand in der Gier der Crew nach einem ordentlichen Tropfen Rum. Die Kerle lechzten danach, und die Queen und Caligula konnten ihnen den Schnaps nicht länger verweigern. Cariba, der dafür bekannt war, daß er guten von schlechtem Rum unterscheiden konnte, war losgeschickt worden. Matamano war der nächste natürliche Hafen, und in der „Yerba Buena“ konnte man fast alles haben, was man suchte.

Caligula hatte mit dem Zweidecker „Caribian Queen“ und der schwer angeschossenen Black Queen an Bord ein hervorragend geschütztes Versteck gefunden. Es befand sich in einer Bucht der Islas de Mangles, einer Gruppe von Inselchen, die sich von der Ostseite der Isla de Pinos in einem Bogen nach Nordwesten hinzog und sich somit zwischen dem Inselfestland – der Südküste von Kuba – und der Isla de Pinos erstreckte. Diese Inselgruppe lag im Archipel de los Canarreos.

Etwa fünfzig Meilen war das Buchtversteck von Diego Velasquez’ einstigem Hafen entfernt. Acht Stunden hatte Cariba gebraucht, um hierherzugelangen, und er wollte die Fahrt und den Auftrag wenigstens auch zu seinem ganz persönlichen Vergnügen nutzen.

Alvaro deutete auf Lilian, die „Krabbe“, die sich vom Hinterzimmer her zwischen den Tischen hindurch bewegte und offensichtlich nach einem neuen Freier Ausschau hielt.

„Die da“, sagte er. „Du kannst sie für zwei Silberlinge haben.“

Cariba betrachtete die Frau. Sie war blond, hochgewachsen, langbeinig und sehr schlank. Ihre Züge waren herb, das grelle Lippenrot und die bläulichen Schatten, die sie unter ihre Augen gemalt hatte, gaben ihr ein fast leichenhaftes Aussehen.

„Die ist mir zu mager“, sagte Cariba. „Nicht mein Fall.“

„Dann mußt du eben noch warten.“

„Ich warte gern“, sagte Cariba. „Schenk mir noch einen Rum ein. Hast du dir mein Angebot gründlich überlegt?“

„Ja. Acht Dublonen für fünf Fässer.“

„Unsinn. Mehr als sechs kriegst du nicht, sonst kannst du das Zeug behalten.“

„Achtung“, sagte Alvaro. „Da kommt Teta-Maria. Sieh sie dir an! Ist sie nicht ein Prachtstück?“

Caribas Blick richtete sich auf die schwarzhaarige, dunkelhäutige Walküre, die zwischen den Küstenhaien und Strolchen an den Tischen zu schwimmen schien. Sie watschelte und hielt ihre üppigen Lippen zu einem Kußmund gespitzt, wackelte mit ihrem Hinterteil und entlockte den Kerlen, an denen sie ihren wogenden Busen vorbeischob, anerkennende Pfiffe. Einem einäugigen Beachcomber, der zu zudringlich wurde, hieb sie auf die Hand, daß es klatschte und schon grölten die Kerle vor Begeisterung.

Cariba wandte sich wieder dem Schankwirt zu. „Zu fett für meinen Geschmack. Hast du nichts Besseres anzubieten?“

„Du könntest dich höchstens noch an Dolores halten“; erwiderte Alvaro. „Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.“

Etwa eine halbe Stunde später – nach weiteren vier Bechern Rum – erschien die rote Dolores auf der Bildfläche. Lilian und Teta-Maria hatten sich unterdessen auf den Schößen neuer Freier niedergelassen. Auch nach Dolores wurde gegriffen und gerufen, aber Cariba war schneller als alle anderen.

Er schob sich neben sie und sagte: „Ein Goldstückchen für ein paar Stunden Spaß – was hältst du davon?“

Sie stemmte die Hände in die Seiten und musterte ihn ungeniert von oben bis unten. Sie war schlank, aber wohlproportioniert und mußte als junges Mädchen einmal sehr hübsch gewesen sein. Das Metier hatte ihre Züge verhärtet und ihrer Stimme einen rauhen Beiklang gegeben. Dennoch war Cariba von ihr fasziniert. Er griff nach ihrem Arm und zog sie zu sich heran. Ihre roten Löckchen wippten, ihr rüschenbesetztes, tief ausgeschnittenes Kleid verrutschte ein bißchen.

„He!“ rief sie. „Bist du übergeschnappt? Noch sind wir uns nicht einig, du Grobian!“

Er zeigte ihr das Goldstück. „Sind wir’s jetzt?“

Sie seufzte, sah sich die Münze an und ließ sie in ihrem Ausschnitt verschwinden. Mit dem Daumen wies sie über die Schulter zu den Hinterzimmern. „Na gut, Amigo, laß uns reisen. Und vergiß nicht, was zu trinken mitzunehmen.“

„Rum? Von dem guten?“

„Gegen Rum habe ich nichts einzuwenden“, erwiderte Dolores und gab Alvaro einen Wink. Im stillen aber fragte sie sich, wann sie sich eines Tages endlich zur Ruhe setzen und nach Spanien, in ihre Heimat Andalusien, zurückkehren konnte. Vielleicht nie. Vielleicht war diese Hoffnung nur eine Illusion.

Sie lachte grell und folgte Cariba in das Hinterzimmer.

Später, nach dem Intermezzo mit Dolores, ließ sich Cariba an einem der Tische nieder. Er wollte noch nicht aufbrechen. Die Black Queen und Caligula erwarteten ihn erst im Laufe des nächsten Tages zurück. Er konnte also bedenkenlos weiterzechen.

Er trank den scharfen, brennenden Rum wie Wasser und fühlte sich auch nach dem zwanzigsten Becher noch nicht benebelt. Mit ausdruckslosen Gesicht verfolgte er das Treiben in der Kneipe. Es waren wieder Männer eingetroffen, und einer von ihnen, ein bulliger Mann mit einem winzigen Ring im linken Ohrläppchen, gab damit an, daß er gerade aus Havanna käme.

Die anderen umringten ihn, dann setzten sie sich zu ihm an einen der großen Tische.

„Ja, Havanna“, sagte der Bullige. „Das ist ein Hafen! Dort ist Leben! Man hat das Gefühl, in Cadiz oder Malaga zu sein!“

„Ist denn immer noch Don Antonio da, der fette Gouverneur?“ fragte einer der anderen Kerle. „Ich bin vor ein paar Jahren in Havanna gewesen und habe ihn mal zufällig von weitem gesehen. Er ist die dickste Ratte, der ich je begegnet bin.“

Die Kerle lachten, und der Bullige hieb sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Don Antonio? Natürlich! Oder hat sich auf Kuba deiner Meinung nach was geändert? Ho, den Burschen stößt keiner von seinem Thron! Leben und leben lassen, ist sein Grundsatz!“

„Die Hauptsache für ihn ist, daß die Kasse stimmt“, sagte ein dunkelhaariger Mann mit tiefliegenden Augen und einem sichelförmigen Schnauzbart. „Er nimmt, was er kriegen kann, stopft sich die Taschen mit Gold und Silber voll und feiert rauschende Feste.“

„Das stimmt“, bestätigte der Bullige. „Erst kürzlich hat wieder so eine Orgie in der Residenz stattgefunden. Ich habe die tollsten Sachen darüber gehört.“

„Berichte!“ rief Lilian schrill. „Was treiben die feinen Herren denn so mit ihren hochwohlgeborenen Damen?“

Der Bullige – er hieß Atos, wie sich wenig später für Cariba herausstellte – erzählte die wildesten Geschichten, die ihm einfielen, aber natürlich war er ja nicht selbst dabeigewesen und konnte deshalb allenfalls Seemannsgarn spinnen. Dann aber sprach er über etwas, was Cariba unwillkürlich aufhorchen ließ.

„Es könnte jetzt aber doch Ärger für Don Antonio geben“, sagte er. „Da ist nämlich ein ganz neues Gesicht in Havanna aufgetaucht. Ein Don Juan – ja, so heißt er, glaube ich – ist extra aus Spanien nach Kuba gereist, um von hier Piraten zu jagen.“

Unruhe entstand. Die Kerle riefen durcheinander.

„Das bringt uns Ärger!“ schrie der mit dem sichelförmigen Schnauzbart.

„Der Teufel soll diesen Don Juan holen!“

„Was hat denn Don Antonio mit ihm zu tun?“

Atos trank seinen Becher leer, knallte ihn auf den Tisch und hob beide Hände. „Wenn ihr mich ausreden laßt, sage ich es euch!“

Es trat wieder Ruhe ein. Atos blickte sich nach allen Seiten um und genoß die Spannung. Schließlich sagte er: „Don Antonio und dieser Don Juan können sich gegenseitig nicht leiden und sind sich spinnefeind. Don Juan will mit der Bestechung und dem ganzen Kram aufräumen. Don Antonio würde ihm am liebsten den Hals umdrehen, aber Don Juan hat Sondervollmachten. Trotzdem hat er ihn schon einmal festnehmen lassen, hab’ ich gehört. Aber dann hat Catalina mit seiner Bande die Stadt überfallen.“

„Catalina?“ rief Teta-Maria. „Dieser Teufelskerl! Hat er Havanna etwa niedergebrannt?“

„Er ist tot“, entgegnete Atos. „Und mit ihm die meisten seiner Männer. Auch Zapata, der sich mit ihm verbündet hatte, wurde zurückgeschlagen.“

„Und das alles hat dieser Don Juan erreicht?“ wollte der Schnauzbärtige wissen.