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BERLIN

ROSTIGES HERZ

SARAH STOFFERS

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© 2018 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Susanne Pavlovic | Textehexe

Umschlaggestaltung: Cover & Books | coverandbooks.com

ISBN TB 978-3-95869-373-9

Printed in the EU

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

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FÜR MEINE
ELTERN

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»Wir haben angefangen, uns an den Untergang zu gewöhnen, genauso wie an den Hunger und die Strahlenpest. Es sind nicht mehr genug von uns am Leben, um die Toten zu begraben. Die Städte verfallen vor unseren Augen, doch die Welt ist nicht untergegangen. Gerade, als wir uns zum Sterben in die Bunker verkrochen haben, sind die Zauberer zurückgekehrt.

Sie sind dem Vergessen entstiegen, wie die Helden längst vergangener Tage, und sie haben uns nicht nur gerettet. Sie haben uns zurückgegeben, was wir am nötigsten brauchten: den Glauben an uns selbst. Wenn es möglich war, mit einem Fingerschnipsen die finsteren Tunnel in magisches Licht zu tauchen, wenn in der Tiefsee noch Meerjungfrauen hausten und fernab der Menschen die Irrlichter überlebt hatten, würden wir dann nicht auch aus den Tümmern der alten Zivilisation eine neue erschaffen können? Doch ich greife vor!

Wenn du diese Zeilen liest, hat die Menschheit überlebt und deine Welt ist eine andere als meine. Du betrachtest unsere Ära aus der sicheren Entfernung einiger Jahrhunderte. Vielleicht lehnst du dich in deinem Sitz zurück, die Beine von dir gestreckt, eine Katze auf den Knien. Vielleicht hast du eine Schale geröstete Heuschrecken zum Knabbern vor dir, und womöglich habt ihr sogar einen Ersatz für Kohle und Erdöl gefunden, sodass du dich nicht in eine alte Plastikplane wickeln musst, um warm zu bleiben, so wie ich es jetzt tue. Ich kann mir deine Zeit kaum ausmalen, aber ich habe einen Namen für meine.

Er geht wie ein Fluch durch die Baracken und um die Tonnen mit brennendem Müll. Wir nennen unsere Zeit »die dunklen Jahre«, als wäre es möglich, eine Zivilisation innerhalb einer Generation zu stürzen. In Wahrheit brauchte es dafür weit länger. Es herrscht keine Einigkeit über die Chronologie des Untergangs. Manche sagen, es begann mit den Impulsbomben und mit der anschließenden Verstrahlung. Andere beharren darauf, dass es das Meer war, das sich zuerst gegen den Menschen wandte und die Küsten verschlang. Salziges Wasser gibt es im Überfluss, aber wir kämpfen jeden Tag um trinkbares. Einige sagen, es sei ein Glück, dass die Seuchen so viele getötet haben, denn auch das Essen reicht nicht für alle Überlebenden, und der Hunger frisst unsere Körper.

Doch wir sind trotzdem noch Menschen! Es ist nicht leicht, sich daran zu erinnern, nachdem fast alles verloren gegangen ist. Das Wissen des 22. Jahrhunderts zerrinnt uns zwischen den Fingern. Wir verlernen Lesen und Schreiben, weil sich damit weder Eichhörnchen fangen, noch Feuer entzünden lassen, ganz im Gegensatz zu den letzten echten Büchern, die sehr gut brennen. Wir haben meiner Großmutter ihr Smartphone ins Grab gelegt, weil sich niemand mehr daran erinnern konnte, wie es das letzte Mal ansprang. Und ich verspüre eine eigenartige Faszination für die kleinen Plastikkarten mit dem Namenszug Amelie Bähr, einer langen Nummer und ihrem zerkratzten Bild. Es sind die Relikte einer anderen Welt, und sie haben ihre Nutzer überdauert.

Während ich schreibe, trinke ich Brennnesseltee aus einem Plastikgehäuse, das ich bei einer Wanderung am Strand gefunden habe. Ich frage mich, wozu es einmal gedient hat, doch mit dieser Neugier bin ich allein. Die meisten von uns haben schon wieder vergessen, womit unsere neue Zeitrechnung begann. Das erste Jahr des zweiten Zeitalters markiert den Untergang von London, einer Stadt, die wir nur noch aus Geschichten darüber kennen, wie ihre Türme im Meer versanken. Die Überlebenden haben sich zu Stämmen zusammengeschlossen und ziehen seitdem durch ein Europa, in dem sich alles um sie herum verändert hat, die Landschaft, die Pflanzen und sogar das Wetter. Die Städte sind verfallen. Ganze Landstriche sind verseucht und verstrahlt. Verwahrloste Ebenen verwandeln sich in Wüsten. Jeden Winter ziehen Stürme über die Küsten wie feindliche Heere.

Alleine wären wir verloren, also haben die Zauberer die »Wacht« gegründet, um uns gewöhnliche Menschen zu beschützen. Jeder Stamm wird von ein oder zwei Zauberern begleitet und die Kundschafter der Wacht durchkämmen die Gefahrenzonen auf der Suche nach Überlebenden. Erst vor ein paar Tagen ist eine Offizierin der Wacht mit Neuigkeiten zu uns gestoßen. Die Gerüchte sind wahr, das Meer steigt nicht weiter an. Ich sammle schon eine Weile die Nachrichten, die uns von anderen Stämmen erreichen. Eine wiederholt sich, ganz gleich, ob sie den langen Weg aus Asien gekommen ist oder aus den Wüsten im Süden. Das Meer dehnt sich nicht weiter aus. Es ist zur Ruhe gekommen wie ein Gigant, der sich nach einem langen, mühevollen Tag schlafen gelegt hat, und mehr noch, es steht vor Berlin. Die Stadt liegt in Trümmern. Ihr Asphalt ist geborsten und überwuchert, die Wolkenkratzer sind gestürzt und die Straßen verschüttet. Doch falls die Ruinen nicht mehr verstrahlt sind, falls wir die Biobomben entschärfen können, wäre es möglich, die große Wanderung zu beenden. Wir haben viel Erfahrung damit, aus dem Abfall unserer Vorfahren etwas Nützliches zu machen. Wir könnten eine Siedlung aufbauen, für all jene, die sich nach einem sicheren Hafen sehnen. Das Meer und der Fluss sind eine gute Grundlage dafür, und einmal mehr haben die Zauberer uns Hoffnung gebracht. Noch wird die Neuigkeit in den Baracken diskutiert, doch ich glaube an uns. Ich wünschte, ich könnte einen Blick auf die Zukunft werfen, die eines Tages hieraus entsteht. Wie wird deine Welt aussehen? Und wie wirst du dich an meine erinnern?«

aus »Die dunklen Jahre« von Wilhelm Bähr, im 73. Jahr des zweiten Zeitalters.

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BERLIN, 739 JAHRE SPÄTER
1.MATHILDA

An jenem Nachmittag ging ein geschäftiges Surren durch die Stadt. Es vibrierte in den Leitungen, die das Faulgas in die engen Küchen brachte. Es floss durch das Schwappen und Ächzen der Hausboote am Fluss. Es knisterte in den Maschinenräumen der Luftschiffe am Himmel über Berlin. Es war eine Ahnung vom Ende des Sommers und es erstarb in einer winzigen Werkstatt, so plötzlich, als wäre es niemals dort gewesen.

Ismails Faust zertrümmerte es mit der Wucht seiner gerechten Empörung auf der schartigen Tischplatte. Der Schlag ließ die Schrauben klirren. Mathildas Tabakbüchse machte einen empörten Satz in die Luft. »Diese Fingerschnipser halten sich für die besseren Menschen!«, wetterte er. »Geboren zur Macht, dank eines Talents, für das sie nichts können! Und der Rat kriecht vor ihnen im Staub!« Seine Faust glich einem mechanischen Stoßkolben, als sie von neuem auf dieselbe Stelle einschlug.

Mathilda sah gerade lange genug auf, um die tanzende Tabakdose einzufangen, dann richtete sie ihre dunklen Augen wieder auf den ausgeweideten Körper des Automaten. Neben ihr lag Maximus in der Sonne, den gewaltigen Kopf auf die Pfoten gebettet. Der Hund hob den Blick gerade weit genug, um Ismails Ausbruch zu verfolgen. Ein Speichelfaden rann träge unter seinen Lefzen hervor und bildete einen dunklen Flecken auf dem unverputzten Boden.

»Nichts wird sich in dieser Stadt jemals ändern«, flüsterte Mathilda dem Automaten zu, während sie nach der richtigen Zange kramte. »Gar nichts!«

»Nichts wird sich in dieser Stadt jemals ändern!«, tobte Ismail und warf seine Pranken voll hilfloser Wut in die Luft. »Gar nichts!«

Durch die offenen Fenster drang der Gestank aus dem Kanal herein. Von der Straße roch es nach verbranntem Gummi. Vom Hof nach den aufgeplatzten Aprikosen, die unter dem knorrigen Baum verfaulten. In der prallen Sonne vor ihrer Tür verdorrte das Unkraut, doch in Mathildas Werkstatt herrschten die Schatten. Sie breiteten sich zwischen dem Gerümpel aus, krochen durch Speichen und Rohre und sammelten sich in den staubigen Winkeln. In der ganzen Werkstatt gab es nicht einen funktionierenden Apparat, keinen schnurrenden Motor und kein beständiges Ticken. Es konnten Tage vergehen, bevor jemand an das Tor klopfte, um nach seiner Reparatur zu fragen. Mathilda schätzte ihre Ungestörtheit, ganz im Gegensatz zu ihrem lärmenden Gast.

Ihr Vetter Ismail war all das, was Mathilda nicht in ihrer Werkstatt wollte. Sein ganzer Körper zitterte vor Zorn, von den Rastalocken über die breiten Schultern bis in die stämmigen Beine. Es schien in all diesen Muskeln kaum genug Platz für seine explosive Unruhe zu geben, sodass er immer wieder zu einer rastlosen Wanderung um ihren Werktisch ansetzte. Wenn Mathilda sich all seine Energie als Antrieb hätte nutzbar machen können, wäre sie ein brauchbarer Ersatz für die teure Elektrizität gewesen. Zu ihrem Leidwesen kam das nicht infrage und so blieb Ismail Sturm das was er war: ein äußerst aufgebrachter Erfinder.

»Erst letzte Nacht ist ein verbotener Traumzauber gewirkt worden. Die ganze Leichengräbergasse hat von Rhabarberkuchen mit Schlag geträumt. Rhabarberkuchen!«, empörte er sich, als wäre schon die bloße Vorstellung eine Zumutung.

»Das ist ein ziemlich beeindruckender Zauber.« Mathildas Lächeln stahl sich beim Reden durch die Silben. »Außerdem könnte ich mir schlimmere Träume vorstellen. Solche von Blutpudding zum Beispiel. Oder Spinnen!«

»Darum geht es überhaupt nicht.« Ismail beugte sich zu ihr vor. Sein dunkles Gesicht schwebte über dem Gewirr aus Zahnrädern, Kabeln und Schrauben. Sein Zorn flirrte zwischen ihnen in der Luft, und Mathilda hätte um jeden Zauberer gefürchtet, der sich jetzt in ihre Werkstatt gewagt hätte. »Die Fingerschnipser haben nicht das Recht dazu, in anderer Leute Träumen herum zu pfuschen. Wie würde es dir gefallen, wenn jemand in deinem Kopf sein Unwesen treibt?«

»So lange ich dabei von Kuchen träume?«

Ismail schnaubte ihren Einwand weg.

»Die Sache wird vor den Rat kommen«, sagte Mathilda abwesend.

Sie starrte durch eine geschliffene Lupe, die sie wie ein Monokel vor ihr rechtes Auge geklemmt hatte, um eine winzige Schraube festzuziehen. De Flut ihrer schwarzen Locken wurde von einem verwaschenen, blauen Tuch zurückgehalten, das sie sich um den Kopf geknotet hatte. Ihr Mund war vor Konzentration zusammengepresst.

»Die ehrenwerten Mitglieder des Rates werden es bei einer Verwarnung belassen und bei einem Bußgeld. Eine lächerlich kleine Summe, zumindest für einen Zauberer«, grollte Ismail. Er stieß sich vom Tisch ab, voller Verdruss über die Gleichgültigkeit seiner Cousine und des Berliner Rates.

Mit einem demonstrativen Seufzen legte Mathilda die Lupe weg und sah endlich auf. Keine seiner Beschwerden war ihr neu. Seit Jahrhunderten wetterten die Erfinder gegen die Zauberer und umgekehrt. Bevor die beiden Gilden das erste Mal zusammen daran gearbeitet hatten, ein Luftschiff an den Himmel zu bringen, hatten sie sich vorher jahrelang streiten müssen. Aus Prinzip! Und vielleicht aus der Lust am Diskutieren. Und doch flogen inzwischen mit Magie verstärkte Luftschiffe über den Himmel von Berlin und sicherten den Reichtum der Stadt. Was die beiden Gilden nicht davon abhielt, sich weiter zu streiten.

»Was willst du dagegen tun?«, erkundigte sich Mathilda. »Bomben in die Türme der Zauberer werfen?«

Ismail verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg vielsagend.

»Das ist nicht dein Ernst!« Jetzt sprang Mathilda auf, genauso groß und genauso aufgebracht wie ihr Cousin. »Hast du vergessen, was nach der blauen Verschwörung passiert ist?«

Zumindest die Annalen der Stadt hatte nichts dergleichen getan. Sie erinnerten präzise daran, dass eine Gruppe von Erfindern vor zweiunddreißig Jahren versucht hatte, den Berliner Rat mit Giftgas zu töten. Fast ein ganzer Tross der Wacht war bei diesem Anschlag in einem blauen Nebel aus Gas erstickt. Die Zauberer hatten ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt gesehen und die magischen Großmeister erinnerten die Berliner daran, dass es die Erfinder gewesen waren, die das erste Zeitalter mit ihren Maschinen in den Untergang getrieben hatten. Das Patentamt verschärfte die Auflagen für genehmigte Erfindungen ein weiteres Mal und die Rohstoffe wurden noch strenger rationiert. Die Wacht durchkämmte jede Werkstatt, auf der Suche nach verbotenen Ideen. Die Erfinder sprachen weit weniger gern über diese Episode, als die Zauberer.

»Ich habe ja nicht vor, jemanden zu verletzten«, sagte Ismail störrisch. »Aber irgendetwas muss sich ändern! Und nicht erst im nächsten Zeitalter. Wir brauchen eine echte Gleichberechtigung von Zauberern und Gewöhnlichen.«

»Gewalt ist keine Lösung«, fauchte Mathilda, obwohl sie gerade versucht war, mit ihrem Kaffeebecher nach ihm zu werfen.

»Manche Veränderungen brauchen einen Aufstand«, beharrte Ismail grimmig. »Es gab einmal eine Zeit, da hast du genauso gedacht.«

Plötzlich war nur noch ein feuchtes Schmatzen zu hören. Maximus hatte begonnen, auf einer alten Dichtung herum zu kauen. Das Gummi gab dem Druck der gewaltigen Kiefer nach, sonst regte sich in der Werkstatt nichts. Ismail stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab, sein Körper eine einzige, stumme Anklage, aber Mathilda hatte keine Lust auf diesen Unsinn. Sie fegte ein paar Schrauben mit einem demonstrativen Scheppern in einen vergammelten Farbtopf und stand auf.

»Du bist schon ewig nicht mehr in der Arena gewesen«, sagte Ismail endlich.

Mathilda bemühte sich noch etwas lauter zu scheppern.

»Die Anderen fragen längst nicht mehr nach dir, aber manchmal wärmen sie noch die alten Geschichten auf. Von dem Käfercoup im Sommer `09. Oder davon, wie du das Rennen in den Tunneln mit einem kaputten Antrieb gewonnen hast. Der Sturz hatte dir das halbe Bein aufgerissen.«

Und ich bin danach Wochen lang nur in die Vorlesungen gehumpelt. Sogar das Gerichtsverfahren wegen verbotener Ideen war schneller ausgestanden, als die Verletzung.

Mathilda wandte Ismail den Rücken zu und begann, die schmutzigen Tassen zu einem Turm aufzustapeln, der als Statik-Experiment hätte durchgehen können.

»Das Zugucken tat schon weh, aber das war es wert.« Ismails Stimme war für seine Verhältnisse nur noch ein Flüstern, und doch sehr gut zu hören.

»War´s das?«, fragte Mathilda ungnädig. »Alte Geschichten?«

»Du hast einmal an unsere Sache geglaubt, an Erfindungen, die die Welt verändern. An eine Gleichheit zwischen Zauberern und Gewöhnlichen.«

Mathilda knallte die letzte Tasse auf die Spitze des Turms und brachte ihn damit scheppernd zum Einsturz.

»Was ist damals wirklich mit dir passiert?«, fragte Ismail, als sie die Scherben einsammelte.

Nicht was, wer.

Wenn sie die Augen schloss, konnte Mathilda Rosas Lachen noch zwischen den Maschinenwracks hören. Einen schmerzhaften Moment lang konnte sie zwei schlanke Arme spüren, die von hinten um ihre Taille geschlungen wurden, und roch trotz des stinkenden Kanals Rosas Parfüm. Wie lange war es her, dass Rosa Himmelsbrück das letzte Mal hier gewesen war? Und wie konnte eine Abwesenheit sogar körperlich schmerzen?

»Es ist für mich schwerer geworden, nach der Hausdurchsuchung«, hörte sie sich selbst sagen. »Das war mehr als nur ein Warnfluch. Die Wacht wollte mich wegsperren. Sie hatten mich schon abgeholt!«

»Trotzdem bist du hier.«

»Und das ist ein einziges Wunder. Belass es dabei, Ismail.«

»Die Leute sagen, du hättest uns verraten, um freizukommen, aber ich habe dich immer verteidigt. Ich habe an dich geglaubt.«

Nur, dass auch Vertrauen dem Materialverschleiß der Zeit unterlag.

»Ich hatte Hilfe von einer Freundin und ich habe meine Lektion gelernt«, sagte Mathilda entschieden.

»Das kannst du unmöglich ernst meinen. Das bist nicht du! So bist du nicht, Mathilda Sturm. Ich kenne dich!«

»Ein Dreck kennst du!«

»Du hast dir niemals verbieten lassen, was du erfinden willst. Du bist besser als das hier.« Er umfasste mit einer ausholenden Geste ihre ganze vollgestopfte Werkstatt.

»Ismail!«

Doch ihr Cousin stieß sich vom Tisch ab. Seine rastlose Wut kehrte zurück. Sie trieb ihn quer durch die Werkstatt, ein Kraftstoff aus gärenden Gefühlen. Dann blieb er mitten in seiner Wanderung stehen und zog ein zerknittertes Flugblatt aus seiner Hosentasche. Er strich es umständlich glatt und schob es zu ihr hinüber. In der Mitte prangte die Zeichnung eines Gleiters. Seine Kurven waren windschnittiger als alles, was Mathilda jemals gesehen hatte. Er schwebte in der Luft, als könnte ihm die Schwerkraft nichts anhaben. Darunter stand: »Der Himmelsstürmer« und dann etwas kleiner »Jede Veränderung beginnt mit einer Idee.«

»Drachenscheiße, Ismail!«, fluchte Mathilda. Sie griff so eilig nach dem Blatt, als könnte es den Tisch in Flammen setzen. »Willst du, dass mir die Wacht die Werkstatt schließt?«

»Wir sind freie Bürger«, knurrte Ismail zurück. »In einer freien Stadt. Man wird ja wohl noch seine eigenen Gedanken aufschreiben dürfen.«

»Das ist gefährlicher Unsinn«, erklärte Mathilda unerbittlich und drückte ihm das Flugblatt in die Hand. »Ich will so etwas nicht in meiner Werkstatt.«

Ismails Schultern sanken herab. All seine explosive Wut machte einer plötzlichen Verlegenheit Platz. Er stand mit seinem Flugblatt in der Faust da und schien etwas sagen zu wollen, aber Mathilda kam ihm zuvor: »Hast du deine Kisten im Schuppen verstaut?«

»Ja, aber weißt du, die Flugblätter…«, setzte Ismail an. Eigentlich war er nur hier, um eine Ladung Alteisen bei ihr einzulagern, und doch stritten sie schon wieder. Mathilda stopfte sich die Tabakdose in die Taschen ihrer robusten Hose und kramte nach den Schlüsseln. »Ich hab heute keine Zeit für diese Träume. Behalte sie für dich.«

»Nicht jeder zieht es vor, seinen Kopf in den Kanal zu stecken«, sagte Ismail störrisch, als er ihr nach draußen folgte. »Es gibt immer mehr, die so denken wie ich. Wir werden uns die Tyrannei der Zauberer nicht länger gefallen lassen. Wenn du nur endlich zurück in die Arena kommen würdest!«

Mathilda pfiff nach Maximus und schloss die Werkstatt hinter der Dogge ab. »Das ist nichts mehr für mich, Ismail. Ich habe diese Firma.« Sie legte ihre Hand auf die schmutzigen roten Ziegel des Hauses. Der Stein glühte in der Sonne, und plötzlich empfand Mathilda eine wilde Liebe für all ihren Schrott, ihre Zahnräder und Schrauben, den glucksenden Kanal und die blinden Fenster. Hoch über dem Dach drehte sich knarrend ein Windrad. In einem löchrigen Eimer verdorrte der heldenhafte Versuch, Thymian zu ziehen. Irgendwann, wenn sie einmal Zeit hatte, würde sie die Aprikosen auflesen, die Ersatzteile sortieren und sogar Ordnung in ihre Rechnungen bringen. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. »Ich repariere alte Dinge und ich baue neue Dinge. Das ist alles, was ich will«, erklärte Mathilda. So, wie jedes Mal, wenn sie dieses Gespräch führten.

»Du bist eine Schande für unsere Gilde!«, sagte Ismail in demselben Tonfall, den er regelmäßig an dieser Stelle anschlug. »Was ist aus deinem Entdeckergeist geworden? Aus deinem Ehrgeiz? Willst du nicht mehr als Erfinderin die Welt verändern?«

»Nicht heute Abend!« Mathilda trat auf die Klackergasse hin­aus. Maximus trottete neben ihr her. Sie spürte Ismails Blick im Rücken, als er ihr nachsah, und sie hörte förmlich, wie die Gedanken in seinem Kopf ineinander griffen.

»Du schließt heute ungewöhnlich früh«, sagte er endlich. »Gibt es da eine neue Frau?«

Mathilda schwieg verbissen, in der Hoffnung, dass er dieses Thema einfach fallen lassen würde, zur Abwechslung einmal.

»Ist es diese kurvige Kleine aus der Werft, du weißt schon?«, hakte Ismail nach, als er keine Antwort bekam. Er zeichnete die Formen des Mädchens mit den Händen in die Luft. »Weißt du was? Du könntest sie nächste Woche in die Arena mitbringen. Nur als Zuschauerin, ganz ungefährlich. Ich hab dir die Karten für das Rennen auf deinen Schreibtisch gepackt.«

»Auf Wiedersehen, Ismail!« Mathilda winkte ihm zu. Sie rammte die Absätze ihrer Armeestiefel bei jedem Schritt in das bucklige Pflaster.

»Oder ist es wieder die Artistin? Kommt sie nicht um diese Zeit des Jahres in die Stadt?«, rief ihr Cousin ihr nach. »Mathilda! Wo gehst du hin?«

Sie gab vor, ihn nicht mehr zu hören, setzte über einen rußigen, kleinen Krater mitten in der Gasse hinweg und tauchte in die Geschäftigkeit der Stadt ein.

Das Viertel der Erfinder war das rostige Herz von Berlin. Nirgendwo waren die Häuser eine größere Herausforderung an das Bauamt und an die Schwerkraft. Die Mauern wucherten zu allen Seiten schräg in die Höhe. Überall war noch ein Balkon, eine Brücke oder ein Stockwerk angebaut worden. Rohre kletterten die Hauswände entlang. Rostige Leitern ersetzten Treppen. Mathilda wich den Funken eines Schweißbrenners aus. Hinter ihr schickte eine gedämpfte Explosion ein Beben die Straße hinab, ohne dass auch nur einer der Passanten aufsah. Straßenhändler konnten in dieser Gegend mit Schutzbrillen und Helmen ein Vermögen machen - selbst dann, wenn noch etwas Asche und Blut daran klebte. Nur Ersatzteile und frischer Kaffee gingen noch häufiger über die Ladentheke.

An diesem Nachmittag drängte Mathilda sich achtlos an den Ausschänken vorbei. Sie ignorierte den Duft von Zimt und Muskat, der sich tapfer gegen den Gestank des Viertels zur Wehr setzte. Stattdessen hielt sie geradewegs auf den großen Fluss zu. Irgendwann im ersten Zeitalter mochte der Strom einmal einen Namen gehabt haben und zahmer gewesen sein. Einige Altertumsforscher behaupteten sogar, er wäre nicht mehr als ein genügsames Gewässer für Ausflugsboote und Spaziergänger gewesen. Das schien Mathilda undenkbar, denn heute beherrschte der Strom die Stadt.

Er streckte seine nassen Finger von den Hangar der Luftschiffe im Osten bis zu den Türmen der Zauberer im Westen aus. Seine Strömung trieb die Turbinen des Kraftwerks an und die Hafenarbeiter lebten mit ihren Hausbooten direkt auf seinen schmutzigen Fluten. Der Fluss war Berlins Zugang zum Meer. Er hatte Schiffe in die Stadt gebracht, lange bevor ein Erfinder ein Luftschiff entworfen hatte. Deshalb fanden sich an seinem Ufer nicht nur Lagerhallen und Werften, sondern auch die breiten Straßen der Kaufleute. Hier war das Pflaster leidlich sauber. Es gab hübsch verputzte Fassaden. Altmodische Pferdekutschen ratterten an eleganten Fahrrädern und Automobilen vorbei.

Mathilda vergrub trotz der Hitze ihre Hände in den Hosentaschen. Sie drückte ihre Schultern durch und weigerte sich, die Damen in den maßgeschneiderten Kostümen zur Kenntnis zu nehmen, die an ihr vorbeiflanierten. Oder die Herren, die ihre Hüte tief in der Stirn trugen und deren bunte Krawatten farblich zu den Schnürbändern ihrer Schuhe passten. Plötzlich wünschte sie sich, sie wäre nicht vor Ismail aus der Werkstatt geflohen. Sie hätte sich die Zeit nehmen sollen, um das Schmieröl von ihren Fingern zu schrubben und das Hemd zu wechseln. So roch sie kein bisschen besser als Maximus. Wie um sie zu trösten, teilte der Hund die Menge der Passanten durch seine gewaltige, sabbernde Erscheinung. Sie hielten gemeinsam auf ein Geschäft zu, über dem in geschwungenen Buchstaben `Güldensterns Zuckerbäckerei seit 799` stand. Die Fassade war ganz Lack und Messing. Das Schaufenster glänzte in der Sonne. Dahinter wurden Törtchen und Pralinen auf Etageren präsentiert wie Juwelen. Zwei sorgfältig gestutzte Orangenbäume flankierten die Tür.

Ein Messingglöckchen begann schrill zu klingeln, als Mathilda über die Schwelle trat. Von der Ladentheke her schwappte ihr eine Welle der Missbilligung entgegen, doch im ersten Moment atmete sie nur den Duft. Dunkle, bittersüße Schokolade. Frisch gemahlene Mandeln mit einem Spritzer Orangenwasser für klebriges Marzipan. Und über alledem buttriger Karamell. Mathilda konnte problemlos die Einnahmen eines ganzen Monats in Karamellbonbons stecken. Vor allem, seit nach der großen Rübenfäule die Zuckerpreise explodiert waren und sich kaum noch jemand Süßigkeiten leisten konnte. Für einen Momente gestattete sie sich den Gedanken, wie viel Karamell sie mit den Groschen in ihrer Tasche kaufen könnte. Sie hatte jetzt schon seit Wochen darauf verzichtet und spürte den sahnigen Geschmack bereits am Gaumen, doch dafür war sie heute nicht hier! Heute wollte sie das perfekte Geschenk für Rosa kaufen.

Mathilda trat an den blanken Bonbongläsern vorbei an die Theke.

»Was ist das?«, fragte der Verkäufer statt einer Begrüßung.

Mathilda warf einen Blick zurück über die Schulter und sah Maximus, der auf der Straße wartete und seine schlabbrige Schnauze gegen das Schaufenster drückte. Sein Atem beschlug die blank geputzte Scheibe. Mitten im Dunst prangte ein nasser Abdruck, wie ein Kuss.

»Ein Hund«, stellte Mathilda völlig zutreffend fest.

Der Verkäufer maß sie mit einem langen Blick von der Art, die von den Grönlandweiden bis zur toskanischen Wüste reichte.

»Ein großer Hund«, räumte Mathilda ein.

Ein Ärgernis, schien der redefreudige Blick des Verkäufers zu sagen. Stattdessen fragte er frostig: »Was kann ich für Sie tun, Fräulein?«

»Ein Dutzend Macarons, bitte. Die mit Himbeeren. In einer Geschenkverpackung.« Um ihren Wunsch zu unterstreichen schaufelte sie einen Berg von Pfennigen und Groschen auf den Tisch. Der Verkäufer schien zu dem Schluss zu kommen, dass er die dreckige Erfinderin am schnellsten wieder loswerden würde, wenn er ihren Wunsch erfüllte. Also bettete er die Macarons in luftiges Papier. Am Ende reichte er Mathilda eine Pappschachtel, die von einem Seidenbändchen zusammen gehalten wurde und vollkommen arglos aussah.

Als Mathilda danach griff, roch sie für einen Moment die Süße und Fäulnis eines anderen Sommers. Rosas Lachen hallte durch ihre Erinnerung, da war der Abdruck eines verschwitzten Kusses auf ihren Lippen, klebrig von Salz und Marmelade. An jenem Tag waren sie auf einem der Lastkähne zu einem Picknick ans Meer gefahren, um das Ende ihres Studiums zu feiern. Die Sonne hatte genauso gebrannt wie in diesem Jahr, doch anders als heute schien damals noch alles möglich zu sein. Mathilda hatte geröstete Heuschrecken mitgebracht und Rosa eine ganze Schachtel Macarons. Die Brandung war ihnen kalt über die nackten Füße geschwappt. Weit über ihnen hatten die Möwen gekreischt. War sie tatsächlich einmal so gedankenlos glücklich gewesen?

Das demonstrative Räuspern des Verkäufers holte Mathilda zurück in die Gegenwart und erinnerte sie daran, das Geschäft zu verlassen. Auf der Straße ließ sie ihre Taschenuhr aufschnappen. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, um sich umzuziehen. Sie würde sich mit dem letzten sauberen Wasser im Tank eine kalte Dusche leisten. Die bloße Vorstellung war schon ein Vergnügen. Außerdem hatte sie Rosa versprochen, ein Kleid zu tragen. Ein richtiges Kleid!

Der Gedanke war unerhört, denn Mathilda hatte nie genug Geld für neue Kleidung über. Ihre Garderobe war ein Fundus aus zweiter bis dritter Hand, robuste Stoffe und kräftige Farben. Nein, für dieses Problem gab es nur eine Lösung.

Tropfend tapste sie nach der kostbaren Dusche durch ihr Zimmer. Das große Metallbett war aus den Kupferrohren einer alten Heizungsanlage zusammengeschweißt worden. Sie kniete sich auf den Boden und zog mit langem Arm einen Lederkoffer unter dem Bett hervor. Die Verschlüsse schnappten unter ihren Fingern auf und für einen Moment erwartete Mathilda den vertrauten Duft ihrer Mutter.

Doch natürlich rochen die alten Uniformjacken und Armeestiefel nur noch streng nach Mottenpapier und gelber Seife. Das Leder glänzte matt. Die Bügelkanten lagen exakt aufeinander. Eine ihrer Tanten musste den Inhalt des Koffers in einem Anfall von Ordnungswahn fachgerecht verstaut haben. Zuoberst lagen ein paar Orden, die post mortem verliehen und dann wieder vergessen worden waren. Das war alles, was von Mathildas Mutter übrig geblieben war, nachdem Leutnant Isabela Sturm zusammen mit ihrem Luftschiff ins flandrische Meer gestürzt war: Uniformen, Orden und ein paar hoffnungslos altmodische Tanzkleider. Mathilda suchte sich ein Paar Abendschuhe und ein weißes Kleid aus. Es war ein seltsames Gefühl, wieder hinein zu schlüpfen. Das letzte Mal, als sie die Garderobe ihre Mutter anprobiert hatte, waren diese Röcke noch viel zu lang für sie gewesen, und Mathilda hatte auf einen Hocker klettern müssen, um sich im Spiegel zu betrachten. Heute saß das Tanzkleid perfekt. Es bildete einen hübschen Kontrast zu ihrer dunklen Haut und der leichte Stoff schwang ihr um die Beine, als sie die Treppe hinablief.

Sie wollte gerade zur Tür hinaus, als ein Grunzen sie zurückhielt. Flynn Sturm war nie ein redseliger Mann gewesen, doch als seine Frau nicht aus dem Luftkrieg von Flandern zurückgekehrt war, versank der gesprächigste Teil von ihm mit ihr im Meer. Seitdem waren fünfzehn Jahre vergangen und es herrschte längst Frieden mit Paris. Vor einem Küstenstreifen mit seegrasbewachsenen Dünnen waren die Skelette der Luftschiffe geborgen worden.

In den Fischerdörfern entlang der Küste gab es namenlose Gräber voll bleicher Schädel. Flynn stand weiterhin Tag für Tag am Amboss seiner Schmiede, aber inmitten des Funkenregens waren ihm die Worte Silbe für Silbe verloren gegangen. Jetzt legte er seiner Tochter die Pranke auf die Wange, als wäre sie noch immer elf, und sah sie forschend an.

»Es ist Rosas Geburtstag«, erklärte Mathilda mit einem schiefen Grinsen und hielt das Päckchen mit den Macarons hoch. »Die große Party. Ich bin spät dran.«

Flynn gab ein sorgenvolles Brummen von sich.

»Nicht alle Fingerschnipser sind Verbrecher«, wiederholte sie geduldig. »Rosa kann nicht mal zaubern! Du hast selbst gesagt, dass niemand etwas für seine Familie kann.« Damals, als er noch mit ihr geredet hatte.

Sein gedankenschwerer Blick blieb.

»Ich bin ein großes Mädchen«, fügte Mathilda hinzu.

Ein kleines Schnauben. Flynn ließ sie los und hieß sie mit einem Fingerzeig zu warten. Als er aus der Küche zurückkehrte, hielt er eine einzelne rote Lilie in der Hand, die er aus irgendeinem Hinterhof gestohlen haben musste. Er steckte Mathilda die Blüte in die wilden Locken und verschwand wieder in der Schmiede.

»Ich hab dich lieb«, rief sie ihm hinter her. Sein Schweigen hallte durch den Flur und folgte Mathilda auf die Straße. Es wurde von dem Rattern der Kutschen und Windräder aufgescheucht. Es wirbelte mit einem Hauch von Seewind über den Fluss und zerstreute sich zwischen Mathildas klackernden Absätzen, als sie zu den Türmen der Zauberer aufbrach.

2. FIDELIO

Fidelios Welt bestand aus einem einzigen Atemzug. Sein Herz schlug ruhig und stetig. Sein Geist war ein stiller See, nur ohne das lästige Grünzeug am Ufer, den Schlick zwischen den Zehen und die Würmer im Matsch. Nein, das mit dem See ging nicht. Er brauchte ein anderes Bild, um sich in die richtige Stimmung zu versetzen. Die schwarze Stunde vor der Dämmerung etwa, jener Augenblick, in dem die Stadt ruhte und es sich so anfühlte, als wäre sonst niemand mehr wach. Die Straßenlaternen waren um diese Zeit längst erloschen und selbst am Hafen standen die Kräne still. Wer in diesem Moment auf der Brücke über dem Fluss stand, konnte unter dem Firmament einen Hauch Unendlichkeit erahnen.

Stell es dir vor, Fidelio. Fühle es!

Die Magie war ein feines Knistern auf seiner Haut. Ein lockendes Zucken in seinen Fingern. Er musste nur die Hand ausstrecken und die unsichtbaren Kräfte in einer einzigen präzisen Geste bündeln. Die Möglichkeiten waren schwindelerregend, doch er durfte sich nicht von seinem Ziel ablenken lassen.

Konzentration!

Fidelio schüttelte seine Hände aus und lockerte seine Schultern wie ein Boxer vor dem nächsten Schlag. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Er versuchte das Gefühl heraufzubeschwören, das er mit dem Zauber einfangen wollte. Etwas absolut Harmloses für den Anfang. Ein Zustand völliger Gelassenheit. Kein Raum für Zweifel oder Ängste. Fühle es und dann lass es wie eine Blase aufsteigen.

Fidelio bemühte sich krampfhaft, nichts zu denken und alle Geräusche auszublenden. Das Rauschen des Windes, der Tag und Nacht um die Turmspitze strich. Das Rascheln der Blätter im Dachgarten. Den fernen Straßenlärm tief unter ihm. Das aufdringliche Vogelzwitschern in seiner Nähe, ganz besonders das Vogelzwitschern. Nichts davon hatte Bedeutung. Ein weiterer Atemzug und sein Geist war … - vielleicht hätte ich Rosa doch den anderen Ring kaufen sollen!

Fidelio schlug die Augen auf und seufzte resigniert. Neben ihm im grünen Dickicht des Zitronenbaumes landete ein Kolibri, völlig erschöpft vom Kampf gegen den Wind. Jetzt klang das Zwitschern eindeutig vorwurfsvoll.

»Stell dich nicht so an«, verlangte Fidelio. »Es ist ja nicht so, als wärst du den ganzen Weg hinauf geflogen. Du bist genau wie ich mit dem Fahrstuhl gefahren.«

Der Vogel würdigte das keiner Antwort, sondern begann seine Federn zu ordnen, die heute leuchtend türkisfarben waren, passend zu der Krawatte und den Schuhbändern seines Herrn. Dann legte er fragend den Kopf schief und stieß ein kleines Zirpen aus.

»Nein«, sagte Fidelio, ganz so, als wäre sein Haustier tatsächlich imstande, sich mit ihm zu verständigen. »Es ist mir nicht gelungen. Aber Gefühle sind auch viel schwerer zu verzaubern als Gedanken.«

Jetzt klang das Zwitschern hämisch.

»Kein Grund für Zweifel. Es ist nur eine Frage der Zeit!« Schließlich war Fidelio trotz seiner Jugend bereits ein begnadeter Illusionist. Er konnte Gedanken in fremde Köpfe zaubern und magische Trugbilder aus seinen Fingern schlüpfen lassen. Es würde ihm irgendwann auch gelingen, die Sache mit den Gefühlen zu meistern.

Vorerst jedoch gab es Wichtigeres zu tun. Fidelio zupfte seine Manschetten zurecht und kontrollierte den Sitz seiner Weste. Heute trug er ein ausgesprochen hübsches Nachtblau, von dem er wusste, dass es perfekt mit dem Hellblau seiner Augen harmonierte. Das war wichtig, vielleicht sogar entscheidend, denn an diesem Abend würde er Rosa endlich die alles entscheidende Frage stellen. Er durfte also nichts weniger sein als perfekt.

Selbstverständlich war auch Fidelios sorgsam inszenierte Vollkommenheit am Ende nicht mehr als eine Täuschung, aber Fidelio hielt die Wahrheit für überschätzt. Sie ließ sich viel zu leicht verfälschen und manipulieren. Er selbst hatte diese Kunst über die Jahre vervollkommnet, so lange, bis er kaum noch zwischen Täuschung und Wirklichkeit unterscheiden konnte.

Dieser Dachgarten auf der Spitze des Turms war das beste Beispiel dafür. Inmitten des Dickichts aus Zitronenbäumen und Lavendelsträuchern, zwischen den sachte wiegenden Palmenwedeln und dem Jasmin, konnte man den Eindruck gewinnen, auf dem freien Land zu sein. Doch als er jetzt an den Rand des Daches trat, breitete sich Berlin zu seinen Füßen aus. Tief unter ihm zogen sich die Straßen dahin. Die Menschen sahen von hier oben aus, wie die aufgezogenen Spielzeugfiguren aus dem Viertel der Erfinder. Ringsherum erhoben sich noch mehr Türme und wenn Fidelio den Blick zwischen ihnen hindurch schweifen ließ, dann konnte er bis zum Fluss hinabsehen.

Die ersten Lampions schwebten in der Abenddämmerung. Sie hingen in der lauen Luft über den Dachgärten oder begleiteten ihre Herrschaften auf dem Heimweg wie Hunde. Der Rest von Berlin mochte die Nacht mit Faulgas oder Elektrizität erhellen, aber die Zauberer hatten Schwärme von Glühlichtern und schwebende Lampions. Es war eines der vielen Dinge, in denen sie den Gewöhnlichen weit voraus waren. Außerdem hatte es mehr Stil!

Fidelio lehnte sich über die Brüstung der Terrasse und hielt sein Gesicht in den Wind, während er die erleuchteten Fenster und die Sommerluft auf sich wirken ließ. Irgendwo jenseits der Stadt über dem brandenburgischen Flussdelta zogen erste Gewitterwolken auf, eine Ahnung von Abkühlung im Laufe der Nacht, aber noch stand die Hitze tief unter ihm auf den Straßen, während er selbst über alldem schwebte. Es war ein Gefühl von Freiheit, das sich mit nichts vergleichen ließ. Fidelio empfand eine wilde Dankbarkeit dafür, mit der Gabe der Magie geboren worden zu sein. Er hätte kein anderes Leben gewollt.

Ein leises Klingeln im Hintergrund holte ihn auf die Dach­terrasse zurück. Der Fahrstuhl hatte das oberste Stockwerk des Turms erreicht und faltete seine Gittertür klirrend zusammen. Die Hausherrin betrat ihren Garten. Die oberste Bibliothekarin und Hüterin des Wissens Emilie Maas reichte Fidelio kaum bis zum Kinn. Die vielen Jahre ihres Lebens hatten sich bereits tief in ihre dunkle Haut gegraben. Kurzgeschnittenes, weißes Haar umrahmte ihr strenges Gesicht. Natürlich galt ihre erste Sorge den Pflanzen. Sie schritt von Topf zu Topf und tastete die Erde ab. Als sie zu dem Zitronenbaum mit dem Kolibri kam, blieb sie stehen.

»Du nimmst den Vogel mit?«, fragte sie. »Sogar auf Rosas Party?«

»Immer«, antwortete Fidelio wahrheitsgemäß.

»Er ist nur eine Illusion«, erinnerte ihn Emi nicht zum ersten Mal. »Du schenkst all deine Liebe einem Zauber und nicht einem Tier aus Fleisch und Blut.«

»Dafür entleert Ferdinand niemals seinen Darm auf meinem Schreibtisch und füttern muss ich ihn auch nicht.« Fidelio schenkte ihr sein breitestes Lächeln.

Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, von Ferdinand als einer magischen Illusion zu denken. Für ihn besaß der Vogel eine Persönlichkeit, die genauso komplex war wie seine eigene. Außerdem passte sich sein Gefieder an Fidelios Garderobe an, eine Abwandlung des Zaubers, auf die er ganz besonders stolz war.

Emi musterte erst Ferdinands schillerndes Gefieder und dann Fidelios Krawatte. Sie schien für einen Moment zu bereuen, dass sie den Vogel für ihn erschaffen hatte, als er ihr Schüler wurde. Ein Junge von zwölf Jahren, der keine Familie hatte, kein Spielzeug und keine Vergangenheit.

»Es ist Ferdinands Glück, dass er aus reiner Magie besteht«, knurrte Emi. »Denn sein Herr ist so gedankenlos, dass er nicht für ein echtes Tier hätte sorgen können.«

Fidelios Lächeln verrutschte keinen Millimeter, auch dann nicht, als seine Lehrmeisterin die Abendzeitung aus den weiten Ärmeln ihrer Robe zog und sie demonstrativ auseinander faltete. Der Berliner Kurier titelte »Kuchenträume für Leichengräber!« Darunter war ein Foto von einem Mann auf einem frischen Grabhügel zu sehen, der gerade mit sichtlichem Vergnügen ein Stück Kuchen verzehrte. Der Untertitel verkündete: »Fingerschnipser verhext Straßenzug!« Das Bild daneben zeigte Fidelio, den Zylinder schief auf den zerzausten, blonden Haaren und mit einem strahlenden Lächeln.

»Sie haben das alte Foto vom letzten Winterball genommen? Ernsthaft?« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge.

Die steile Stirnfalte zwischen Emis Augenbrauen wuchs zu einem Canyon an. »Du hast zwei Dutzend Menschen gegen ihren Willen verzaubert!«

»Es war ein äußerst angenehmer Traum«, sagte Fidelio sanft. »Duftender Rhabarberkuchen mit Schlagsahne. Niemand hat sich beschwert. Der Rat wird natürlich eine Entschuldigung verlangen, aber sie können mir keine echten Schwierigkeiten machen.«

»Darum geht es überhaupt nicht, und das weißt du auch. Du darfst Menschen nicht gegen ihren Willen verzaubern. Es gibt Gesetze für Zauberei, und du brichst sie immer wieder. Fidelio, wir haben eine Verantwortung für die Macht, die wir gebrauchen!«

Sie ist uns nur geliehen, führte Fidelio ihre Rede in Gedanken fort. Wir dürfen sie nicht missbrauchen.

»Sie ist uns nur geliehen!«, sagte Emi scharf. »Wir dürfen sie nicht missbrauchen.«

Sie schien plötzlich so erschöpft, als wäre sie den ganzen Weg bis zur Turmspitze zu Fuß hinaufgestiegen. »Fidelio, versprich mir, dass du deine Kräfte endlich ernst nehmen wirst.«

»Du tust mir Unrecht. Diese Kuchensache ist eine Ausnahme! Es ist zum Beispiel Jahre her, dass ich das letzte Mal einen Charmezauber benutzt habe, um noch überzeugender zu sein. Ich bin zu erwachsen für so was«, log er.

Emi und Ferdinand würdigten das mit keiner Antwort oder auch nur eines Blickes, und jetzt sah Fidelio wirklich wie ein gescholtener Junge aus. »Ich werde mich ändern«, versprach er. »Heute Abend ändert sich alles!«

»Du wirst Rosa fragen? Natürlich wirst du das! Bitte sag mir, dass es nichts mit August zu tun hat.« Emi entsorgte die Zeitung in den Komposteimer.

»August Himmelsbrück hält große Stücke auf mich. Er wird mir bei der Meisterprüfung eine gewaltige Hilfe sein. Aber das ist nicht der Grund, aus dem ich seine Tochter heiraten will«, sagte Fidelio.

August Himmelsbrück war einer der fünf Großmeister der magischen Gilde. Mehr noch, er war der Großmeister, an dem in Berlin kein Zauberer vorbeikam. Die Himmelsbrücks waren eine der ältesten magischen Familien. Sie hatten den größten Turm, die wichtigsten Ämter und die schillerndsten Partys. Darüber hinaus hatte August Himmelsbrück eine Tochter ohne die Gabe der Magie.

»Es hat überhaupt nichts mit Himmelsbrück zu tun«, sagte Fidelio noch einmal. »Rosa ist ein großartiges Mädchen.«

Emis Blick wurde weicher. »Du liebst sie tatsächlich.«

»Ich habe sie sehr gern«, präzisierte Fidelio. Liebe war schließlich nichts, worüber man scherzte.

»Gewiss.« Emi schritt tiefer in den Garten hinein, bis zu den alten Holztischen, auf denen Orchideen und Moose in großen Glaskugeln wuchsen. Die Oberste Bibliothekarin trug an diesem Abend eine rote Robe mit goldenen Chrysanthemen, und sie leuchtete in all dem wuchernden Grün des Gartens wie eine zu groß geratene Blüte. Fidelio folgte ihr bis an den Arbeitstisch.

»Du weißt, was auf dich zukommt?«, fragte sie, während sie begann mit Phiolen voller Öl zu hantieren.

»Natürlich«, sagte Fidelio. »Rosa mag nicht über die Gabe verfügen, aber sie stammt aus einer tadellosen Familie. Wir werden unsere Verlobung nach meiner Meisterprüfung bekannt geben.«

»Du bist deiner Sache sehr sicher!«

»Ich würde Rosa nicht fragen, ob sie meine Frau werden will, wenn ich irgendeinen Zweifel hätte, dass sie …« Fidelio verstummte, als er die Lachfalten um Emis Augen bemerkte. Fieberhaft wog er ein letztes Mal seine Chancen ab. Er kannte Rosa gut, und sie schien seine Gesellschaft zu genießen. Es hatte Wochen lang nur Gespräche gegeben, dann verstohlene Küsse und endlich diese eine Nacht, in der sie sich in Emis Garten geschlichen hatten. Keine schnelle Nummer also, sondern etwas, das wirklich ernst war. Er hatte mit ihr über Gefühle geredet. Und er hatte diese Sache mit Jette beendet. Genau wie diese andere Sache mit Manju. »Sie wird ja sagen«, bekräftigte er noch einmal, mit all der Überzeugung, die er nicht empfand.

»Das meine ich nicht.« Jetzt lächelte Emi tatsächlich. »Sondern deine Meisterprüfung.«

»Oh«, machte Fidelio. »Das!«

Im Hibiskus tirilierte Ferdinand voller Spott.

»Das!«, präzisierte Emi, während sie duftende Öle in einen Flakon füllte und eine Orchideenblüte an den Hals der Flasche band. »Deine Aufnahme in die höchst ehrenwerte Gilde der Zauberei. Die Prüfung deiner Kräfte, deiner Weisheit und deiner Reife.«

Einvernehmliches Schweigen hallte durch den Garten.

»Du wirst der jüngste Zaubermeister seit Henrike Schnur sein. Erst vierundzwanzig. Aber du hältst das Ganze für einen einzigen großen Spaß.«

»Keineswegs, ich…«

»Wage es nicht, mir zu widersprechen. Wir wissen beide, dass es so ist. Du nimmst nichts hiervon ernst.«

»Ich nehme dich ernst, Rosa und Ferdinand.« Fidelio ging vorweg, um seiner Lehrmeisterin die Tür zum Aufzug zu öffnen. Emi packte den Parfümflakon und schritt an ihm vorbei in den Fahrstuhl, der Vogel flatterte in ihrem Kielwasser und Fidelio bildete den Abschluss. Ein Vibrieren ging durch die Kabine und ein Rattern setzte ein, als sie in die Tiefe glitten. Durch die eleganten Messinggitter des Fahrstuhls waren die Stockwerke zu sehen, an denen sie vorbeischwebten. Räume voller Bücher, Tische und Ledersessel. Dazwischen ein Laboratorium und überall Pflanzen. Die Schutzzauber in den alten Mauern surrten leise zur Begrüßung, als der Fahrstuhl vorbei fuhr. An einigen Türen schimmerten Runen aus Kupfer und einige Pflanzen bewegten sich in ihren Töpfen.

Emis Turm war ein Ort voller Magie und damit alles, worauf Fidelio jemals gehofft hatte. Mit Rosa als seiner Frau und als jüngster Zaubermeister seit verdammt langer Zeit würde die Wirklichkeit all seine Träume übertreffen. Er legte den Kopf in den Nacken, für einen Moment unsinnig glücklich im Taumel der Möglichkeiten. Sie setzten mit einem blechernen Klingeln auf dem Erdboden auf und traten auf die Straße hinaus.

Die Zuckerbäckerei Güldenstern projizierte an diesem Abend mittels Magie eine Anzeige an den makellosen Himmel, die sie ein kleines Vermögen gekostet haben musste. Erstaunlich, dass János Güldenstern sich das leisten konnte, zumal Zucker immer teurer wurde. Er musste inzwischen zu den reichsten Männern der Stadt gehören.

Emi schnipste mit den Fingern. An ihrer Seite flammte aus dem Nichts die Illusion eines Lampions auf, der farblich perfekt zu ihrer rotgoldenen Robe passte. Sie schwebte leuchtend vor ihnen her, durch das erste Blassblau und Zartrot der Dämmerung. Die Berliner traten respektvoll zur Seite, um der obersten Bibliothekarin Platz zu machen. Fidelio bemerkte das Getuschel und die Blicke und schritt prompt beschwingter. Er brauchte das Glück, das an diesem Abend durch seine Adern pulsierte, und die Leichtigkeit, die ihm wie Schaumwein zu Kopf stieg, wenn er Rosa fragen würde, ob sie seine Frau werden wollte. Der gewaltige Turm der Himmelsbrücks ragte schwarz in den Abendhimmel auf. Er war ein Monument der Macht und das Ende von Fidelios Selbstvertrauen.

Was, wenn er sich irrte? Was, wenn Rosa ihn nur unterhaltsam fand? Und er war sehr unterhaltsam! Was, wenn er dazu verurteilt war, sein Leben mit Jette, Lotte und Manju zu verbringen? Fidelio liebte alle Frauen, aber sie verblassten, sobald Rosa den Raum betrat.

»Weißt du wirklich, was du tust?«, fragte Emi, als sie gemeinsam auf den Turm zuschritten.

»Du denkst, sie könnte nein sagen?«, fragte er zurück.

Emi schnaubte. »Ich meine die Himmelsbrücks. August ist ein gefährlicher Mann.«

»Er ist Großmeister«, sagte Fidelio, als würde das alles erklären. »Und dein Freund.«

»Er würde mir ohne zu zögern einen Fluch in den Rücken jagen«, sagte Emi nüchtern. »August Himmelsbrück ist nicht der mächtigste Zauberer von Berlin, weil er lästige Skrupel kennt.«

»Du könntest ihn mit verbundenen Augen besiegen«, widersprach Fidelio und drängte den albernen Impuls nieder, sie auf offener Straße in den Arm zu nehmen.

»Früher vielleicht, aber ich habe meinen Zenit überschritten«, sagte Emi. »Ich werde dich nicht beschützen können, wenn es darauf ankommt.«

»Du musst mich nicht beschützen. Die dunklen Jahre sind vorüber. Wir leben in einem modernen Zeitalter voller Magie und Licht.« Er zitierte eine historische Rede zur Neubesiedlung von Berlin und die Sätze waren heute noch genauso wahr, wie damals, als die Stadt aus ihren Ruinen wieder aufgebaut worden war. Sie lebten in einer Zeit der sauberen Energie, mit fliegenden Schiffen am Himmel und Zauberern in den Straßen. Was hätte sicherer sein können? Standen sie nicht in einer Stadt, die all ihre Hoffnungen überflügelte? Gerade glitt ein blankpoliertes Fahrrad mit schwankender Laterne an ihnen vorbei. Die Roben der Zauberer auf der Straße, ihre pompösen Hüte und die bunten Fächer erinnerten an einen Schwarm Schmetterlinge, die im letzten Sonnenlicht tanzten. Butzenfenster und Bullaugen sahen wie Pupillen aus den Türmen auf die Stadt hinab. Von allen Balkongittern rankten Kletterpflanzen. Sie lebten in der besten aller Zeiten.

Trotzdem sah Emi besorgt aus. Nicht streng, wie immer, oder wütend, was auch öfter vorkam. Sondern so, als könnten die Bomben des ersten Zeitalters aus dem Vergessen geholt werden. »August ist nicht, wofür du ihn hältst«, sagte sie und klang plötzlich so alt, wie sie tatsächlich war. »Du darfst ihm nicht vertrauen. Er …«

Sie verstummte abrupt. Es arbeitete in ihrer Kehle, ohne, dass ein Wort aus ihr herauskam.

»Ich würde niemals den Fehler machen, einem Zauberer zu vertrauen«, sagte Fidelio sanft und nahm ihre Hand.

»Du begreifst nicht! Die Großmeister…« Emi unterbrach sich selbst. »Habe ich dir schon von diesem unglaublichen Hutmacher erzählt? Du weißt, was ich von Hüten halte, aber...«

Sie verstummte erneut, dieses Mal verdrießlich, so als hätte sie mehr von sich erwartet. Die Bibliothekarin schüttelte seine Hand ab und schritt voraus, bevor ihr Schüler dazu kam, die modische Notwendigkeit von Hüten zu diskutieren. Der rote Lampion schwebte vor ihr her, auf den Turm der Himmelsbrücks zu.

»Piet Kolbe ist letzte Nacht gestorben«, sagte Emi auf den letzten Metern.

Kolbe war einer der fünf magischen Großmeister gewesen. Ein Mann von siebenundneunzig Jahren, sodass sein Tod wenig überraschend kam. Trotzdem sah Fidelio sie erstaunt an: »Es stand kein Wort darüber in deiner Post!«

Die er selbstverständlich gelesen hatte, denn ein ehrgeiziger Magier ließ sich nicht von dem Respekt vor fremden Eigentum aufhalten. Erst Recht nicht, wenn es um das Arbeitszimmer und die Geheimnisse eines anderen Magiers ging.

»Oder im Geschwätz beim Barbier«, fügte er hinzu. Fast eine genauso gute Quelle, vor allem, da er als Illusionist Gedanken lesen konnte.