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NACH DEM
VERFASSUNGSSCHUTZ

Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur
der Berliner Republik

Von Claus Leggewie und Horst Meier

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Die Autoren

Claus Leggewie, geb. 1950 in Wanne-Eickel, Politikwissenschaftler, Ludwig-Börne-Professur für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Zuletzt erschien Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung. Wagenbach, Berlin 2016; Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Suhrkamp, Berlin 2016; Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein, Berlin 2017.

Horst Meier, geb. 1954 in Oberkaufungen (bei Kassel). Dr. jur., zunächst Strafverteidiger, seit 1992 freier Autor (www.horst-meier-autor.de). 1993 erschien Parteiverbote und demokratische Republik; 2010 die Tagungsbände Rechtsradikale unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit und Direkte Demokratie im Grundgesetz? (Mithrsg.); 2012 der Essayband Protestfreie Zonen?; 2015 das Lesebuch Verbot der NPD – ein deutsches Staatstheater in zwei Akten. Analysen und Kritik 2001–2014; 2019 erscheint Ralf Dreier: Die Mitte zwischen Holz und Theologie. Eine Art Bilanz (zusammengestellt und hrsg. von Horst Meier).

Gemeinsam publizierten Claus Leggewie und Horst Meier 1995 die Studie Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, 2002 den Sammelband Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben? und 2017 Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD. Analyse, Prozessreportage, Urteilskritik (mit Johannes Lichdi, Beiheft 1 von Recht & Politik).

(…) der Gedanke, [die Ämter] mit dem Begriff und
Wort Verfassungsschutz zu etikettieren, [war] ein
genialer Einfall, genial im Sinne moderner Werbung
und Verpackung (…) Bei alledem wirkt natürlich
der schöne Name Verfassungsschutz ungemein im
Sinne der Rechtfertigung und Beschönigung: Was
tut und duldet man nicht alles um der Verfassung
willen! (…) Das Verhältnis der Ämter zur Verfassung
ist etwa so problematisch wie im Dritten Reich
das Verhältnis der Kulturkammer zur Kultur.

Richard Schmid („Wen oder was schützt der Verfassungsschutz?“,
in: Zeit vom 5. November 1965.)

Die deutsche Frage ist die Frage nach den Hemmnissen
der liberalen Demokratie in Deutschland.

Ralf Dahrendorf (Gesellschaft und Demokratie in Deutschland.
R. Piper & Co., München 1965.)

Für die Verteidiger der Freiheit wäre es wirklich
angenehmer, sich um die Fälle einer besseren Klasse von
Opfern zu kümmern. Wenn wir aber warten, bis nette
Leute verfolgt werden, kann es schon zu spät sein. Freiheit
muss da verteidigt werden, wo sie verweigert wird.

Aryeh Neier (Defending My Enemy. American Nazis, the Skokie
Case, and the Risks of Freedom
. E. P. Dutton, New York 1979.)

© 2019 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin; prverlag@hirnkost.de

www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

2., aktualisierte Auflage März 2019

Vertrieb für den Buchhandel

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Layout: Conny Agel

Lektorat: Klaus Farin

ISBN

PRINT: 978-3-947380-99-2

PDF: 978-3-947380-97-8

EPUB: 978-3-947380-98-5

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate. Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/

INHALT

Vorwort zur zweiten Auflage

„Verfassungsschutz“ – und kein Ende?

Vorwort

Wann, wenn nicht jetzt?

Holländische Straße

Halit-Straße

I.„Nationalsozialistischer Untergrund“

1. Bestandsaufnahme einer politischen Erschütterung

2. Endlosschleife Parteiverbot: NPD und NSU

3. Innehalten: Ein kollektives Problem gesellschaftlicher Wahrnehmung

II.In der V-Leute-Falle

1. Rückblende: Verfassungsschutz in flagranti (2002)

2. Mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften

III.Die Erfindung des Verfassungsschutzes

1. Die westdeutsche Demokratiegründung von 1949 als Sonderweg

2. Exkurs: Kritik der „streitbaren Demokratie“

3. Aus der Skandalchronik: Verfassungsschutz 1950–2012

IV.Was macht eigentlich der Verfassungsschutz?

1. Die Kernaufgabe und der Zentralbegriff des „Extremismus“

2. Das nachrichtendienstliche Mittel

3. Politische Parteien im Visier des Verfassungsschutzes

3.1 Republikaner, NPD, PDS/Die Linke und andere

3.2 Exkurs: Über die Parteienfreiheit – Bilanz des NPD-Verfahrens (2001–2003)

3.3 Ein systemimmanenter Reformvorschlag: Keine Beobachtung politischer Parteien ohne richterliche Anordnung

3.4 Das Parteiverbot als Instrument der Gefahrenabwehr

3.5 Verbot der NPD, zum zweiten? Wie man eine falsche Sache diesmal richtig machen will

4. Wer bestimmt den Verfassungsfeind?

V.Die Lebenslüge vom „Frühwarnsystem“

1. Eine Serie der Ahnungslosigkeit (Brand- und Mordanschläge, NPD, Hamburger Terrorzelle, NSU)

2. Vorfeldaufklärung ohne sicherheitspolitischen Nutzen: eine notorische Gefährdung der Bürgerrechte

VI.Wie lange noch?

1. Exkurs: Science-Fiction und Verfassungsschutz

2. Ein irreparabler Konstruktionsfehler: Extremistenüberwachung zwischen polizeilicher Gefahrenabwehr und politischer Bildung

3. Das Ende des Sonderwegs: Verfassungsschutz als Anachronismus in einer aufgeklärten Gesellschaft

VII.Skizze einer neuen Sicherheitsarchitektur

1. Das Gewaltkriterium als Grenze des politischen Kampfes

2. Verfassungsreform in bürgerlich-liberaler Absicht: Weder Grundrechteverwirkung noch präventives Parteiverbot

3. „Politische Polizei“ statt Verfassungsschutz: Strafverfolgung ohne Feinderklärung

4. Institutionelle Flurbereinigung: Ein Fünfjahresplan zur Abwicklung des Verfassungsschutzes

VIII.Nach dem Verfassungsschutz: Eine unabhängige Stiftung zur Verteidigung der Demokratie

IX.Republikschutz statt Verfassungsschutz

1. Zukunftsmusik

2. Thesen

Anhang

Appell gegen Neonazis: Was jetzt zu tun ist

Entschließungsantrag des Bundestages

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse

Materialien (Stand 2018)

„Der Letzte macht das Licht aus“ (von Karl Tallhover)

Literaturauswahl (Stand 2018)

Internet

Fußnoten

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

„VERFASSUNGSSCHUTZ“ – UND KEIN ENDE?

I.

War da was? Als im November 2011 die Selbstenttarnung einer Terrorzelle namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ wie eine Bombe einschlug und sogleich der (inzwischen erhärtete) Verdacht aufkam, V-Leute seien dem Mordkommando erstaunlich nahe gewesen, da schien die letzte Stunde des bundesdeutschen Verfassungsschutzes geschlagen zu haben. Sieben Jahre danach und allerhand geschredderte Akten und zahlreiche Untersuchungsausschüsse später treibt der Verfassungsschutz das, was er schon immer trieb: Er sorgt sich um „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“. Und ist mit dieser gesetzlichen Aufgabe für eine schillernde „extremistische“ Bandbreite zuständig, die vom Verbalradikalismus bis hin zu terroristischen Planungen reicht.

Business as usual also. Was hat man nicht alles verbessern wollen! Die Beschwichtigungen und Beteuerungen sind längst verklungen. Und die dürftigen Änderungen, die den Namen „Reform“ nicht verdienen, ändern im Grunde nichts. Dabei hatten wir mit unserer Handreichung Nach dem Verfassungsschutz im Sommer 2012 klipp und klar dargelegt, dass und wie diese Behörde binnen fünf Jahren abgewickelt werden könnte – und zwar ganz ohne Sicherheitsverlust, dafür aber mit großem Freiheitsgewinn. Schade, dass davon kein Gebrauch gemacht wurde. Doch im Ernst: Wir glaubten weder damals, noch glauben wir heute, man könne dem Verfassungsschutz kurzfristig beikommen. Allzu sehr ist diese Institution mit dem Syndrom der bundesdeutschen „streitbaren Demokratie“ verbunden. Und an deren Allerheiligstes, die freiheitliche demokratische Grundordnung, glauben hierzulande praktisch alle. Solange aber diese Zivilreligion, die durch einen Geheimdienst vor falschem Denken und schädlichen Meinungen vorbeugend geschützt werden soll, nicht kritisch reflektiert wird, bleibt jeder irgendeines anderen Verfassungsfeind. Und genauso lange wird der Betrieb namens „Verfassungsschutz“ nicht dichtgemacht – da mögen seine Skandalgeschichten noch so haarsträubend weitergehen.

II.

Nehmen wir nur die beiden letzten Kapitel der Skandalchronik. Auch im Fall des Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri scheint sich ein altes Muster zu bestätigen: Der Verfassungsschutz war nah dran mit einem V-Mann, hat aber entweder nichts mitbekommen oder die Sache, um die Zielperson abzuschöpfen, weiterlaufen lassen. Nach einem als geheim eingestuften Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages blieben viele Fragen offen. Das betrifft auch die zeitweise Einstufung von Amri als Gefährder und seine Observation durch die Polizei von Nordrhein-Westfalen. Daher forderte der grüne Abgeordnete Konstantin von Notz, es müsse insbesondere geklärt werden, „warum sich Anis Amri, wie unter einer Käseglocke geschützt, durch Deutschland bewegen konnte“. Hinzukommt, dass der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, im Kontext einer parlamentarischen Anfrage allem Anschein nach wahrheitswidrig behauptete, der Verfassungsschutz habe – im Gegensatz zur nordrhein-westfälischen Polizei – keinen V-Mann im Umfeld Amris geführt.1 So ändern selbst zahlreiche Fehler seitens der Polizei nichts daran, dass der Inlandsgeheimdienst hier einmal mehr das fünfte Rad am Wagen war. Sein gegenteiliges Renommee, er habe „viele Terroranschläge verhindern helfen“, ist bis heute nicht ansatzweise belegt.

Und was soll man von einem Verfassungsschutzpräsidenten halten, der sich nach den rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz im August 2018 – wohl mit Rückendeckung seines Innenministers – per BILD-Interview in den politischen Streit um „Hetzjagden“ einmischte und über die Authentizität eines Videos spekulierte, anstatt das antidemokratische Potenzial in Chemnitz unter die Lupe zu nehmen.2 Es lohnt nicht, die Causa Maaßen zu vertiefen. Nur so viel: Unter Geheimdienstlern gilt öffentliche Geschwätzigkeit als untrügliches Zeichen für mangelnde Qualifikation. Dabei war Maaßen 2012 mit dem geradezu demütigen Vorsatz angetreten, „eine Behörde, die ganz, ganz unten ist, wieder aufzubauen“.3 Was ihm anlässlich seiner überfälligen Entlassung in offiziellen Elogen als Verdienst gleichsam kontrafaktisch zugutegehalten wird. Doch statt für mehr Transparenz und Effizienz zu sorgen, haben seine Person und seine Rolle die Befürchtung genährt, zwischen Geheimdienst und Rechtsradikalen könnten weltanschauliche Berührungen und Keime eines „tiefen Staates“ entstehen, wie man sie gerade in Österreich registrieren muss.

III.

Die Forderung, den Verfassungsschutz aufzulösen, klingt hierzulande in den Ohren vieler ungefähr so, als wolle man den Kinderschutzbund abschaffen. Man kann es daher gar nicht oft genug betonen: Dieser Inlandsgeheimdienst, der mit dem betörenden Namen „Verfassungsschutz“ auftritt, ist kein Dienst wie andere auch. Er ist ein einzigartiges Gewächs der westdeutschen Demokratiegründung, und eben deshalb findet er kein Pendant in anderen westlichen Verfassungsstaaten.4

Die Idee einer „streitbaren Demokratie“ gegen sogenannte Extremisten ist historisch nur allzu verständlich. Schließlich musste damals in „Trizonesien“ – wie die frühe Bundesrepublik als Konglomerat dreier westlicher Besatzungszonen satirisch genannt wurde – unter Aufsicht der westlichen Siegermächte eine Ordnung der Freiheit begründet werden, der die Mehrheit der NS-kontaminierten Deutschen ablehnend bis gleichgültig gegenüberstand. Alle sollten verfassungstreu sein und der „Missbrauch“ von Grundrechten bei Bedarf sanktioniert werden: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Indes wurde diese Ausgangslage Geschichte – und das auf sie zugeschnittene Konzept obsolet. Was die deutsche Demokratie heute ist, wurde sie nicht wegen, sondern trotz des präventiven Verfassungsschutzes.

Das Kerngeschäft, die Beobachtung des legalen Verbalradikalismus, ist mit der Konsolidierung der deutschen Demokratie hinfällig geworden. Unsere These lautet daher: Ein Geheimdienst, der von Anbeginn keine sinnvolle Aufgabe hatte und regelmäßig Skandale hervorbringt, der notorisch die Bürgerrechte sogenannter Extremisten beeinträchtigt und der, wenn es darauf ankommt, als „Frühwarnsystem“ versagt – ein solcher Geheimdienst ist schädlich und überflüssig.5 Anstößige Meinungen und provozierende Parteipolitik sind Teil der öffentlichen Debatte und gehen einen Geheimdienst nichts an; wo aber der Übergang zur (Drohung mit) Gewalt vollzogen wird, dort ist seit jeher der kriminalpolizeiliche Staatsschutz zuständig: für die Verhütung und Aufklärung politisch motivierter Straftaten.6

Bürgerliche Freiheit bedeutet: Radikale dürfen gegen alles und jeden protestieren – solange sie nur friedlich bleiben.7 Kritik, die unter dem Schutz der Meinungsfreiheit steht, muss keineswegs „verfassungstreu“ sein. Den Bürgerinnen und Bürgern stehe es frei, erklärt das Bundesverfassungsgericht, harsche Kritik zu üben, ja das Grundgesetz und seine Prinzipien abzulehnen. Daraus wird, zu Ende gedacht, eine liberale Reformperspektive: Wo heute noch ideologischer Verfassungsschutz ist, muss morgen gefahrenorientierter Republikschutz werden. Robuste Toleranz, die nicht ewige „Werte“ beschwört, sondern demokratische Spielregeln hochhält, kann verbalradikale „Extremisten“ besser integrieren als jede autoritäre Maßnahme. Das Haus des Grundgesetzes hat viele Wohnungen.

IV.

Gemessen daran sind die Positionen der politischen Parteien zum real existierenden Verfassungsschutz, gelinde gesagt, aufklärungsbedürftig. Die GroKo-Parteien CDU und SPD haben nichts gegen diesen Geheimdienst einzuwenden. Sie halten ihn als „Frühwarnsystem“ für unverzichtbar und beschränken sich darauf, eigene Akzente beim Kampf gegen links oder rechts zu setzen; auch nehmen sie V-Leute lieber an die lange oder ein wenig kürzere Leine. Die Rhetorik ihrer Verfassungsschutzskandale erschöpft sich oft darin, einen Fehlgriff dem Innenminister der jeweils anderen Partei anzulasten. Und die FDP? In den Reihen der Freien Demokraten flackert zwar gelegentlich eine Ahnung davon auf, dass der Verfassungsschutz der institutionelle Arm eines zutiefst illiberalen Verfassungsverständnisses ist. Aber eine Partei, die nur noch in Spurenelementen bürgerrechtlich-liberal ist, gewann bis heute keine wirkliche Distanz zu diesem Geheimdienst. Und die Grünen? Diese längst etablierte Partei, zu deren grünalternativer Vergangenheit die pauschale „Abschaffung aller Geheimdienste“ gehört, zeigt sich heute eher realpolitisch (was wir begrüßen). Doch ihre jüngste Idee, den Verfassungsschutz mit seiner doppelten „Neugründung“ zu verlängern, scheint uns nicht zu Ende gedacht. Denn zum einen haben wir genug Instrumente politischer Bildung (brauchen also kein „Institut zum Schutz der Verfassung“), und für politische „Intelligence“ sind eher investigative Journalisten oder Whistleblower zuständig; zum anderen wäre „Gefahrenerkennung und Spionageabwehr“ Sache des kriminalpolizeilichen Staatsschutzes (eventuell in Zusammenarbeit mit dem BND).8

Und die Linkspartei? Sie fordert in stoischer Konsequenz seit Jahr und Tag die „Auflösung aller Geheimdienste“ – weil diese Apparate, wie schon der Name sagt, nicht zu kontrollieren sind. Aber auch das ist zu pauschal. Nehmen wir den Bundesnachrichtendienst, BND, der einen Job versieht, wie er überall, auch in westlichen Demokratien, praktiziert wird: die mehr oder (oft) weniger erfolgreiche Auslandsspionage – zum Beispiel in jenen Krisenregionen, wo die Bundeswehr im Einsatz ist. Trotz aller Probleme wäre es naiv, denken wir, die Auflösung des BND zu fordern – selbst wenn es mit der „Intelligence“, die solche Dienste gern im Namen führen, nicht weit her ist. Bei allem Aufwand hat keiner von ihnen etwa den Zerfall des „Ostblocks“ oder die „Arabellion“ vorausgeahnt. Und was diese Dienste treiben, wissen oft nicht einmal ihre Auftraggeber. Sie sind parlamentarisch oder gerichtlich in der Tat nur bedingt zu kontrollieren. Selbst die zur ministeriellen Aufsicht berufenen Dienstherren stoßen hier auf einen „nicht zu durchdringenden Dunkelbereich“.9 Das liegt in der Natur der Sache. Ein kühler Blick ist ernüchternd: „Daran, dass sie in der Lage sind, Schaden anzurichten“, schrieb Hans Magnus Enzensberger, ist „nicht zu zweifeln. Unklar ist hingegen, worin eigentlich ihr Nutzen besteht.“10

V.

Doch konzentrieren wir uns lieber auf den Verfassungsschutz im Besonderen; er ist gerade nicht über die allgemeine Leiste „der“ Geheimdienste zu schlagen. Seine Kritik muss einerseits konkret entstehungsgeschichtlich ansetzen, und sie muss andererseits in eine demokratietheoretisch aufgeklärte Analyse des bundesdeutschen Streitbarkeitsdogmas münden. Erst daraus folgen die Diagnose seiner Überflüssigkeit und die Konsequenz seiner Abschaffung. Zugleich erklärt dieser Zusammenhang, warum eine politische Mehrheit für eine überfällige Abschaffung noch nicht in Sicht ist: Die deutsche Ideologie der „streitbaren“ Demokratie ist zwar vielfach brüchig geworden, bleibt aber das vorherrschende „falsche“ Bewusstsein. So schwelt das Elend namens Verfassungsschutz weiter.

Die beste Lebensversicherung für diesen Inlandsgeheimdienst ist wohl das hierzulande grassierende instrumentelle Verhältnis zur Freiheit der Andersdenkenden. Fakt ist, dass es kaum jemand lassen kann, sich an dem landesüblichen Ausgrenzungssport zu beteiligen: nämlich den innenpolitischen Gegner, sobald er die Zone der gemäßigten Kritik verlässt, zum dringenden Fall für den Verfassungsschutz zu erklären. So arbeiten Rechte und Linke in trauriger Einfalt an der innerstaatlichen Feinderklärung – gute Aussichten für den Verfassungsschutz!

Und da sind wir bei der neuesten Scheinaufgabe, die „wehrhafte“ Demokraten aller Couleur dem Verfassungsschutz antragen. Er solle, bitte schön!, endlich das „verfassungsfeindliche“ Treiben der AfD beobachten – betteln heute selbst solche, die gestern noch den ganzen Laden zum Teufel wünschten. Und fordern, dass der Geheimdienst die programmatischen Inhalte und Sprüche dieser Populisten an der Elle der fdGO misst.11 Die inkriminierten Meinungsdelikte heißen Stimmungsmache und Provokation und hören sich so an: rechtsradikale „Rhetorik“, anstößige „Wortwahl“, verdächtige „Thesen“, „zunehmender rechtsextremistischer Sprachgebrauch“, „zweideutige Äußerungen“ zur Vergangenheitsbewältigung, „Infragestellen“ von Teilen des Grundgesetzes, „Parolen“ gegen das „Establishment“ und Halluzinationen wie „neue friedliche Revolution“ oder „Systemsturz“ – in einem Wort: „Gedankengut“. Der Rest erschöpft sich im Vorwurf der Kontaktschuld (ein bewährtes Institut der Kommunistenverfolgung aus den fünfziger Jahren); es kann ja nicht ausbleiben, dass gewisse verdächtige Rechte mit noch verdächtigeren Rechten irgendwie in Verbindung treten.

Derzeit sollen fast alle Landesämter eine einschlägige Zitatesammlung ans Bundesamt übermittelt haben. Das ist dieselbe sattsam bekannte Machart, die schon beim Unternehmen NPD-Verbot zu nichts führte.12 Leider scheint sich auch der Thüringer Verfassungsschutz daran zu beteiligen, denn er prüft, ob der ganze Höcke-Landesverband beobachtet werden soll. Dabei war der neue Chef des Amtes, Stephan Kramer, unter anderem mit dem Vorsatz angetreten, es dürfe keine „Gedankenpolizei“ geben.13

Wer heute den Verfassungsschutz gegen die AfD instrumentalisieren will, möge einen Augenblick innehalten und über die Extremistenspiele nachdenken, die Ende der achtziger Jahre mit den Schönhuber-Republikanern veranstaltet wurden.14 Es war nicht etwa die „Aufklärung“ der Ämter für Verfassungsschutz, es waren die Wählerinnen und Wähler (und wohl auch die deutsche Einheit), die dieser Partei das verdiente Ende bescherten. Und wem das nicht genügt, der entsinne sich an die jahrelange, fruchtlose Debatte um die Beobachtung von Teilen der PDS/Linkspartei. Nicht zu vergessen die bizarren Verbotsforderungen gegen die Grünalternativen, da diese noch als „junge Wilde“ auftraten.15 Beide Parteien haben sich in Sachen bürgerliche Demokratie – erfreulich! – moderiert und normalisiert. So geht das mit dem „Marsch durch die Institutionen“, er verändert eben auch die Marschierer.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir teilen die Sorge, dass der „Rechtspopulismus“ (das ist: der völkisch-autoritäre Nationalismus) für die Demokratie politisch sehr gefährlich werden kann (erst recht an der Regierungsmacht). Doch die Delegation einer inhaltlichen Kontroverse an einen Geheimdienst ist Gift für die politische Freiheit aller und bleibt ein deutsches Kuriosum, über das man gar nicht genug staunen kann. Demokraten müssen strikt unterscheiden zwischen falschen, anstößigen, schädlichen, kurz: zu bekämpfenden Ansichten einerseits und dem unverbrüchlichen Recht des politischen Gegners andererseits, diese Ansichten frei äußern zu dürfen. Der Marktplatz der Ideen, der Free flow of discussion, steht nicht unter nachrichtendienstlicher Aufsicht.

Anstatt „Extremisten“ von einem dubiosen Inlandsgeheimdienst belästigen zu lassen, sollte man besser die eigene Urteilskraft schärfen und den politischen Kampf mit ihnen führen. Ob es einem gefällt oder nicht: Eine Gesellschaft ohne „Extremisten“ und Radikale, Dissidenten und sonstige Querköpfe ist ebenso wenig denkbar wie eine Gesellschaft ohne Kriminalität.

Wir beschließen diese Skizze mit einem Gedanken von Hans Magnus Enzensberger: „Nun gilt bekanntlich in der Politik ein Erfahrungssatz, demzufolge ein Vorschlag umso schwerer durchzusetzen ist, je einfacher und vernünftiger er klingt.“16 So bleiben wir geduldig und halten unverdrossen die Sache der Aufklärung hoch. Diese ist bekanntlich der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Bis der Letzte in Köln und anderswo das Licht ausmacht17, wird es wohl noch ein Weilchen dauern. Wir sind bereit.

Gießen/Kassel, im Dezember 2018Claus Leggewie & Horst Meier

VORWORT

WANN, WENN NICHT JETZT?

Die beispiellose Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ erschreckt nicht nur wegen einer eiskalten Kopfschussmentalität. Bestürzung und Verstörung sind auch deshalb so heftig, weil diesem Killerkommando, das jahrelang kreuz und quer durch die Bundesrepublik fuhr, niemand in den Arm fiel: kein Polizist, nirgends – und weit und breit kein Verfassungsschützer, der Alarm schlug. Zeit also, über die Zukunft des Verfassungsschutzes nachzudenken.

Der Bundesinnenminister sprach in seltener Offenheit von „kläglichem Versagen“, sein oberster Verfassungsschützer von einer „Niederlage“. Sie müssen es wissen: Gerade das „Frühwarnsystem“, als das sich unsere Verfassungsschützer seit Jahr und Tag andienen, hat so versagt wie nie zuvor in sechzig Jahren. Als wäre das nicht genug, kam der haarsträubende Verdacht auf, der Verfassungsschutz könnte sogar in diese Mordserie verstrickt sein. Die Nachrichten aus Thüringen lassen Schlimmes befürchten: Gab es behördliche Deckung beim Abtauchen? Standen V-Leute mit den Untergetauchten in näherem Kontakt, als man dies heute wahrhaben will? Und ist es wirklich blanker Zufall, dass sich am Tatort in Kassel, ausgerechnet am 6. April 2006, als Halit Yozgat erschossen wurde, ein hauptamtlicher Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes aufhielt?

Wie tief das Ansehen der deutschen Sicherheitsbehörden gesunken ist, lässt eine Äußerung von Jörg Ziercke, dem Chef des Bundeskriminalamts, ahnen. Er sprach geradezu beschwörend davon, die Behörden müssten das „Vertrauen“, ja die „Achtung“ der Bevölkerung zurückgewinnen. Was die Arbeit des Verfassungsschutzes anbelangt, wird (teils durchaus treffend) vor „Fehldeutungen“, „Pauschalisierungen und Zerrbildern“ gewarnt, ja eine „in den Medien kursierende ‚Hau den Verfassungsschutz‘-Stimmung“ beklagt.18 Doch alle Beschwichtigungsversuche ändern nichts am dramatischen Vertrauensverlust. Fest steht: Die Aufklärung muss dieses Mal umfassender und radikaler sein als jemals zuvor bei einem Verfassungsschutzskandal. Wir halten es für zwingend, parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Was der Bundestag und die Landtage von Thüringen und Sachsen beschlossen haben, ist auch in Hessen notwendig.19 Erst im Vollbesitz der „ganzen“ Wahrheit, wenn es denn eine solche im Geheimdienstmilieu überhaupt geben kann, ist es möglich, Konsequenzen zu ziehen – beziehungsweise darüber zu streiten, welche die „richtigen“ sind. Das gilt für einzelne Maßnahmen im institutionellen Geflecht der Sicherheitsbehörden, zum Beispiel für Formen der Kooperation. Es gilt vor allem für neuerliche Verbotsforderungen gegen die NPD (die geradezu kontrafaktisch wieder aufgetischt wurden und von den offenkundigen Problemen der Sicherheitsapparate nur ablenken).

Dagegen ist es nicht zu früh, die strukturellen Probleme zu diskutieren, das heißt, über Konsequenzen nachzudenken, die sich auf die Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik als Ganzes beziehen.20 Deren vier traditionelle Säulen Polizei, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) gelten als bewährt und unumstößlich. Wir halten in diesem Buch dagegen. Eine dieser Säulen, von Anfang an fehl am Platze und im Laufe der Zeit mehr Probleme hervorbringend als lösend, hat es nicht verdient, reformiert zu werden: Wer den Verfassungsschutz behutsam aus dieser Konstruktion herausnimmt, braucht nicht zu gewärtigen, das ganze Gebäude der inneren Sicherheit stürze ein. Im Gegenteil, die auf das Inland bezogene Sicherheitspolitik kann nur übersichtlicher und effizienter werden. Das Ende der Extremistenausspähung wird ein Zugewinn an Freiheit, also ein Gewinn für die Bürgerrechte sein.

Verfassungsschützer, das wissen sie selbst am besten, können es einfach keinem recht machen. Einerlei, ob es um das doppelte Spiel von V-Leuten, die Beobachtung politischer Parteien oder die „hoheitlichen Verrufserklärungen“ (Jürgen Seifert) in den alljährlichen Berichten geht: Den einen gehen sie mit den falschen Mitteln gegen die richtigen Leute, den anderen mit den richtigen Mitteln gegen die falschen Leute vor; diesen gehen sie nicht weit genug, jenen sind sie nicht zurückhaltend und verhältnismäßig genug; den Linken gehen sie zu lahm gegen Rechte und natürlich zu eifrig gegen Linke vor und vice versa. Dass Verfassungsschützer es keinem recht machen können, liegt nicht allein an unvermeidbaren Fehlern oder vermeidbaren Pannen und auch nicht allein an der Trägheit, mit der sie sich den Zyklen der innerstaatlichen Feinderklärung anpassen – es liegt vor allem anderen an der Fehlkonstruktion einer Behörde, deren Kernaufgabe, die unterschiedslose Ausspähung von „Extremisten“, sich überlebt hat. Und deren ideologischer Zentralbegriff, der des Extremismus, dermaßen kontaminiert ist, dass er zu nichts Gutem taugt.

Auch wenn heute der „Kampf gegen rechts“ mehrheitsfähig ist: Die deutsche Gesellschaft, nach sechs Jahrzehnten leidlich demokratisiert und rechtsstaatlich sensibilisiert, fragt sich zunehmend, ob ein solcher Geheimdienst wirklich notwendig ist. Und um welchen Preis sein bescheidener Nutzen erkauft wird. Diesem weit verbreiteten Unbehagen am Verfassungsschutz wollen wir nachgehen. Und zeigen, dass nur eine beherzte Zäsur der verfahrenen Situation wirklich beikommen kann: Der Verfassungsschutz bietet keine Lösung, er ist nur das symptomatische Problem einer Demokratie, die einst sich selbst nicht traute. Die Berliner Republik – längst dabei, eine selbstbewusste Demokratie zu werden – hat solche Extremistenspiele nicht länger nötig.

Bereits 1995, in dem Buch Republikschutz, haben wir unsere Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz durch eine Kritik der „streitbaren Demokratie“ fundiert. Denn er ist und bleibt der institutionelle Arm eines verkürzten Demokratieverständnisses. Wir stellen auch die anderen Instrumente der streitbaren Demokratie, die Grundrechteverwirkung (Art. 18) und das Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG) auf den Prüfstand. Ohne eine Reflexion der Grundwidersprüche des zaghaften Selbstverständnisses deutscher Demokraten hängt die Forderung nach Abwicklung des Verfassungsschutzes in der Luft.

Ohne Einsicht in den singulären Charakter dieses Geheimdienstes, der sich einer besonderen Konstellation der westdeutschen Demokratiegründung von 1949 verdankt, wird nicht verständlich, warum man auf diese Einrichtung heute gut und gerne verzichten kann. In Demokratien ist es nicht üblich, Bürgerinnen und Bürger auf eine gesinnungsbezogene Verfassungstreue zu verpflichten und Parteien – obgleich diese sich an die Spielregeln des friedlichen Meinungskampfes halten – als „extremistisch“ abzustempeln und von einem Geheimdienst kontrollieren zu lassen.

Wir werden in diesem Buch erneut zur Sache gehen – ohne Schadenfreude, Rechthaberei und ohne Verschwörungstheorie. Das schließt Schärfe und Angriffslust nicht aus – immerhin sind wir seit 1991 damit beschäftigt, das deutsche Glaubensbekenntnis der „inneren Sicherheit“ in Frage zu stellen.21 Eine gewisse Befangenheit räumen wir ein – schließlich reichen die Anfänge unserer eigenen politischen Erfahrung in Zeiten zurück, da Staat und Gesellschaft den „Kampf gegen links“ probten – unter Schlagworten wie „Radikalenerlass“ und „Sympathisanten des RAF-Terrors“. Doch gerade wer in dieser Zeit lernen musste, Freiheit und Gleichheit zu verteidigen, hat nicht vergessen, dass die Bürgerrechte unteilbar sind. Illiberalität wird nicht dadurch besser, dass sie sich gegen den politischen Gegner wendet.

Um Missverständnissen vorzubeugen: So vehement wir für einen radikalen Pluralismus eintreten, der auch noch die Verächter der Freiheit in den friedlichen Meinungskampf einbezieht und zu integrieren versucht, so kategorisch stehen wir für die Verteidigung der demokratischen Republik ein, die keinerlei Versuche dulden muss, sie mit Gewalt zu beseitigen. Wo immer also Gewalt ins politische Spiel kommt, ist eine Grenze erreicht, die niemand ungestraft überschreitet. Republikschutz ist so weit wie nur möglich liberal, an der Gewaltgrenze aber rigoros und kompromisslos: Wer die demokratischen Spielregeln verletzt, handelt „verfassungswidrig“ – einerlei, auf welche Ideologie er sich beruft.

„Wie lange noch?“ Die bange Frage in der Festschrift zum vierzigsten Geburtstag des Verfassungsschutzes, gestellt von Gerhard Boeden, dem damaligen Chef des Kölner Bundesamtes, zeigt an, dass man im Gehäuse dieser Bürokratie schon einmal weiter war mit der Sinnfrage.22 Dass der Verfassungsschutz dem spezifischen Kern seiner Sache nach überflüssig ist, werden wir begründen. Wie diese Institution binnen fünf Jahren behutsam und sozialverträglich abgewickelt werden kann, wie ihre besser befähigten Personalreste in den polizeilichen Staatsschutz integriert werden können, legen wir ebenfalls dar. Wir schlagen diese Reform vor, auch wenn uns natürlich klar ist, dass sie im Augenblick geringe Chancen hat, politisch verwirklicht zu werden. Wir wollen Anstöße geben für einen gesellschaftlichen Lernprozess, der, wenn er nur weit genug vorangetrieben wird, eines Tages auch die notwendigen institutionellen Konsequenzen ziehen kann. Und die viel beschworene Sicherheitslücke ist eine Chimäre, es wird sie nicht geben. Der Verfassungsschutz als solches ist genauso gut verzichtbar wie sein Lieblingsspielzeug, die geheimdienstlich geführten V-Leute. Es gibt ein Leben nach dem Verfassungsschutz. Für die Berliner Republik, auf die wir setzen, sind das gute Aussichten.

Kassel und Essen, im Mai 2012C. L. & H. M.

HOLLÄNDISCHE STRASSE

„Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen: Guten Tag an alle. Lieber Präsident, liebe Bundeskanzlerin, liebe Gäste, ich grüße Sie alle in Respekt. Ich bin der, der am 6. April 2006 im Internetcafé den mit einer Kugel im Kopf sterbenden 21-jährigen Halit Yozgat in seinen Armen hielt – ich bin sein Vater, Ismail Yozgat.

Zuallererst möchte ich mit meinem ganzen Herzen, das bislang viel getragen hat und noch tragen muss, von hier aus Bundespräsident Wulff unsere Grüße und Verehrung übermitteln. Voller Bewunderung erinnern wir uns an seine Gastfreundschaft. Ich danke ihm. Dank auch an diejenigen, die die heutige Zeremonie gestaltet haben. Ich möchte all jenen Menschen aus Kassel-Baunatal und Umgebung für ihre Mühe danken, die darin bestand, dass sie mir bis heute ein Weiterleben ermöglicht haben.

Drei Briefe mit Absender Frau Professor Barbara John erreichten mich. Es ging um die Begräbniskosten und ob wir 10.000 € bekommen möchten. Wir als Familie Yozgat möchten das alles nicht haben. Jedoch bitten wir um drei Dinge: Dass die Mörder und ihre Helfer gefangen werden. Mein Vertrauen in die deutsche Justiz war immer vorhanden, von nun an, so hoffe ich, wird es vollkommen sein, Insallah, so Gott will.

Zweitens: Mein Sohn Halit Yozgat ist in der Holländer Straße 82 zur Welt gekommen und in der Holländer Straße unten im Ladenlokal erschossen worden und gestorben. Wir als Familie möchten die Holländer Straße gerne in Halit-Straße benennen lassen. Wir bitten um Mithilfe.

Drittens: Wir möchten, dass im Namen der zehn Verstorbenen eine Stiftung für Krebskranke gegründet wird und alle Preise und Hilfen dorthin geleitet werden.

Nochmals: Allen Organisatoren dieses Tages danke ich herzlich.“23

Ismail Yozgat

HALIT-STRASSE

Die Stadt Kassel teilte inzwischen mit, man habe den „verständlichen Wunsch“ der Eltern sorgfältig geprüft, werde ihm aber nicht entsprechen, sondern stattdessen einen kleinen, bislang namenlosen Platz in der Nähe des Tatorts in „Halit-Platz“ benennen und zudem die dortige Straßenbahnhaltestelle entsprechend umbenennen (vgl. Presseerklärung Nr. 254 vom 3. April 2012; die Entscheidung geht auf einen einstimmigen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung zurück; Berichterstattung und Leserdiskussion in der Lokalzeitung Hessisch-Niedersächsische Allgemeine unter: www.hna.de).

I.

„NATIONALSOZIALISTISCHER UNTERGRUND“

„Rechtsterroristische Aktivitäten könnten in Zukunft aus folgenden Konstellationen entspringen: […] Einzelpersonen oder ein aus wenigen Personen bestehender harter Kern suchen für ihr terroristisches Projekt Beteiligte, die nicht als Mittäter in Frage kommen, sondern lediglich Zulieferfunktion für die Tatausführung haben und über die tatsächlichen Ziele und die Identität der Täter nicht unterrichtet sind. […] Unorganisierte [oder organisierte] Einzelpersonen versuchen sich der staatlichen Beobachtung oder Verfolgung zu entziehen und schaffen sich einen Raum in der Illegalität, aus dem heraus sie planvoll gegen einen festumrissenen Opferkreis Straftaten begehen können.“24 Aus dieser Einschätzung von Ernst Uhrlau, der 1993 über „die Gefahr rechtsterroristischer Gruppenbildung“ nachdachte, spricht ein hohes Maß an prognostischer Urteilskraft. Uhrlau, damals Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, ist als Sozialwissenschaftler einer der wenigen Nichtjuristen unter den leitenden Geheimdienstbeamten und auch sonst eine Ausnahmeerscheinung.25 Ihm wird ein Satz zugeschrieben, der einem in diesen Tagen wieder durch den Kopf geht: Im Kampf gegen Rechtsradikale entscheidet sich die Zukunft des Verfassungsschutzes.