2. Auflage

© 2014 Copyright by Peter Heilmann

Mülheim a.d.R.

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

Nachdruck und Vervielfältigung jeder Art, auch auf Bild-, Ton-, Daten- und anderen Trägern, insbesondere Fotokopien (auch zum privaten Gebrauch), sind nicht erlaubt und nur nach vorheriger schriftlicher Absprache mit dem Autor möglich.

www.peterheilmann.de

ISBN 978-3-7357-7387-6

Die beiden jungen Männer in ihren schwarzen Anzügen und den auffällig kurz und adrett geschnittenen Haaren, stehen vor dem Aushang auf dem Bahnsteig im Hauptbahnhof Essen. Einer fährt mit dem Zeigefinger über die vielen nebeneinander angeordneten Spalten, in denen ersichtlich ist, wann die Züge in Richtung Oberhausen fahren.

Nun hat der junge Mann gefunden wonach er suchte. Er nimmt seinen Rucksack auf, den er neben sich auf den Boden gestellt hatte. Dann wendet er sich dem anderen zu. „Elder wir sind hier richtig. Unser Zug wird in fünf Minuten kommen.“

Sein Partner nickt. „Schön, dann sind wir ja früh genug zur Distriktsversammlung im Gemeindehaus.“

Wie auf Kommando wenden beide den Blick zur Treppe, von wo lautes Singen erschallt. Wenige Augenblicke später sehen sie eine Gruppe betrunkener Jugendlicher auf den Bahnsteig kommen. Einige grölen laut und schwenken dabei eine Bierflasche in der Hand. Der Blick des Rudelführers fällt auf die zwei in dunkle Anzüge gekleideten Männer, die im gleichen Alter zu sein scheinen. Zielstrebig geht er auf sie zu. Alle anderen folgen ihm und umringen wenig später die Beiden.

„He, wen haben wir denn da? Hat die Mutti euch so fein gemacht?“

Alle lachen laut. Die Beiden reagieren gar nicht auf diese Anrede. Der Anführer hält ihnen seine Bierflasche hin. „Kommt, trinkt mit uns.“

Einer der Beiden übernimmt das Reden. „Nein danke. Das ist gut gemeint, aber wir trinken keinen Alkohol.“

„Was, ihr wollt nicht mit mir trinken. Das könnte ich als Beleidigung auffassen.“ Er tippt mit dem Finger auf das Namensschild seines Gegenübers, welches jener am Revers trägt. „Habt ihr beiden den gleichen Vornamen? Heißt ihr beide Elder?“

„Nein, wir sind Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und Elder ist die englische Bezeichnung für Ältester und sagt etwas über das Priestertum aus, welches wir tragen.“

Ein erstauntes „Oh“ ertönt im Kreis der Betrunkenen. Der Anführer ergreift wieder das Wort. „Was ist das denn für eine Kirche? Das habe ich ja noch nie gehört?“

„Wir sind auch unter dem Namen Mormonen bekannt.“

„Die kenne ich. Das sind doch die mit den vielen Weibern. Wer so viele Weiber haben darf, der kann auch mit uns trinken.“

Er hält wieder die Flasche hin. „Hier, nun trink endlich!“

„Nein danke, ich möchte nicht.“

„Ich will aber, dass du trinkst!“ Er wendet sich an seine Saufkumpane: „Haltet ihn fest, wir wollen doch mal sehen, ob er trinkt. Schütten wir ihm einfach was in den Hals!“

Sofort ergreifen zwei Raufbolde den einen jungen Mann und halten ihn fest. Der andere versucht seinem Partner zu helfen und greift den Arm des Anführers, um ihn wegzuhalten. Der reagiert sofort und drückt seine brennende Zigarette auf den Handrücken des Mannes. Dann dreht er sich wieder dem zu, der festgehalten wird und schlägt ihm mit voller Wucht die Faust in das Gesicht. „Wenn ihr nicht mit uns trinken wollt, dann sollt ihr wenigstens noch lange an uns denken.“

Der Geschlagene richtet sich zu voller Größe auf. Sein Blick trifft den Schläger. Aus seinen Augen scheint eine Kraft zu entspringen, die den zu einem neuen Schlag erhobenen Arm in der Luft festnagelt. Er sagt kein Wort. Der Anführer lässt den Arm sinken, schüttelt verständnislos den Kopf, als könne er nicht richtig begreifen was er soeben erlebt. Dann wendet er sich seinen Kumpanen zu: „Kommt, wir gehen. Es reicht.“

Der Geschlagene sieht seinen Mitarbeiter an. „Elder, der Herr hat eingegriffen und uns beschützt.“

*

Über den Bildschirm flimmert eine Folge von „Familie Hesselmann“. Den Tag über hat Monika Krause alle Hände voll zu tun, um die Familie zu versorgen und den Haushalt in Ordnung zu halten. Abends gönnt sie sich etwas Ruhe, um die Serie anzusehen.

Die siebzehnjährige Tochter Susanne und ihr Bruder Gerd sind noch einmal zu Freunden gegangen. Freitags und samstags isst die Familie gemeinsam zu Abend. Danach macht jeder wozu er Lust hat.

Gerd ist neunzehn Jahre alt und besitzt seit einem Jahr sowohl einen Führerschein als auch ein Auto, was unter seinen Altersgenossen zu dieser Zeit, eine Seltenheit ist. Er hat monatelang nebenbei an einer Tankstelle gearbeitet und jeden Pfennig gespart, um den alten Wagen kaufen zu können.

Seit einigen Wochen sind die Geschwister öfter gemeinsam unterwegs, worüber sich die Eltern wundern. In vergangenen Zeiten waren die Beiden oft „wie Hund und Katze“. Dann haben sie eine Symbiose gebildet. Susanne profitiert von der Verbindung, da sie nun nicht mehr alle Wege zu Fuß erledigen muss. Gerd, der dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan ist, hat unter den zahlreichen Freundinnen seiner Schwester sozusagen immer „freie Auswahl“.

Walter Krause sitzt gemütlich auf dem Sofa. Das Hemd spannt über dem imposanten Bauch. Bei einer Größe von Einmetersiebenundsiebzig sind einhundertsechzehn Kilo in der Tat ein bisschen zu viel. Sein Wahlspruch lautet: „Ein großer Geist braucht auch einen großen Körper, damit er Platz hat, sich zu entfalten.“

Er hat die Füße auf den Tisch gelegt. In den ersten Ehejahren hatte Monika sich darüber aufgeregt. Nun macht sie es sich auf die gleiche Weise gemütlich.

Im Vergleich zu ihrem Mann ist sie zierlich. Würde man sie jedoch mit anderen Frauen vergleichen, so müsste man sie als kräftig und robust bezeichnen. Mit ihren vierzig Jahren sieht sie noch sehr jugendlich aus.

Walter ist ein Jahr älter. Seine Körperfülle lässt ihn deutlich älter als einundvierzig wirken. Er ist immer zu Späßen aufgelegt. Schaut man dann in seine Augen, so wirkt er keineswegs so alt sondern eher wie ein Lausejunge, der gerade in der Schule einen Streich gemacht hat.

Die Eheleute verstehen sich sehr gut. Sie haben einen zuweilen rauen, aber dennoch sehr herzlichen Ton, wenn sie miteinander reden.

Auf dem Beistelltisch neben dem Sofa hat Walter eine Flasche Bier und einen Aschenbecher stehen. Genüsslich pafft er an einer Zigarre Marke Schwarze Weisheit. Er wirft einen kurzen Blick auf den Fernseher und brummt: „Immer läuft dieser Mist.“

Wie von einer Hummel gestochen zuckt Monika zusammen. Ein vernichtender Blick trifft den geliebten Ehegatten: „Das war klar, dass du wieder eine dumme Bemerkung machen musst!“

„Du willst mir doch nicht sagen, dass Familie Hesselmann kulturell wertvoll ist.“

„Immer musst du übertreiben. Ich meckere doch auch nicht an deinen Sendungen rum! Willst du behaupten, die Reklame-Sendungen wären gescheiter?“

„Davon kann man wenigstens was lernen.“

„Jaaa klar, was denn bitte? Wir sind froh, dass wir unseren alten Wagen noch fahren können, weil wir kein Geld für einen anderen haben und unsere Haushaltsgeräte sind auch noch in Ordnung. Du hast nichts anderes im Kopf, als dir ständig Berichte über neue Sachen anzusehen. Ha, beinahe hätte ich noch vergessen, die Sendungen über Tiere, die darfst du natürlich auch nicht versäumen!“

„Dabei kann man zumindest etwas lernen. Was du dir ansiehst ist in der Regel doch nur Müll!“

Monika steht auf und schaltet den Fernseher aus. „Hast du es wieder mal geschafft, mir den Abend zu vermiesen! Ich gehe duschen und dann ins Bett. Gute Nacht!!“

Als seine Frau den Raum verlassen hat steht Walter Krause auf und schaltet das Gerät wieder an.

Es schellt an der Wohnungstür. Er öffnet. Vor der Tür stehen zwei junge Männer. Sie tragen dunkle Anzüge, an deren Revers ein Namensschild befestigt ist.

„Guten Tag. Wir kommen von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Glauben Sie an Gott?“

„Ich brauche nichts. Ich will meine Ruhe haben!“

Mit den Worten drückt Walter Krause die Tür zu. Zu dem Zorn über den Streit mit seiner Frau kommt jetzt noch hinzu, dass er den Beginn seiner Sendung über die Imkerei verpasst hat. Es handelt sich zwar nur um wenige Minuten, aber er ärgert sich jedes Mal, wenn er den Anfang einer Sendung nicht mitbekommt.

Der Fernseher läuft noch. Der Bericht zeigt gerade das Innere eines Bienenstocks in Großaufnahme, seine Zigarre brennt wieder und frisches Bier ist im Glas. Da schellt es erneut an der Wohnungstür.

Sein Gesicht verzieht sich ungehalten. Er öffnet die Tür. Abermals stehen die beiden jungen Männer vor ihm. Sofort brüllt er los: „Ich habe doch gerade schon gesagt, dass ich mit Kirche nichts am Hut habe! Lasst mich in Ruhe! Schleicht euch!“ Dann knallt er die Tür vor ihnen zu.

Gerade hat er auf dem Sofa Platz genommen, kommt Monika in den Raum. „Was hat denn hier so geknallt?“

„Kann man denn in seiner eigenen Wohnung nicht mal in Ruhe fernsehen!!“ Krause springt vom Sofa auf. „Jetzt gehe ich in die Kneipe, da habe ich wenigstens meine Ruhe und werde nicht ständig blöd angequatscht!“

Wenige Minuten später verlässt er angezogen mit Mantel und Hut die Wohnung.

Monika schaut ihm kopfschüttelnd nach.

*

Sachte bremst Gerd den alten VW Käfer ab und hält dann genau vor der Haustür Gartenstraße 17 an. Hier wohnt Evelyn, eine von Susannes Freundinnen. Sie sind beide zusammen im Salon Krusenbaum als Frisörrinnen in der Lehre. Susanne ist im zweiten und Evelyn im dritten Lehrjahr. Vom Alter her passt Evelyn auch gut zu Gerd. Er ist begeistert von ihr, da sie so wunderbar küssen kann. Es läuft ihm immer heiß über den ganzen Körper wenn sie im Auto schmusen. Evelyn will auch nicht unbedingt eine feste Bindung. Sie freut sich einfach wenn Gerd kommt und sie die gemeinsame Zeit genießen können. Für Gerd, der viele Mädchen kennt, die gut küssen können, ist das eine recht gute Basis. Er kann viel Freude haben und ist dennoch frei für neue Bekanntschaften.

Susanne hat einen festen Freund. Seit über einem Jahr geht sie mit Ralf. Er ist aus gutem Hause und hat eine Lehre als Bankkaufmann absolviert. Seine Eltern sind von seiner Wahl nicht begeistert. Sie hätten lieber gesehen, wenn er eine Tochter aus gutem Hause zur Freundin hätte. Susannes Eltern hingegen sind von Ralf begeistert.

Susanne hat an der Haustür geschellt und nach wenigen Minuten ist Evelyn schon da. „Hallo zusammen. Wo soll es denn hingehen?“

Sie begrüßt Gerd mit einem längeren Kuss und flüstert ihm ins Ohr: „Ich wüsste schon wo wir hingehen könnten. Meine Eltern sind nicht da.“

Sofort spürt Gerd wieder dieses angenehme Prickeln über den ganzen Körper.

„Hallo ihr beiden!“ Susanne stupst Gerd von hinten auf die Schulter. „Wollt ihr mir was vorknutschen? Ralf wartet bestimmt schon. Wir wollten ihn doch um acht abholen und es ist schon fünf nach acht.“

Gerd fährt an und schnell gewinnt der Wagen an Fahrt. „Der wird schon nicht gleich sterben wenn wir ein paar Minuten später kommen.“

Ralf steht schon vor der Haustür, als sie in der Luisenstraße ankommen. Evelyn steigt aus und klappt den Beifahrersitz nach vorne, damit Ralf nach hinten zu Susanne einsteigen kann. Mit einem zarten Kuss auf die Wange begrüßt er sie. „Hallo mein Engel.“

Susanne strahlt ihn an. „Hast du eine gute Idee, was wir machen können?“

Evelyn wendet sich um. „Wir können zu mir fahren und ein bisschen Musik hören und tanzen. Meine Eltern sind nicht zu Hause. Die sind übers Wochenende weggefahren.“

Susanne und Ralf sehen sich an. Er zuckt mit den Schultern. „Entscheide du.“

„Ich würde gerne ins Kino gehen. Im Atrium zeigen sie einen Film mit Elvis.“

„Wenn du gerne möchtest, ist das für mich in Ordnung.“

„Kino habe ich keine Lust“, lässt sich Gerd hören. Evelyn stimmt ihm zu. „Ich würde auch lieber Musik hören, tanzen und ein bisschen kuscheln.“

Gerd hält den Wagen an und setzt sich seitwärts, so dass er alle Drei sehen kann. „Ich mache euch einen Vorschlag. Ich fahre euch zum Kino und setze euch dort ab. Wenn der Film aus ist, hole ich euch wieder ab. Evelyn und ich fahren ein Stück durch die Gegend.“

Vielversprechend blinzelt Evelyn ihm zu. Ralf und Susanne sind einverstanden. Als Gerd vor dem Kino anhält, schaut er auf seine Uhr. „Wann soll ich wieder hier sein?“

Inzwischen sind die Beiden ausgestiegen. Ralf geht zum Eingang, um zu fragen wann der Film zu Ende ist. Er kommt mit den Karten zurück. „Es reicht, wenn ihr um kurz vor elf hier seid.“

„Ist in Ordnung.“ Gerd startet den Motor und fährt mit Evelyn davon. Sie streichelt seine Hand, die den Schaltknüppel bedient.

Er sieht sie kurz an. „Also fahren wir zu dir. Wir haben fast drei Stunden Zeit.“

Evelyn wirft ihm einen Blick zu, der jetzt schon das erste Prickeln auf seiner Haut hervorruft.

*

Frühzeitig treffen Elder Smith und Elder McGregor im Gemeindehaus in Oberhausen ein. Die Räume liegen in der ersten Etage eines alten Mehrfamilienhauses direkt am Altmarkt. Die Kirche hat die ganze Etage gemietet. Zwischen dem ehemaligen Schlafzimmer und dem Wohnzimmer wurde die Wand entfernt, sodass zum Marktplatz hin ein Saal entstand. Außerdem gibt es noch die Küche und ein kleineres Zimmer, welches früher als Kinderzimmer gedient hat. In diesem Zimmer und im Saal gibt es einen Ölofen. Auf dem sehr breiten Flur, der hin und wieder als Klassenraum dient, ist eine Garderobe angebracht. Der vordere Teil des Saales, genau gegenüber dem Ofen, ist durch eine Balkenkonstruktion vierzig Zentimeter erhöht worden, so dass ein Podium entstand. Ein kleines Rednerpult und ein kleiner Tisch sind neben sieben Stühlen die einzigen Möbel auf dem Podium. Im Saal sind alte Holzstühle, die ehemals in einer Gastwirtschaft genutzt wurden, in ordentlichen Reihen aufgestellt.

Vom Podium zum kleinen Zimmer führt eine schmale Tür.

Die beiden Elders steigen die steilen, ausgetretenen und knarrend ächzenden Treppen zur ersten Etage empor. Oben wird ihnen geöffnet. Man hat sie schon über den Marktplatz kommen sehen.

Im Saal sitzen oder stehen vierzehn „Mormonenmissionare“ und unterhalten sich. Die beiden Neuankömmlinge werden freudig begrüßt. Nun nehmen alle einen Sitzplatz ein. Auf dem Podium sitzen drei der jungen Männer. Einer erhebt sich, tritt hinter das Rednerpult.

„Liebe Brüder, ich freue mich, dass ich Sie heute hier zu der Versammlung des Oberhausen-Mülheim-Distrikts begrüßen darf. Besonders freue ich mich auch, dass wir unseren Zonenleiter Elder Smith und seinen Assistenten Elder McGregor unter uns begrüßen dürfen. Ich bin sehr sicher, dass wir eine gute und aufbauende Versammlung haben werden. Lassen sie uns nun gemeinsam das Lied Nummer 199 singen. Im Anschluss daran wird Elder Hunter das Anfangsgebet sprechen.“

Er nimmt Platz und alle Anwesenden stimmen ein:

„Ihr Söhne Gottes, die zum Priestertum erwählet, kommt alle, die ihr seid zum ewgen Bund gezählet, das Werk der letzten Zeit ist da, drum predigt es in Fern und Nah, und führet hin zur Wahrheit das Volk des Herrn.“

Das Lied schallt durch den Morgen. Ein Zuhörer könnte den Eindruck gewinnen, der Saal sei bis auf den letzten Platz gefüllt.

Als das Lied beendet ist, erhebt sich Elder Hunter und geht zum Rednerpult.

„Lieber himmlischer Vater, wir als deine Missionare haben uns heute hier zu einer Distriktsversammlung zusammengefunden. Bitte sei mit deinem Geist bei uns. Hilf uns herauszufinden, wohin wir gehen sollen, um die Menschen zu finden, die du zu deiner Kirche haben möchtest. Wir danken dir, dass du uns mit Gesundheit segnest, so dass wir mit aller Kraft hier in diesem Land in deinem Werk arbeiten können. Schenke uns nun eine aufbauende Zeit. In Namen Jesu Christi, Amen.“

„Amen“, schallt es zurück.

Der Zonenleiter erhebt sich. „Liebe Brüder, bevor wir über einzelne Untersucher reden, lassen Sie uns gemeinsam laut unseren Wahlspruch aus Lehre und Bündnisse sagen. Stellen wir uns dazu im Kreis auf.“

Sprechen wir gemeinsam die Verse aus Lehre und Bündnisse vier, eins bis sieben.“

Nun siehe, ein wunderbares Werk ist im Begriff, unter den Menschenkindern hervorzukommen.

Darum, o ihr, die ihr euch in den Dienst Gottes begebt, seht zu, dass ihr ihm mit ganzem Herzen, aller Macht, ganzem Sinn und aller Kraft dient, damit ihr am letzten Tag schuldlos vor Gott stehen mögt.

Darum, wenn ihr den Wunsch habt, Gott zu dienen, seid ihr zu dem Werk berufen;

denn siehe, das Feld ist schon weiß, zur Ernte bereit; und wer also seine Sichel mit Macht einschlägt, der trifft Vorsorge, dass er nicht zugrunde geht, sondern seiner Seele die Errettung bringt;

und Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe und Liebe - das Auge nur auf die Herrlichkeit Gottes gerichtet - befähigen ihn für das Werk.

Behaltet in euch Glauben, Tugend, Erkenntnis, Mäßigung, Geduld, brüderliches Wohlwollen, Frömmigkeit, Nächstenliebe, Demut, Eifer.

Bittet, und ihr werdet empfangen; klopfet an, und es wird euch aufgetan werden. Amen.

Alle setzen sich, nur der Zonenleiter bleibt vor der Gruppe stehen. „Brüder, lassen sie uns jetzt der Reihe nach alle Untersucher besprechen und herausfinden, was wir tun können, um diesen Menschen zu helfen, die Wahrheit zu erkennen.“

Nacheinander berichten die Mitarbeiterpaare von ihren Erfahrungen. Dann ist die Mitarbeiterschaft Hunter und Stevens an der Reihe. Elder Hunter, der Seniormitarbeiter berichtet. „Wir haben einige gute Untersucher, die wir zurzeit belehren. Vorgestern haben wir zusammen gefastet und gebetet, damit wir eine ganz besondere Familie finden können. In der Sandstraße haben wir bei einer Familie Krause angeschellt. Der Mann kam an die Tür und hat gesagt, dass er kein Interesse habe. Wir sind bis unten in das Treppenhaus gegangen und haben gebetet, ob wir wirklich richtig sind. Wir haben beide gefühlt, dass Krause die richtige Familie ist. Also sind wir wieder nach oben in die dritte Etage gegangen und haben noch einmal geschellt. Wir waren sehr sicher, dass der Herr diesmal dafür sorgen würde, dass wir eingelassen werden. Der Mann kam an die Tür und wurde direkt wütend. Er hat gesagt, dass er mit uns nichts zu tun haben will und dann hat er die Tür zugeknallt. Wir waren schon enttäuscht, weil wir keinen Erfolg bei der Familie hatten. Heute in der Frühe beim Schriftstudium haben wir wieder über Familie Krause gesprochen und darüber gebetet, was wir machen sollen. Elder Stevens und ich sind immer noch der Meinung, dass wir wieder hingehen sollen. Wir haben das feste Gefühl, dass der Herr die Familie haben möchte. Wenn die Versammlung zu Ende ist werden wir wieder hingehen. Wir berichten dann später, was daraus geworden ist.“

Nachdem alle berichtet haben singen sie gemeinsam ein Lied und Elder McGregor betet zum Schluss.

*

Am anderen Morgen sitzen sich die Eheleute schweigend am Frühstückstisch gegenüber. Monika hat schon vor mehr als drei Stunden gefrühstückt. Nun bedient sie nur noch ihren Göttergatten und gönnt sich eine zweite Tasse Kaffee. Walter ist erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen und hat entsprechend lange geschlafen. Sie vermeidet jedes laute Geräusch. Am Gesicht ihres Gatten kann sie unschwer erkennen, dass unter seiner Schädeldecke tausend kleine Teufelchen auf Töpfen und Eimern ein höllisches Lied trommeln. Wenn er sich in diesem Zustand befindet, ist es besser, man redet ihn nicht an.

Es klingelt an der Wohnungstür. Krause zuckt zusammen. Seine Frau tut, als habe sie nichts gehört. Das Gemaule vom gestrigen Abend ist ihr noch zu frisch im Gedächtnis. „Soll er sich ruhig bewegen und zur Tür gehen.“

Wieder klingelt es, diesmal jedoch aufdringlicher. Monika hat wieder nichts gehört. Sie steht auf und geht ins Bad.

Als es erneut klingelt erhebt sich Walter Krause und schlurft schwerfällig zur Tür.

Wieder stehen die Mormonenmissionare Hunter und Stevens vor der Tür. Bevor Krause etwas sagen kann fragt Elder Hunter: „Wussten Sie, das Christus in Amerika war?“

Völlig verblüfft steht Walter den beiden gegenüber. Sein Gehirn scheint plötzlich leer zu sein. Nach einer scheinbar endlosen Zeit bringt er ein „Nein“ heraus.

„Wollen Sie mehr darüber erfahren? Dürfen wir einen Augenblick reinkommen und Ihnen davon erzählen?“

Walter Krause, immer noch sprachlos, nickt nur und deutet mit der Hand, sie mögen eintreten. Er bittet sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Aus der Küche holt er seine Tasse Kaffee. Dann setzt er sich auf seinen Stammplatz in der Sofaecke und steckt sich eine Zigarre an.

Monika betritt das Zimmer und sieht erstaunt den Besuch an. „Ich habe gar nicht gehört, dass jemand gekommen ist.“ Sie begrüßt die beiden Missionare freundlich und bietet ihnen etwas zu trinken an. Sie nehmen ein Glas Wasser. Monika holt ebenfalls ihren Kaffee und setzt sich dann zu den drei Männern. Die beiden Krauses sehen erwartungsvoll die Missionare an.

Elder Hunter beginnt: „Der Vater im Himmel hat uns zu Ihnen geschickt, um Ihnen zu sagen, dass er Sie lieb hat und damit Sie die Wahrheit kennen lernen.“

Die Eheleute werfen sich einen verständnislosen Blick zu, schweigen aber.

Hunter fährt fort: „Nach seiner Auferstehung war Christus in Amerika, um die Völker zu besuchen, die dort lebten. Herr Krause, stellen Sie sich vor, Ihr Vater hätte mehrere Söhne. Würden Sie das gerecht finden, wenn er nur mit einem sprechen würde und mit den anderen nicht?“

Immer noch an der Grenze der Sprachlosigkeit und des Erstaunens antwortet Krause: „Nee.“

„Sehen Sie“, fährt der Elder fort, „das findet unser Vater im Himmel auch nicht gerecht, weshalb sein Sohn, Jesus Christus auch zu den anderen Völkern gegangen ist. In der Bibel wurde aufgezeichnet, was in der Gegend von Jerusalem geschehen ist. Was er bei dem Volk in Amerika gemacht hat, finden wir im Buch Mormon. Möchten Sie mehr darüber wissen?“

Wieder trifft sich der Blick der Eheleute. Beide nicken.

„Um Ihnen alles ganz genau erklären zu können, muss ich ganz von vorne anfangen. Wir lesen am besten zusammen die Einführung im Buch Mormon.“

Elder Stevens hat inzwischen zwei Bücher aus seinem Rucksack geholt und reicht jedem der Eheleute ein Exemplar. Alle schlagen die Einführung auf und Elder Hunter bittet Herrn Krause, den ersten Absatz vorzulesen.

„Das Buch Mormon ist heilige Schrift wie die Bibel; es wird darin vom Umgang Gottes mit den früheren Bewohnern Nord- und Südamerikas berichtet, und es enthält ebenso wie die Bibel die Fülle des immerwährenden Evangelium.“

Im dritten Absatz lesen sie:

„Der Höhepunkt der im Buch Mormon geschilderten Ereignisse ist das persönliche Wirken des Herrn Jesus Christus bei den Nephiten kurze Zeit nach seiner Auferstehung. . . . .“

Elder Hunter legt sein Buch vor sich auf den Tisch. „Herr Krause, glauben Sie, was wir gerade zusammen gelesen haben?“

„Tja, ich weiß nicht so recht. Ich denke, es gibt heutzutage so viele verschiedene Kirchen, die alle von sich behaupten, sie hätten Recht. Wem soll man eigentlich glauben?“

„Herr Krause erinnern Sie sich noch, dass Sie vorhin gesagt haben, es wäre ungerecht, wenn Gott nur zu den Menschen damals gesprochen hätte und heute zu den Menschen nicht mehr reden würde?“

„Ja.“

„Ich stimme Ihnen zu, dass jeder etwas behaupten oder schreiben kann. Weil das so ist hat der Herr uns gesagt, dass wir ihn selber fragen können, wenn wir etwas genau wissen wollen. Schlagen wir mal zusammen Moroni, Kapitel 10 auf. Das ist das letzte Kapitel im Buch Mormon. Frau Krause würden Sie bitte den dritten Vers vorlesen und Herr Krause dann die Verse vier und fünf.“

„Siehe, ich möchte euch auffordern, wenn ihr dieses hier lesen werdet - sofern es nach Gottes Weisheit ist, dass ihr es lest -, dass ihr daran denkt, wie barmherzig der Herr zu den Menschenkindern gewesen ist, von der Erschaffung Adams an bis herab zu der Zeit, da ihr dieses hier empfangen werdet, und dass ihr im Herzen darüber nachdenkt.“

Herr Krause liest weiter.

„Und ich möchte euch auffordern: Wenn ihr dieses hier empfangt, so fragt Gott, den ewigen Vater, im Namen Christi, ob es wahr ist; und wenn ihr mit aufrichtigem Herzen, mit wirklichem Vorsatz fragt und Glauben an Christus habt, wird er euch durch die Macht des Heiligen Geistes kundtun, dass es wahr ist.

Und durch die Macht des Heiligen Geistes könnt ihr von allem wissen, ob es wahr ist.“

Walter Krause lässt sein Buch sinken und schaut nachdenklich seine Frau an. „Schatz, weißt du, was das bedeuten würde? Wenn das stimmt, dann könnte man mit jeder Frage zu Gott gehen und der würde einem sagen, ob es richtig ist.“

Monika Krause nickt zustimmend.

Elder Hunter bestätigt. „Das ist wirklich wahr. Sie können es ausprobieren. Sie können den Vater im Himmel fragen, ob das Buch Mormon wirklich wahr ist. Ich bezeuge Ihnen, dass Sie eine Antwort bekommen werden. Tausende und Hunderttausende Menschen haben auf diese Weise ein Zeugnis von der Wahrheit des Evangeliums bekommen und davon, dass Joseph Smith wirklich ein Prophet Gottes war.“

Krause nimmt seine Zigarre auf, zündet sie neu an und pafft kräftig daran. Für seine Frau ist das ein Zeichen, dass er innerlich sehr aufgewühlt ist.

„Sollen wir weiter machen?“ fragt Elder Stevens.

„Das muss ich erst mal verdauen“, pafft Krause.

„Monika holst du mal bitte ein Bier für mich. Jetzt muss ich was trinken. Wollen Sie auch ein Bier?“

Die Missionare schütteln den Kopf und antworten wie aus einem Munde: „Nein danke, wir trinken keinen Alkohol.“

„Da nimm dir mal ein Beispiel dran“, bemerkt Monika.

Bevor Walter darauf antworten kann, öffnet sich die Tür und Tochter Susanne kommt in das Zimmer. Erstaunt sieht sie den Besuch an und begrüßt ihn dann. Sie ist es gar nicht gewöhnt, dass ihre Eltern Besuch haben. Aus der Küche holt sie sich eine Tasse Kaffe. Danach setzt sie sich zu der Gruppe.

„Wie steht das eigentlich mit der Vielweiberei bei euch?“ Fragt Walter Krause.

Die zwei Krause-Frauen sehen den Familienvorstand erstaunt an.

Elder Stevens erklärt: „Zur damaligen Zeit war es so, dass die Heiligen der Letzten Tage verfolgt und vertrieben wurden. Auf den Trecks sind viele Männer umgekommen und es herrschte ein großer Frauenüberschuss. Dann gab es eine Offenbarung, dass die würdigen Männer mehrere Frauen heiraten sollten. Die Männer mussten nachweisen, dass sie auch in der Lage waren, für die Frauen und die Kinder zu sorgen.“

Krause schüttelt den Kopf. „Das kann doch nicht richtig sein, denn in der Bibel steht, dass ein Mann nur eine Frau haben soll. Wenn er eine andere ansieht, sie zu begehren, dann ist das Ehebruch.“

„Da haben Sie völlig Recht. Das steht in der Bibel. Aber, meinen Sie nicht auch, Herr Krause, dass derjenige, der das Recht hatte, so ein Gesetz zu erlassen, auch ein anderes geben konnte? Wenn wir die Bibel ernsthaft lesen, werden wir feststellen, dass es eine Reihe von Gesetzen gab, die jeweils nur für einen ganz bestimmten Zeitraum Gültigkeit hatten, nämlich so lange, bis Gottes Absichten in der Angelegenheit erfüllt worden waren. Außerdem wird auch in der Bibel von Männern berichtet, die gemäß Gottes Willen mehrere Frauen hatten.“

„Mmmmh, da könnten Sie Recht haben.“

Elder Hunter holt seinen Terminplaner hervor. „Herr Krause, wir müssen jetzt gehen, da wir noch einen anderen Termin haben. Wir würden uns gerne noch einmal mit Ihnen und Ihrer Familie unterhalten. Wenn es Ihnen Recht ist, kommen wir Dienstag um siebzehn Uhr.“

„Das ist mir zu früh. Eine Stunde später wäre besser. Was meinst du, Monika?“

„Ja, ich würde auch gerne noch mehr hören. Achtzehn Uhr passt mir auch besser.“

„Könnt Ihr das nicht um neunzehn Uhr machen? Dann kann ich auch dabei sein“, meldet sich Susanne.

Elder Hunter trägt den Termin ein.

*

Mülheim, 21. September 1963

Liebes Tagebuch. Heute war ein Tag mit ganz komischen Gefühlen. Die Arbeitszeit war normal und der Tag bis zum Abend verlief auch wie viele andere Tage.

Heute Abend waren die Missionare der Mormonen bei uns. Sie haben uns etwas über Joseph Smith erzählt und darüber, dass ihm ein Engel erschienen ist. Mein Verstand hat mir gesagt, dass es nicht möglich ist, dass Engel auf die Erde kommen. Als aber Elder Stevens sagte, er weiß ganz genau, dass Joseph Smith einen Engel gesehen und von ihm die goldenen Platten bekommen hat, da hatte ich so ein komisches, warmes Gefühl in mir, das ich gar nicht so richtig beschreiben kann. Es war fast so wie an dem Tag, wo Ralf mich zum Erstenmal geküsst hat und trotzdem war es nicht genau so. Es war wärmer, tiefer gehend. Es war, als wäre ich total geborgen und in Liebe eingehüllt.

Dann hatte ich noch ein ganz besonderes Erlebnis. Einmal hat Elder Stevens mir das Buch Mormon rübergegeben, damit ich ein paar Verse vorlesen sollte. Als ich es angenommen habe, haben sich für einen ganz kurzen Moment unsere Fingerspitzen berührt. Es war ein Gefühl, als wäre mein ganzer Körper für einen Augenblick in heißes Wasser getaucht worden. Alles prickelte und krabbelte. Ein irres Gefühl. Ich finde den Elder Stevens richtig süß. Er ist so ganz anders als Ralf, so richtig reif und männlich.

Wenn ich ganz ehrlich bin, wenn ich ihn manchmal so heimlich von der Seite ansehe, dann stelle ich mir vor, wie es wohl sein würde, wenn er mich küsst.

Gerd kam auch kurz dazu. Er hat die Missionare begrüßt, eine Zigarette geraucht und ist dann wieder gegangen.

Mir ist aufgefallen, dass Papa gar nicht mehr raucht, wenn die Missionare da sind. Sie haben vor ein paar Tagen erzählt, dass es ein „Wort der Weisheit“ gibt. Die Mormonen rauchen alle nicht. Sie trinken auch keinen Alkohol, keinen Bohnenkaffee und keinen schwarzen Tee.

Die Missionare haben sich gewünscht, dass Gerd auch mit dabei ist. Er hat aber keine Lust dazu.

Jetzt werde ich mich in mein Bett kuscheln und ein bisschen von Elder Stevens träumen.

Gute Nacht.

*

Es ist schon ein bisschen eng in der BMW Isetta, in der Jürgen, Gerd und Werner nach Essen unterwegs sind. Die drei jungen Männer sitzen eingequetscht auf der einzigen Sitzbank. Da die Fronttür beim Öffnen auch den Lenker mit nach vorne klappt, war das Einsteigen ähnlich als hätten sie sich auf eine Parkbank gesetzt. Auf der linken Seite des Fahrzeugs, in der Karosserie eingelassen, befindet sich der winzig kleine Schaltknüppel.

Jürgen fährt. Er hat aus drei alten Isettas diese eine zusammengebaut. Stolz führt er sie nun seinen beiden Freunden vor. Mit 81 km/h rasen sie über den Ruhrschnellweg.

Gerd schaut auf seine Uhr. „Du denkst daran, dass ich um sieben zu Hause sein will?“

Jürgen, der sich angesprochen fühlt und der auch gemeint war, weil er ja fährt, antwortet: „Ist in Ordnung, ich fahre die nächste Ausfahrt raus und dann zurück. Ist sowieso ein bisschen eng für drei Personen. Warum willst du eigentlich so früh schon zu Hause sein?“

„Ich habe euch doch erzählt, dass seit einigen Wochen Mormonenmissionare zu meinen Eltern kommen. Bis jetzt bin ich immer abgehauen wenn die kamen. Heute wollen ein paar junge Mädchen dabei sein, die etwas älter als Susanne sein sollen. Die Bräute will ich mir mal ansehen. Vielleicht ist ja was in meiner Kragenweite dabei. Wenn ihr wollt könnt ihr ja mitkommen.“

Werner stimmt sofort zu. „Für nette Mädchen bin ich immer zu haben.“

„Heute kann ich nicht“, wirft Jürgen ein. „Ihr könnt mir ja erzählen wie es war. Vielleicht komme ich dann beim nächsten Mal mit.“

Fünfzehn Minuten später lässt Jürgen seine beiden Freunde an der Sandstraße vor der Haustür aussteigen.

Im Wohnzimmer sitzen neben den Missionaren nur die Eltern von Gerd und Susanne.

Die Missionare erheben sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Die Jungen bleiben stehen und Gerd fragt: „Wolltet ihr mich nur nach Hause locken oder was ist los? Ihr habt mir doch erzählt heute kämen ein paar nette junge Mädchen zu uns.“

Elder Hunter erklärt: „Wir haben in der Gemeinde Oberhausen einen Jugendmissionarsausschuss. Zu dem gehören ein paar Mädchen im Alter von Susanne. Drei von den Mädchen wollten heute Abend hierhin kommen, um euch kennen zu lernen. Auf diese Weise könnt ihr mal sehen, dass die Jugend in der Kirche genau die gleichen Interessen hat wie ihr.“

Werner grinst seinen Freund Gerd an. „Da bin ich ja mal gespannt, ob das stimmt.“

Noch ehe einer der Anwesenden darauf etwas sagen kann schellt es an der Tür. Susanne springt sofort auf und öffnet. Sie kommt in Begleitung zweier Mädchen zurück.

„Guten Abend zusammen. Ich bin die Marion. Das ist Gudrun. Wir wollten eigentlich zu dritt gekommen sein, aber Elvira musste dringend einen anderen Termin wahrnehmen.“

Mit Handschlag begrüßen sich alle. Gerd stupst Werner kurz mit dem Ellenbogen an und deutet so, dass es niemand anders sehen kann, mit dem Daumen kurz auf Marion und dann auf sich. Werner nickt zustimmend. Schon ist geklärt, welche wem gefällt und wer sich an dem Abend um sie bemühen kann.

Die Neuankömmlinge stehen noch als es erneut klingelt. Susanne springt wieder auf: „Das wird Ralf sein. Wir wollten zusammen ins Kino gehen.“

Als die Beiden ins Wohnzimmer kommen fragt Gudrun: „Welchen Film wollt ihr euch denn ansehen? Gerade auf dem Weg hierher haben wir uns darüber unterhalten, dass wir schon lange nicht mehr im Kino waren.“

„Ich habe schon Karten besorgt für Freddy, die Gitarre und das Meer“, antwortet Ralf.

Marion ist begeistert: „Den finde ich auch toll. Gudrun, was denkst du, wollen wir mitgehen?“

„Natürlich nur, wenn ihr nicht alleine sein wollt“, richtet sie sich an Susanne und Ralf.

Ralf gibt Susanne die Karten. „Mir ist das egal. Entscheide du.“

„Natürlich freue ich mich wenn ihr mitkommt“, antwortet Susanne.

Während des Gespräches haben Gerd und Werner Blicke ausgetauscht. Werner zuckt entschuldigend mit den Schultern und Gerds Blick sagt: „Besser mit denen in Freddy als alleine durch die Gegend ziehen.“

„Hallo Schwesterchen“, erinnert Gerd an seine und Werners Anwesenheit. „Wollt ihr uns hier stehen lassen oder dürfen wir mitkommen?“

Bevor Susanne etwas sagen kann übernimmt Ralf das Wort. „Ihr müsst sogar mitkommen. Ihr wollt mich doch nicht mit drei Mädchen alleine gehen lassen, oder?“

Gerd grinst ihn an: „Du hast uns überredet.“

*

„Bruder Krause würden Sie bitte die angestrichene Passage vorlesen.“ Mit den Worten reicht Elder Hunter die Bibel weiter.

Walter Krause liest: „Maleachi 3:10 Bringt den ganzen Zehnten ins Vorratshaus, damit in meinem Haus Nahrung vorhanden ist. Ja, stellt mich auf die Probe damit, spricht der Herr der Heere, und wartet, ob ich euch dann nicht die Schleusen des Himmels öffne und Segen im Übermaß auf euch herabschütte.“

„Was denken Sie darüber, Bruder Krause“, fragt Elder Stevens.

„Was soll ich denn denken? Hört sich gut an, ist aber ein paar Jahrtausende überholt. Das galt früher mal.“

Elder Hunter wendet sich an ihn. „Erinnern Sie sich noch an unser erstes Gespräch? Sie selber haben gesagt, dass Sie es für ungerecht halten würden, wenn Gott heute mit den Menschen anders umgehen würde als damals. Wäre es dann nicht völlig logisch, wenn heute das Gesetz des Zehnten noch genau so gelten würde wie damals?“

„Ja schon. Aber wie soll das denn gehen? Es gibt doch heute keinen König mehr an den wir zahlen können.“

„Sehen Sie, Bruder Krause, da kommen wir wieder zu dem Punkt, den wir schon kurz angesprochen haben. Es stellt sich die Frage, wer denn heute auf der Erde die Vollmacht hat, für Gott den Zehnten einzunehmen. Wir werden bei unserem nächsten Besuch über die Vollmacht des Priestertums reden. Halten wir jetzt nur fest, dass der Herr von uns erwartet, dass wir von unserem Einkommen den Zehnten zahlen und dass er uns dafür reichlich segnen wird. Er sagte ja in Maleachi, dass er Segen im Übermaß auf uns herabschütten würde.“

„Bruder Krause, ich bezeuge Ihnen, dass Gott uns segnet, wenn wir einen ehrlichen Zehnten zahlen. Ich weiß, dass dies wahr ist, weil ich selber schon viele Segnungen bekommen habe, weil ich den Zehnten zahle.“

Elder Stevens bezeugt auch, dass er für das Zahlen des Zehnten schon oft gesegnet wurde. Dann fügt er hinzu: „Familie Krause, würden Sie auch den Herrn prüfen wollen, um zu sehen, ob diese Schriftstelle wirklich eine Verheißung an alle Menschen ist?“

Die Krauses sehen sich an. Monika schüttelt den Kopf: „Wie soll das denn gehen? Wir kommen so schon kaum mit unseren paar Mark über die Runden. Wenn wir jetzt auch noch den zehnten Teil davon abgeben sollen, dann haben wir ja gar nichts mehr zum Leben übrig.“

Walter Krause nickt zustimmend. „Da hat meine Frau Recht, das könnten wir gar nicht machen.“

Elder Hunter beugt sich im Sessel nach vorne. „Bruder Krause, wir sind ja jetzt schon öfter zu Ihnen gekommen und wir glauben, das wir ganz offen miteinander umgehen können. Darf ich Ihnen mal ganz ehrlich etwas sagen?“

„Nur zu. Raus damit. Ich bin immer für ein ganz offenes Wort. Das ist mir lieber als die schleimige Art, so drum herum zu reden. Schießen Sie los.“

„Wie viele Zigaretten und Zigarren rauchen Sie im Monat?“

„Keine Ahnung, die habe ich nicht gezählt.“

„Kommt ja jetzt nicht auf eine Packung an. Schätzen Sie einfach mal.“

„Du rauchst am Tag mindestens eine Packung Zigaretten und abends mindestens eine Zigarre“, hilft ihm seine Frau.

Er stimmt zu: „Könnte passen. Na und?“

Elder Hunter fährt fort: „Das wären also bei dreißig Tagen im Monat mindestens dreißig Päckchen Zigaretten und dreißig Zigarren. Richtig?“

Krause nickt: „Stimmt.“

„Weiter. Wie viel Bier trinken Sie im Monat?“

Jetzt wird Monika Krause lebhaft. „Viel zu viel trinkt er. Davon hast du auch deinen dicken Bauch. Du trinkst doch fast jeden Abend zwei Flaschen. Wenn du in die Kneipe gehst wird es noch mehr. Ich schätze mal, dass da im Monat einige Kisten zusammen kommen.“