Arthur Schnitzler: Das weite Land

 

 

Arthur Schnitzler

Das weite Land

Tragikomödie in fünf Akten

 

 

 

Arthur Schnitzler: Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Ilja Repin, Duell zwischen Onegin und Lenski, 1899

 

ISBN 978-3-7437-0047-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-570-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-571-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden 1910. Erstdruck: Berlin (Fischer), 1910. Uraufführung am 14.10.1911 gleichzeitig in Berlin, Breslau, München, Hamburg, Prag, Leipzig, Hannover, Bochum und Wien.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1962.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

Friedrich Hofreiter, Fabrikant.

 

Genia, seine Frau.

 

Anna Meinhold-Aigner, Schauspielerin.

 

Otto, ihr Sohn, Marine-Fähnrich.

 

Doktor von Aigner, der geschiedene Gatte der Frau Meinhold.

 

Frau Wahl.

 

Gustav,

Erna, ihre Kinder.

 

Natter, Bankier.

 

Adele, seine Frau.

 

Doktor Franz Mauer, Arzt.

 

Demeter Stanzides, Oberleutnant.

 

Paul Kreindl.

 

Albertus Rhon, Schriftsteller.

 

Marie, seine Frau.

 

Serknitz.

 

Doktor Meyer.[217]

 

Erster,

Zweiter, Tourist.

 

Rosenstock, Portier im Hotel am Völser Weiber.

 

Eine Engländerin.

 

Eine Französin.

 

Eine Spanierin.

 

Penn, Führer.

 

Die zwei Kinder der Frau Natter.

 

Die Miss.

 

Stubenmädchen bei Hofreiter.

 

Touristen, Hotelgäste, Kellner, Boys usw.

 

Ort der Handlung: Baden bei Wien; nur im dritten Akt das Hotel am Völser Weiher.[218]

 

Erster Akt

Veranda der Villa Hofreiter und Garten.

Rechts die Veranda, geräumig, mit Balustrade, die auch beiderseits längs der sechs in den Vorgarten führenden Stufen weiterläuft. Doppeltür von der Veranda zum Gartensalon steht offen. – Vor der Veranda Rasenplatz mit Rosensträuchern in Blüte. – Ein grüner, ziemlich hoher Holzzaun schließt den Garten ein, der Zaun biegt rückwärts im rechten Winkel um und läuft hinter der Villa weiter. Fußweg außen längs des Zauns. Fahrstraße parallel dem Fußweg. Innen, längs des Zauns Buschwerk. Die Gartentüre, links, Mitte, der Veranda gegenüber, steht offen. Rings um den Rasenplatz Bänke: eine vorn dem Zuschauerraum gegenüber, eine der Gartentür gegenüber, eine dritte jenseits des Rasens, also mit der Lehne zum Zuschauerraum. Auf der Veranda ein länglicher Tisch mit sechs Sesseln. In der Ecke hinten hinten Oleanderbaum. Die Veranda ist durch eine rotweiß gestreifte Markise überdeckt. Eine elektrische Lampe auf dem Tisch. Ein Wandarm rechts von der Türe. Auf dem Tisch Teegeschirr. Später Nachmittag, nach einem Gewitterregen. Wiesen und Blätter feucht. Lange Schatten der Gitterstäbe fallen in den Garten.

 

FRAU GENIA 31 Jahre, einfach-vornehm gekleidet; dunkelgrauer Rock, violette Seidenbluse, sitzt am Tisch der Veranda auf dem Sessel an der Schmalseite, die dem Publikum zugekehrt ist. Sie stellt eben die Teetasse hin, sieht einen Augenblick vor sich hin, steht auf, rückt den Sessel fort, sieht nach hinten über die Balustrade in den Garten, dann geht sie über die Stufen in den Garten hinab, die Hände auf dem Rücken, wie es ihre Gewohnheit ist.

DAS STUBENMÄDCHEN kommt aus dem Gartensalon auf die Veranda mit einer großen Tasse, will das Teegeschirr abräumen, zögert.

GENIA noch auf den Stufen, wendet sich nach ihr um. Servieren Sie nur ab. Der gnädige Herr wird wohl in der Stadt Tee getrunken haben.

 

Nach einer kleinen Pause, in der sie den Himmel betrachtet.

 

Übrigens könnten Sie aufziehen.

STUBENMÄDCHEN während sie das Servierbrett hinstellt und die Markise hochzieht. Soll ich der gnädigen Frau nicht was zum Umnehmen bringen? Es ist kühl geworden.

GENIA. Ja. Den weißen Mantel. Sie riecht an einer Rose am Strauch, dann setzt sie ihren Spaziergang fort, längs der Veranda nach hinten.

STUBENMÄDCHEN hat die Markise ganz aufgezogen, räumt ab und entfernt sich mit dem Teegeschirr.[219]

FRAU WAHL UND ERNA kommen auf der Straße von rückwärts, längs des Zauns und nähern sich dem Eingang.

GENIA weiter gehend längs der Wiese, nähert sich gleichfalls dem Eingang.

FRAU WAHL UND ERNA grüßen schon von draußen durch Kopfnicken.

GENIA winkt leicht mit der Hand, beschleunigt ihre Schritte ein wenig, und trifft am Tor mit beiden zusammen.

FRAU WAHL UND ERNA beide in dunkeln englischen Kostümen mit Jacke bleiben stehn.

FRAU WAHL schlank, beweglich, etwa 45 Jahre, von einer gewissen lässigen, aber sehr bewußten Vornehmheit. Sie näselt ein wenig, spricht ein nicht ganz echtes aristokratisch-wienerisch. Blick und Redeweise bald zu müde, bald zu lebhaft. Während sie spricht, schaut sie meist an ihrem Partner vorbei und erst, wenn sie zu Ende geredet hat, betrachtet sie ihr Gegenüber freundlich-forschend, wie um sich beruhigt zu finden.

ERNA größer als ihre Mutter, schlank, bestimmt und gradheraus bis zur Unbedenklichkeit, ohne vorlaut zu wirken. Fester, unbefangener Blick.

GENIA reicht beiden freundlich die Hand. Wohlbehalten aus der Stadt zurück?

FRAU WAHL. Wie Sie sehn, liebe Frau Genia. Es war ein fürchterliches Wetter.

GENIA. Bei uns heraußen auch bis vor einer Stunde.

FRAU WAHL. Sie haben schon recht gehabt, daß Sie lieber zu Hause geblieben sind. Auf dem Friedhof ist man geradezu versunken. Ich bin wirklich nur Erna zu Liebe mit hinausgefahren. Es hätte wohl genügt, der Zeremonie in der Kirche beizuwohnen – meiner Ansicht nach! Ich bitte Sie, wem erweist man am Ende einen Dienst damit ...

ERNA. Da hat die Mama freilich recht ... Zum Leben haben wir ihn doch nicht wieder erweckt, den armen Korsakow.

GENIA. Die Beteiligung war wohl sehr groß?

FRAU WAHL. Enorm. In der Kirche hat man sich kaum rühren können. Und auch auf dem Friedhofwaren sicher ein paar hundert Menschen – trotz des miserablen Wetters.

GENIA. Viele Bekannte?

FRAU WAHL. Ja, natürlich ... Natters kamen in ihrem neuen scharlachroten Automobil angefahren.

GENIA lächelnd. Von dem hab' ich schon gehört.

FRAU WAHL. Es hat einen phantastischen Eindruck gemacht, an der Friedhofsmauer ... Nicht g'rad phantastisch, aber sonderbar hat's ausgeschaut ...

DAS STUBENMÄDCHEN kommt mit dem weißen Mantel, den sie Genia[220] umgibt. Küss' die Hand, gnädige Frau, küss' die Hand, Fräulein.

FRAU WAHL leutselig. Grüß' Sie Gott, liebe Kathi.

ERNA. Guten Abend.

 

Stubenmädchen ab.

 

GENIA. Haben Sie meinen Mann nicht gesprochen, draußen auf dem Friedhof?

FRAU WAHL. Ja ... flüchtig.

ERNA. Er war sehr erschüttert.

GENIA. Das denk' ich mir.

ERNA. Ich hab' mich eigentlich gewundert. Er gehört doch sonst nicht zu den Menschen, denen leicht etwas nahe geht.

GENIA lächelnd. Wie genau Sie ihn kennen.

ERNA. Nun, sollt' ich nicht? Sehr einfach. Schon als siebenjähriges Mädel hab' ich ihn geliebt. Lang vor Ihnen, gnädige Frau.

GENIA. Schon wieder »gnädige Frau«.

 

Erna beinahe zärtlich Frau Genia. Küßt ihr die Hand.

 

GENIA. Er hat übrigens Alexei Korsakow sehr gerne gehabt.

ERNA. Offenbar. – Früher dacht' ich nämlich, daß Korsakow einfach – sein Klavierspieler gewesen ist.

GENIA. Wie meinen Sie das ... sein Klavierspieler?

ERNA. Nun, so wie der Doktor Mauer sein guter Freund ist, Herr Natter sein Bankier, ich seine Tennispartnerin, der Oberleutnant Stanzides ... sein Sekundant.

GENIA. Oh ...

ERNA. Wenn's einmal zu so was käme, mein' ich ... Er nimmt sich von jedem, was ihm gerade konveniert, und um das, was sonst in dem Menschen stecken mag, kümmert er sich kaum.

FRAU WAHL. Wissen Sie, Frau Genia, wie mein seliger Mann solche Bemerkungen von Erna zu nennen pflegte? Ihre Produktionen auf dem psychologischen Seil.

OTTO VON AIGNER kommt herbei, grüßt beim Tor. Guten Abend.

GENIA. Guten Abend, Herr von Aigner. Wollen Sie nicht ein wenig zu uns hereinkommen?

OTTO. Wenn's gestattet ist. Er tritt in den Garten. Er ist einfünfundzwanzigjähriger junger Mann, von zurückhaltendem und liebenswürdigem Benehmen; trägt die Uniform eines Marinefähnrichs. Begrüßung.

GENIA. Wie geht's Ihrer Frau Mama? Ich hatte eigentlich gehofft, sie heute Nachmittag bei mir zu sehen.

OTTO. Ist sie nicht gestern bei Ihnen gewesen, gnädige Frau?[221]

GENIA. Ja. Und vorgestern auch. Lächelnd. Sie hat mich eben ein wenig verwöhnt.

OTTO. Meine Mutter ist schon vor zwei Stunden in die Stadt gefahren. Sie hat heute abend zu spielen. Zu Frau Wahl und Erna. Die Damen waren heute wohl auch in der Stadt? Ich sah Sie in der Früh' während dieses schrecklichen Wolkenbruchs zur Bahn fahren.

FRAU WAHL. Wir haben dem Begräbnis von Korsakow beigewohnt.

OTTO. Richtig, das war ja heute. Weiß man eigentlich, warum er sich umgebracht hat?

ERNA. Nein.

FRAU WAHL. Irgendwer heut' auf dem Friedhof meinte, es sei ein Selbstmord aus gekränktem Ehrgeiz gewesen.

GENIA. Wie –? ... Korsakow ...?

FRAU WAHL. Ja. Weil er nämlich immer zu hören bekam, er könne nur Chopin spielen und Schumann – aber keinen Beethoven und keinen Bach ... Ich hab' es übrigens auch gefunden.

OTTO. Daß einen so was in den Tod treiben sollte, ist doch etwas unwahrscheinlich. Hat er keinen Abschiedsbrief hinterlassen?

ERNA. Korsakow hat nicht zu den Menschen gehört, die Abschiedsbriefe schreiben.

FRAU WAHL. Woher weißt du das wieder so bestimmt?

ERNA. Dazu war er viel zu klug und zu geschmackvoll. Er hat eben gewußt, was das heißt: tot sein. Und daher war es ihm ganz egal, was die Leute am nächsten Morgen für ein Gesicht dazu machen werden.

OTTO. Irgendwo hab' ich gelesen, daß er am Abend vor seinem Selbstmord noch mit einigen Freunden soupiert haben soll ... in bester Laune ...

FRAU WAHL. Ja, das steht dann immer in der Zeitung.

GENIA. Diesmal stimmt es zufällig. – Das weiß ich nämlich, weil mein Mann auch unter diesen Freunden gewesen ist, die mit ihm soupiert haben.

FRAU WAHL. Ah ...

GENIA beiläufig. Er hat ja manchmal bis spät abends in der Stadt zu tun, und dann soupiert er immer im Imperial, – an einer Art Stammtisch – noch aus seinen Junggesellentagen. In der letzten Zeit war auch Korsakow oft dabei, der im Hotel gewohnt hat. Und wie mir Friedrich selbst erzählte, – es war[222] ihm an diesem letzten Abend nicht das geringste anzumerken. Sie haben nachher im Kaffeehaus noch miteinander Billard gespielt.

FRAU WAHL. Wie, Ihr Mann und Korsakow?

GENIA. Ja. Sie haben sogar gewettet – und Friedrich hat verloren. Am nächsten Morgen, vom Bureau aus, hat er den Diener ins Hotel geschickt mit den verwetteten Zigarren ... und – wissen Sie denn das nicht? Der Diener war es ja, der die Sache entdeckt hat.

FRAU WAHL. Wieso denn?

GENIA. Nun, er klopfte ein paarmal, niemand rief herein, endlich öffnete er die Türe, um die Zigarren zu deponieren und ...

ERNA. Da lag Korsakow tot ...

GENIA. Ja. Tot auf dem Diwan, den Revolver noch in der Hand ...

 

Pause.

 

FRAU WAHL. Ihr Diener muß nicht wenig erschrocken sein. – Was hat er denn mit den Zigarren gemacht? Hat er sie dort stehn lassen?

ERNA. Die Mama ist für historische Genauigkeit.

GENIA. Verzeihen Sie, Frau von Wahl, aber darnach zu fragen hab' ich wirklich total vergessen.

 

Geräusch von einem Auto.

 

FRAU WAHL. Es hält hier.

GENIA. Das ist Friedrich ...

ERNA. Da könnte man gleich eine Tennispartie verabreden. Ist der Platz schon instand gesetzt?

OTTO. Natürlich. Ich hab' gestern mit Herrn Hofreiter zwei Stunden gesingelt.

FRAU WAHL. Er war in der Stimmung, Tennis zu spielen?

ERNA. Warum soll er denn nicht in der Stimmung gewesen sein, Mama? Daran kann ich nun gar nichts finden. Auf meinem Grab dürfte man Cake walk tanzen oder sogar Machich ... oh ja ... Es wäre mir eher ein sympathischer Gedanke.

DOKTOR MAUER kommt. Fünfunddreißig Jahre, groß, blonder Vollbart, Zwicker, Narbe von einem Säbelhieb auf der Stirne, dunkler Sakkoanzug, nicht elegant, aber durchaus nicht nachlässig gekleidet. Guten Abend, meine Herrschaften.

GENIA. Sie sind's, Doktor?

MAUER alle sehr schnell begrüßend. Küss' die Hand, gnädige Frau. Zu Frau Wahl. Guten Abend, Fräulein Erna, guten Abend Herr Fähnrich: Zu Genia. Der Friedrich läßt sich schön empfehlen,[223] Frau Genia, er hat noch in der Fabrik zu tun. Ich bin mit ihm bis hin gefahren, und er war so freundlich, mir das Auto zu überlassen für ein paar Krankenvisiten, die ich da heraußen zu machen habe. Er kommt später mit der Bahn.

FRAU WAHL. Wir müssen uns leider empfehlen. Zu Mauer. Hoffentlich sehn wir Sie auch bald einmal bei uns, Herr Doktor. Trotzdem wir uns, gottlob, eines ungestörten Wohlbefindens erfreuen.

ERNA. Sie müssen aber bald kommen, Doktor, im Juli reisen wir nämlich nach Tirol, an den Völser Weiher.

MAUER. Ah!

FRAU WAHL. Wir haben dort Rendezvous mit dem Gustl. Zu Otto. Das ist nämlich mein Sohn, der reist das ganze Jahr herum. Na, nicht grad das ganze – aber recht viel ... das kann man schon sagen ... Voriges Jahr war er in Indien.

ERNA. Und ich möcht' wieder einmal kraxeln.

MAUER. So? Da trifft man sich vielleicht auf irgend einer Felsenspitze. Mich zieht es nämlich auch in die Dolomiten. Zu Genia. Und ich will nicht verhehlen, gnädige Frau, daß ich große Lust hab', mir heuer den Friedrich dazu auszuborgen.

GENIA. Zu Dolomitentouren –? ... Was sagt er denn dazu ...?

MAUER. Er scheint nicht gänzlich abgeneigt.

FRAU WAHL. Ich hab' gemeint, daß der Friedrich seit ... seit ... dem Unglück von damals das Bergsteigen ganz aufgegeben hat.

MAUER. Aber doch nicht für immer.

GENIA zu Otto, erklärend. Ein Freund meines Mannes, ein gewisser Doktor Bernhaupt, ist nämlich direkt von seiner Seite weg von einem Felsen abgestürzt und auf der Stelle tot geblieben. Es sind übrigens schon sieben Jahre her.

OTTO zu Genia. So? An dieser Partie hat Ihr Herr Gemahl teilgenommen?

ERNA nachdenklich. Man muß sagen ... er hat nicht viel Glück mit seinen Freunden.

GENIA zu Otto. Sie wissen von dieser Geschichte?

OTTO. Sie blieb mir begreiflicherweise im Gedächtnis, da sie gerade auf dem Felsen passiert ist, den – mein Vater vor mehr als zwanzig Jahren als allererster bestiegen hat.

GENIA. Richtig, der Aignerturm war es.

MAUER. Der Aignerturm ... Man hat wirklich schon vergessen, daß der nach einem lebendigen Menschen so heißt.

 

Kleine Pause.[224]

 

ERNA. Das muß doch eigentlich ein sonderbares Gefühl für Sie sein, Herr Fähnrich, daß da in den Dolomiten ein Felsen steht, mit dem Sie gewissermaßen verwandt sind.

OTTO. Das ist gar nicht so sonderbar, Fräulein. Beide sind mir nämlich ziemlich fremd, der Felsen und mein Vater. Ich war ein Bub' von vier oder fünf Jahren, als sich meine Eltern von einander trennten ...

FRAU WAHL. Und seither haben Sie Ihren Herrn Papa nicht mehr gesehn?

OTTO. Es fügte sich so ...

 

Pause.

 

ERNA zum Gehen auffordernd. Also Mama ... ich denke, es wäre Zeit.

FRAU WAHL. Ja, wahrhaftig! – Wann wir überhaupt mit dem Auspacken fertig werden sollen! Zu Mauer. Wir sind nämlich erst am Sonntag herausgezogen. Wir führen noch nicht einmal Menage ... Wir müssen in diesem entsetzlichen Kurpark unsere Mahlzeit nehmen.

ERNA. Aber Mama, es schmeckt dir doch sehr gut.

FRAU WAHL. Aber so viel Leut' sind immer dort, besonders abends ... Also auf Wiedersehn, Frau Genia ... Gehn S' ein Stückerl mit uns, Herr Fähnrich?

OTTO. Wenn's erlaubt ist ... Adieu, gnädige Frau, bitte mich dem Herrn Gemahl zu empfehlen.

ERNA. Auf Wiedersehn, Frau Genia. Adieu, Herr Doktor.

 

Verabschiedung. Frau Wahl, Erna, Otto ab.

Genia, Mauer.

 

MAUER nach einer kleinen Pause, hat Erna nachgesehen. Das ist eine, der man beinahe die Mutter verzeihn könnte.

GENIA. Auch nicht die schlimmste, die gute Frau Wahl ... Ich find' sie eher amüsant. Wenn's also nur daran liegt! Während sie der Veranda zugeht. Ich hab's Ihnen neulich schon gesagt, überlegen Sie sich die Sache, Doktor.

MAUER halb im Scherz. Ich glaube, ich bin ihr nicht elegant genug. Folgt ihr allmählich.

GENIA ein paar Stufen hinauf. Ich hab' übrigens gar nicht gewußt, daß Friedrich auch nachher noch im Büro zu tun hätte.

MAUER. Ja, das sollt' ich Ihnen noch ausrichten, Frau Genia, er muß eine wichtige Depesche abwarten.[225]

GENIA. Amerika?

MAUER. Ja. Wegen der Patentangelegenheit mit seinen neu erfundenen Glühlichtern.

GENIA. Es ist nur eine Verbesserung, Doktor! Setzt sich.

MAUER stehend an die Balustrade gelehnt. Wie immer, jedenfalls scheint die Sache gewaltige Dimensionen anzunehmen. Ich höre, er will zubauen zu der Fabrik; den Häuserblock daneben ankaufen ...

GENIA. Ja ...

MAUER. Und nebstbei hat sich wieder das Konsortium gemeldet, das ihm so nachläuft, wegen Ankaufs der Fabrik. Morgen früh hat er eine Konferenz mit seinem Bankier.

GENIA. Mit Natter.

MAUER. Natürlich, mit Natter.

GENIA. Sie waren auch beim Begräbnis, die Natters, hör' ich.

MAUER. Ja.

GENIA. Das scharlachrote Automobil soll großes Aufsehen gemacht haben.

MAUER. Ja, was ist da zu machen? Es ist nun einmal scharlachrot.

 

Kleine Pause.

Genia sieht Mauer schwach lächelnd an.

 

MAUER. Übrigens – die Geschichte ist aus.

GENIA weiter ruhig lächelnd. Wissen Sie das ganz bestimmt?

MAUER. Ich kann Sie versichern, Genia.

GENIA. Hat Ihnen Friedrich etwa ...

MAUER. Nein, von dergleichen spricht er ja nie. Aber wozu hätte man seinen diagnostischen Blick. Es ist sogar schon geraume Zeit her, daß es aus ist. Ich versichere Sie, Frau Genia, Friedrich ist tatsächlich immer im Büro oder in der Fabrik. Sie kennen ihn ja! Seine neuen Glühlichter müssen die Welt erobern, sonst macht ihm die ganze Sache keinen Spaß. Frau Natter existiert also nicht mehr für ihn.

GENIA. Es ist immerhin beruhigend, so etwas zu hören.

MAUER. Zur Unruhe war doch wahrhaftig nie ein Anlaß. Adelchen ist im Grunde die harmloseste Person von der Welt. Wenn man nicht zufällig wüßte –

GENIA. Ja, sie! Von ihr aus drohte keinerlei Gefahr. Aber Herrn Natter halt' ich bei all seiner äußern Liebenswürdigkeit und Gutmütigkeit für einen brutalen Menschen. Sogar für etwas tückisch. Und manchmal hab' ich schon Angst gehabt um Friedrich. Das können Sie sich ja denken. Angst, wie um[226] einen Sohn, – einen ziemlich erwachsenen, der sich in zweifelhafte Abenteuer einläßt.

MAUER sitzt ihr gegenüber. Es ist wirklich interessant, wie Sie die Dinge auffassen. Man möchte fast glauben, daß Frauen, die zu Müttern geboren sind, gelegentlich die Gabe besitzen – es auch für ihre Gatten zu sein.

GENIA. Oder zu werden, lieber Doktor. Es war mir ja nicht immer so mütterlich zumute. In früherer Zeit war ich mehr als einmal nahe daran, auf und davon zu gehen.

MAUER. Oh! –

GENIA. Mit meinem Buben natürlich. Den Percy hätt' ich ihm nicht gelassen, da können Sie ruhig sein!

MAUER. Sie wollten einmal von Friedrich fortgehen ...?

GENIA. Ja, das wollt' ich ... Und ein anderes Mal hab' ich mich sogar umbringen wollen. Das ist freilich schon lange her. Vielleicht kommt's mir jetzt auch nur so vor, daß ich das – –

MAUER. Gewiß ... Das hätten Sie nie und nimmer getan ... Schon um ihm keine Ungelegenheiten zu verursachen.

GENIA. Halten Sie mich für so rücksichtsvoll? Das ist ein Irrtum, Doktor ... Es gab sogar eine Zeit, in der ich das Rücksichtsloseste vorhatte, was eine Frau einem Mann und besonders einem eiteln antun kann. Mich ... zu rächen.

MAUER. Zu rächen?

GENIA. Sagen wir zu revanchieren.

MAUER. Ach so ... Das wäre jedenfalls das einfachste gewesen. Und hätte vielleicht auch sonst manches für sich gehabt. Na, vielleicht kommt's noch. Es kann auch Ihnen einmal die Stunde des Schicksals schlagen, Frau Genia.

GENIA. Und es müßte am Ende gar nicht die Stunde des Schicksals sein.

MAUER ernst. Bei Ihnen schon. Das ist es eben. Eigentlich schade. Mein Gerechtigkeitsgefühl wehrt sich schon lange entschieden dagegen, daß gerade mein alter Freund Friedrich – nicht bezahlen sollte.

GENIA. Und wer sagt Ihnen, lieber Doktor, daß Friedrich nicht bezahlt? Muß es denn gerade in gleicher Münze sein? Er bezahlt schon – in seiner Weise! Es geht ihm wirklich nicht so gut, wie Sie glauben. Auch nicht so gut, wie er selber manchmal glaubt. Zuweilen tut er mir geradezu leid. Wirklich, Doktor, manchmal denk' ich, es ist ein Dämon, der ihn so treibt.[227]

MAUER. Ein Dämon –? Na ja! ... aber es gibt Frauen, die ihren Herrn Gemahl samt dem Dämon zum Teufel jagten in einem solchen Fall ... Auf einen fragenden Blick Genias. wie es seinerzeit zum Beispiel die Mutter des Herrn Fähnrich mit ihrem doch auch ziemlich dämonischen Gemahl gemacht hat.

nicht