Über das Buch:
FBI-Agent Nick Bradley ist im Verlauf seiner Karriere schon vielen Verrückten begegnet. Aber Rachel Sutton ist irgendwie anders. Sie wirkt völlig normal, als sie in seinem Büro vorstellig wird – bis sie eine schmutzige Stoffpuppe aus ihrer Tasche zieht und ihm erzählt, dass mit dieser Puppe irgendetwas nicht stimme. Wann immer sie sie berühre, bekomme sie einen Panikanfall.
Nick legt den Fall zu den Akten – doch dann entdeckt er einen Zusammenhang zwischen der Stoffpuppe und einem Fall von Kindesentführung. Wie kann das sein? Wer ist Rachel wirklich? Und was soll er jetzt nur machen?

Über die Autorin:
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri..

Kapitel 7

Die langstieligen Schönheiten kamen am Samstagnachmittag, begleitet von einer Karte mit den einfachen Worten: „Danke für das wundervolle Essen.“ Darunter stand ein kleines PS. „Ich habe im Restaurant eine Übereinstimmung gefunden. Ich wünschte, alle meine Fälle ließen sich so leicht lösen.“

Während Rachel das grüne Papier entfernte und den angenehmen Duft der dunkelroten Blüten einatmete, musste sie lächeln. Sie hatte nicht erwartet, dass Nick ihr Blumen schicken würde, aber es überraschte sie auch nicht wirklich. Sie hielt ihn für so eine Art Mann: Einen Mann, der seine Schulden bezahlte und immer versuchte, das Richtige zu tun. Einen integren Mann, der stark genug war zuzugeben, dass er nicht alles wusste, und der keine Angst hatte, seine Abhängigkeit von Gott zu akzeptieren. Einen Mann, der daran glaubte, von dem, was er hatte, etwas zurückzugeben und anderen zu helfen. Einen Mann, der ihre Gedanken beschäftigen konnte – und ihre Träume.

Die anderen Einschätzungen waren vielleicht nur Vermutungen, aber Letzteres war eine Tatsache. Denn genau das hatte er getan, seit er am gestrigen Abend ihr Haus verlassen und dafür gesorgt hatte, dass sie bis in die frühen Morgenstunden wach lag.

Gut, dass sie heute nichts Dringendes zu erledigen hatte.

Rachel stellte die Vase auf die Truhe im Wohnzimmer und berührte eines der samtigen Blütenblätter. Sie zupfte einen Zweig Schleierkraut zurecht und zog die rote Satinschleife gerade.

Niemand hatte ihr jemals Rosen geschickt.

Sie versuchte ihre Begeisterung mit einer Dosis Realität zu mäßigen, indem sie sich sagte, es könnte Nicks übliche Taktik sein, sich mit Blumen für einen Gefallen zu bedanken. Aber selbst diese Überlegung konnte ihre Freude nicht schmälern. Und sie verminderte auch nicht ihren Wunsch, mehr über diesen Mann zu erfahren. Was er ihr erzählt hatte, hatte erst recht ihr Interesse geweckt. Dutzende Fragen waren ihr gestern Abend durch den Kopf gegangen, als er ihr eine gekürzte Fassung seiner Geschichte erzählt hatte.

Was war mit seiner Mutter geschehen?

Warum hatte der Staat ihn seinem Vater weggenommen?

Welche Verhaltensauffälligkeiten hatten ihm in seiner Kindheit zu schaffen gemacht?

Wie hatte er seinen Weg zu Gott gefunden?

Warum war er nicht verheiratet?

Und das war nur die Spitze des Eisbergs.

Aber Rachel hatte den Verdacht, dass Nick die meisten dieser Themen unangenehm waren. Sie hatte gemerkt, wie sehr er schon mit den wenigen Enthüllungen am Abend zuvor zu kämpfen gehabt hatte. Und sie war gerührt – und dankbar –, weil er sich ihr anvertraut hatte, aber sie wusste, dass es vieles gab, was unausgesprochen geblieben war. Dass er große Herausforderungen gemeistert hatte und dass er viele seiner Lektionen in der harten Schule des Lebens gelernt hatte. Und doch hatte er sich in einen Mann verwandelt, der sich entschieden hatte, Verbrechen zu bekämpfen, anstatt sie zu begehen. In einen Mann, der Häuser rettete und betete und Rosen schickte.

Sie war fasziniert. Und sie wollte mehr wissen.

Wenn man seine Verschwiegenheit am Abend zuvor bedachte, konnte es jedoch gut sein, dass er beschloss, sich von einer Frau fernzuhalten, die ihn aus seiner Wohlfühlecke gelockt hatte. Vielleicht waren die Rosen seine Art, das „Ich melde mich“-Versprechen zu erfüllen.

Wenn sie ein Mensch gewesen wäre, der betete, dann hätte Rachel Gott darum gebeten, dass die Blumen der Anfang waren und nicht das Ende.

Aber welches Schicksal ihr auch beschieden war, sie würde ihre spontane Verabredung am Valentinstag niemals vergessen. Der Abend würde sie immer daran erinnern, dass das Leben unerwartete Freuden bereithalten konnte, wie Nick es in seinem Tischgebet formuliert hatte. Und dass es sich durch scheinbar zufällige Ereignisse verändern konnte.

Zum Beispiel dadurch, dass man einen engagierten Polizisten kennenlernte.

Oder eine schmutzige Stoffpuppe fand.

* * *

Claudia trommelte mit ihren manikürten Fingernägeln auf dem Lenkrad und atmete frustriert aus, während sie das Gebäude hinter dem schwarzen Eisenzaun auf der gegenüberliegenden Straßenseite anstarrte. Ihr Ausflug zum FBI-Büro an diesem Montagmorgen war ein Reinfall gewesen. Persönlich zu erscheinen, hatte ihr nicht im Geringsten geholfen. Ellen Levine, die Pressesprecherin, war freundlich, aber verschwiegen gewesen.

Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Redakteurin plötzlich Skrupel wegen des Artikels bekommen hatte. Stacy hatte Mitchs blöden, nichtssagenden Artikel über die Chefköche zweier rivalisierender Restaurants durchgewinkt, als würde das Zeitungen verkaufen. Wen kümmerte es schon, wessen Ravioli besser schmeckten?

Ihr Bericht dagegen hatte sowohl Gehalt als auch Spannung. Sie hatte stundenlang recherchiert und dabei ein paar wirklich interessante Dinge ans Tageslicht befördert – darunter auch ein legendäres Medium dieser Stadt, das vor vierzig Jahren tatsächlich den Behörden bei der Verbrechensaufklärung geholfen hatte. Das behauptete die Frau jedenfalls in Interviews. Aber das hatte Stacy als Lokalbezug nicht gereicht. Nein, sie wollte ein aktuelles Medium mit nachweislichen Beziehungen zur Polizei oder zum FBI, bevor sie den Artikel brachte.

Und Rachel Sutton war die Einzige, die Claudia gefunden hatte.

Leider hatte die Frau sich geweigert zu bestätigen, dass sie mit dem FBI gesprochen hatte.

Schade, dass sie nicht einfach einen oder zwei Agenten abfangen und befragen konnte, überlegte Claudia, als sie sah, wie zwei groß gewachsene Männer in Anzügen das Gebäude verließen, vielleicht um etwas essen zu gehen. Aber weder der dunkelhaarige Mann noch der Blonde, der wie der typische Junge von nebenan aussah, würden mit ihr reden. FBI-Agenten waren gut darin geschult, mit den Medien umzugehen. Sie würden sie zu der Pressesprecherin zurückschicken.

Die beiden Männer gingen davon und sie drehte frustriert den Zündschlüssel im Schloss um.

Aber sie würde noch nicht aufgeben. Irgendetwas würde ihr einfallen.

Sie hatte immer eine Idee.

* * *

„Ich nehme den kleinen Salat nach Art des Hauses und dazu ein fettarmes Dressing.“ Mark klappte die Speisekarte zu und reichte sie der Bedienung.

„Was ist mit deinem üblichen Burger passiert?“ Nick zog die Augenbrauen hoch.

„Ich habe es letzten Freitagabend mit den Kalorien ein bisschen übertrieben, deshalb muss ich mich diese Woche etwas zurückhalten.“

„Hmm. Für mich ein Baguette mit Pute“, sagte Nick zu der Kellnerin und reichte ihr die laminierte Speisekarte. „Und, war es das wert?“

„Oh ja.“ Mark lehnte sich auf seinem Platz zurück und grinste. „Das Essen war fantastisch. Aber die Gesellschaft war noch besser. Ein perfekter Valentinstag. Und was hast du dann noch gemacht? Warte … lass mich raten.“ Er tat so, als überlegte er angestrengt. „Du hast am Haus gearbeitet.“

„Ein bisschen.“ Nick zog ein Päckchen Kräcker, auf die er eigentlich gar keine Lust hatte, aus dem Korb auf dem Tisch, riss es auf und schob sich einen der Kräcker in den Mund. Als er am Freitagabend nach Hause gekommen war, hatte er zwei Stunden damit verbracht, Deckenleisten im Schlafzimmer anzubringen, weil er zu aufgedreht gewesen war, um zu schlafen. Also war seine Antwort keine Lüge. „Da wir gerade von Häusern sprechen, wart ihr am Wochenende auf Haussuche? Ich dachte, ihr wolltet im Frühjahr aus Emilys Wohnung raus sein.“

„Das wollen wir auch, und nein, wir haben uns nichts angeschaut. Der Schnee war eine gute Ausrede, um zu Hause zu bleiben und … abzuhängen.“ Er zwinkerte und sein Grinsen wurde breiter.

Nick zog einen Mundwinkel hoch. „Wie ich sehe, seid ihr noch in den Flitterwochen. Bei mir im Viertel steht ein schönes Renovierungsprojekt zum Verkauf.“

„Vergiss es. Das, was ich schon an Baustaub eingeatmet habe, reicht fürs ganze Leben, und das habe ich allein dir zu verdanken.“

„Ich hatte dich gewarnt, bevor du letzten Sommer zu mir gezogen bist.“

„Ich war davon ausgegangen, dass du das Haus als Baustelle bezeichnet hast, sei eine Übertreibung und keine genaue Beschreibung gewesen.“

„Ich bin immer ehrlich.“

„Das habe ich gemerkt. Übrigens, hast du eigentlich herausgefunden, wie die Presse von der Puppengeschichte Wind bekommen hat?“

„Ja. Sie hatte eine Freundin gebeten, ihren Mann, der Polizist ist, zu fragen, was er meint, und sie haben darüber gesprochen, als sie in einem Restaurant essen waren. Ich habe dort angerufen und der Besitzer hat die Kreditkartenbelege für mich durchgesehen. Die Reporterin war dort.“

„Woher wusstest du, dass die Frau mit ihrer Freundin darüber gesprochen hat?“

„Sie hat es mir erzählt.“

„Das hast du gar nicht gesagt, als du am Freitagabend angerufen hast, um zu fragen, ob Emily oder ich die Geschichte irgendjemandem erzählt haben.“

Allmählich wurde es kritisch.

„Ich habe sie anschließend gefragt.“

„Du hast die Frau nach Feierabend angerufen?“

„Nein.“ Nick schob sich noch einen Kräcker in den Mund.

Marks Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was ist mit den Kräckern?“

„Was soll damit sein?“

„Sonst isst du nie Kräcker. Du behauptest immer, sie bestünden aus leeren Kalorien und zu viel Fett.“

„Heute mache ich eine Ausnahme.“

„Warum?“

„Was ist das hier eigentlich? Ein Verhör?“, beschwerte Nick sich.

Mehrere Sekunden lang herrschte Schweigen. Mark war nicht Mitglied der FBI-Eliteeinheit zur Geiselrettung geworden, weil er eine Niete war, und Nick wusste, dass er dabei war, eins und eins zusammenzuzählen. Nicks vage Antwort und seine Gereiztheit, dazu sein Geständnis, dass Rachel gut aussah, plus sein untypisches Essverhalten führten zu einer unweigerlichen Schlussfolgerung.

„Du warst bei ihr, oder?“

Mark hatte es sogar noch schneller herausbekommen, als Nick erwartet hatte.

„Stimmt. Sie war sehr aufgebracht über die undichte Stelle. Ich wollte mich vergewissern, dass es nicht unsere Schuld war, und ihr helfen, den Schuldigen zu finden.“

Mark verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit einem spöttischen Grinsen zurück. „Klar. War es nett?“

„Es war sehr angenehm.“

Jetzt lachte Mark laut auf. „Ach, komm! Vor einer Woche hast du gesagt, sie sei hübsch. Und ich meine mich zu erinnern, dass du Worte wie ernsthaft, intelligent und so weiter gebraucht hast. Warum gibst du nicht zu, dass du die Frau magst? Und jetzt, wo Emily eine vernünftige Erklärung für das Puppenphänomen gefunden hat, brauchst du dir auch keine Sorgen mehr zu machen, dass sie womöglich verrückt ist. Die Tür steht weit offen – wenn die Dame Interesse hat. Was für Schwingungen hast du denn aufgeschnappt, als du dort warst?“

„Ziemlich gute.“ Nick rutschte auf seinem Stuhl vor und wischte mit einer Papierserviette etwas Kondenswasser, das an seinem Eisteeglas heruntergelaufen war, vom Tisch.

„Das ist doch ein Anfang. Wie lange warst du dort?“

Es gab nur wenige Menschen, denen Nick vorbehaltlos vertraute, aber Mark war einer von ihnen. Obwohl das Leben sie nach dem Studium an der Akademie in unterschiedliche Richtungen geführt hatte und ihre Wege sich erst seit einigen Monaten wieder täglich kreuzten, war der Kontakt zwischen ihnen nie abgerissen. Wenn Nick anfangen wollte, mit jemandem über persönliche Dinge zu reden, dann wäre der Mann, der ihm jetzt gegenüber saß, eine gute Wahl.

„Drei Stunden.“

Mark verschluckte sich an seiner Limonade und griff nach einer der Servietten, die in einem metallenen Halter auf dem Tisch steckten, um sich den Mund abzuwischen. „Du bist drei Stunden geblieben?“

„Mhm.“

„Ich hoffe, du hast die Dame zum Essen eingeladen.“

„Nein. Sie hat angeboten, mich zu verköstigen.“

Mark grinste und schüttelte den Kopf. „Du steckst wirklich voller Überraschungen. Und ich habe mir Sorgen um dein Liebesleben gemacht.“

„Es war nur ein Abendessen, Mark.“

„Stimmt.“ Er trank wieder einen Schluck Limonade, diesmal mit entsprechender Vorsicht. „Und willst du, dass mehr daraus wird? Wenn die Dame am Valentinstag nichts vorhatte, muss sie doch zu haben sein.“

„Ich denke darüber nach.“

„Denk nicht zu lange nach, mein Freund. Genauso wie du mir im Sommer in Bezug auf Emily, rate ich dir jetzt, dir eine solche Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Ich weiß noch, wie du sagtest, dass man eine Frau wie Emily nicht alle Tage treffe. Du hattest recht. Und die Puppendame fällt vielleicht in dieselbe Kategorie.“

„Deine Situation war eine andere. Ihr kanntet euch schon seit Jahren und ihr hattet eine gemeinsame Vergangenheit.“

„Dann schaff eine für dich und … wie heißt sie überhaupt?“

„Rachel.“

„Für dich und Rachel. Vielleicht könntest du ihr Blumen schicken, um dich für das Essen zu bedanken.“

Jetzt war es Nick, der lächelte. „Das habe ich schon.“

„Gut gemacht.“ Mark grinste. „Ein kluger Schachzug. Frauen schmelzen dahin, wenn sie Blumen bekommen.“

„Ich werde es mir merken.“ Nick rührte in seinem Eistee und warf seinem Freund einen ironischen Blick zu.

„Ich versuche nur, dir behilflich zu sein. Du willst schließlich nicht, dass dir die richtige Frau durch die Lappen geht.“

Nick hörte auf in seinem Glas zu rühren. „Bist du nicht ein bisschen vorschnell? Ich kenne Rachel gerade mal zehn Tage.“

„Man braucht nicht lange, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob eine Beziehung Potenzial hat. Und diese hier klingt vielversprechend.“

„Du ziehst viel zu viele voreilige Schlüsse.“

„Nee. Ich habe es selbst erlebt. Ich kenne die Anzeichen für Verliebtheit.“

„Verschon mich bloß damit.“

„Du brauchst dir nur die Beweise anzusehen.“ Mark beugte sich vor und zählte an den Fingern ab. „Erstens: Du hast Rachel letzte Woche trotz ihrer unwahrscheinlichen Geschichte eine Chance gegeben. Zweitens: Als wir alle an dem Abend zusammensaßen, hast du sie verteidigt, noch bevor Emily ihre Theorie ausgebreitet hatte. Drittens: Du hast zugegeben, dass Rachel attraktiv ist, und hast ihre anderen positiven Eigenschaften betont. Viertens: Du hast dir die Mühe gemacht, sie am Valentinstag zu besuchen. Fünftens: Du bist geblieben, als sie dich zum Essen eingeladen hat. Und sechstens: Du hast ihr Rosen geschickt.“ Mark lehnte sich wieder zurück. „Urteil? Verliebt.“

Als FBI-Agent wusste Nick, wie man Indizien auswertete, und so fiel es ihm schwer, Marks Schlussfolgerung zu leugnen. Er mochte Rachel. Sehr sogar. Und auch wenn er nicht die Absicht hatte, sich vorschnell auf etwas einzulassen, wollte er ihrer sich anbahnenden Beziehung eine Chance geben und sehen, wohin sie führte.

„Und?“, bohrte Mark nach, als er nicht antwortete.

„Kein Kommentar.“

Mark lachte und spießte ein paar Salatblätter auf. „Sag ich doch.“

* * *

Also, wenn das nicht interessant war.

Claudia kauerte in ihrem Auto und beobachtete, wie der große, blonde Typ, den sie am Montag vor der FBI-Zentrale gesehen hatte, auf dem Parkplatz vor Madeleines Restaurant aus einem Auto stieg und Rachel begrüßte. Die Frau lächelte, als er ihren Arm nahm und deutete mit dem Kopf auf den Eingang, woraufhin er sie zur Tür begleitete.

Bingo!

Jetzt hatte Claudia ihre Verbindung! Rachel sprach mit dem FBI – das hatte sie mit eigenen Augen gesehen.

Und das war auch gut so. Sie hatte sich bis Mittwochmittag Zeit gegeben, um eine Genehmigung für ihren Artikel zu bekommen, und dies war wirklich Rettung in letzter Minute. Einen Großteil der letzten beiden Tage hatte sie damit verbracht, Rachel zu beschatten, in der Hoffnung, irgendeine Verbindung zur Polizei oder zum Geheimdienst zu entdecken. Es war reines Fischen im Trüben gewesen, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass es sich lohnen würde. Die jetzige Entwicklung der Ereignisse war beinahe zu gut, um wahr zu sein.

Aber es wäre noch besser, wenn sie Rachel dazu bringen könnte, etwas über ihren Kontakt zum FBI zu sagen. Während ihre Gedanken sich zu einem Plan formten, legte Claudia den ersten Gang ein und fuhr zu der Schule, in der Rachel nachmittags unterrichtete. Die Chance, dass die Frau sich zu einer Stellungnahme überreden ließ, war gering, wenn man bedachte, dass sie sich letzte Woche rundheraus geweigert hatte, irgendeinen Kommentar abzugeben. Aber jetzt, nachdem Claudia eine definitive Verbindung zum FBI beweisen konnte, spräche nichts gegen einen neuen Versuch.

Es wäre wirklich schön, Rachels Aussage zu haben, auch wenn Claudia sich ziemlich sicher war, dass Stacy ihr grünes Licht geben würde – mit oder ohne Rachels Stellungnahme. Wie könnte sie jetzt noch Nein sagen? Claudia hatte ein Treffen zwischen der Frau und einem FBI-Agenten beobachtet.

Und wo es Rauch gab, war für gewöhnlich auch ein Feuer.

* * *

Die einzige freie Parkbucht, die Rachel vor der Stafford-Grundschule fand, befand sich am Ende des vereisten Platzes und zwang sie zu einem langen Marsch durch zweistellige Minustemperaturen. Aber dank des warmen Glühens, das nach ihrer Stunde mit Nick noch immer ihren Körper durchströmte, würde sie die eisige Kälte wahrscheinlich nicht einmal bemerken.

Sein Anruf am gestrigen Abend, bei dem er eine Verabredung zum Mittagessen vorgeschlagen hatte, hatte in ihr ein kribbelndes Gefühl der Vorfreude ausgelöst, das ihr den Schlaf geraubt und trotz der schweren grauen Unwetterwolken ihren Morgen erhellt hatte. Und ihre viel zu kurze Begegnung hatte alle Erwartungen erfüllt. Mit Rücksicht auf die begrenzte Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, hatte Nick ein Restaurant ausgewählt, das auf dem Weg zwischen den beiden Schulen lag, an denen sie unterrichtete – wieder ein Beweis dafür, wie rücksichtsvoll er war. Und das kleine Bistro war entzückend gewesen, mit französischem Interieur, hervorragendem Essen und einer ruhigen Atmosphäre, die sich gut für eine Unterhaltung eignete.

Letztere hatte Nick von Anfang an gelenkt, wobei er thematisch geschickt von Filmen und Büchern zu Reisen und Hobbys gewandert war. Es war eigentlich eine typischere erste Verabredung gewesen als ihr ungeplantes Essen am Valentinstag. Keine schwere Kost, sondern ein angenehmer Austausch, der ihnen beiden jegliche Nervosität nahm. Und das war für sie in Ordnung. Sollte sich zwischen ihnen etwas entwickeln, würde es noch genügend Gelegenheiten für tiefer gehende Gespräche geben.

Und das Beste war, dass er beim Abschied auf dem Parkplatz versprochen hatte, wieder anzurufen.

Rachel konzentrierte sich so sehr darauf, ihre Verabredung im Geiste noch einmal nachzuvollziehen – und dabei den vereisten Pfützen auf dem Asphalt auszuweichen –, dass sie Claudia Barnes erst bemerkte, als diese plötzlich neben ihr her ging.

„Hallo, Ms Sutton.“

Rachel blieb wie angewurzelt stehen.

„Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“ Die Frau lächelte. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass meine Geschichte diese Woche Freitag veröffentlicht wird. Und es ist noch genügend Zeit, ein paar Worte von Ihnen einzubauen. Ich verlange natürlich nicht, dass Sie irgendetwas preisgeben, das Ermittlungen gefährden könnte, aber eine allgemeine Äußerung über Ihre Gespräche beim heutigen Mittagessen mit dem FBI-Agenten wäre schön.“

Rachels Magen zog sich zusammen. „Sind Sie mir gefolgt?“

„Ich habe recherchiert“, berichtigte die Frau.

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich nichts mit Ihrer Geschichte zu tun haben will. Und ich halte auch nichts davon, dass Sie meine Freunde bei einem Essen im Restaurant belauschen.“ Rachel setzte sich wieder in Bewegung und bedauerte zutiefst, dass sie keinen Parkplatz näher am Gebäude gefunden hatte.

Ihre Bemerkung schien die Reporterin zu überraschen, aber sie fasste sich schnell wieder und schloss mit wenigen Schritten zu ihr auf. „Ihr FBI-Agent ist offenbar ein guter Ermittler.“

„Es war nicht schwierig herauszufinden, woher Sie Ihre Informationen hatten. Ich habe die Geschichte nur zwei Leuten erzählt.“ Rachel beschleunigte ihre Schritte.

„Seien Sie vernünftig, Ms Sutton.“ Die Journalistin ließ sich nicht abschütteln. „Der Artikel wird mit oder ohne Ihre Mitwirkung erscheinen. Wenn jemand die Tatsachen anzweifelt, werde ich mich vor den Richter stellen und aussagen, dass ich die Geschichte mit der Puppe direkt von Ihrer Freundin gehört habe und dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie Sie mit einem FBI-Agenten gesprochen haben. Sie können also genauso gut etwas dazu sagen.“

Rachel blieb abrupt stehen und drehte sich zu der Frau um. Vor Wut klangen ihre Worte sehr heftig. „Nur zu Ihrer Information, Ms Barnes: Mein Mittagessen mit Nick hatte nichts mit der Puppe zu tun. Außerdem habe ich inzwischen erfahren, dass die Puppe wohl nur eine Erinnerung an meine Kindheit ausgelöst hat. Ich halte das für eine vernünftige Erklärung. Wenn Sie behaupten, ich sei ein Medium oder mein Erlebnis stehe gar mit einem Verbrechen in Verbindung, dann ist das nicht nur an den Haaren herbeigezogen, sondern grenzt an bewusste Täuschung. Bitte belästigen Sie mich in Zukunft nicht mehr.“

Rachel drehte sich auf dem Absatz um und legte die verbleibenden Meter zur Glastür des Haupteingangs nahezu im Sprint zurück. Sie befürchtete, die Frau könnte ihr in die Schule folgen, aber zu ihrer Erleichterung blieb die Reporterin ein paar Schritte vor dem Eingang stehen. Während die Tür ins Schloss fiel, warf Rachel noch einen letzten Blick über ihre Schulter. Claudia Barnes lächelte, winkte und ging dann.

Als die Frau verschwunden war, lehnte Rachel sich an die Wand, um ihren zitternden Knien einen Moment Zeit zu geben, sich wieder zu beruhigen. Am liebsten hätte sie Nick angerufen, aber ein schneller Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie für ihre Unterrichtsstunde ohnehin schon spät dran war. Der Anruf musste also warten, und außerdem war es ja nicht dringend. Er konnte schließlich auch nichts gegen die Situation unternehmen. Allerdings hätte schon der Klang seiner Stimme sie beruhigt.

Doch letztlich halfen bereits die angenehmen Schlussfolgerungen, die sie aus dieser Tatsache ziehen konnte, die Beklemmung, die Claudia Barnes ausgelöst hatte, zu zerstreuen.

* * *

„Ich höre, du sammelst Puppen?“

Nick wandte sich in seiner Bürobox um, den Mantel noch halb angezogen. Ellen Levine betrachtete ihn und ihre Miene war schwer zu durchschauen. Die Pressesprecherin, die ungefähr Mitte fünfzig und eine ehemalige Journalistin war, kannte alle Tricks ihrer Branche. Sie konnte die Medien umwerben – oder ablenken – je nachdem, welche Taktik den Zwecken des FBI dienlicher war.

Der Gedanke an das Mittagessen mit Rachel hatte Nick den ganzen Nachmittag über abgelenkt, während er herumgefahren und Spuren zu einem Fall nachgegangen war, aber die Bemerkung der Pressesprecherin ließ ihn aufhorchen. „Von wem hast du das denn gehört?“

„Von einer gewissen Reporterin namens Claudia Barnes. St. Louis Scene.“

„Wie hat sie mich damit in Verbindung gebracht?“

„Das musst du sie schon selbst fragen. Mir wollte sie diese Frage nicht beantworten.“

„Wann hat sie angerufen?“

„So gegen halb drei. Das war übrigens ihr zweiter Versuch, an Informationen zu gelangen. Am Montag war sie höchstpersönlich hier. Sie behauptet, ein Medium namens Rachel Sutton hätte vor zehn Tagen eine Puppe hierhergebracht und gesagt, sie spüre negative Schwingungen, die davon ausgingen?“

Nick hängte seinen Mantel an einen Haken in der Ecke und setzte sich auf seine Schreibtischkante. „Ja. Außer das mit dem Medium. Rachel Sutton ist kein Medium und hat auch nie behauptet, eines zu sein. Ich habe die entsprechenden Formulare ausgefüllt und die Angelegenheit als erledigt betrachtet. Doch dann rief Ms Sutton mich an und sagte mir, die Presse habe Kontakt zu ihr aufgenommen. Diese Claudia Barnes hat eine Freundin von Ms Sutton belauscht, als diese ihrem Mann in einem Restaurant von der Puppe erzählte, und offensichtlich hat sie beschlossen, dass die Geschichte eine Nachricht wert ist.“

„Ich bezweifle, dass sie deinen Namen am Montag schon wusste, sonst hätte sie davon Gebrauch gemacht. Hast du eine Ahnung, wo sie ihn her hat?“

„Nein.“ Nick war sich sicher, dass Rachel ihn der Reporterin nicht genannt hatte.

„Was hast du mit der Puppe gemacht?“

Er deutete mit dem Kopf auf die kleine Papiertüte, die unter dem Tisch in der Ecke seines Büros verstaut war.

Ellen beugte sich vor und musterte die wenig ansehnliche Stoffpuppe, die sie aus der Tüte anlächelte. „Warum hast du sie behalten?“

„Das weiß ich nicht so genau. Wahrscheinlich ist sie voller Bakterien.“

„Darauf kannst du wetten.“ Ellen richtete sich wieder auf. „Ms Barnes behauptet, dass die Scene einen Artikel über übersinnliche Phänomene bringt und dass sowohl du als auch Ms Sutton darin erwähnt werden. Sie will eine Stellungnahme von uns.“

„Ich nehme doch an, du hast ‚Kein Kommentar‘ gesagt, oder?“

„Ja. Ich bin in erster Linie hier, um dich zu warnen, dass dein Name demnächst in der Zeitung stehen wird.“

„Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Aber es tut mir leid, wenn du oder das FBI dadurch Scherereien habt.“

Ellens Lippen zuckten. „Ich bin schon mit ganz anderen Sachen fertiggeworden. Und das FBI auch.“ Sie zeigte auf die Puppe. „Wenn du meinen Rat willst – du solltest Handschuhe tragen, wenn du sie wegwirfst.“

Als die Pressesprecherin ging, bemerkte Nick, dass sein Telefon blinkte. Er tippte seinen Code ein und lauschte geistesabwesend seinen Nachrichten. Bis er zu der von Rachel kam.

„Nick, ich wollte dir Bescheid sagen, dass Claudia Barnes nach unserem Mittagessen vor der Schule auf mich gewartet hat. Sie hat uns ins Restaurant gehen sehen. Ich glaube, sie ist mir gefolgt. Natürlich habe ich sie abblitzen lassen, aber später ist mir eingefallen, dass ich wahrscheinlich deinen Vornamen erwähnt habe. So hartnäckig, wie sie ist, befürchte ich, dass sie auch deinen Nachnamen herausfinden und sich mit dir in Verbindung setzen wird. Ich wollte dich warnen.“ Es folgte eine kleine Pause, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme nicht länger besorgt, sondern warm. „Und ich wollte dir für das Mittagessen danken. Es war wunderbar – der Höhepunkt meines Tages. Bis bald.“ Dann war die Nachricht zu Ende.

Wieder ein Rätsel gelöst. Wenn Rachel der Reporterin seinen Vornamen genannt hatte, war es für sie nicht schwer gewesen, ihn zu finden. Er war der einzige Nick hier und so hatten mit Sicherheit ein einfacher Anruf beim Empfang und die Bitte, sie mit ihm zu verbinden, Ms Barnes die nötigen Informationen verschafft.

Aber Rachels Fehler offenbarte, dass sie keine Erfahrung im Umgang mit der Presse hatte. Und das ließ vermuten, dass sie auch für die möglichen Nachwirkungen des Artikels nicht gut gerüstet war. Zwar nahmen, wie er ihr versichert hatte, die meisten Leute die Berichterstattung der St. Louis Scene nicht allzu ernst und das Blatt hatte keine riesige Leserschaft, aber die Geschichte würde trotzdem ein paar Spinner wie Pilze aus dem Boden schießen lassen. Darauf musste sie vorbereitet werden. Und es würde auch nicht schaden, wenn ihr jemand zur moralischen Unterstützung zur Seite stand.

Er könnte beides tun.

Außerdem hatte er so eine gute Ausrede, sich am Wochenende wieder mit ihr zu treffen. Ein Lächeln huschte über Nicks Gesicht, als er das Mobilteil des Telefons auf die Station fallen ließ.

Und das war etwas, woran er ganz und gar nichts auszusetzen hatte.