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EINS

Sie hatte es für eine geniale Idee gehalten, sich in ihrer alten Wohnung in London zu verstecken. Nur ein Idiot würde zu einer bekannten Adresse zurückkehren, hatte sie überlegt. Und da sie kein Idiot war, konnte man logischerweise daraus folgern, dass es ihnen nie in den Sinn käme, dort nach ihr zu suchen. Die Tatsache, dass sie dennoch auf der Lauer gelegen hatten, empfand sie als massive Beleidigung.

Tanith sprintete übers Dach, rannte durch eine Pfütze, so groß wie ein See, und stieß sich von der Dachkante ab. Die Gasse flog unter ihr vorbei, und die Nachtluft trieb ihr das Wasser in die Augen. Sie krachte gegen das Gebäude auf der anderen Straßenseite und hing dort erst einmal einen Moment lang. Dann stemmte sie die Füße gegen die Backsteinmauer und rannte an der Seitenwand weiter. Als eine Reihe Fenster im Weg war, übersprang sie eines nach dem anderen, flitzte noch um die Ecke und kauerte sich dort zum Atemholen hin.

Sie hatte nicht gesehen, wie Sanguin entkommen war, aber wahrscheinlich war er einfach im Fußboden versunken und hatte sich davongegraben. Es war allerdings auch gut möglich, dass sie ihn geschnappt hatten, bevor er sich wegstehlen konnte. Dann war er jetzt tot. Jemanden wie Billy-Ray Sanguin sperrte man nicht ein, das war klar. Schließlich konnte er aus jeder Zelle fliehen und sich aus jeder Art von Fesselung befreien. So jemanden brachte man um, wenn sich einem die Gelegenheit bot. Tanith hoffte, dass er noch lebte. Sie hatte noch Verwendung für ihn.

Sie kroch wieder ein Stück zurück und spähte um die Ecke. Auf den Dächern war niemand mehr zu sehen. Ihre Verfolger hatte sie abgehängt. Sie lockerte den Griff um ihr Schwert und spürte wieder das vertraute und beruhigende Gewicht der Klinge auf ihrem Rücken. Sie ging aus der Hocke und hing jetzt wieder waagerecht an der Wand. Das blonde Haar fiel ihr vor das Gesicht, als sie auf die unten vorbeifahrenden Autos schaute. Das Sicherste wäre, hinunterzugehen auf die Straße, ein Taxi anzuhalten oder die U-Bahn zu nehmen. Doch in beiden Fällen müsste sie ihr Schwert zurücklassen. Ihr Mantel lag immer noch in ihrem Apartment. Sie liebte diesen Mantel. Er verdeckte das Schwert. Sie liebte ihren Mantel, aber noch mehr liebte sie ihr Schwert. Und das konnte sie so wenig zurücklassen wie jede andere Frau ihren Arm.

Also drehte sie sich um, ging an der Wand nach oben, vergewisserte sich, dass auf dem Dach niemand auf sie wartete, und kletterte hinauf. Falls der arme Billy-Ray tot war, musste sie sich nach einem Ersatz umsehen. Das würde nicht einfach werden. Er war ein voll funktionsfähiger Soziopath und somit für alle möglichen Späße zu gebrauchen. Und sie hatte einen Plan. Um diesen Plan erfolgreich in die Tat umsetzen zu können, brauchte sie ihn. Der Plan war gut. Raffiniert. Sie war stolz darauf und freute sich auf die Umsetzung. Hoffentlich war Sanguin nicht tot.

Tanith hielt inne. Auf dem Haus gegenüber stand ein Mann. Er war ganz in Grau gekleidet, trug einen Helm mit Visier und hielt eine Sense in den Händen. Noch hatte er sie nicht gesehen. Sie machte einen Schritt nach hinten, begann zu laufen und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.

Noch ein Sensenträger. Die Klinge seiner Sense war über dem Feuer geschwärzt worden, damit sie im Licht der Straßenlaternen nicht aufblitzte.

Tanith warf sich nach hinten und spürte den Luftzug, als die Klinge an ihrem Hals vorbeizischte. Der Sensenträger landete und griff erneut an. Sie machte eine Rolle rückwärts, stand wieder auf und zog ihr Schwert. Den nächsten Hieb parierend trat sie nach ihm, doch er wich aus und drehte dabei die Sense um. Der lange Griff traf sie am Kopf. Tanith stolperte, fluchte und schwang wild ihr Schwert, um den Angreifer auf Abstand zu halten. Jetzt donnerte der Sensengriff auf ihr Knie, sie heulte auf und schaffte es gerade noch, den nächsten Hieb abzuwehren, der sonst ihren hübschen Kopf von ihrem hübschen Körper getrennt hätte.

Der andere Sensenträger setzte mit angezogenen Beinen zum Sprung über die Lücke zwischen den Gebäuden an. In diesem Moment wäre Tanith gern eine Elementezauberin gewesen. Dann hätte sie ihn mit einem Windstoß zurücktreiben können, und er wäre in den Tod gestürzt. Aber sie war nun mal keine, und er landete, und prompt hatte sie es mit zwei Sensenträgern zu tun.

Früher einmal hatten sie auf derselben Seite gekämpft, aber das war noch zu einer Zeit gewesen, als noch kein Restant sich in ihre Seele geschlängelt hatte. Das kleine dunkle Wesen hatte ihr das Gewissen gestohlen, es einfach herausgerissen, aber im Gegenzug hatte Tanith jede Menge ganz und gar ungewöhnliche Gaben erhalten, allesamt so abgedreht wie schrecklich. Eine dieser Gaben war ein nagelneues Lebensziel, und dieses Ziel erlaubte es nicht, dass die Sensenträger sie fertigmachen durften, hier, heute Abend, auf diesem Dach.

Darquise brauchte sie.

Sie kamen näher. Tanith konnte sich in ihren Visieren wie in einem Spiegel sehen. Ihre Lippen waren schwarz, und schwarze Adern überzogen ihr Gesicht, die einzigen sichtbaren Zeichen, dass sie einen Restanten in sich trug. Sie fletschte die Zähne zu einem irren Lächeln. „Kommt und versucht es, wenn ihr euch für stark genug haltet.“

Sie hielten sich ganz eindeutig für stark genug und griffen schnell und mit viel Druck an. Tanith hatte nicht einmal Zeit zu fluchen, als sie sich abrollte und auswich und verteidigte. Während die Klinge ihres Schwertes auf die Sensenblätter traf, überlegte sie, ob sie vielleicht einen neuen Schlachtruf brauchte, etwas weniger Provozierendes, vielleicht Deine Schuhe gefallen mir.

Sie tauchte zur Seite hin ab und zog ihr Schwert über den Arm des ersten Sensenträgers. Er blutete, aber nicht stark. Ihre Uniformen schützten sie weitgehend sowohl vor körperlichen wie auch vor magischen Angriffen. Im Gegensatz zu dem, was sie trug – Stiefel, braune Lederhose und eine modisch knappe Weste. Sie wich zurück, verteidigte sich, ohne nachzudenken, überließ ihrem Instinkt die Kontrolle über ihre Arme, ließ ihre Beine gehen, wohin sie wollten. Ihr Körper war ihre Lebensversicherung. Er machte auch ohne ihr Zutun seinen Job und erlaubte es ihrem Kopf, derweil zu planen und Strategien zu entwickeln und Ränke zu schmieden. An diesem Abend jedoch hatte sie den zunehmenden Mond irgendwo hinter sich, konnte vor lauter Lichtverschmutzung die Sterne nicht sehen und hatte nur noch den einen Gedanken: Wenn du das nicht bald zu Ende bringst, stirbst du.

Tanith wartete auf eine Lücke in der Abwehr des ersten Sensenträgers. Sie ließ ihr Schwert fallen, machte einen Satz nach vorn, umklammerte ihn, drückte ihren Kopf in seine Schulter, damit er ihr keinen Kopfstoß versetzen konnte, und drängte ihn zurück. Er versuchte ihren eigenen Schwung gegen sie zu verwenden, indem er sie über seine Hüfte segeln und aufs Dach krachen ließ. Doch sie klammerte sich an ihm fest, landete auf den Füßen und wandte dieselbe Wurftechnik nun bei ihm an. Die Sense fiel ihm aus der Hand, als er über ihre Hüfte flog. Dann war wieder er an der Reihe. Mit jedem Wurf kamen sie dem Rand des Daches näher. Beide kämpften sie verbissen darum, die Oberhand zu gewinnen. Vielleicht erwartete der Sensenträger, dass sie ihn ein letztes Mal zu Boden werfen und dann sofort versuchen würde, sich von ihm zu lösen, damit er sie nicht mit vom Dach ziehen konnte. Doch stattdessen klammerte sie sich fester an ihn, stieß sich ab, und sie fielen beide in die Tiefe.

In dem Moment, in dem der Sensenträger erkannte, was sie vorhatte, ließ er sie los, wedelte mit den Armen und versuchte nach etwas zu greifen, wo es nichts zu greifen gab. Tanith zog bereits die Knie an und stemmte die Füße gegen seinen Bauch. Dann ließ sie ihn los und stieß sich von ihm ab. Sie drehte sich, bekam die Dachrinne zu fassen, schwang sich hinauf und überließ ihn seinem Schicksal. Er schrie nicht auf dem Weg nach unten, und sie hörte kein Aufklatschen und keinen Aufprall, dafür Reifenquietschen und Gehupe.

Einer weniger.

Sie schlug ein Rad, um dem Angriff des zweiten Sensenträgers auszuweichen. Die gebogene Klinge kam erneut auf sie zu, sie rutschte aus, fing sich aber rasch wieder, wich stolpernd zurück und suchte nach ihrem Schwert, ihrem herrlichen Schwert. Sein Stiefel krachte seitlich gegen ihre Wade, es riss ihr beide Beine weg, und sie landete hart und unelegant auf dem Boden. Hastig drehte sie sich auf den Rücken und erstarrte. Der Sensenträger stand über ihr, die Sense nur Zentimeter von ihrem Hals entfernt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch. Der Sensenträger atmete nicht einmal besonders schwer. Ihr Körper saugte die schwarzen Venen ein und das Schwarze aus ihren Lippen. Sie blickte zu ihm auf, das Gesicht gerötet, aber makellos.

„Okay“, sagte sie, „ich ergebe mich.“

Der Sensenträger antwortete nicht. Das hatte sie auch nicht erwartet. Er umfasste die Sense fester. Gleich würde sie ihren Hals durchtrennen. Blitzschnell hob sie die Hände, packte den Stiel gleich oberhalb der Klinge und hielt sie von sich weg. Er drückte nach unten, sie nach oben. Ihre Muskeln wölbten sich: Bizeps und Trizeps und auch die dünnen Kabel ihrer Adern, die unter der Haut ihrer Unterarme arbeiteten. Sie war stark gewesen, als sie noch Tanith Low war, Magierin mit Spezialausbildung und ein rundum nettes Mädchen. Jetzt war sie Tanith Low, Magierin mit Spezialausbildung und Wirtsperson eines Restanten und noch stärker. Doch das schien nicht viel zu nützen gegen die Klinge, die ihrer Halsschlagader immer näher kam.

Um ihm einen Tritt versetzen zu können, müsste sie mit den Hüften ein Stück wegrutschen, wodurch sie nicht mehr mit derselben Kraft gegen die Sense drücken konnte, was wiederum ihren Tod bedeutete. Gelänge es ihr, die Klinge zur Seite zu schieben, müsste sie einen Arm entlasten und würde nicht mehr mit derselben Kraft gegen die Sense drücken können, was ebenfalls ihren Tod bedeutete. Die Liste der Dinge, die ihren Tod bedeuteten, wurde immer länger.

Ihr Blick heftete sich auf die Verbindung zwischen Klinge und Stiel, auf die fest zugezogene Schraube, die die Sense zusammenhielt. Tanith stieß die Luft durch die zusammengebissenen Zähne und ließ die linke Hand langsam nach unten wandern, bis sie die Schraube unter ihrer Handfläche spürte. Sie konzentrierte sich in derselben Art darauf, wie sie es mit einer Tür machte, wenn sie die Zuhaltungen im Schloss erspürte, bewegte und dahin schob, wo sie sie haben wollte. Es war dasselbe Prinzip. Sie öffnete etwas, das verschlossen war. Sie spürte, wie die Schraube sich bewegte. Spürte, wie sie in ihre Handfläche drückte.

Die Schraube löste sich, und Tanith zerlegte die Sense. Die Klinge nahm sie in die linke Hand, und den Stiel ließ sie so fallen, dass das obere Ende neben ihrem rechten Ohr auf dem Dach landete. Sie holte aus, die Klinge durchtrennte das Bein des Sensenträgers, und er kippte nach hinten, als sie aufstand. Er griff nach ihr, aber sie schlug seine Hand mit der Klinge weg, sodass seine Fingerspitzen wie Konfetti auf den Boden fielen. Mit dem nächsten Hieb köpfte sie ihn, und sein Körper sackte zusammen. Sie hörte den Helm davonrollen und sah gerade noch, wie er über die Dachkante kullerte. Sekunden später hörte sie, wie er eine Windschutzscheibe durchschlug. Von der Straße herauf kam ein entsetzter Schrei.

Sie vergewisserte sich, dass nicht noch einer sie aus dem Hinterhalt anspringen würde, ließ das Sensenblatt fallen, hob ihr Schwert auf und steckte es in die Scheide. Dann machte sie sich auf die Suche nach Sanguin.

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ZWEI

Sanguin war zum Apartment zurückgegangen und hatte Taniths Mantel geholt. Er wusste schließlich, wie sehr sie diesen Mantel liebte. Auf dem Rückweg hatte er sich einen Gefangenen gegriffen. Der Mann wimmerte und weinte ein wenig, verhielt sich ansonsten aber eher untätig, vor allem als Sanguin ihm sein Rasiermesser an die Kehle drückte.

Weiter vorn, da wo die Gasse in die hell erleuchtete Straße mündete, eilte ein Zauberer vorbei. Er hieß Clagge, redete in sein Handy und war nach Kräften dabei, die Verfolgung vom Boden aus zu koordinieren. Sanguin wäre am liebsten hinter ihm aus der Gasse getreten und hätte ihm seinen mageren Hals gebrochen. Nur die Tatsache, dass es auf der Straße von Zauberern und Sensenträgern in Zivil nur so wimmelte, hielt ihn davon ab. Der Zauberer, den er gerade in den Fingern hatte, dieses arme wimmernde Würstchen, war lediglich ein kleines Rad im Sanktuariumsgetriebe. Nur aus diesem Grund hatte Sanguin ihn noch nicht umgebracht. Und weil er gut als menschlicher Schutzschild dienen konnte, sollte er einen brauchen.

Sanguin ging weiter in die Gasse hinein, weg von der Straße. Seinen Gefangenen schleifte er mit. „Wie heißt du?“, fragte er.

„Bitte bringen Sie mich nicht um“, sprudelte der Mann heraus.

„Hast du was dagegen, wenn ich dich Jethro nenne? Du siehst nicht unbedingt aus wie ein Jethro, aber ich hab mal einen gekannt, der so hieß. Das war in Texas. Schon mal in Texas gewesen, Jethro?“

„Nein, ich … noch nie.“

„Ich komme aus Ost-Texas. Aber Jethro, der andere Jethro, stammte aus West-Texas. Dort ist es trockener. Mir gefällt der Osten, so um Nadoches herum, besser. Schon mal von Nadoches gehört?“

„Nein.“

„Macht nichts. Ich nenne dich jedenfalls Jethro, weil ich genau diese Klinge auch dem anderen Jethro einmal an die Kehle gehalten habe und er sich genau angehört hat wie du jetzt. Als hätte er Angst, ich tät gleich anfangen zu schnippeln. Weißt du, was mit ihm passiert ist, Jethro?“

„Sie … Sie haben ihn laufen lassen?“

Sanguin lachte in sich hinein. „Ich mag dich, Junge. Du hast Optimismus in den Knochen. Ich mag dich so, dass ich dir nicht verrate, was ich mit dem armen Jethro gemacht hab, mit dem ersten Jethro. Er ruhe in Frieden. Mögen sie irgendwann seinen Kopf finden. Du darfst weiter an dem kleinen Flämmchen Hoffnung, das in dir brennt, festhalten und glauben, dass ich ihn laufen ließ und er sein Leben glücklich und zufrieden zu Ende lebte.“

„D-danke …“

„Er hätte es allerdings ohne Kopf zu Ende leben müssen, was sicher nicht ganz einfach gewesen wäre, aber ich lass den Schluss dieser kleinen Geschichte für dich offen. Weil ich dich mag. Weil ich dich in dem Glauben lassen will, du könntest das überleben, so lächerlich es auch scheint. Du bist zum ersten Mal draußen, nicht wahr?“

„Bitte?“

„Auf einer Mission, Junge. Du siehst mir nicht aus wie der kampfgestählte Typ.“

„Nein“, antwortete Jethro, „das bin ich nicht. Ich … Normalerweise sitze ich den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch.“

„Das heißt, sie haben dich bei der Beförderung schon ein paarmal übergangen, ja? Bis du dir schließlich gedacht hast, dass es jetzt an der Zeit sei, die Karriereleiter hinaufzusteigen und einen verantwortungsvollen Posten im Sanktuarium zu übernehmen. Liege ich damit ungefähr richtig?“

„Ja. Ja, so war es.“

„Du hast dich also für diese Mission beworben, ja? Du hast dir ausgerechnet, dass du dich bei so vielen Agenten und Sensenträgern ringsherum immer schön am Rand des Geschehens halten könntest. Richtig?“

„Richtig“, antwortete Jethro schluchzend.

„Du hast dir gedacht, hey, es sind nur zwei Leute. Nur zwei Flüchtige, die wir festnehmen müssen. Und dass du nicht wirklich was tun müsstest, die Sache aber trotzdem in deine Beurteilung einfließen würde, ja? Dass du trotzdem daran beteiligt wärst. Dich trotzdem im Ruhm sonnen könntest.“

„Bitte bringen Sie mich nicht um, Mr Sanguin.“

„Ruinier mir den Schluss nicht“, fauchte Sanguin und schleuderte Jethro gegen die Wand. Jethro legte schützend die Arme über den Kopf, da er einen Angriff erwartete. Doch Sanguin stand einfach nur da.

„Was machst du im Sanktuarium?“, fragte er.

„Verschiedenes.“ Jethro hielt die Augen gesenkt. „Verwaltungsarbeit. Nichts Ruhmreiches oder … Gefährliches.“

„Weißt du, was ich gehört hab? Ich hab gehört, ihr wollt dem irischen Sanktuarium den Krieg erklären. Das hab ich gehört. Ich hab gehört, dass der englische Rat und der deutsche Rat und der amerikanische und der französische Rat genauso wie die meisten anderen Räte vorhaben, dort einzumarschieren und die Macht an sich zu reißen.“

„Davon … davon weiß ich nichts.“

„Nein? Schade. Es wäre etwas gewesen, über das wir uns hätten unterhalten können, um das Unvermeidliche noch etwas hinauszuschieben.“

Jethro schluckte. „Das Unvermeidliche?“

Sanguin schob seine Sonnenbrille ein Stück weiter den Nasenrücken hinauf. „Scheint so, als sei hier seit geraumer Zeit schrecklich viel los, und das nicht nur unseretwegen. Willst du mir sagen, was da läuft?“

„Ich … ich weiß es nicht.“

„Nur zu deiner Information: Jetzt zu lügen, wäre nicht unbedingt der beste Zug, den du machen könntest.“

Jethro zögerte noch kurz, dann stammelte er: „Es geht um einen … Da ist …“

Sanguin seufzte. „Ich will’s dir leicht machen. Es hat was mit einem Gefangenen zu tun, stimmt’s?“

Jethro nickte. „Mit einem entflohenen Gefangenen.“

„So ein Zufall aber auch. Das ist mir die liebste Sorte. Der entflohene Gefangene ist nicht zufällig Springer-Jack. Oder?“

„Sie … Sie wissen davon?“

„Natürlich wissen wir davon. Weshalb sind wir wohl in der Stadt, was meinst du? Aber ein Kerl wie du, Jethro, der würde sich doch wenn möglich auf dem Laufenden halten, was den Fortgang der Suche nach dem entflohenen Gefangenen betrifft, oder nicht?“

„Das würde er. Ich meine, das würde ich. Ja. Bitte bringen Sie mich nicht um.“

„Wir wollen uns nicht selbst vorgreifen. Jack ist also auf der Flucht, und ihr kreist ihn ein. Ich will wissen, wo sich die Suche konzentriert. Und versuch erst gar nicht zu lügen. Wie du siehst, sind mir einige Fakten bereits bekannt. Du hältst dich also besser an die Wahrheit, es sei denn, du willst, dass ich schlechte Laune bekomme.“

Jethro nickte. Plötzlich hatte er es eilig, alles auszuplaudern. „Das East End. Spitalfields. Wir haben das ganze Viertel abgeriegelt. Nichts kommt ohne unser Wissen an dem Sperrgürtel vorbei. Er sitzt in der Falle. Es gibt keinen Ausweg für ihn.“

Sanguin grinste. „Jethro, du warst ein überaus hilfreicher Gefangener.“

„Werden Sie … werden Sie mich jetzt gehen lassen?“

Sanguins Grinsen wurde breiter. „Wo denkst du hin!“

Jethro, der zweite Jethro, lag zwischen dem Unrat und Abfall Londons tot in der Gasse. Der Boden unter Sanguins Füßen bekam Risse und zerbröckelte, und Sanguin versank in den kalten Armen der Erde. Er grub sich hinunter in die rabenschwarze Nacht, in eine Dunkelheit, die kein menschliches Auge durchdringen konnte. Er beobachtete, wie Erde und Gestein sich unter ihm verschoben und die einzelnen Krumen und Bröckchen sich zu Strömen verbanden. Sie schlängelten um ihn herum wie ein Schwarm Fische, während er immer tiefer sank.

Er hielt einen Augenblick inne und lauschte dem Geräusch der Vibrationen, die lauter als jede Stimme zu ihm sprachen. Dann ging er waagerecht nach links weiter. Er wurde langsamer, als die Erde sich teilte, sich wie eine Tür für ihn öffnete und grelles Licht auf seine Sonnenbrille fiel. Da Sanguin keine Augen hatte, die schmerzen könnten, ging er weiter, betrat den Bahnsteig und spürte, wie sich die Wand hinter ihm wieder schloss. Der Bahnsteig war fast leer; lediglich fünf Personen warteten hier, und keine hatte sein Erscheinen bemerkt.

Das Rumpeln unter seinen Füßen verstärkte sich, sagte ihm, wie weit der Zug noch entfernt war und wie schnell er fuhr. Dann hörte er ihn näher kommen, und Augenblicke später sah er ihn auch auftauchen und hörte das Kreischen der Bremsen. Die Türen öffneten sich. Leute stiegen aus, Leute stiegen ein. Sanguin schnippte ein paar Erdkrümel von seiner Schulter und schlüpfte durch die Tür, bevor sie sich wieder schloss. Der Waggon war leer, und er setzte sich.

Um Tanith machte er sich keine Sorgen. Sie würde entkommen. Dessen war er sich sicher. Wahrscheinlich hatte sie die Sensenträger ganz schön an der Nase herumgeführt, war dann verschwunden und hatte dabei noch spöttisch gelacht. Bald würde er sie treffen, sie würden sich in die Arme fallen und küssen. Er würde ihr übers Haar streichen, und sie würde ihm erzählen, wie viele Sensenträger sie umgebracht hatte. Sie war genau so, wie er sich eine Frau immer gewünscht hatte. Schön, klug, stark und ein bisschen verrückt.

Sicher, sie hatte sich mit Leib und Seele dieser Darquise verschrieben, dieser Frau, von der sämtliche Hellseher geträumt hatten, dieser Frau, die das Ende der Welt herbeiführen würde. Tanith hatte einen Blick in die Zukunft getan, und der Restant in ihr freute sich auf die kommende Vernichtung und Zerstörung. War es normal, jemanden zu lieben, der mithelfen wollte, die Erde zu vernichten? Sanguin gab offen zu, dass es wahrscheinlich nicht normal war. Und er wusste auch, dass sie ihm noch etwas verheimlichte, und zwar, wer diese Darquise war und woher sie kommen würde. Mit diesem winzigen Fitzelchen Information hielt sie hinterm Berg. Er ließ es ihr durchgehen. Es machte ihm nichts aus. Die Leute hatten schließlich alle irgendwelche Geheimnisse. Er hatte auch Geheimnisse. Aber abgesehen davon waren sie wie füreinander geschaffen. Seelenverwandte. Komplizen.

Und wenn diese Eskapade vorbei war, würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten wollte.

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DREI

Die Stufen nach unten waren aus Stein, alt und kalt und rissig. Die Treppe war schmal, und die Wände zu beiden Seiten wanden sich mit ihr hinunter in die Dunkelheit. Die Eltern des Mädchens sprachen nicht viel. Ihr Vater ging voraus, die Mutter hinterher und das Mädchen dazwischen. Die Luft war eisig. Es war totenstill. Seit sie die Docks erreicht hatten, hatte ihre Mutter sie nicht mehr angeschaut. Das Mädchen wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte.

Am Fuß der Treppe lag ein Flur. In ihren Augen war es ein Flur wie jeder andere auch. Eben und fest und breit, wenn auch genauso alt und kalt wie die Stufen und die Wände und die niedrige Decke, die dafür sorgte, dass das Erdreich sie nicht erdrückte. Das Mädchen war nicht gern unter der Erde. Schon jetzt sehnte sie sich nach der Sonne.

Ihr Vater führte sie zu einem Durchgang, bog rechts ab und ging weiter, bog links ab und ging wieder weiter. So marschierten sie eine ganze Weile, und das Mädchen wusste schon bald nicht mehr, welchen Weg sie gekommen waren. Sie sah nur noch zischende Fackeln in Wandhalterungen und magere Flämmchen in der Dunkelheit.

„Warte hier“, sagte ihr Vater, als sie eine leere Kammer erreicht hatten. Sie tat, wie geheißen, weil das so ihre Art war, und schaute ihren Eltern nach, als sie durch eine andere Tür verschwanden. Ihr Vater ging sehr aufrecht und wirkte plötzlich so zerbrechlich. Ihre Mutter blickte nicht zurück.

Das Mädchen stand in der Dunkelheit und wartete.

Und wartete noch ein Weilchen.

Schließlich kam ein Mann herein. Er trug verschlissene Kleider und kaputte Sandalen.

„Hallo“, grüßte er.

Schon an diesem Wort hörte man, dass er kein Engländer war. Das Mädchen war noch nie einem Ausländer begegnet.

„Hallo“, grüßte sie zurück und fügte dann hinzu: „Freut mich, Sie kennenzulernen“, weil man das zu Fremden bei der ersten Begegnung so sagte.

Er stand da und schaute sie an, und das Mädchen wartete darauf, dass er wieder das Wort ergriff. Sie war noch ein Kind, und im Beisein von Erwachsenen mussten Kinder warten, bis diese ein Gespräch begannen. In diesem Punkt hatte ihr Vater keinen Spaß verstanden, und sie hatte ihre Lektion gelernt.

„Hast du Fragen?“, erkundigte sich der Mann in dieser seltsam abgehackten Sprechweise.

„Ja. Danke. Darf ich fragen, wo ich bin?“

„Das weißt du nicht?“

„Ich bin mit meinen Eltern hier. Sie …“

„Deine Eltern sind weg“, unterbrach der Mann sie. „Sie sind gegangen und haben dich hier zurückgelassen. Von jetzt an wirst du hier wohnen.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Sie würden mich nie zurücklassen.“

„Das haben sie aber, du kannst es mir ruhig glauben.“

„Entschuldigung, aber Sie irren sich. Meine Eltern würden mich nicht zurücklassen.“

„Vor einer Stunde sind sie wieder an Bord des Schiffes gegangen. Das hier ist jetzt dein Zuhause.“

Er log. Warum log er? Von ihrem Vater hatte das Mädchen ihr gutes Benehmen. Ihre Mutter hatte ihr andere Eigenschaften vererbt.

„Sagen Sie mir, wo sie sind, oder Sie werden Schwierigkeiten bekommen“, verlangte sie in einem Ton, der keine weitere Diskussion zuließ. „Mein Bruder wird auch nach mir suchen. Mein Bruder ist groß und stark, und er renkt Ihnen die Arme aus, wenn er glaubt, er könnte mich damit zum Lächeln bringen.“

Der Mann setzte sich auf eine Stufe. Er hatte ein gewöhnliches Gesicht. Nicht schön, aber auch nicht hässlich. Lediglich ein Gesicht wie Millionen andere. Er hatte dunkles grau meliertes Haar und Geheimratsecken. Seine Nase war lang, seine Augen blickten freundlich, und seine Mundwinkel waren nach oben gebogen. „Haben sie dir einen Namen gegeben?“, fragte er. „Nein? Auch keinen Spitznamen? Nun, das könnte in den nächsten Jahren etwas mühsam werden, aber früher oder später wirst du dir selbst einen Namen geben. Dann wissen wir, wie wir dich nennen sollen.“

„Ich werde die nächsten Jahre nicht hierbleiben“, erwiderte das Mädchen. Die Zeit des guten Benehmens war eindeutig vorbei. „Ich werde überhaupt nicht hierbleiben.“

Der Mann fuhr fort, als hätte er sie gar nicht gehört. „Ich heiße Quoneel. Das ist ein alter Name, und er stammt aus einer toten Sprache, aber ich habe ihn seiner Bedeutung wegen angenommen. Jetzt ist es mein Name, und er beschützt mich. Weißt du, wie Namen funktionieren?“

„Natürlich. Ich bin acht, nicht dumm.“

„Und du besitzt magische Kräfte, nehme ich an?“

„Jede Menge. Deshalb sagen Sie mir jetzt, wo meine Eltern sind, oder ich verbrenne Sie auf der Stelle.“ Sie schnippte mit den Fingern, und eine Flamme flackerte in ihrer Hand.

Quoneel lächelte. „Du bist tatsächlich sehr energisch, Kind. Deine Mutter hatte recht.“

„Wo ist sie?“

„Weg, wie ich dir gesagt habe. Ich habe dich nicht angelogen. Sie haben dich hierhergebracht und sind gegangen, so wie sie früher deinen Bruder hergebracht haben.“

Das Mädchen ließ die Flamme erlöschen. „Sie kennen meinen Bruder?“

„Ich habe ihn ausgebildet. Wir alle. So wie wir dich ausbilden werden. Du wirst hier leben und hier trainieren, und wenn das Aufwallen deiner Kräfte einsetzt, wirst du als eine von uns wieder gehen.“

„Wer sind Sie?“

„Ich bin Quoneel.“

„Aber was hat das alles zu bedeuten? Wer werde ich sein, wenn ich wieder gehe?“

„Wer du sein wirst, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was du sein wirst … falls du überlebst. Wenn du so stark bist, wie es den Anschein hat, wirst du ein Messer in der Dunkelheit sein. Unsichtbar. Nicht zu fassen. Nicht aufzuhalten. Du wirst so schnell und so stark sein wie dein Bruder, so geschickt und so tödlich. Willst du das, kleines Mädchen?“

Es war, als hätte er in ihre Träume geschaut, ihre geheimsten Gedanken gelesen. Sie merkte, wie sie nickte.

„Gut.“ Quoneel erhob sich. „Dein Training beginnt heute.“

Die anderen Kinder nannten sie Hochwohlgeboren. Sie benutzten den Namen als Waffe, um sie zu verletzen. Eine von ihnen, ein Mädchen mit stumpfem braunem Haar und spitzer, scharfer Zunge, war zu rachsüchtig, als dass man sich mit ihr anlegte, und so scharten sich die anderen um sie. Sie war die Erste, die sich einen Namen gab, und sie entschied sich für Avaunt.

Quoneel gab dem Mädchen einmal Einzelunterricht. „Weißt du, weshalb sie dich Hochwohlgeboren nennen?“, fragte er.

„Weil sie mich nicht mögen“, antwortete das Mädchen. Das Übungsschwert lag schwer in ihren Händen.

„Und warum mögen sie dich nicht?“

„Weil Avaunt mich nicht mag.“

„Und warum mag Avaunt dich nicht?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern und griff an. Quoneel wich aus und versetzte ihr einen Hieb in die Kniekehlen.

„Avaunt mag dich nicht, weil du so redest, wie du redest, weil du so aussiehst, wie du aussiehst, und so gehst, wie du gehst.“

Das Mädchen machte ein finsteres Gesicht und rieb sich die Beine. „Das scheint ziemlich viel auf einmal.“

„Ja, nicht wahr? Du kannst dich gut ausdrücken, und das lässt auf eine gute Kinderstube schließen, auf eine gute Ausbildung und auf Privilegien. Du bist hübsch, was bedeutet, dass du Männern und Frauen auffällst. Dein Gang drückt Selbstbewusstsein aus, was bedeutet, dass die Leute dich ernst nehmen. Das alles sind bewundernswerte Eigenschaften für eine Dame. Aber wir bilden dich hier nicht zur Dame aus. Angriff.“

Das Mädchen griff erneut an, passte aber auf, dass sie nicht in dieselbe Falle wie vorhin tappte. Dafür tappte sie in eine ganz andere Falle, eine, die allerdings genauso schmerzhaft war.

„Wir sind die Messer in der Dunkelheit“, erklärte Quoneel. „Wir bewegen uns unbemerkt unter Sterblichen wie unter Zauberern. Die Privilegierten, die Klugen und Schönen, können nicht tun, was wir tun. Du musst dein Erscheinungsbild verändern. Du musst dein Selbstvertrauen ablegen. Du musst dein sicheres Auftreten ablegen.“

Sein Schwert kam auf ihren Kopf zu. Sie blockte ab, drehte sich und führte einen Hieb, doch er stand natürlich nicht mehr da, wo er eben noch gestanden hatte. Er gab ihr einen Tritt in den Hintern, und sie stolperte in die Mitte des Raumes.

„Sie nennen dich Hochwohlgeboren, weil du wie eine Adlige wirkst und deshalb auffallen wirst“, erläuterte Quoneel. „Du musst lernen, wie man nuschelt, wie man schlurft, wie man die Schultern hängen lässt. Dein Blick sollte die ganze Zeit verschämt nach unten gerichtet sein. Man muss dich sofort wieder vergessen. Für Sterbliche wie Zauberer bist du ein Niemand. Du bist die Rangniedrigere, hast ihre Aufmerksamkeit nicht verdient.“

„Jawohl, Meister Quoneel.“

„Worauf wartest du? Angriff!“

Und so griff sie an.

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VIER

Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Überfall lag in der Mannschaft, die für den Job zusammengestellt wurde. Das war die erste Regel des Stehlens. Die zweite Regel lautete selbstverständlich, dass Diebe von Natur aus ein unzuverlässiger Haufen waren – und wenn die Mitglieder der Mannschaft sich nicht aufeinander verlassen konnten, worin lag dann der Sinn einer Mannschaft?

Tanith glaubte, die Antwort darauf zu wissen. Sanguin war sich nicht so sicher.

„Das hat man alles schon versucht“, erklärte er. Er saß an dem kleinen Tisch in der kleinen Küche. „Ich und mein Daddy haben es versucht. Wir haben uns ein paar Gleichgesinnte gesucht und haben unser Möglichstes getan, um alle anderen umzubringen, dich eingeschlossen. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber du scheinst trotz all unserer Bemühungen quicklebendig zu sein.“

Tanith stand mit einem Becher Kaffee am Fenster. Die konspirative Wohnung war trostlos und nur spärlich möbliert, aber wenigstens würden sie hier in nächster Zeit nicht von einer Armee Sensenträger überrascht werden. „Euer Club der Rächer hatte einen grundlegenden Fehler“, erklärte sie. „Ihr wolltet alle das Gleiche.“

„Weshalb war das ein Fehler? Er hat alle zusammengeführt, vereint in einem gemeinsamen Ziel.“

„Und wie lange blieben sie zusammen? Am Ende habt ihr euch alle gegenseitig betrogen, weil jeder Walküre oder Skulduggery oder Thurid Guild umbringen wollte. Dein kleiner Club hat sich aufgelöst, Billy-Ray. Ein gemeinsames Ziel zu haben, ist nicht immer gut.“

„Und du hast die Antwort auf dieses Dilemma, nehme ich an.“

Lächelnd drehte sie sich zu ihm um. Er hatte seine Sonnenbrille abgenommen, und sie blickte in die dunklen Löcher, in denen seine Augen hätten sein sollen. „Selbstverständlich habe ich die. Der Trick ist folgender: Jeder muss etwas anderes haben wollen, das heißt, alle müssen aus ihrem ureigensten Grund mitmachen.“

„Was bedeutet, dass wir für jeden von ihnen etwas bereithalten müssen.“

„Und was habe ich wohl in den vergangenen Wochen getan? Was glaubst du? Ich habe zusammengesucht, was wir jedem Einzelnen als Anreiz bieten könnten. Wirklich, Billy-Ray, du musst einfach nur akzeptieren, dass ich genau weiß, was ich tue.“

Er lachte. „Oh, das weiß ich doch längst, Darling. Du hast in letzter Zeit bewiesen, dass du ein ganz gerissenes Luder bist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin dir in allem unterlegen, und das weißt du. Dann soll also Springer-Jack als erstes Mitglied unserer Mannschaft angeworben werden, ja?“

„Nein. Vorher reden wir noch mit einem alten Freund von ihm. Er ist auch ein alter Freund von dir.“

Sanguins Lächeln wurde säuerlich. „Oh, Mist. Nicht er. Du weißt, wie sehr mir der Typ Angst macht.“

„Dusk ist ein harmloses kleines Hündchen, wenn man ihn erst besser kennt.“

„Dusk ist ein Vampir. Daran ist nichts Harmloses und auch nichts Kleines oder Hündchenhaftes.“

Jetzt zuckte Tanith mit den Schultern. „Dann ist er eben unser tollwütiger, blutrünstiger Kampfhund. Jedenfalls wird er geknuddelt. Will sonst noch jemand geknuddelt werden? Jemand hier in diesem Raum vielleicht?“

„Du glaubst hoffentlich nicht, dass du mich mit der Aussicht auf ein bisschen Knuddeln in jedem Punkt umstimmen kannst.“

Tanith setzte eine traurige Miene auf und schaute wieder aus dem Fenster. „Schade“, meinte sie.

Einen Augenblick später schlang Sanguin die Arme um sie. „Nur dieses eine Mal“, sagte er, und sie lachte.

Die Vampire betrachteten die Knochen des Dinosauriers, und Dusk fragte sich, wie es wohl gewesen sein musste, ein so herrliches Tier umzubringen. Sicherlich eine größere Herausforderung, als sie die Sterblichen darstellten. Er beobachtete sie, wie sie von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück eilten und dabei entweder ihren plärrenden Kleinen nachjagten oder sie hinter sich herschleiften. Jedes Geräusch, das sie machten, wurde in den riesigen Museumsräumen noch verstärkt.

„Der Junge?“, fragte Isara.

„Tot“, antwortete Dusk. „Schon seit einem Jahr.“

Isara nickte. Sonst rührte sie sich nicht. Kein Wort kam über ihre Lippen. Ihre Miene zeigte keine Regung. Selbst ihre Augen blickten gelassen. Doch Dusk wusste, dass in ihr Gefühle tobten, die ihm unbekannt waren. Liebe und Trauer und Sorge. Er kannte nur ein Gefühl, und das war Wut. Und die empfand sie auch.

„Hast du ihn umgebracht?“, fragte sie.

„Natürlich nicht.“

Die Andeutung eines Lächelns. „Natürlich nicht. Du würdest nicht gegen das Gesetz verstoßen, auch nicht als Strafe für jemanden, der genau das getan hat. Wie ist er dann gestorben?“

„Er hatte wieder eine ungesunde Sympathie für ein Mädchen entwickelt“, erwiderte Dusk. „Und dieses Mädchen erwies sich als zu stark für ihn. Sie hat ihn in Salzwasser ertränkt.“

„Ihr Name?“

„Spielt er eine Rolle?“

„Wahrscheinlich nicht. Der Junge ist tot, alles andere interessiert mich nicht. Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan. Für dich muss es doch auch eine gewisse Befriedigung sein.“

Er blickte sie an. „Ach ja?“

„Hrishi war dein einziger Freund. Als du ihn in Geschäfte verwickelt hast, mit denen er eigentlich nichts zu tun gehabt hätte, brach der Junge das Gesetz und ihm den Hals. Du musst dich doch in gewisser Weise verantwortlich fühlen für das, was passiert ist, oder nicht?“

„Nein“, antwortete Dusk. „Hrishi wusste, dass der Junge in seinem jugendlichen Alter impulsiv und gewalttätig war, und trotzdem hat er ihm den Rücken zugewandt. Hrishi hat für seine Dummheit bezahlt.“

„Überlege dir gut, wie du über ihn sprichst“, warnte Isara. Als sie Dusk jetzt anschaute, waren Feuer und Eis in ihrem Blick. „Es ist deine Schuld, dass er tot ist. Du hättest den Jungen umbringen müssen, als du ihn entdeckt hast.“

„Das Gesetz …“

„Kein Mensch hätte es erfahren. Der Junge stellte eine Gefahr für uns alle dar. Er hat sämtliche Frauen, in die er sich verliebt hat, belästigt, gefoltert und ermordet. Du hättest ihn sofort umbringen sollen, als du gemerkt hast, was er war. Hrishis Blut klebt an deinen Händen.“

„Möglich.“

„Macht dir das überhaupt nichts aus?“

Dusk sah keinen Sinn darin, Isaras Zorn noch weiter anzustacheln, deshalb schwieg er. Kurz darauf drehte sie sich um und ging davon.

Er betrachtete noch eine Weile die Dinosaurierknochen, dann verließ auch er das Museum. Die Sonne wärmte seine Haut, als er nach Hause ging. Tanith Low saß in seinem Wohnzimmer auf dem Käfig, und Billy-Ray Sanguin stand daneben.

„Hübsche Wohnung“, stellte Tanith fest. „Ich muss zugeben, dass ich nicht den typischen Vorstadtbewohner in dir gesehen habe. In meiner Vorstellung warst du irgendwo in einer hübschen Krypta zu Hause, umgeben von Kerzen und Bildern. Der Käfig gibt dem Ganzen eine hübsche Note. Er hält den Raum zusammen.“

Er hatte natürlich gehört, was geschehen war. Er hatte gehört, dass ein Restant sich in Taniths Gehirn und Körper häuslich eingerichtet hatte. Deshalb mochte er sie aber immer noch nicht.

„Wir sind hier, weil wir dir einen Vorschlag unterbreiten wollen“, meldete sich Sanguin.

„Ich bin nicht interessiert.“

„Wir stellen eine Mannschaft zusammen“, fuhr Tanith fort.

„Das hat noch nie funktioniert.“

„Wir brauchen deine Hilfe.“