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Christian Seiler

André Heller.
Feuerkopf

Die Biografie

C. Bertelsmann

2. Auflage
© 2012 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: R·M·E Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
auf der Basis eines Entwurfs von Stefan Fuhrer unter Verwendung
einer Fotografie (Titel) von © Peter Rigaud und eines Gemäldes (Rückseite)
von © Christian Ludwig Attersee
Das Foto auf dem Einband (André Heller mit seinem Sohn)
stammt von Martin Vukovits
Gestaltung der Bildteile: Stefan Fuhrer
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-06844-8

Vorwort

Das ganze Leben ist ein ewiges
Wiederanfangen.

Hugo von Hofmannsthal

Die Vormittage gehören André Heller allein. An Vormittagen nimmt er keine Anrufe entgegen, vereinbart er keine Termine, sagt nicht Bescheid, wo er ist. Manchmal arbeitet er, manchmal liest er ein Buch, manchmal, wenn es abends spät geworden ist oder der Schlaf sich nicht wie gewünscht einstellen wollte, bleibt er im Bett. Die Nächte, sagt Heller, sind ruhiger geworden, seit er das so hält. Selbst wenn er, ein schweres Kissen auf den Füßen, auf dem Rücken liegt und an die Decke seines Schlafzimmers starrt, weiß er, dass er den nächsten Tag erst beginnen muss, wenn er sich ausgeschlafen und ein Bad genommen hat, seine Gedanken ordnen konnte und bereit ist, mit der Arbeit zu beginnen. An den Vormittagen ist André Heller eine private Person, aber das ist natürlich nur die andere Seite der Geschichte.

Dieses Buch ist die Biografie des Mannes der vielen Eigenschaften. Der schlampige Ausdruck »Multimediakünstler«, mit dem Franz André Heller oft bedacht wird, resultiert aus dem Unvermögen, seine vielen Talente in einen passenden Begriff zu packen. Natürlich ist Heller kein Multimediakünstler oder jedenfalls nicht das, was landläufig darunter verstanden wird, nämlich jemand, der irgendwas mit Video und Tonspuren macht. Das macht Heller notfalls auch, aber nicht nur. Er ist Schriftsteller und Theaterautor, Regisseur und Bühnenbildner, Maler und Impresario, Dokumentarfilmer und Schauspieler, Zirkusdirektor und Sänger, politischer Aktivist und Lebensberater, Weltreisender und Gartenkünstler, Showdirigent und Geschäftsmann, Ausstellungsmacher und Bildhauer, Komponist und Feuerwerker, Vater und Liebhaber und darüber hinaus noch so manches, was sich aus der Kombination oder Neuerfindung all dieser Berufe und Leidenschaften ergibt.

Die Lebensbeschreibung so einer Person gerät zwangsläufig in dramaturgische Turbulenzen. André Hellers Biografie verweigert sich der natürlichen Ordnung der Chronologie. Es gab und gibt Zeiten in Hellers Leben, die so dicht mit Aktivitäten belegt sind, dass es einem Geschicklichkeitsspiel gleichkommt, die Fäden zu entwirren und den Resultaten, zu denen sie führen, zuzuordnen.

Die Dramaturgie dieser Biografie ist dem Überschwang an Resultaten, oder wie Heller gern sagt, »Verwirklichungen« geschuldet. Ihre Kapitel fassen eher Themenbereiche als genaue Zeitabschnitte zusammen. Manchmal – wie in den Abschnitten über Musik, Literatur oder Politik werden Entwicklungen so dargestellt, dass die Draufsicht Zusammenhänge klarmacht und dafür das darunterliegende Raster der Chronologie sprengt. Es empfiehlt sich, die Biografie von vorne nach hinten zu lesen, aber genauso gut ist es möglich, sich der Person André Heller nach Themengebieten zu nähern. Wobei: kaum ein Thema steht für sich allein, und Heller ist nur in der Gesamtheit seiner unzähligen Hervorbringungen und Motive wirklich zu verstehen.

André Heller ist ein Mensch, der sich sein Leben nach den eigenen Vorlieben möbliert. In seinen Wohnsitzen ist das buchstäblich zu sehen. Heller besitzt drei. Ein Palais in Wien, eine Villa am Gardasee, einen Landsitz in Marokko.

In Wien zog Heller Ende der neunziger Jahre von Hietzing, wo er in der von Adolf Loos umgebauten und eingerichteten Familienvilla in der Elßlergasse gewohnt hatte, in den ersten Bezirk, wo er im Palais Windischgrätz die Beletage übernahm und nach seinen Bedürfnissen umgestaltete. Der über hundert Quadratmeter große Salon wirkt auf den ersten Blick wie ein Museum. An den Wänden zahlreiche Bilder unterschiedlicher Epochen, ein Selbstporträt von Picasso, ein Ölbild von Braque, ein besonders schöner Chagall, ein Basquiat, ein Navratil, ein Hockney, ein Walla, eine meterhohe Vitrine, in der eine Skulptur von Keith Haring steht, Tierfiguren, Kultgegenstände, afrikanische Möbel, bodenlange, seidene Vorhänge, Unmengen von Büchern. Hier trifft Heller seine Gäste, Freunde und Mitarbeiter, hält Besprechungen ab, gibt Interviews, führt seine Geschäfte.

Die prächtige Ausstattung der Wohnung ist einerseits eine Visitenkarte Hellers, mit der er jedem Besucher sofort vermitteln kann, wer ihn da empfängt: ein Gastgeber, dem man Weltläufigkeit und Geschmack nicht buchstabieren muss. Andererseits hat Heller ein so starkes Bedürfnis nach der von ihm selbst geprägten Ästhetik, dass er sich nur im Ausnahmefall an andere Orte begibt, die seinen Vorstellungen von Licht, Geruch, Diskretion und Großzügigkeit nicht entsprechen. Oft huscht er nachmittags in eines der nahe gelegenen Restaurants, um im leeren Lokal einen Fisch oder einen Teller Pasta zu essen, und kehrt im Anschluss daran sofort nach Hause zurück. Die eklektizistische, pittoreske Pracht, mit der er sich umhüllt, ist sein Kokon.

Auch in Gardone, wo Heller eine Villa im venezianischen Stil bewohnt, wurde fast das gesamte Erdgeschoss in einen Salon verwandelt, wo Heller wie in Wien Gäste und Geschäftspartner empfängt. In Gardone sind die Tage durch die Mahlzeiten, die von der Köchin bereitet werden, getaktet. Punkt vierzehn Uhr gibt es Mittagessen, eine Glocke läutet die stets zahlreich anwesenden Gäste an den großen Tisch neben der Küche oder, wenn das Wetter danach ist, in den Garten unter das Sonnendach. Heller lässt mit Vorliebe Vor- und Hauptspeisen gleichzeitig servieren, ihm gefällt das appetitliche Durcheinander, wie man es von arabischen Tischen kennt. Er geht großzügig mit Einladungen nach Gardone um, so dass sich beim Essen oft eine unkonventionelle Mischung von Menschen trifft: Künstler, Politiker, Unternehmer, Esoteriker, Freunde von Freunden, Runden, die so vielfältig sind wie die Interessen André Hellers.

In Marrakesch hat er ein ganzes Haus bauen lassen, das den Gästen in seinem neuen, riesigen Garten als Salon dienen kann. Vor den Gästehäusern, die wie ein kleines Dorf zusammengewürfelt sind, befindet sich so etwas wie ein Dorfplatz, mit Steinen gepflastert, in den Stufen eingelassen sind, wo abends Musikanten sitzen und den Platz vor der weiten Landschaft mit orientalischen Melodien füllen.

Hellers Wohnsitze ähneln einander, weil sie an allen drei Orten dieselben Funktionen erfüllen. Überall gibt es mehr zu schauen, als man sich bei einem einzigen Besuch merken könnte, nur der Maßstab ist unterschiedlich. Was in Gardone schon weitläufig wirkt, ist in Marokko zehnmal so groß. Wenn sich Heller in Wien in den hinteren privaten Trakt der Beletage zurückzieht, hat er dafür in Gardone einen ganzen Stock und in Marokko ein eigenes Haus.

Seit 2008 arbeitete ich mit André Heller an dieser Biografie. Wir führten Gespräche in Wien, Gardone und Marrakesch, die insgesamt hunderte Stunden dauerten. Nachdem sich Heller entschieden hatte, mir für die Arbeit an seiner Lebensgeschichte zur Verfügung zu stehen, unterstützte er das Projekt nach Kräften. Er öffnete mir sein Adressbuch und informierte seine Freunde und Wegbegleiter darüber, dass sie mir ohne Einschränkungen Auskunft über ihn geben sollten. Er ermunterte mich, auch bei Gegnern seiner Arbeit und seiner Person Auskünfte einzuholen, erwies sich jedoch in unseren Gesprächen in seiner Selbstkritik schärfer als die meisten seiner Kritiker mit ihren Anwürfen.

Heller und ich kennen einander seit 1995. Als Chefredakteur des Nachrichtenmagazins profil und der Kulturzeitschrift du traf ich ihn regelmäßig und schrieb über einige seiner Bücher, Projekte, Filme und Platten.

Meinen ersten Artikel über André Heller hatte ich freilich schon viel früher verfasst, 1989 als Beitrag für die Tageszeitung Der Standard, die für ihre Wochenendausgabe ein »Pro und contra André Heller« plante und verzweifelt nach jemandem suchte, der den Pro-Part übernahm.

1989 war meine Meinung zu André Heller indifferent. Ich mochte seine Musik, aber zu singen hatte er ja schon ein paar Jahre davor aufgehört. Ich war 1982 als Maturant in einem seiner beiden Abschiedskonzerte im Wiener Konzerthaus gewesen und erinnere mich an das Bedauern, mit dem ich das Haus verließ, weil ich mir mehr von diesem gescheiten, koketten, weltwienerischen Performer gewünscht hätte. Aber er wollte ja nicht mehr.

Sagen wir so: Es war 1989 keine Mehrheitsposition, André Heller gut zu finden. Seine Unberechenbarkeit als Künstler, vor allem aber seine öffentliche Selbststilisierung, die damals sein vielleicht wichtigster Kommunikationskanal war, reizte entweder zur Verehrung oder aber zum Widerspruch, erzeugte bei vielen aber bloß blanke Antipathie. Die populären Künste, denen sich Heller verschrieben hatte, waren noch nicht kanonisiert. Den Kulturredakteuren der großen Zeitungen galt es bereits als mutiger Akt, ein neues Popalbum auf die Aufmacherseite zu rücken, und Heller hatte sich ja vom Pop verabschiedet, um noch populärere, noch weniger kanonisierte Disziplinen auszuprobieren und neu zu erfinden. Zirkus, Varieté oder Feuerwerk standen aber noch weniger auf der Speisekarte der Rezensenten, die es sich im Elfenbeinturm der Hochkultur eingerichtet hatten.

Gemessen daran, was Heller von den Kritikern verlangte, bekam er erstaunlich viele Ermunterungen. Aber er kämpfte auch um sein Leben. Gute Kritiken motivierten nicht nur den Erfinder und Impresario Heller, sondern auch die, die ihm Geld für seine großen Projekte geben sollten, die Produzenten und Gönner. Wenn Heller während seiner ganzen Karriere mit besonderer Aufmerksamkeit darauf bedacht war, zu vermitteln, was er tat, und dafür Lesarten anbot, die er als begnadeter Formulierer gleich mitlieferte, dann war das die direkte Folge seiner Angst, das Scheitern eines Projektes mit dem Scheitern der gesamten Karriere zu bezahlen.

Kein Außenstehender kannte diese Angst, denn unerschrockener als Heller konnte man in der Öffentlichkeit nicht auftreten. Er legte sich mit Publikumslieblingen genauso an wie mit Politikern und Zuständen, und nur die, die ihn abends zu Hause erwarteten, wussten von der Kraft, die es ihn kostete, mutig zu sein. Er leistete sich, in frühen Jahren, oft der puren Originalität und Pointenlust wegen, den Luxus, unabhängig aufzutreten, und das wurde ihm von denen, die dazu nicht in der Lage waren, schon allein deshalb übel genommen.

Außerdem führte es zu einem Missverständnis, das bis heute nicht ausgeräumt ist. Heller war kein rich kid, das sein Leben lang nur das Vermögen der Familie verjubelte. Er kam aus großbürgerlichen Verhältnissen, das schon, aber sein gesamtes Erbe, das ihm 1965 ausgezahlt wurde (und das viel weniger war, als man sich gemeinhin denkt), steckte er augenblicklich in einen Film, dessen Hauptdarstellerin die Schauspielerin Erika Pluhar war, die Heller erobern wollte. Der Film blieb eine Fußnote in der Filmgeschichte, Pluhar jedoch wurde Hellers Frau, und alles an Geld, was er seither investiert, verjubelt, in kulturelle Expeditionen gesteckt hat, war selbstverdient. Mehr als einmal stand er mit einem Fuß am Abgrund, weil die Schulden so hoch waren. Aber das hielt ihn nie davon ab, zu agieren, als ob Geld abgeschafft wäre: Er wollte immer nur das Beste. Das beste Zimmer im besten Hotel, einen Butler, die besten Musiker der Welt, um mit ihnen die weltläufigsten Wienerlieder zu singen, die es jemals gegeben hatte, die besten Artisten, Verwandlungskünstler und Pyrotechniker, die kostbarsten Anzüge, die schönsten Frauen.

Ich fragte den Kollegen des Standard, wer contra Heller schreiben würde: der Schriftsteller Antonio Fian. Fian war mir als Verfasser kleiner Dramolette bekannt, in denen er Originalzitate Prominenter aus Zeitungsinterviews sarkastisch montierte, das war manchmal ganz lustig. Sein Beitrag zu Heller jedoch war deftig. Fian verglich Heller mit Hitler, mit dem dieser nicht nur die Initialen gemeinsam habe. Beide seien als Künstler gescheitert, beide bewegten die Massen. Heller behaupte wie Hitler mit dem Gestus des Erlösers die eigene Kultur, mit der er die Welt beglücken wolle. Fians abenteuerlicher Schluss: Von allen geliebt werden zu wollen, heiße, alle beherrschen zu wollen.

Das war so impertinent, dass mir die Luft wegblieb. Bei allen möglichen Vorbehalten gegen Heller, dachte ich mir, kann man so etwas nicht stehen lassen. Ich übernahm also den Pro-Heller-Part im Standard und erarbeitete mir eine Meinung zu Heller, die je nach Disziplin ganz unterschiedlich ausfiel. Seine Lieder fand ich großartig, seine Bücher bemerkenswert, seine Ausstellungsräume interessant und anregend, manche seiner Shows toll, andere ließen mich kalt. Aber besonders interessierten mich damals die Gründe, warum seine pure Präsenz so tollwütige Reaktionen auf sich zog, warum sich einzelne Autoren am Gift ihrer eigenen Kritik an Heller berauschten.

Es stimmt, dass sich Heller den Ruf als »Reizfigur« hart erarbeitet hat. Nicht nur übrigens, weil er beim Austeilen zu Beginn seiner Karriere nicht zimperlich war. Viel wichtiger für seine Umstrittenheit war die Frequenz seiner Projekte – und ihr Erfolg. Dass ein junger Mann die Bühne betrat und ankündigte, sich selbst verwirklichen zu wollen, war noch zu ertragen gewesen. Dass er es tatsächlich tat, unterschied ihn von den meisten, und wie er es tat, von allen anderen.

Fast alles, was Heller anpackte, hatte Erfolg. Seine Zuschauer zählte er nicht nach Hunderten, sondern buchstäblich nach Millionen. Das schürte den Generalverdacht der weniger Erfolgreichen gegen Heller, er verbünde sich mit dem Kommerz, er inszeniere dem Publikum nach dem Maul, er bediene sich unlauterer künstlerischer Mittel. Wer jemals eine Show oder eine andere Großveranstaltung von ihm gesehen hat, weiß, dass das Gegenteil stimmt. Ihr Erfolg liegt darin begründet, dass er den Menschen etwas zumutet, nicht, dass er sie berieselt.

Klar, Heller bedient sich quer durch alle Disziplinen einer figurativen Formensprache und einer erzählerischen Metaphorik, die jedes kleine Kind versteht, der aber auch der Gebildeteste unter den Zuschauern etwas abgewinnen kann, sofern er sich darauf einlässt.

Heller war nie ein cooler, ein intellektueller Künstler. Vielleicht wollte er das einmal, als er ein junger Avantgardist war, aber er ist es nicht geworden. Er ist ein kluger, sentimentaler Mensch, ein sensibler Melancholiker, der weiß, wie man Gefühle erweckt und die Seelen seines Publikums erreicht. »Ja, es stimmt, Heller geht oft und gern zu weit«, schrieb Hans Magnus Enzensberger in einer auf fünfzig Exemplare beschränkten Festschrift zu Hellers sechzigstem Geburtstag 2007. »Das missfällt der unsichtbaren Zensur, die der Kunst im Nacken sitzt und die er schamlos ignoriert. Vor dem Sentiment, das die Priester der Nüchternheit scheuen wie der Teufel das Weihwasser, hat er keine Angst; das Ornament, das die Puritaner abschaffen wollten, ist ihm heilig; und selbst was den Kitsch angeht, so scheint er ihm ein geringeres Übel als die Entsagung zu sein. Die Grenzen des guten Geschmacks zu respektieren, fällt ihm, wie allen Träumern, nicht ein.«

Darüber ätzen die Coolen. Die Missgünstigen arbeiteten sich nicht nur an Heller, sondern auch gleich an seinem Publikum ab, weil ihrer Meinung nach nur die »Illiteraten« (Sigrid Löffler) auf Hellers Poesie hereinfallen können. Der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler beklagte sich gar darüber, dass seine Verrisse von Hellers Büchern ohne Wirkung geblieben seien: Der Betrieb sei so stark, dass er Polemiken absorbiere. Das sind, man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um das herauszulesen, Vernichtungsphantasien.

Wenn man diese Kritiken studiert, von denen es doch eine ganze Menge gibt, versteht man erst, wie viel Kraft es Heller gekostet haben muss, mit erhobenem Kopf weiter und immer weiter zu machen, seine Selbstzweifel, an denen er sowieso litt und die auf diese Weise immer neue Nahrung bekamen, zu überwinden und sich künstlerisch und menschlich, wie er gern sagt, »lernend zu verwandeln«. Er zahlte einen hohen Preis dafür, wie im Kapitel »Verstörung« ab Seite 344 nachzulesen ist.

Hellers Stimme besitzt noch immer die brüchige, melancholische Färbung, wie man sie von seinen Platten kennt, sie ist nur ein bisschen tiefer geworden. Seine Haare und der kurz geschnittene Bart glänzen silbrig. Heller hält sich mit Gymnastikübungen fit, seine Haltung ist besser als vor fünfzehn Jahren. Er trinkt Roibusch-Tee und nimmt homöopathische Medikamente, die seine Ernährung ergänzen.

Die meisten Gespräche beginnt er damit, dass er sich nach dem Befinden seines Gesprächspartners erkundigt. Er hat schon viele Journalisten aus dem Konzept gebracht, indem er, bevor er bereit war, ihre Fragen zu beantworten, etwas über sie wissen wollte. Er hat ein erstaunliches Talent zur Aufmerksamkeit. Er vertrödelt keine Zeit mit Smalltalk, sondern steuert in jedem Gespräch schnell und sicher aus der Komfortzone in einen Bereich, wo es wirklich um etwas geht: um Überzeugungen, Pläne, Ängste, Bedenken, und er findet in diesen Gesprächen immer einen Punkt, an dem er seine Gesprächspartner zum Nachdenken bringt.

Mit der Erschütterung, die er erreicht, geht Heller sorgfältig um. Er ist ein notorischer Ermutiger. Sobald er über die Träume anderer Menschen Bescheid weiß, stiftet er sie dazu an, sie auch Wirklichkeit werden zu lassen. Die Kompetenz dafür verkörpert er. Viele der Menschen, die mit ihm befreundet sind, erzählen, dass ihr Leben ohne seine Motivationen anders, weniger befriedigend verlaufen wäre.

Als ich den Regisseur Michael Haneke besuchte, der Heller als »einen von zwei engen Freunden« bezeichnet, war ich beeindruckt von der Intensität, mit der Haneke diese Freundschaft beschrieb. Heller sei ein »besonders guter, herzlicher Freund«, sagte Haneke, »eine faszinierende, amüsante Persönlichkeit«. Er, Haneke, der sonst nicht zum Wohlwollen gegenüber anderen Personen neige, empfinde, wenn er »mit dem Franzi« zusammen sei, so etwas wie »Behaustheit«. Manchmal rufe er bei dem Freund nur an, damit sich nach wenigen Minuten am Telefon dieses Gefühl einstelle.

Hellers Talent zur Freundschaft und zur freundschaftlichen Treue kam überwältigend oft zur Sprache. Menschen, die ihn über lange Zeitspannen kennen, beschrieben seine Präsenz und Aufmerksamkeit als seine überragenden Eigenschaften. Die Geschichten, dass Heller sich aufmerksam um Freunde kümmert, die gesundheitliche oder beziehungsmäßige Schwierigkeiten haben, sind zahlreich und in ihren Details eindrucksvoll. Er bemüht sein gesamtes Netzwerk, um beste Hilfe zu gewährleisten, ob das medizinische oder spirituelle Betreuung ist, finanzielle Unterstützung oder einfach nur seine Zeit und Aufmerksamkeit.

»Man hat schnell das Gefühl, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm zu haben«, sagte mir der frühere österreichische Kulturminister Rudolf Scholten und beschrieb den Verdacht, der viele Menschen beschleicht, wenn sich Vertraulichkeit schnell einstellt, um ihn augenblicklich zu zerstreuen: »Aber das ist nicht nur ein Gefühl, sondern einlösbare Realität.« Scholten unterstrich seine Einschätzung mit der Geschichte, dass er in einer wirklich essenziellen Situation den Rat Hellers brauchte und ihn am Mobiltelefon erreichte, als Heller auf dem Weg nach Süden war und gerade den Semmering überquerte. Als er hörte, worum es ging, drehte er um und war eine Stunde später wieder in Wien.

Mit seinem Talent zur Freundschaft hat Heller längst so etwas wie eine Großfamilie um sich geschart. Bei Anlässen und Feiern tauchen regelmäßig Menschen auf, die zu ihm in quasifamiliären Beziehungen stehen. Es sind das alte Weggefährten wie Gerd Bacher und neuere Freunde wie Michael Haneke, eine Gruppe von Freundinnen, die sich scherzhaft »die Franziskanerinnen« nennen, aber auch zahlreiche Frauen, mit denen Heller liiert gewesen war und nach den oft schmerzhaften Trennungen zu einer haltbaren, tiefen Form von Freundschaft gefunden hat.

Als Heller im November 2011 in Gutenstein den Raimund-Ring verliehen bekam, saß neben ihm seine Lebensgefährtin Albina Bauer und auf der anderen Seite seine frühere Geliebte Andrea Eckert, die bei der Feier den Monolog der »gefesselten Phantasie« aus dem gleichnamigen Raimund-Stück vortrug. Eckert beschloss ihren kurzen Vortrag mit einem prägnanten Dank an André: Danke, dass du so ein guter Freund bist.

In der zweiten Reihe saß Erika Pluhar, Hellers Ex-Frau, die er eine »Erzfreundin« nennt. Erika Pluhar sagte mir, wenn es drauf ankomme, sei keiner so verlässlich zur Stelle wie »der Franzi«. Mit aller Behutsamkeit, die ihr eigen ist, bestätigte das auch Albina Bauer, mit der Heller seit fast zehn Jahren zusammen ist.

Es muss eine Zeit gegeben haben, als es nicht leicht war, zu André Hellers Familie zu gehören, namentlich, wenn man seine Mutter war. Während langer Zeit hielt er bei öffentlichen Auftritten mit seiner Kritik an der Lebensführung von Elisabeth Heller nicht hinter dem Berg, auch und gerade wenn sie anwesend war – und Hellers Mutter ließ sich nur die wenigsten Premieren ihres berühmten Sohnes entgehen.

Inzwischen ist das Verhältnis der beiden innig. Heller telefoniert täglich mit »der Mami«, egal, wo auf der Welt er gerade ist, und er kümmert sich rührend um sie, wenn sie ihre Sommer in Gardone verbringt.

Als Elisabeth Heller dort im August 2011 ihren 97. Geburtstag feierte, schenkte der Sohn ihr ein Seidentuch und ein falsches Gebiss aus Marzipan. Die italienische Köchin hatte eine Torte gebacken, die höflicherweise nur mit einer Kerze geschmückt war, und sie trug das Geburtstagsgeschenk nach dem Mittagessen auf: Alles Gute, Signora Heller, tanti auguri.

Heller, der wie immer am Kopf des Tisches saß, rief aufgebracht in Richtung Köchin: Was soll denn das? Das ist doch nicht meine Tante Auguri! Das ist meine Mutter aus Wien!

Die Mutter aus Wien verschluckte sich fast vor Lachen. Sie musste sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischen und jubelte: Das ist der Franzi …