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Originalausgabe

Herausgeber:

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Lektorat: Klaus Farin

ISBN Print: 978-3-940213-58-7

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Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-Mitarbeiter-Innen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

Erwin In het Panhuis

Aufklärung
und Aufregung

50 Jahre Schwule und Lesben
in der BRAVO

Der Autor

Erwin In het Panhuis, Jahrgang 1965, 1988-1992 Studium Öffentliches Bibliothekswesen, als Diplom-Bibliothekar u. a. für das Centrum Schwule Geschichte (CSG) und den Schwulenverband in Deutschland (SVD, heute LSVD) tätig; 1998-2003 Leitung der Bibliothek des NS-Dokumentationszentrum in Köln. 2008-2010 Dokumentar bei I&U TV Produktion (Stern TV). Innerhalb des CSG Initiierung und Beteiligung an verschiedenen Ausstellungs- und Publikationsprojekten: Homosexualität in der Filmgeschichte, St. Sebastian und Homosexualität in Köln von 1895-1918.

Inhalt

Einführung

Sexualaufklärung

1956-1969

Marie Louise Fischer und ihre Arbeitsweise als Dr. Vollmer

Leserbriefe

Aufklärungsreportagen

Fazit

1969-1984

Dr. Goldstein und seine Arbeitsweise als Dr. Sommer und Dr. Korff

Leserbriefe

Wie authentisch und repräsentativ sind die veröffentlichten Leserbriefe?

Aufklärungsreportagen

Fazit

1984-2006

Dr.-Sommer-Team, Dr. Kappler, Dr. Wilckens und ihre Arbeitsweisen

Leserbriefe

BRAVO-Liebeslexikon (1985-2000)

Reportagen und Nacktdarstellungen Jugendlicher (1994-2006)

Regenbogenseite (2002-2003)

Foto-Romane (2002-2006)

Fazit

HIV/Aids

Reportagen / Werbeanzeigen

Musik/Film

Leserbriefe homosexueller Jugendlicher

Fazit

Filme

Musik

Ein Vergleich der BRAVO mit anderen Jugendzeitschriften

Persönliche Erinnerungen an die BRAVO

Beiträge von Thomas, Sven, Robert, Jan und Holger

Dr. Martin Goldstein (alias Dr. Sommer)

Anhang

Einführung

Im Herbst 2006 wurde Deutschlands bekanntestes Jugendmagazin BRAVO 50 Jahre alt. Mit dem großen Jubiläums-Werbe-Katalog BRAVO 1956-2006 feierte die BRAVO sich selbst. Dafür wurden Prominente um Äußerungen über die BRAVO gebeten. In diesem Rahmen wird auch Hella von Sinnen zitiert, dass sie angetan sei von der Haltung des Beratungsteams, das vor allem zum Thema Homosexualität seit Jahren eine offene, akzeptierende Haltung an den Tag legt. Dafür Danke.1

Im Folgenden versuche ich kritisch zu hinterfragen, ob ein solches Danke gerechtfertigt ist und werde dabei Hintergründe und Zusammenhänge der schwul-lesbischen Berichterstattung in der BRAVO von außen beleuchten.

Geschichte der BRAVO seit 1956

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BRAVO 56/1

Rückblick: Am 26. August 1956 erschien im Münchener Kindler & Schiermeyer-Verlag die Erstausgabe der BRAVO mit dem Untertitel Zeitschrift für Film und Fernsehen. Im März 1957 erhielt die Zeitschrift den neuen Untertitel Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen, der aber noch im selben Jahr verschwand. Während man in den ersten Jahren noch junge Erwachsene als Zielgruppe anvisierte, wurden in späteren Jahren Themen behandelt, die bevorzugt Jugendliche interessieren, darunter aktuelle Informationen aus der Musik- und Fernsehwelt, aber auch Beziehungs- und Sexualberatung. Heute sind die Inhalte speziell auf Jugendliche in der Pubertät ausgerichtet. Seit 1968 erscheint BRAVO bei der Bauer Verlagsgruppe in Hamburg mit Redaktionssitz in München. In der DDR war das Magazin nicht im Handel erhältlich. Eine Erfindung von BRAVO war 1959 der so genannte BRAVO-Starschnitt, bei dem man einzeln auszuschneidende Teile zusammenfügen konnte, um dann, nach mehreren Heften, ein Poster in Lebensgröße zu erhalten. Bis heute wird von BRAVO in mehreren Kategorien der BRAVO-Otto verliehen. Dies ist ein Preis in Form einer kleinen Indianer-Statue, die von Winnetou inspiriert wurde. Seit 1988 erscheint die BRAVO komplett in Farbe.

Die Auflage der BRAVO ist als Gradmesser für ihre Bedeutung im Bereich der Jugendkultur anzusehen. Nach einer Startauflage von 30.000 Exemplaren konnte die Auflage ständig gesteigert werden, sodass schon in den 70er Jahren erstmals die Millionengrenze an verkauften Heften überschritten wurde. In den besten Jahren betrug sie 1,4 Millionen. Erst 1998 wurde die Millionengrenze wieder unterschritten und die verkaufte Auflage sank bis heute auf rund 493.000 Exemplare2 pro Heft. Der Grund für den Rückgang der Auflage ist in dem stark veränderten Freizeitverhalten der heutigen Jugendlichen zu sehen, deren Interesse eher elektronischen Medien gilt. Es ist unbestritten, dass die BRAVO – vor allem in den 70er und 80er Jahren – prägend und stilbildend für Generationen von Jugendlichen war. Mit dem zunehmenden kommerziellen Erfolg der Zeitschrift wurde u. a. mit diversen Print-Ablegern und BRAVO-CDs über viele Jahre eine europäische Jugendmedienmarke aufgebaut. Aus dem Internetauftritt der BRAVO: Mit dem Mädchenmagazin BRAVO GiRL!, dem Sportmagazin BRAVO Sport, dem Spielemagazin BRAVO SCREENFUN, dem Magazin BRAVO HIPHOP SPECIAL, der Tonträgerreihe BRAVO HITS […], der Fernsehsendung BRAVO TV, dem Onlineportal BRAVO.de, dem Handy-Angebot BRAVO Mobile und Live-Events wie der BRAVO SUPERSHOW präsentiert sich BRAVO im Jubiläumsjahr als stärkste Jugendmedienmarke Europas. BRAVO TV und BRAVO Screenfun wurde allerdings zwischenzeitlich eingestellt. Ausländische Print-Ausgaben erscheinen u. a. in Spanien, Polen und Russland. Zur BRAVO-Familie gehören zudem die Zeitschriften Yeah! und seit 2009 Twist.

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Ausländische Ausgaben der BRAVO erscheinen u. a. in Mexiko, Portugal, Rumänien, Spanien und der Tschechei. Abgebildet sind Ausgaben aus Polen und Russland, die bei sexuellen Themen jedoch wesentlich zurückhaltender als die deutschen Hefte sind. Die österreichische BRAVO ist mit der deutschen Ausgabe identisch. Aus: BRAVO 03/10 (Polen) und 07/29 (Russland)

Geschichte der Schwulen- und Lesbenbewegung seit den 50er Jahren

In den 50er Jahren wurden homosexuelle Handlungen in Deutschland unter erwachsenen Männern nach § 175 StGB strafrechtlich verfolgt. Das Bundesverfassungsgericht hatte noch 1957 diesen Paragraphen für verfassungskonform erklärt. Weder in Deutschland noch in anderen Ländern gab es zu dieser Zeit eine nennenswerte Homosexuellenbewegung. Schwules und lesbisches Leben fand im Verborgenen statt, die Subkultur aus Kneipen usw. konnten nur Eingeweihte finden.

Im September 1969 wurde der § 175 reformiert und damit erstmals homosexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern (21 Jahre) legalisiert. Für Deutschland gilt die Uraufführung des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt 1971 als Initialzünder der Schwulenbewegung, und im Fahrwasser der so genannten sexuellen Revolution entwickelte sich in Deutschland Anfang der 70er Jahre eine vor allem von Männern getragene Homosexuellenbewegung. In Deutschland fand die erste Schwulendemonstration 1972 in Münster statt. Ab Ende der 70er Jahre entstanden Schwulengruppen an den Universitäten, in den Kirchen, den Gewerkschaften und einigen Parteien. Anfang der 80er Jahre entstanden mit dem Lesbenring (1982) und dem Bundesverband Homosexualität (1986) Dachorganisationen für Schwule und Lesben. 1981 veröffentlichte Thomas Grossmann seinen Coming-out-Ratgeber Schwul – na und?, der über viele Jahre ein Bestseller war. Die schwule und lesbische Subkultur wurde allmählich sichtbarer und selbstbewusster.

Das Auftreten der Immunschwächekrankheit AIDS ab Mitte der 80er Jahre drohte die Schwulenbewegung zurückzuwerfen und machte die Notwendigkeit einer breiten und enttabuisierten Sexualaufklärung deutlich. Als erster Jugendverband, der die Interessen schwuler, lesbischer und bisexueller Jugendlicher vertrat, wurde kurz vor der deutschen Wiedervereinigung das Jugendnetzwerk Lambda in Ost-Berlin gegründet, das nach der Wiedervereinigung seinen Wirkungskreis auf das gesamte Bundesgebiet ausdehnte. Anfang der 90er Jahre ging die aktive Beteiligung von Schwulen und Lesben an den politischen Emanzipationsgruppen zurück, während die Mitgliederzahl von unpolitischen Freizeitvereinen zunahm. Auch die Paraden zum Christopher-Street-Day (CSD) gewannen mit den Jahren an Bedeutung und Zulauf. Auch wenn man sich mit dem Namen noch auf den Aufstand in New York von 1969 bezog, verloren sie jedoch an politischer Prägung und nahmen mit den Jahren einen volksfestartigen Charakter an. Der § 175 StGB, der für homosexuelle Handlungen jahrzehntelang eine höhere Schutzaltersgrenze als bei heterosexuellen Handlungen vorschrieb, wurde erst 1994 ersatzlos gestrichen. Ende 1991 outete der Schwulenaktivist Rosa von Praunheim in einer Fernsehsendung u. a. den Moderator und Komiker Hape Kerkeling als schwul, was 1992 zu einer breiten Diskussion über Outing in der Öffentlichkeit führte. Ebenfalls 1992 unterstützten Cornelia Scheel und Hella von Sinnen den Schwulenverband in Deutschland (SVD) bei der Aktion Standesamt, durch den der SVD (seit 1999 LSVD) als neuer Dachverband bekannt wurde. Nach der Auflösung des Bundesverbandes Homosexualität (BVH) 1997 wurde er zur einzigen bundesweiten politischen Interessenvertretung für Schwule und Lesben. 2001 trat in Deutschland das Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft, durch das auch gleichgeschlechtliche Paare zwar keine Gleichberechtigung, aber einen besseren rechtlichen Rahmen erhalten können. Erfolglos blieb jedoch der Versuch, den Schutz der sexuellen Orientierung auch im Grundgesetz verankern zu lassen. Innerhalb diverser Rechtsgebiete (wie Steuer- und Erbrecht) werden Homo- und Heterosexuelle ungleich behandelt. Heutzutage ist in den Großstädten Deutschlands und zunehmend auch in ländlichen Gebieten ein offen schwules bzw. lesbisches Leben nahezu konfliktfrei möglich.

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Die 50er Jahre
In den 50er Jahren wurden homosexuelle Handlungen in Deutschland unter erwachsenen Männern strafrechtlich verfolgt. Obwohl lesbische Frauen straflos blieben, hatte das Bundesverfassungsgericht dies als verfassungskonform erklärt. Es gab keine nennenswerte Homosexuellenbewegung.

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Die 60er Jahre
Ab Mitte der 60er Jahre bröckelte die moralische Kruste der Adenauer-Ära und im Fahrwasser der sexuellen Revolution setzte man sich für eine freie und weniger repressive Sexualität ein. Erst 1969 wurden homosexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern legalisiert.

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Die 70er Jahre
Der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971) gilt als Initialzünder der deutschen Schwulenbewegung. Danach entwickelte sich eine vor allem von Männern getragene Homosexuellenbewegung. Die erste deutsche Schwulendemo fand 1972 in Münster statt.

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Die 80er Jahre
Anfang der 80er Jahre entstanden die ersten schwul-lesbischen Dachorganisationen. Die Subkultur wurde sichtbarer und selbstbewusster. Das Auftreten von AIDS ab Anfang der 80er Jahre machte die Notwendigkeit einer enttabuisierten Sexualaufklärung deutlich.

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Die 90er Jahre
Die Paraden zum Christopher-Street-Day (CSD) gewinnen an Bedeutung und Zulauf und nehmen einen volksfestartigen Charakter an. Sie verlieren jedoch – wie die gesamte Szene – an politischer Prägung. Erst 1994 wurde der § 175 StGB ersatzlos gestrichen.

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Ab dem Jahr 2000
2001 trat das Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft, dass keine rechtliche Gleichberechtigung, aber einen besseren rechtlichen Rahmen geben kann. Heute ist in den Großstädten und zunehmend auch auf dem Land ein offen schwules bzw. lesbisches Leben nahezu konfliktfrei möglich.

BRAVO und Homosexualität als Untersuchungsgegenstand

Wenn man 50 Jahre BRAVO Revue passieren lässt, ist die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung in diesem halben Jahrhundert von der strafrechtlichen Verfolgung schwuler Männer (bis 1969) bis zur Anerkennung durch eine eingetragene Lebensgemeinschaft (ab 2001) deutlich spürbar. In keiner anderen Zeit hat sich in Deutschland die Einstellung gegenüber Schwulen und Lesben so schnell und vermutlich auch nachhaltig verändert. Spätestens mit einer öffentlich agierenden deutschen Schwulen- und später auch Lesbenbewegung kann man von einer Wechselwirkung zwischen den Beiträgen in der BRAVO und dieser Bewegung ausgehen. Ein äußeres Zeichen davon ist z. B. die Titelgeschichte in der BRAVO von 1992 über Outing, zu der der Schwulenaktivist Rosa von Praunheim den äußeren Anlass bot. Andererseits wurde die BRAVO auch von Schwulenzeitschriften kommentiert und von schwulen und lesbischen Jugendlichen und in Institutionen der Jugendbewegung bzw. -beratung gelesen. Jugendliche wurden zudem in den späteren Ausgaben der BRAVO auf die sich entwickelnde schwul-lesbische Szene verwiesen.

Zur Sexualaufklärung in der BRAVO erschien bereits umfangreiche Sekundärliteratur, wobei der anspruchsvolle und konstruktiv-kritische Band 50 Jahre BRAVO besonders hervorzuheben ist. Es ist wichtig, dass das Archiv der Jugendkulturen hiermit einen weiteren kritischen Band über die BRAVO folgen lässt – allein schon deshalb, weil die Deutungshoheit über die BRAVO und ihre Geschichte nicht einseitig bei der BRAVO liegen darf. Obwohl 50 Jahre BRAVO und eine ganze Reihe weiterer Veröffentlichungen im Einzelfall auch auf Homosexualität Bezug nahmen, stand eine eigene und gründliche Untersuchung über dieses Thema noch aus. Die vorliegende Publikation versucht nun diese Forschungslücke zu füllen. Es wurde eine Autopsie von rund 2.700 Einzelheften vorgenommen. Dabei wurden nahezu 1.000 Beiträge, in denen im weiteren Kontext gleichgeschlechtliche Handlungen oder Empfindungen thematisiert wurden, ausgewertet. Beiträge zur Homosexualität findet man in der BRAVO traditionell im Bereich der Sexualaufklärung – hier erschienen circa 75 Prozent aller Beiträge. Die Sexualaufklärung steht daher im Mittelpunkt der Betrachtung. Aus den Bereichen Musik und Film kommen jeweils noch einmal circa 10 bis 15 Prozent der Beiträge. Untersucht wurde nur die klassische Version der BRAVO-Print-Ausgabe. Ich werde nicht jeden einzelnen Beitrag im Kontext von Homosexualität behandeln, sondern biete nur einen Überblick zu den wichtigsten Themen. Nicht berücksichtigt werden Themen oder Rubriken, in denen Homosexualität ein marginales Thema geblieben ist. Dazu zählt z. B. die Behandlung eines Mordes3 oder die Rubriken Krass und Keine Panik.4

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Im Folgenden verwende ich fast durchgehend die Begriffe schwul und lesbisch, die in zweierlei Hinsicht als problematisch erscheinen. Zum einen wirken die Begriffe für die ersten Jahrzehnte unpassend, weil Schwule und Lesben sich erst seit den 70er Jahren selbst so bezeichneten und von der BRAVO erst ab den 80er Jahren so bezeichnet wurden. Zum anderen wird mit schwul und lesbisch eine gefestigte sexuelle Identität assoziiert, die bei Jugendlichen oft nicht vorhanden ist. Eine entsprechende Unsicherheit stellte in vielen Fällen sogar den Anlass für die Beiträge dar. Verständlichen und einheitlichen Formulierungen habe ich jedoch eine größere Priorität eingeräumt als umständlichen Formulierungen, die politischer Korrektheit entsprochen hätten.

Die Quellenangaben habe ich jeweils mit Jahr und Heftnummer angegeben, bei bis zu zwei Quellenangaben im laufenden Text in runden Klammern. Auf die Angabe von Seitenzahlen habe ich verzichtet. Aufgrund des Charakters des Buches als populärwissenschaftliche Schrift konnten nicht alle Fundstellen mit Quellen belegt werden. Der Autor ist über das Centrum Schwule Geschichte in Köln zu erreichen und bietet für jede weitere Forschung zur BRAVO seine Unterstützung an. Am Anfang der einzelnen Kapitel wird eine Einleitung die allgemeine geschichtliche Entwicklung aufzeigen und damit auf das jeweilige Thema einstimmen. Ich habe die BRAVO bis Ende 2008 ausgewertet, werde aber nur in besonders gelagerten Fällen über den Zeitraum 1956-2006 hinausgehen.

Sexualaufklärung

In der BRAVO ist über einen Zeitraum von nun mehr als einem halben Jahrhundert erkennbar, wie pubertierende Jugendliche zu ihrer eigenen Sexualität stehen und welche Gefühle sie anderen Menschen gegenüber haben und wie eine kommerzielle Mainstream-Zeitschrift ihrem Bedürfnis nach Informationen Rechnung trägt. Das Besondere am Aufklärungsteil ist, dass dieser durch die BRAVO – anders als die Bereiche Film oder Musik – eigenständig gestaltet wird. Während zeitgleich politische Magazine in Deutschland eher distanzierend über politische Zusammenhänge wie den § 175 berichten, behandeln die Aufklärungsseiten in der BRAVO sexuelle Themen auf einer sehr persönlichen Ebene, die die Beiträge lebendig und die enge Leser-Blatt-Bindung verständlich machen. Der Beitrag von Sven, aber vor allem das Interview mit Dr. Martin Goldstein (alias Dr. Sommer) im IV. Kapitel erlauben dabei auch kritische Blicke hinter die Kulissen von BRAVO.

Die Geschichte der Sexualaufklärung in BRAVO teile ich nachfolgend in drei Phasen ein, wobei die Bedeutung von Dr. Sommer die Gliederung vorgibt: in die Jahre, bevor er die Aufklärung übernahm (1956-1969), in die Jahre unter seiner Leitung (1969-1984) und die Jahre danach (ab 1984). Weil sich die sexuelle Beratung vor allem mit den Personen (bzw. Teams) der Sexualberatung verändert, werden Brüche in der Aufklärungspolitik so am deutlichsten nachvollziehbar, auch wenn dadurch drei unterschiedlich lange Untersuchungszeiträume entstehen.

Die Leserbriefe zur Homosexualität habe ich in vier Themenbereiche unterteilt: Dabei geht es 1. um Fragen nach der eigenen Homosexualität; 2. um Fragen nach der Homosexualität anderer Personen bzw. um allgemeine Fragen; 3. um Transvestiten / Transsexuelle und 4. um sexuelle Belästigung / sexueller Missbrauch. Es wird also versucht, alle Arten gedanklicher Beschäftigung von Jugendlichen mit Homosexualität aufzugreifen, seien es schwule und lesbische Jugendliche, Einstellungen und Verhalten von heterosexuellen Jugendlichen, homosexuelle Erwachsene und – im Kontext von Missbrauch – homosexuelle TäterInnen.

Um Missverständnisse zu vermeiden, ist die Behandlung des dritten und vierten Themenbereichs genauer zu begründen. Transvestiten und Transsexuelle haben auf den ersten Blick wenig mit Homosexualität zu tun, Betroffene wehren sich zu Recht gegen eine Gleichsetzung und BRAVO betonte immer ausdrücklich, dass die meisten Transvestiten heterosexuell sind. Sie werden hier aber dennoch berücksichtigt, weil es ungerechtfertigte Gleichsetzungen durch die Leserschaft der BRAVO gab, aber auch, weil Dr. Sommer auf Jugendliche hinwies, die nur deswegen das Geschlecht wechseln wollen, um vermeintlich konfliktfrei ihre Homosexualität leben können. Die Äußerungen der Jugendlichen geben dabei nur selten Aufschluss darüber, ob sie sich selbst für Transvestiten (Personen, die den inneren Drang haben, die Kleidung des anderen Geschlechtes zu tragen) oder Transsexuelle (Personen, bei denen Geschlechtsidentität und körperliches Geschlecht voneinander abweichen) halten.

Den vierten Themenbereich sexuelle Belästigung / sexueller Missbrauch zu behandeln, ist sogar in mehrerer Hinsicht problematisch. Zum einen liegt dies daran, dass die Grenze zwischen einer meist einfach zu verarbeitenden sexuellen Belästigung wie einem Griff ans Geschlechtsteil durch Gleichaltrige und einem sexuellen Missbrauch im Sinne erzwungener sexueller Handlungen fließend ist und eine zusammenfassende Betrachtung schon angreifbar erscheint. Eine Beurteilung wird auch dadurch erschwert, dass die Leserbriefe oft nicht genug Anhaltspunkte für eine genaue Beurteilung geben und zudem einige dieser Jugendlichen nach eigenen Angaben selbst sexuell stimuliert wurden. Aber um z. B. zu untersuchen, ob es in der BRAVO eine Gleichsetzung von gleichgeschlechtlich orientierten Pädophilen mit Schwulen und Lesben gab, ist die Auswertung entsprechender Beiträge notwendig. Dadurch soll nicht der Eindruck entstehen, als würde sich eine emanzipatorische Einstellung auf alle gleichgeschlechtlichen Handlungen erstrecken.

HIV/AIDS

Es war zunächst geplant, die Behandlung von HIV/AIDS im Kontext der sonstigen Sexualaufklärung mitzubehandeln. Das Thema ist jedoch innerhalb der Leserbriefe und Reportagen nur zum kleinen Teil in die konventionelle Sexualaufklärung von Dr. Sommer bzw. dem Dr.-Sommer-Team eingebettet und spiegelt zudem eine andere Einstellung wider. Darüber hinaus bot es sich an, auch die Beiträge aus den Bereichen Film und Musik zu HIV/AIDS einzubeziehen. Um eine geschlossene Beurteilung des Themas HIV/AIDS zu gewährleisten, wurde es in einem eigenen Kapitel behandelt.

Film und Musik

Für nach Orientierung suchende Jugendliche sind Film- und Musikstars nicht nur Künstler, sondern vor allem Idole, die verehrt werden und deren Handeln und Einstellung als vorbildlich und richtig erscheinen. Insofern kann allein die Erwähnung der Homosexualität von Idolen und Stars einen emanzipatorischen Effekt bei Jugendlichen bewirken. Man kann dies fast als eine Sexualaufklärung mit anderen Mitteln bezeichnen. Im Gegensatz zur Sexualaufklärung – wo kontinuierlich und in der Regel ohne aktuellen Anlass über Homosexualität berichtet wird – ist die Berichterstattung über Homosexualität in Zusammenhang von Filmen und Musik unregelmäßig und von unterschiedlicher Intensität. Über Musikphänomene wie das Duo t.A.T.u. oder Filme wie (T)raumschiff Surprise wird punktuell sehr intensiv berichtet. Im Gegensatz zur Sexualaufklärung ist die BRAVO in ihren Film- und Musikbeiträgen auf aktuelle Meldungen bzw. auf Kooperation mit der Musik- und Filmindustrie angewiesen.

Vergleich mit anderen Jugendzeitschriften

Obwohl ein Vergleich mit anderen Jugendzeitschriften schwierig ist, weil keine andere Jugendzeitschrift schon so lange wie die BRAVO auf dem Markt vertreten ist, wurden speziell ausgesuchte Jahrgänge anderer Jugendzeitschriften mit den entsprechenden Jahrgängen der BRAVO stichprobenhaft verglichen: Twen, ´ran, Neues Leben, Mädchen, Melanie Popcorn, Rennbahn Express, Sugar und Yam. Die Ergebnisse werden in einem eigenen Abschnitt behandelt und bei der Beurteilung der BRAVO berücksichtigt.

Dank

Mein besonderer Dank gilt meinen Kollegen vom Centrum Schwule Geschichte, Köln, insbesondere Dr. Jürgen Müller, Herbert Potthoff, Dr. Friedrich Schregel und Martin Sölle, für die Zeit und Energie, die sie in die Lektoratstätigkeit für dieses Buch investiert haben. Ohne ihre Hilfe hätte das Buch nicht erscheinen können. Auch Albert Knoll für die Unterstützung während meiner Recherchen in München und Ulrich Ch. Blortz für seine Mitarbeit an dem Manuskript bin ich zu Dank verpflichtet.

Robert, Thomas, Holger, Jan, Sven und vor allem mein Interviewpartner Dr. Martin Goldstein haben dazu beigetragen, die Beiträge in der BRAVO mit einer Lebendigkeit zu vermitteln, die nur über eine Analyse der erschienenen Beiträge nicht möglich gewesen wäre. Bei Dr. Martin Goldstein bedanke ich mich zusätzlich für die zur Verfügung gestellten Fotos. Damit können nun erstmals zeitgenössische Fotos von ihm und dem ersten Dr.-Sommer-Team veröffentlicht werden.

Darüber hinaus gilt mein Dank den folgenden Institutionen: Bibliothek des Historischen Seminars – Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik an der Universität zu Köln, Hochschulbibliothek der Pädagogischen Hochschule Weingarten, Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg; Zentralbibliothek Köln, Staatsbibliothek München; Archiv der Jugendkulturen, Berlin und Badische Landesbibliothek, Karlsruhe; Attila Cakar von der AIDS-Hilfe Köln; Deutsche AIDS-Hilfe, Berlin; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln; Schlau – Schwul Lesbische Aufklärung in Nordrhein-Westfalen, Köln; anyway – Jugendzentrum für Lesben, Schwule und deren FreundInnen und Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, Bonn.

1 BRAVO 1956-2006, S. 20.

2 Verkaufte Auflage von 493.132 Ex. in IVW II/2009 und 512.358 Ex. In IVW IV/2009 nach http://www.pz-online.de/pmonl-cgi/frames/index.pl. S. a.: 50 Jahre BRAVO, 2006, S. 280, 322.

3 In 07/39 ging es um die Vergewaltigung und Ermordung der 14-jährigen Hanna durch einen Schwulen, der, so erklärte er, wissen wollte, wie sich Sex mit einem Mädchen anfühlt.

4 In der Rubrik Krass werden Prominenten durch Sprechblasen fiktive Dialoge in den Mund gelegt. In 02/27 wurde z. B. dadurch der Anschein erweckt, als wären Joey Fatone und Lance Bass von der US-amerikanischen Boygroup NSYNC ein schwules Paar. Die Rubrik Keine Panik handelt von Pannen und Missverständnissen, die Jugendliche erlebten und die gegen ein Honorar in der BRAVO abgedruckt werden. In 03/16 erzählt ein Junge, warum er für schwul, und in 03/17 und 04/12 erzählen Mädchen, warum sie für lesbisch gehalten wurden.

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Sexualaufklärung

Bei einer geschichtlichen Betrachtung der Sexualaufklärung von Jugendlichen in Deutschland sind unterschiedliche Aufklärungsinstanzen zu berücksichtigen, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Für die BRAVO war es z. B. eine erklärte Legitimation für ihre eigene Aufklärung, dass Sexualaufklärung durch andere Aufklärungsinstanzen nicht, verspätet oder unzureichend vermittelt wurde. Als die wichtigsten Aufklärungsinstanzen können Elternhaus, Freundeskreis und Schule angesehen werden, danach Zeitschriften.

Die Sexualaufklärung durch die Eltern war bis in die 70er Jahre hinein oft auf Sexverzicht oder auf Verhütung reduziert.

Die Sexualaufklärung durch die Eltern war bis in die 70er Jahre hinein oft auf Sexverzicht vor der Ehe oder auf Verhütung reduziert, und noch in den 80er Jahren gingen viele Eltern davon aus, dass sie durch ein einmaliges Gespräch über Sexualität mit ihren Kindern ihrer Verantwortung gerecht werden. Erst in der Gegenwart verstehen die meisten Eltern Aufklärung als einen laufenden Prozess. Die Aufgeschlossenheit und das Wissen der Eltern sind für die Qualität der sexuellen Aufklärung ausschlaggebend. Dabei werden Themen, die als schwierig angesehen werden oder sich außerhalb der Wahrnehmungs- und Erfahrungsperspektive der Eltern befinden – z. B. Homosexualität –, oft der Schule überlassen.

Noch in den 80er Jahren gingen viele Eltern davon aus, durch ein einmaliges Gespräch über Sexualität mit ihren Kindern ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Das Interesse an sexuellen Themen erwacht in der Pubertät, also jener Phase, in der sich Kinder und Jugendliche mit ihren Problemen zunehmend den Eltern verschließen. In dieser Zeit steigt daher die Bedeutung des Freundeskreises bei der Meinungsbildung, nicht nur zu sexuellen Themen. Jugendliche können jedoch bei Gleichaltrigen oder Älteren nicht immer zwischen Angeberei, Halbwissen und Wissen unterscheiden, deshalb ist das Ergebnis von Aufklärung nicht selten Halbwissen.

Schulische Sexualerziehung war in der frühen Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren ein Tabuthema und danach weitgehend sexualrepressiv ausgelegt. Die 68er-Bewegung stand für eine Enttabuisierung der Sexualpädagogik. Anfang der 70er Jahre wurde Sexualkunde in den meisten deutschen Schulen eingeführt, das Fach war zunächst nur biologisch ausgerichtet und klammerte emotionelle und erotische Aspekte aus. Seit den 90er Jahren ist die Sexualerziehung liberaler geworden und fest in den Lehrplänen der Bundesländer verankert. Dabei geben jedoch meistens der Lehrplan und nicht die Informationsbedürfnisse der Jugendlichen die inhaltliche Gestaltung vor und es bleibt das grundsätzliche Problem, dass persönliche Probleme, intime Fragen, Leistungsnachweise und Schulnoten ineinander gemengt werden. Aus diesen Gründen wird auch diskutiert, ob eine Unterrichtung durch schulfremde Personen und ein Lernen ohne überprüfte Lernziele eine vernünftige alternative Sexualaufklärung darstellen können.

In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik war Fernsehen hauptsächlich ein Medium für Erwachsene. Heute sind das Fernsehen und noch mehr das Internet zum Leitmedium der Jugend geworden und ihr großer Einfluss ist unbestritten. Dabei gibt es jedoch kaum spezifisch an Jugendlichen ausgerichtete Aufklärungsangebote, und andere Beiträge zu sexuellen Themen sind je nach Fernsehformat und Uhrzeit selten geeignet, das Informationsdefizit Jugendlicher zu decken, richten sie sich doch häufig an die Sensationsgier Erwachsener. Jugendliche haben oft einen eigenen Fernseher und damit auch nachts einen ungehinderten Zugang zu allen Fernsehkanälen. Wie das Fernsehen ist auch das Internet in der Regel nicht an pädagogischen, sondern an kommerziellen Zielen ausgerichtet. Das Internet bietet für Kinder und Jugendliche zudem keinen Schutz vor Pornographie. Deshalb ist das Thema Sexualität dort weder emotional eingebunden noch mit einfühlsamer Beratung und brauchbaren Informationen verbunden.

Sexualaufklärung 1956-1969

In den ersten Jahren war die BRAVO-Leserschaft mit 20-25 Jahren zwar jung, aber im Durchschnitt einige Jahre älter als heute. Zunächst gab es in BRAVO keinerlei Beratung in Fragen der Liebe und Sexualität. Von Mitte 1958 bis Ende 1959 half die Kunstfigur Steffi5 bei Liebesproblemen – auf Homosexualität wurde dabei jedoch nicht eingegangen. Dann wurde die BRAVO-Redaktion durch persönliche Kontakte bzw. schriftstellerische Erfolge auf die Unterhaltungsschriftstellerin Marie Louise Fischer aufmerksam6 und startete mit ihr 1963 eine eigene Aufklärungsreihe. Bis Herbst 1969 wurden ca. 30 Beiträge über Homosexualität veröffentlicht. Von einer eigentlichen Sexualberatung kann jedoch in diesen Jahren noch keine Rede sein.

Marie Louise Fischer und ihre Arbeitsweise als Dr. Vollmer

Mit dem Knigge für Verliebte erschien in der BRAVO Anfang 1963 erstmals in Deutschland eine Aufklärungsreihe für Jugendliche in einer Zeitschrift.7 Unter dem Pseudonym Dr. Christoph Vollmer beantwortete die Erfolgsautorin Marie Louise Fischer (1922-2005) Leserbriefe und schrieb auch größere Reportagen von ein bis zwei Seiten.8

Die Absicht, aufzuklären und zu helfen, kann Frau Fischer nicht abgesprochen werden. Man muss jedoch annehmen, dass sie in erster Linie unterhalten wollte. Ihre Äußerung, Ich bin eine Unterhaltungsschriftstellerin und habe keine großen Aussagen zu machen. Ich möchte auch nicht das Bewusstsein der Menschen verändern, bezog sich nicht ausdrücklich auf ihre Tätigkeit für BRAVO. Nach einer Analyse ihrer Beiträge in BRAVO kann die Äußerung aber auf ihre Tätigkeit dort übertragen werden. Eine Beurteilung unter pädagogischen Gesichtspunkten ist kaum möglich. Fischers Arbeitsweise bzw. die Form ihrer Aufklärung ist am deutlichsten zu charakterisieren, wenn man ihre Beiträge in der BRAVO mit ihren Romanen vergleicht. Dies macht übrigens (in der Gegenwart) auch die Redaktion von BRAVO, die überraschend kritisch mit einer ihrer wichtigsten Autorinnen der 60er Jahre umgeht. Marie Louise Fischer lieferte Beiträge, die nach dem Muster der Illustriertenromane gestrickt sind. Die Arbeiten dieser Vielschreiberin sind serielle No-Name-Produkte. Die Texte ausladend, anweisend und gefühlvoll, dem Zeitgeist der […] 50 [er] Jahre voll ein- und angepasst.9

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Tatsächlich können die Parallelen zu den Romanen kaum deutlicher sein. In den Romanen von Frau Fischer – die in einem emotionalen Sprachstil gehalten sind – gab es das einfache Handlungsmuster, dass sich dank einer einfühlsamen Protagonistin alle Konflikte – oft die von Mädchen in der Pubertät – in Wohlgefallen auflösen. Ein einsames Mädchen lernt z. B. die große Liebe kennen und heiratet.

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Die für BRAVO erstellten Texte wurden zweitverwertet – ohne BRAVO zu erwähnen und ohne den juristisch problematischen Dr.-Titel.

Ihre Beiträge in der BRAVO funktionieren ähnlich. Auch hier ist ihre Ausdrucksweise auffallend emotional bis pathetisch. So heißt es 1964: Deine Mutter hat ihre ganze Liebe […] auf Dich konzentriert. […]. Sie hat Dich mit Liebe und Zärtlichkeit überschüttet […] und Dich wie einen kleinen Mann […] behandelt – mit dem sie all ihre Sorgen besprechen konnte (64/19). Auch die in den BRAVO-Briefen angesprochenen Probleme lösen sich anscheinend von selbst, wenn z. B. ein Junge wieder ein zivilisiertes Betragen annimmt – einem Mädchen zuliebe, das in sein Leben getreten ist (64/19). Außerhalb einer fiktiven Romanwelt muss dies als ein Wegreden von Problemen ohne konstruktiven Lösungsansatz angesehen werden.

In den drei Büchern, die später unter dem Pseudonym Christoph Vollmer erschienen, wurden viele ihrer BRAVO-Beiträge wiederverwertet. In Verliebt, geliebt und liebenswert (1965), Lerne glücklich lieben (1967) und Was Verliebte wissen wollen (1969) finden sich auf insgesamt 10 Seiten Leserbriefe und sonstige Beiträge zur Homosexualität wieder. In diesen Büchern wies sie nie explizit auf die BRAVO hin, sondern schrieb nur 1969, dass die Beiträge für die Beratung in einer großen Jugendzeitschrift entstanden sind. Anders als in der BRAVO verzichtete sie bei ihren Büchern auf den juristisch problematischen Doktortitel.

Leserbriefe

Fragen zur eigenen homosexuellen Orientierung

Ein Artikel von 1963 unterscheidet bei der Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einer älteren Freundin vorsichtig zwischen unnatürlichen und gesunden Freundschaften (63/13) und deutet damit (noch leicht tabuisierend) Homoerotik an. In sechs weiteren Leserbrief-Beiträgen10 wurden von 1964-1969 relativ offen zumindest homoerotische Wünsche von Jugendlichen besprochen. Allein der erste Beitrag (64/6) behandelt Leserbriefe von drei jungen Frauen und einem jungen Mann, die über gleichgeschlechtliche Empfindungen und Erfahrungen verunsichert waren. Auf den ersten Blick ähneln die besprochenen Konflikte in vielen Aspekten den heutigen Problemen. Die Heranwachsenden fühlten sich mit ihren Gefühlen allein gelassen und vertrauten sich in der Hoffnung auf Hilfe der BRAVO an. Es gibt aber auch Unterschiede: Auch wenn erotische Neigungen zu beiden Geschlechtern wahrgenommen werden, ist Bisexualität für die Betroffenen kein Thema, sondern nur die Angst, homosexuell, und der Wunsch, heterosexuell zu sein. Große Unterschiede gibt es aber bei den Antworten von Dr. Vollmer.

Homosexualität – ein Übergangsstadium: BRAVO-Leser sind nicht homosexuell.

Dr. Vollmer sah bei allen Jugendlichen immer nur eine homosexuelle bzw. -erotische Phase als Stufe auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Aber solche Freundschaften zerbrechen, wenn ein Mann in das Leben einer der beiden Partnerinnen tritt. Das ist ganz natürlich, denn die Liebe zu einem anderen Mädchen ist nur ein Übergangsstadium (64/6). Selbst der 20-jährigen Gerda attestierte sie, dass sie sich in einer vorübergehenden Entwicklungsphase befinde. Dass in allen Fällen nur eine Phase angenommen wird, ist insofern richtig, als die Heranwachsenden, wenn es sich tatsächlich nur um eine Phase handelt, nicht verurteilt, sondern beruhigt werden. Jeder Person, die jedoch tatsächlich homosexuell ist, wurden auch mit 20 Jahren Gefühle abgesprochen, ein Coming-out wurde erschwert. Es scheint fast, als wenn innerhalb der BRAVO-Leserschaft nie eine endgültige Fixierung auf das eigene Geschlecht vorliegen kann. Einem 18-jährigen wurden sogar Unreife und Oberflächlichkeit unterstellt (69/2) und der 22-jährige Eberhard erhielt Tipps, um aus dem Teufelskreis der Homosexualität herauszufinden (64/19).

Die Ursachenforschung hatte einen hohen Stellenwert. Weil die Briefe oft von der Familie berichteten, konnten die homoerotischen Sehnsüchte u. a. mit einem gestörten Elternhaus in Verbindung gebracht werden. Bei männlichen Heranwachsenden wurden in der vaterlosen Kindheit und einer zu dominanten Mutter11 eine Gefahr gesehen. Im außerfamiliären Bereich vermutete Dr. Vollmer neben der Angst vor dem anderen Geschlecht auch den Mangel an Gelegenheit als Grund für eine homosexuelle Orientierung. Bei weiblichen Heranwachsenden sah sie die Ursache in einem gestörten Verhältnis zur Mutter und einer falschen Erziehung (64/6). Auch Angst vor Männern als Folge negativer Erlebnisse und eine Internatsunterbringung gehörten nach Dr. Vollmer zu den Gründen, warum junge Frauen vorübergehend auch gleichgeschlechtliche Beziehungen suchen.

Fragen zur sexuellen Orientierung anderer Personen

In vier Leserbriefen standen die Fragen nicht in Verbindung mit der eigenen homosexuellen Orientierung.12 Trotz der geringen Anzahl erlauben die Briefe einige Schlussfolgerungen. So ist in zwei Antworten erkennbar, dass Dr. Vollmer eine homosexuelle Orientierung als nicht gefestigt ansah. Sogar ein Umpolen schien möglich: Als zwei Mädchen Angst davor hatten, dass ihr Freund (67/35) bzw. Bruder (69/14) schwul sein könnte, riet Dr. Vollmer ihnen, sich ihnen als gute Kameraden zu erweisen, um so einen Gegenpol zu den homosexuellen Kreisen (67/35) darzustellen und zu signalisieren, dass auch ein Mädchen eine gute Partnerin sein kann (69/14).

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Aus: BRAVO 64/6

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In den 60er Jahren wurde Homosexualität stets in negativen Zusammenhängen dargestellt. Aus: BRAVO 65/48.

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Aus: BRAVO 67/35

In Konfliktsituationen wurde kein konstruktiver Lösungsansatz verfolgt. Einem 16-jährigen Schüler, der fragte, wie er sich gegen körperliche Annäherungsversuche eines Mitschülers wehren solle, empfahl Dr. Vollmer statt einer offenen Aussprache mit Schüler oder Lehrer oder einer Grenzziehung nur eine Umgehung des Problems durch Platzwechsel (68/27).

Homosexualität wird von Dr. Vollmer ständig negativ bewertet. Als Christa wissen wollte, was eine Lesbe ist, schrieb sie, dass Lesben aufgrund einer seelischen Störung nie Männer lieben können und sich in eine Liebe flüchten, die die innere Einsamkeit überwinden helfen soll (65/48).

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Aus: BRAVO 68/27

Leserbriefe zu Zwittern, Transvestiten, Transsexuellen

In den Jahren bis 1969 gab es nur einen veröffentlichten Leserbrief, bei dem ein Junge nicht aufgrund seiner Gefühle, sondern aufgrund des gefühlten Unterschieds zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität beunruhigt war. Der Hilferuf des 16-jährigen Lutz (66/2), der sich in Stimme, Aussehen und Fühlen als ein Mädchen wahrnahm, hatte viel Ähnlichkeit mit den vielen anderen Fällen der nächsten Jahrzehnte. Lutz verglich seine körperliche Entwicklung mit der von Gleichaltrigen bzw. setzte diese in Bezug zu seinem Lebensalter, machte sich Sorgen, traute sich offenbar nicht, einen Arzt aufzusuchen, erstellte sich ohne Arzt eine zweifelhafte Diagnose (hier: Hermaphrodit) und wollte diese offensichtlich nur bestätigt bekommen. Dr. Vollmer nahm sein Problem ernst, beruhigte, schrieb, dass vermutlich alles in Ordnung ist, und schickte ihn sicherheitshalber zum Arzt. Die Verunsicherung von Lutz wurde möglicherweise durch einen Beitrag Dr. Vollmers über geschlechtsangleichende Operationen selbst ausgelöst (65/38, s. a. 67/20), in dem sie die Operationen bei Hermaphroditen (körperliche Geschlechtsmerkmale beider Geschlechter) behandelte, ohne dabei jedoch auf Transsexuelle (Geschlecht und Geschlechtsidentität weichen ab) einzugehen.

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Aus: BRAVO 66/2

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Aus: BRAVO 65/38

Aufklärungsreportagen

Die Aufklärungsreportagen waren journalistisch aufwendiger gestaltet als die knapp gehaltenen Briefe und die Antworten darauf. Bis Ende 1969 erschienen in BRAVO zehn Reportagen zu schwulen oder lesbischen Themen,13 die in den späteren Jahren mehrere Seiten umfassten und illustriert waren.

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Diese für die 50er Jahre typische Leserbrief-Illustration wurde für die Aktion Anonym bis in die 60er Jahre hinein verwendet. Die Formulierung Öffnet Eure Herzen wurde Jahrzehnte später von dem Hamburger Transvestiten Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders mit Herzt Eure Öffnungen parodiert. In der frühen BRAVO waren Lust und Freude an Sexualität kein Thema. Aus: BRAVO 67/35.

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Das Herz als Inbegriff von Liebe, die auch ohne Sexualität möglich ist, und das Wort Knigge im Rahmen mehrteiliger Serien ab 1962, das als Synonym des guten und richtigen Benehmens auch von Konservativen positiv assoziiert wird – das waren die Markenzeichen der frühen Sexualaufklärung in der BRAVO. Das selten verwendete Motiv von turtelnden Tauben erscheint da fast als gewagt. Aus: BRAVO 64/06.

Reportagen von Dr. Christoph Vollmer (d. i. Marie Louise Fischer)

In der ersten Reportage schrieb Frau Fischer als Dr. Vollmer offen über ihre zwiespältige Einstellung zu Menschen mit einer gefestigten Homosexualität: Ich habe nichts gegen Homosexuelle. Von mir aus kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Männern sah sie als nicht ganz gerechtfertigt an. […] Aber […] Homosexuelle sind […] im tiefsten Inneren unglücklich und unzufrieden. […] Bei neunundneunzig Prozent aller Homosexueller kann bis zum 24. Lebensjahr eine völlige Heilung bewirkt werden (66/26). Homosexualität war für sie pathologisch und heilbar. Ihrer Meinung nach konnte dabei sogar eine Hormonbehandlung erfolgreich eingesetzt werden.14

Bei den weiteren mit Dr. Vollmer gekennzeichneten Beiträgen Peter: Ich kann kein Mädchen lieben (69/30) und Monika: Ich kann nur Mädchen lieben (69/38) als auch bei zwei früheren Beiträgen15 wurden Probleme von Jugendlichen, die sich als schwul bzw. lesbisch empfanden, nebeneinander dargestellt. Das belegt schon früh den offensichtlichen Wunsch, schwul-lesbische Themen zwar nicht gleich, aber gleich ausführlich zu behandeln.

Ich habe nichts gegen Homosexuelle. Aber …

In den Reportagen ging Dr. Vollmer auch auf Personen mit einer gefestigten homosexuellen Orientierung ein; von Anfang an warnte sie ausdrücklich vor so genannter Verführung, worunter man einvernehmliche homosexuelle Handlungen eines Erwachsenen mit einem Jugendlichen verstand, die als prägend für die spätere sexuelle Orientierung angesehen wurden. Durch Hinweise auf Polizei und Zuchthaus (66/26) wurde unmissverständlich deutlich, dass man entschlossen war, Jugendliche auch vor einvernehmlichen sexuellen Erlebnissen mit älteren Homosexuellen zu schützen. In der Zeit bis 1969 ist kaum ein Unterschied auszumachen in der Beurteilung der Verführung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen hat hier deutlich wahrnehmbar eine entsprechende Einstellung geprägt. 1966 wurden 2-3 % aller Homosexuellen für unheilbarVerführungungünstige Einflüsse in der KindheitFischerBRAVOangeborene AnlageVerführung