Image

KanakCultures

Kultur und Kreativität
junger Migrantlnnen

Herausgeber:

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Lektorat: Klaus Farin

ISBN Print: 978-3-940213-54-9

Image

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

INHALT

VORWORT

„Boah, schon wieder die Kanaken!“ – „Menschen sind wir doch alle, oder?“

KURT MÖLLER

Hybrid-Kulturen – Wie „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ postmigrantisch werden

Image LINIE 1

NORD-BAHNHOF – WESTEND

NORD-BAHNHOF

„Wenn wir was bewegen würden bei den Kids, das wär’ cool.“

TATTOONESIA

„Am Ende ist dann aus dem Schmerz was Schönes entstanden.“

BERLINER PLATZ

„Ich find’ es faszinierend, auf wie viele Arten man den menschlichen Körper beeinflussen kann.“

AFRIKANISCHES CAFÉ

„Meine Geschichte macht mich stark!“

ZABERGÄU

„Kanake for life, baby!“

WESTEND

„Ich bin stolz, ’ne Kanake zu sein …“

 

„Ich bin in der Schule der Tanzteufel.“

 

„Meine Familie konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich das da bin auf der Bühne.“

Image LINIE 2

MOSCHEE – ROCKFABRIK

MOSCHEE

Auf Entdeckungstour in der islamischen Jugendkultur

MÖRIKE-PLATZ

„Mein Cousin hat im Deutschunterricht mein Gedicht durchgenommen.“

MATAHARI

„Zeig mir deine Freunde, und ich sag’ dir, wer du bist!“

FUTBOL STADI

„Du fällst als Mädchen einfach auf: Boah, die hat’s drauf.“

LITERATURHAUS

„Manchmal hab’ ich so Gedanken, die ich vor mir her treib’.“

ROCKFABRIK

„Ab der Türschwelle ist Albanien!“

Image LINIE 3

WALL OF FAME – BARRIO LATINO

WALL OF FAME

„Graffiti … den inneren Rhythmus auf Papier setzen …“

BALL(ER)MANN

„Hey, Fußballprofi, was geht?“

 

„Wo sind denn alle deine Fußbälle hin?“

RAPSTER

„Durchs Rappen haben wir viel gelernt …“

DANZIGER PLATZ

„Überall gibt es jetzt Dönerläden … Ist das jetzt Teil der deutschen Kultur?“

FREILICHTBÜHNE

„Über Nutten zu rappen, das ist Luftverschwendung.“

BARRIO LATINO

„There is no way to happiness, happiness is the way.“

Image LINIE 4

KULTURHAFEN – EIFFELTURM

KULTURHAFEN

„Als Musiker bist du einfach Musiker. Da spielt die Nationalität keine Rolle.“

STAATSBALLETT

„Dass Japaner Wale jagen, stimmt, aber ich persönlich esse keinen Wal!“

ZAPATA

„Schuld ist wahrscheinlich mein brasilianisches Blut.“

RATHAUS

„Hier hat man die Chance, vieles zu bewegen. Jugend an die Macht!“

KÜNSTLERCAFÉ

„Dance like nobody’s watching!“

EIFFELTURM

„80 Meter über Stuttgart, von Balkon zu Balkon …“

Image LINIE 5

MELTING POINT – WÜSTE WELLE

MELTING POINT

„Migrationshintergrund … Das hört sich an, als wäre ich irgendwie anders!“

TONSTUDIO

„Die Stimme der Straße“

RÖHRE

„Vielleicht ist dieses ganze Nationalitätenproblem einfach nur ein Spießerproblem …“

INTERNATIONALES TANZZENTRUM

„Auf der Bühne lebst du den Traum, den du eigentlich nie leben kannst!“

FERNSEHTURM

„Die blondierten Frauen mit ihren Pelzmänteln an der Wursttheke … die konfrontieren wir jetzt mal mit ihren eigenen Integrationsproblemen!“

WÜSTE WELLE

„Kanak Attak ist eine Haltung, keine Gruppe!“

Image Bahn Kanak City

Image

PROJEKTGRUPPE JUGENDART

VORWORT

Image

Was ist eigentlich denen ihr „Ding“? Wer sind „die“ eigentlich, über die die ganze Zeit geredet wird? Die, über die sich selbst ernannte ExpertInnen so viele Sorgen machen? Die, über die man sich so leidenschaftlich aufregt? Vor allem aber: Was sind sie denn sonst noch außer Sorgenkinder? Was machen sie daraus, dass sie kulturell so unterschiedlich geprägt sind? Und empfinden sie diese Vermischung der Kulturen überhaupt als relevant?

Diese Fragen und viele mehr waren für uns Motivation genug, uns mit der kulturellen Produktivität migrantischer Jugendlicher in Deutschland auseinanderzusetzen. „Kanak-Cultures“ – zu Deutsch: Kulturen der Menschen – ein Arbeitstitel, der nicht selten auf Verwunderung und manches Mal auch auf totales Unverständnis stieß. Für uns aber ein Anreiz mehr, jungen Leuten unserer Gesellschaft das Sprachrohr zu reichen. Jugendlichen, die hier schon lange nicht mehr so fremd sind, wie sie manch einer vielleicht gerne hätte. Wir lassen sie offen darüber berichten, was sie als Mensch beschäftigt, wie sie ihre Gefühle und Gedanken zum Ausdruck bringen und was für sie „Integration“ konkret bedeutet. Wir geben damit uns die Möglichkeit, ihnen unser Ohr zu leihen. Schließlich reden meistens so genannte ExpertInnen, PolitikerInnen, SoziologInnen, LehrerInnen und auch SozialarbeiterInnen öffentlich über das Phänomen der ach so „perspektivlosen, demotivierten und abgestumpften Jugend“ – und lamentieren zumal über deren migrantischen Teil. Selten aber kommen die jungen Menschen selbst zu Wort.

So genannte „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ werden in der Tat häufig mit gesellschaftlichen und individuellen Problemen in Verbindung gebracht: Armut, schlechte Bildung, Kriminalität, Perspektivlosigkeit usw. Außer Acht gelassen wird dabei, dass mittlerweile eine Generation Jugendlicher mit Migrationshintergrund in Deutschland lebt, die zu einem großen Teil hier geboren oder aufgewachsen ist. Diese Zugehörigkeit zu zwei oder sogar mehr Kulturen bedeutet zum einen eine lebenslange Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, zum anderen aber auch eine riesige Chance, diese Vielfältigkeit für sich zu nutzen.

Image

Und ebendies tun viele Jugendliche, und zwar sehr engagiert und ideenreich. Ob durch Musik, Tanz, Sport, politisches Engagement, bildende Kunst oder Lyrik – es geht darum, der eigenen Produktivität freien Lauf zu lassen und das eigene Empfinden zum Ausdruck zu bringen. Einerlei, ob im Zusammenhang mit dem eigenen kulturellen Hintergrund oder einfach als davon unabhängige Form der Selbstdarstellung.

Das vorliegende Buch sehen wir als Plattform für diese jungen Menschen, als Gelegenheit, sich mit ihrem Engagement zu zeigen und mit ihrer Meinung gehört zu werden. Alle von ihnen haben eine Fähigkeit, die sie ausmacht. Alle von ihnen haben aber auch den Mut, dazu zu stehen und sich eine Meinung über sich selbst und ihre Umwelt zu bilden. Alle von ihnen führen damit die voreilige Rede von der „perspektivlosen, unmotivierten und abgestumpften Jugend“ ad absurdum.

Die folgenden Seiten bieten die Möglichkeit, in die faszinierende Vielfältigkeit ihres kulturellen Schaffens hineinzuschnuppern. Vielleicht sogar, um sich inspirieren zu lassen, die eigene Kreativität in ähnlicher Weise zum Ausdruck zu bringen.

Augen auf, wo immer es etwas zu sehen gibt! Menschen interessant finden, über den eigenen Schatten springen, Kontakt herstellen, Treffen vereinbaren, aufgeregt sein, gespannt sein, überrascht sein, fasziniert sein, Interviews machen, diskutieren, Denkanstöße bekommen, sich inspirieren lassen, Texte bearbeiten, darüber streiten, sich einig sein, besorgt sein, ob alles klappt – und am Ende zufrieden sein. So lässt sich die Recherche beschreiben, die wir, Studierende der Hochschule Esslingen im Bereich Soziale Arbeit unter der Leitung von Prof. Dr. Kurt Möller, knapp ein Jahr lang betrieben haben.

Auf dieser Tour durch Stuttgart und die nähere und auch manchmal fernere Umgebung sind uns sehr viele interessante Menschen begegnet. Wir haben unsere Hauptpersonen an den unterschiedlichsten Orten besucht und uns manchmal auf sehr fremdes Terrain gewagt.

Wir laden unsere Leserinnen und Leser dazu ein, sich mit uns auf dieses unbekannte Terrain zu begeben. Nirgendwo im Alltag sieht man so viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichem Aussehen, unterschiedlicher Sprache und unterschiedlichen Zielen auf engem Raum wie bei einer Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln des Nahverkehrs. Auch in KanakCity gilt: Jede(r) hat die Möglichkeit, einfach einzusteigen und dieser Vielfältigkeit zu begegnen. Eben nur eine Fahrt mit der Bahn kann in kurzer Zeit so etwas bieten. Die S-Bahn-Türen stehen offen. Die Züge warten nur darauf, ihre Tour zu beginnen. Jede Bahnlinie mit all ihren Haltestellen birgt viele Überraschungen und gibt die Chance, hinter die gesellschaftlich und politisch geschaffenen Kulissen der Lebenswelt migrantischer Jugendlicher zu blicken.

An manchen Haltestellen steigt man aus, schaut sich um und lernt die Menschen kennen, die dort unterwegs sind, an manchen bleibt man einfach sitzen und lässt sich die gelesenen Gespräche und Bilder durch den Kopf gehen. Vielleicht ergibt sich sogar ein Gespräch mit dem Nebenmann …?

Nicht selten saßen auch wir beispielsweise in der Bahn, im Zug oder im Auto und hingen unseren Gedanken an neu gewonnene Bekanntschaften nach, saßen wild diskutierend zusammen und überlegten, was diese Zeit, diese vielen neuen Kontakte jetzt eigentlich für uns zu bedeuten hatten. Damit auch diese Gedanken nicht verborgen bleiben, kommen auch wir hin und wieder mit kurzen Kommentaren zu Wort.

Und? Wo soll dein Trip als Erstes hingehen? Vielleicht mit der Linie 2 zur Moschee? Oder nimmst du doch lieber die Linie 4 zum Kulturhafen? Und wie wär’s gleich mit einer kleinen Rundtour? Das Ticket dafür hältst du schon in den Händen.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und danken allen jungen Menschen, die an diesem Buch mitgewirkt haben für ihre Offenheit und ihr Engagement, mit dem sie dieses Buch ganz wesentlich unterstützt haben.

Esslingen, im November 2009

Projektgruppe JugendArt

KURT MÖLLER

HYBRID-KULTUREN

WIE „JUGENDLICHE MIT MIGRATIONSHINTERGRUND“ POSTMIGRANTISCH WERDEN

Image

Mehmeds Empörung anlässlich einer Veranstaltung über so genannte „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ und „migrantische Kultur“ lässt aufhorchen. Gibt sie nicht in der Tat Veranlassung dazu, darüber nachzudenken, ob die Begriffe, die im sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs über die multikulturelle Gesellschaft benutzt werden, überhaupt noch das tun, was sie tun sollen, nämlich: die Realität abbilden?

Widmen wir uns zunächst in einem ersten Schritt dem sperrigen Terminus „Jugendliche mit Migrationshintergrund“, bevor wir dann in einem zweiten Schritt das von Mehmed zitierte Stichwort der „Migrantenkultur“ zum Anlass nehmen, das Verhältnis von „Menschen mit Migrationshintergrund“ und Kultur näher zu beleuchten.

JUGENDLICHE MIT MIGRATIONSHINTERGRUND?

Wird ein junger Mensch mit einem familiären Background wie Mehmed (oder Deniz; vgl. das Interview mit ihm in diesem Band) adäquat beschrieben, wenn er als JMH – so das unter SozialwissenschaftlerInnen verbreitete Kürzel für „Jugendlicher mit Migrationshintergrund“ – gekennzeichnet wird? Packen wir ihn damit nicht vielleicht in eine Schublade, in die er gar nicht hineingehört – weder nach seinem Selbstempfinden noch nach Kriterien, die man „objektiv“ nennen könnte? Etikettieren wir ihn vielleicht sogar, indem wir ihm den JMH-Stempel aufdrücken? Mehr noch: Stigmatisieren wir ihn damit nicht als einen irgendwie nicht richtig Dazugehörigen? Als einen Menschen mit einem „Hintergrund“, der eine Abweichung von einem angenommenen Standard ausdrückt, dem Standard nämlich, seit Generationen im Lande ansässig zu sein?

Ethnische Zuordnungen schaffen Orientierung in einer Welt voller Unübersichtlichkeiten.

Und weiter: Wenn wir schon von „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ sprechen, warum reservieren wir dann diese Bezeichnung für junge Leute, die selbst oder deren Familien über nationalstaatliche und ethnisch-kulturelle Grenzen hinweg (ein)gewandert sind? Wieso kämen wir nie auf die Idee, sie einem nach Schleswig-Holstein immigrierten Dänen oder einer nach Bayern verzogenen Österreicherin zu verpassen? Und spitzen wir noch weiter zu: Weshalb ist denn die Mecklenburgerin, die aus Lehrstellenmangel in ihrer Heimat nach Baden-Württemberg gekommen ist, um hier ihre Lehre als Gastronomiefachkraft zu absolvieren, keine „Jugendliche mit Migrationshintergrund“? Oder wäre sie es dann, wenn ihre Mutter irgendwann einmal in Polen geboren worden wäre?

Fragen über Fragen. Zweierlei machen sie jedoch deutlich:

Erstens: Hinter dem Label „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ verbirgt sich in Deutschland eine Vielzahl an sozialen Konstellationen, die der Pluralität von Lebensgeschichten, -situationen und -entwürfen bestenfalls kaum, eher aber überhaupt nicht gerecht wird: Menschen, die seit einem Jahr im Lande sind; Menschen, die hier geboren wurden, aber keinen deutschen Pass besitzen; Menschen, die hier geboren wurden, Deutsche sind, deren Eltern aber nach Deutschland immigriert sind; Menschen aus bikulturellen Ehen usw. usf.

Zweitens: Von „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ wird vornehmlich dann gesprochen, wenn ihre Herkunftsfamilien oder Teile davon, etwa Vater oder Mutter, aus einem ethnisch-kulturell den meisten irgendwie „fremd“ erscheinenden Lebenskreis eingewandert sind; ein Schweizer, Österreicher oder Holländer würde wohl kaum diese Kennzeichnung auf sich ziehen. Offenbar statten wir nur eine bestimmte nichtdeutsche familiäre Abstammung in dieser Weise mit einer besonderen Relevanz aus. Wir nehmen sie als Grundlage für eine spezifische Kategorie („… mit Migrationshintergrund“), mit deren Hilfe wir soziale Ordnung schaffen. Im Grunde drückt sich darin nichts anderes aus als ein Ordnungsraster, das entlang der Devise einer „Ethnisierung sozialer Sachverhalte“ aufgebaut ist. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Ethnische Zuordnungen schaffen Orientierung in einer Welt voller Unübersichtlichkeiten.

Dies tun sie augenscheinlich mehr noch als nationale Zuordnungen, die in einer Welt transnationaler Bezüge – „Wir Europäer“, „Wir in den weit fortgeschrittenen Industriestaaten“, zunehmend vielleicht auch: „Wir Mitglieder der Europäischen Union“ – nach und nach an Bedeutung zu verlieren scheinen. Und dies selbst dann, wenn wir gar nicht so richtig wissen, was denn nun die Definitionskriterien für die Abgrenzung einer bestimmten „Ethnie“ sind. Das Internet-Lexikon Wikipedia definiert Ethnien als „Populationen von Menschen …, die Herkunftssagen, Geschichte, Kultur, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium und ein Gefühl der Solidarität miteinander teilen“. Und es formuliert weiter: „Die Gemeinsamkeit zeigt sich in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder Lebensmitteln.“ Es weiß aber auch: „Ethnische Gruppen haben weniger etwas mit unveränderlicher Faktizität zu tun als vielmehr mit der Innen- und Außensicht von Kollektiven. Es gibt auf der Welt eine Vielzahl ethnischer „Wir-Gruppen“, die einer Vielzahl von anderen ethnischen Gruppen gegenüberstehen. Allerdings sind diese Gruppen und ihr Verhältnis zu den „Anderen“ keine unveränderlichen biologischen Tatsachen. Ethnische Gruppen sind sozial konstruiert und ihre Grenzen verändern sich im Lauf der Zeit.“

Diesen Vorbehalten zum Trotz: Wir kennen das Muster ethnischer Kategorisierung zur Genüge auch im Hinblick auf die Deutung sozialer Probleme: Arbeitslosigkeit? – hätten wir nicht, hätten wir nicht so viele Ausländer im Land! Kriminalität? – wäre viel geringer ohne die ganze „Ausländerkriminalität“. So vereinfachend, ja falsch solche Milchmädchenrechnungen auch sind – sie vagabundieren als Vorstellungen quer durch die Gesellschaft. Ist es da erstaunlich, wenn die in ihnen zum Ausdruck gelangende „Logik“ der „Ethnisierung sozialer Problemlagen“ sich auch im Hinblick auf diejenigen Probleme findet, die Jugendliche machen oder haben? Liegt nicht die Einteilung von jungen Leuten in Jugendliche mit und Jugendliche ohne Migrationshintergrund genau auf dieser Linie gesellschaftlich weit verbreiteter Denkweisen? Und wohnt ihnen nicht ein ordnungsgeiles Sortierungsbestreben inne, das längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist und deshalb den pluralen Verhältnissen der modernen Migrations-gesellschaften nicht (mehr) gerecht wird?

Halt! Was hier in Gestalt rhetorisch anmutender Fragen als Kritik an Strategien der „Ethnisierung sozialer Sachverhalte“ formuliert wird, schießt vielleicht doch über das Ziel hinaus, oder? Macht es denn nicht tatsächlich einen Unterschied, ob jemand Deutsch als Muttersprache gelernt hat oder nicht, ob jemand islamisch sozialisiert ist oder nicht, ob jemand Eltern hat, die als Staatsbürger anerkannt sind und deshalb z. B. arbeits- und wahlrechtlich besser gestellt sind als andere, oder nicht?

Image

Ethnische Zuordnungen vorzunehmen, scheint also einerseits problematisch zu sein. Andererseits: Ganz auf „Ethnizität“ als kategorialen Begriff der kulturellen Differenzierung unterschiedlicher Gruppen zu verzichten, erscheint vielleicht verfrüht. Wir wissen doch, dass Gruppen, die von der (nach dem Selbstbild) „alteingesessenen“ Bevölkerung aufgrund familiärer Migrationstraditionen als „fremdethnisch“ betrachtet werden, soziale Merkmale aufweisen, die unübersehbar sind. Vor allem sind es Merkmale, die auf z. T. erhebliche, wenn nicht gar skandalöse soziale Benachteiligung verweisen – und dies auch noch in der nachwachsenden Generation, die in der Regel keine direkte, persönliche Migrationserfahrung mehr hat. So zeigt etwa die große repräsentative Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens (KFN) mit über 44.000 Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 15 Jahren (vgl. Baier u. a. 2009) wie auch schon eine KFN-Schülerbefragung von 2005 in den neunten Klassen ausgewählter Städte (vgl. Baier u. a. 2006) eklatante Unterschiede in der sozialen Lage zwischen Jugendlichen, deren beide Elternteile deutsch sind, und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf. Zu ihnen gehört (vgl. ebd.), dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, vor allem türkischstämmige, ungefähr 3-mal so häufig in ihren Familien von Arbeitslosigkeit betroffen sind, 2- bis 3-mal so häufig niedrigere Schulformen wie Hauptschule oder Sonderschule besuchen (je nach ethnischer Zugehörigkeit graduell unterschiedlich), und etwa 3-mal so häufig familiäre Gewalt erleben. Würde man wissenschaftlich und gesellschaftlich gänzlich auf die Beachtung ethnischer Differenzierungen innerhalb einer Bevölkerung verzichten, würden Aspekte einer „migrantischen“ Lebenslage wie diese schlicht ignoriert – und könnten dann deshalb auch keiner Bearbeitung zugeführt werden.

Was also tun in diesem Dilemma? Mit der Verwendung der gegenwärtig (noch?) als „political correct“ geltenden Formel von den „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ dazu beitragen, der unseligen „Ethnisierung sozialer Sachverhalte“ Vorschub zu leisten? Oder mit einem gänzlichen Verzicht auf sie und auf ethnische Kategorisierungen überhaupt die Problemlagen immigrierter ethnischer Gruppierungen unaufgeklärt im Dunkeln lassen?

Dilemmata besitzen die Eigenart, nicht auf einem „Königsweg“ einer Lösung zugeführt werden zu können. So scheint es sich auch in diesem Fall zu verhalten.

Auf der einen Seite schlägt zu Buche: Der Umstand, eingewandert zu sein bzw. aus einer Einwandererfamilie zu stammen, prägt die Lebenschancen junger Menschen vor. Solche Prägungen zu ignorieren, hieße letztlich, strukturelle Benachteiligungen, die aus der Einwanderungstatsache erwachsen, in Zuweisungen persönlicher Schuld umzudeuten. Ein Gemeinwesen, das darauf abzielt, demokratische Strukturen für alle in einer Weise zu schaffen, dass gleiche Teilhabe an den ökonomischen, sozialen und kulturellen Gütern der Gesellschaft für jedermann und jede Frau ermöglicht wird, schafft mit solcher Ignoranz das Gegenteil von dem, was es beabsichtigt.

Auf der anderen Seite bleibt festzuhalten: Der Migrantenstatus ist vielfältig und – über seine rechtlichen Fixierungen hinaus – fast genauso fluide wie auf ethnischer Differenzierung aufbauende Selbst- und Fremdbilder. Er changiert: kann irrelevant werden und wieder auftauchen, sich über Prozesse der Selbst-Ethnisierung und vielleicht gar der Bildung von Parallelgesellschaften stabilisieren, aber auch etwa über Assimilation oder Integration auflösen.

Unter der jungen Generation jener Teile der Gesellschaft, die das Attribut „mit Migrationshintergrund“ auf sich ziehen, erstarkt offensichtlich das Bewusstsein, wenn überhaupt noch migrantisch, dann am ehesten „postmigrantisch“ zu sein: Man versteht sich als Mensch, dessen Familie irgendwann einmal immigriert sein mag, der selbst aber den Migrantenstatus substanziell, wenn auch nicht in allen Aspekten, hinter sich gelassen hat und sich als integralen Teil der gegenwärtigen Gesellschaft fühlt.

Dabei wird freilich zumeist in Anrechnung gebracht, dass diese Gesellschaft nicht statisch verharrt, sondern durch ethnisch-soziale Durchmischung und anhaltende Wanderungsbewegungen, die für zusätzliche Vielfalt sorgen, gekennzeichnet ist. Tatsächlich sprechen auch schon die nackten Zahlen für sich: In Städten wie Frankfurt oder auch Stuttgart stellen die so genannten Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund mittlerweile prozentual die Mehrheit der unter 18-Jährigen – mit wachsender Tendenz; denn in der Altersgruppe der bis zu Dreijährigen stammen in diesen Städten nahezu 6 von 10 Kindern aus Einwandererfamilien. Kulturell dominante Mehrheitsgesellschaft und zahlenmäßige Mehrheitsgesellschaft fallen zunehmend auseinander.

Und damit sind wir beim zweiten der eingangs angekündigten Schritte.

MIGRANTENKULTUR?

Unabhängig von der Antwort auf die ja heftig umstrittene politische Frage, ob man sie überhaupt propagieren sollte oder nicht – der Anspruch auf die Vorherrschaft einer „deutschen Leitkultur“ führt sich spätestens angesichts dieser quantitativen Dimensionen selbst ad absurdum. Dessen ungeachtet wird durch die Verschiebungen der Größenrelationen zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten ohnehin immer fraglicher, wodurch eine solche „deutsche Leitkultur“ denn überhaupt Substanz gewinnt. Ein Blick zurück auf die Entstehung dessen, was mit dem Begriff wohl umrissen werden soll, klärt auf: Das, was kulturell als „deutsch“ erscheint, hat zahlreiche Wurzeln und Verästelungen und ist zu einem großen Teil auch auf Territorien und in kulturellen Zusammenhängen entstanden, die nicht deutsch sind oder waren. Auch ist „deutsch“ ja bekanntlich kein Adjektiv, das schon zu allen Zeiten Bestand hatte.

So bleibt dann letztlich als kleinster gemeinsamer Nenner am ehesten noch der Konsens, deutsche Kultur basiere auf der deutschen Sprache. Abgesehen davon, dass sie auch in Österreich, in weiten Teilen der Schweiz und in Teilen Belgiens gesprochen wird und sich daher auch andere landsmannschaftliche Traditionen in dieser Sprache ausdrücken, ist selbstverständlich auch die deutsche Sprache immer schon Wandlungsprozessen unterworfen gewesen und ist dies auch weiterhin – wie etwa ihre aktuell zunehmende Durchsetzung mit Anglizismen zeigt.

Mehr als bloße Hinweise auf sprachliche Bereicherungen sind demgegenüber schon Ausdrücke wie „Pizza“, „Salsa“, „Tsaziki“, „Döner-Laden“ etc. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir solche Begriffe heutzutage benutzen, enttarnt die aktuelle Selbstverständlichkeit dessen, was sie bezeichnen. Sie stehen für kulturelle Zugewinne und sind (nicht nur für Paulina; siehe das Interview mit ihr in diesem Band) Belege für die Integrationsfähigkeit des vormals Fremden in die angestammte nationale Kultur.

Image

Wenn jener kulturelle Zusammenhang, der als der deutsche bezeichnet wird, kulturelle Segmente von Lebensweisen aufsaugt, die durch Migranten und Migrantinnen nach Deutschland importiert worden sind, dann stellt sich umgekehrt auch die Frage, was denn dann noch „Migrantenkultur“ ist. Sind Pizza, Tsaziki und Döner nicht längst „eingedeutscht“? So wie Sauerkraut zu essen oder Weihnachten zu feiern auch für Türkischstämmige gang und gäbe geworden sein kann (vgl. z. B. die Interviews mit Zeynep und Cevat in diesem Band)?

Zunehmend weniger haben wir es mit der Gegenüberstellung von in sich homogenen Kulturen zu tun.

An diesen Beispielen wird deutlich: Längst sind zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen die ethnisch-kulturell geprägten Grenzen überschritten. Zunehmend weniger haben wir es mit der Gegenüberstellung von zwei oder mehreren voneinander verschiedenen, in sich homogenen Kulturen zu tun. Vielmehr gewinnt Transkulturalität in unserer durch Migration und weltweite Kommunikationsnetze geprägten Gesellschaft an Bedeutung: die Durchdringung und Verflechtung der Kulturen, die zu wechselseitigen Interdependenzen, Austauschprozessen und Neubildungen kultureller Identitäten führen. Sie destabilisiert auch die Kategorisierungen des „Eigenen“ und des „Fremden“.

Kein Wunder also, wenn die junge Generation der Menschen mit Migrationshintergrund eigenes kulturelles Tätigsein längst über Syrtaki tanzen, Empanadas backen und Saz spielen hinaus ausgedehnt hat. Die Herkunftskultur von Eltern und Großeltern bleibt zwar im Allgemeinen nicht ohne jeglichen Einfluss auf sie, wird aber doch nicht ungebrochen von ihnen weitergeführt. In dem multi-, ja teils bereits transkulturellen Kontext, in dem sich ihr Aufwachsen vollzieht, wäre dies für die Mehrheit auf Dauer auch wenig funktional. Kultur ist schließlich Ausdruck einer Lebensweise – und die Lebensweise sardischer Hirten oder anatolischer Bauern unterscheidet sich doch erheblich vom Leben der Menschen im Deutschland unserer Tage. Noch viel weniger sind kulturelle Produktionen, die sich auf solche Lebensweisen beziehen und aus ihnen heraus entstanden sind, für die Teilpopulation der hier lebenden Minderjährigen ein adäquater Ausdruck von Lebensweise und Lebensgefühl. Selbstverständlich stehen auch die Kinder und Jugendlichen aus Einwandererfamilien nicht anders als die autochthonen jungen Leute unter dem Einfluss der vielfältigen Errungenschaften der Moderne, u. a. unter dem von Medien, Konsum, Popkultur und Werbung. Und nicht anders als der Nachwuchs der „biodeutschen“ Familien (vgl. zu diesem Begriff und seiner Entstehung das Interview mit Miltiadis in diesem Band) wachsen sie in einem Umfeld von konsumkulturellen Offerten und jugendkulturellen Gestaltungsmöglichkeiten auf, das den Lebensweisen vieler Menschen im digitalen Kapitalismus entspricht.

Insofern darf es eigentlich wenig erstaunen, wenn so genannte „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ weder in dem einen noch in dem anderen kulturellen Kontext ganz aufgehen, sondern einen Kultur-Mix probieren, der Elemente der Herkunftskultur(en) der Eltern und Großeltern mit Elementen moderner (Jugend-)Kulturen vermischt – dies im Übrigen auf eine Weise, die dann auch die autochthonen Jugendlichen nicht ganz unberührt lässt.

HYBRID-KULTUREN

Entstehungs- und Entwicklungshintergründe für die erwähnten kulturellen Vermengungen bilden die durch den familiären Migrationshintergrund gekennzeichneten spezifischen Sozialisationserfahrungen und die damit zusammenhängenden Identitätsbildungsprozesse. Um ihre Spezifik zu verstehen, sollte man sich klar darüber werden, welchen Herausforderungen sich die Versuche zur Herausbildung von Identität heute gegenübersehen und wie Jugendliche überhaupt – migrantisch geprägt oder nicht – mit Identitätsbildung als immerhin der zentralen Aufgabe der Jugendphase (vgl. Hurrelmann 2007) umgehen:

Die aktuelle Sozialisationsforschung ist sich sicher: Dem Subjekt in der (Post)Moderne fällt es generell schwer, im Kontext von Traditionsverlusten, De-Standardisierungen und zunehmender Optionsvielfalt Identität im Sinne eines einheitlichen, kontinuierlichen und prognostizierbaren Selbstbezugs aufzubauen. Was für die Väter- und Großväter-Generation noch an Sicherheiten aus kulturellen Überlieferungen und normativen Vorgaben gezogen werden konnte, löst sich für die Kinder-, spätestens aber die Enkelgeneration auf. Prozesse der Individualisierung, also der tendenziellen Herauslösung aus traditionellen Lebensformen und -bindungen (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, dörfliche Kultur etc.), und der Erosion moralischer und normativer Vorgaben (religiöser Gebote, adeliger Etikette, bürgerlicher Manieren etc.) und die darauf fußenden Möglichkeiten zu pluralen, also vielfältigen Lebensweisen erfordern vom Einzelnen, zum Architekten des eigenen Lebenslaufs zu werden und sich eben nicht mehr in dem Maße auf die Baupläne zu verlassen, die andere vorgezeichnet haben. Eher wird für Identitätsbildung heute die Metapher des Patchwork herangezogen: In kreativer Selbstorganisation und stetiger Aushandlung mit offenem Ausgang wird eine Instanz zur Integration der Persönlichkeit herausgebildet, in der Ambivalenzen des Sowohl-als-auch ausgehalten werden müssen. Nicht mehr so sehr nach dem Muster des Entweder-oder zwischen binären Alternativen gilt es zu entscheiden als vielmehr Zwischenräume zu besetzen und Überbrückungen zu schaffen, um an Komplexitäten, Differenzierungen, Heterogenitäten und Gegensätzen nicht zu zerbrechen und das weiterhin unverzichtbare Gefühl von Kohärenz, von innerem Zusammenhang der verschiedenen Anteile der Persönlichkeit, zu sichern.

Vor dem Hintergrund dieser Analysen sind auch gerade die Identitätsbildungsprozesse so genannter migrantischer Jugendlicher zu interpretieren. Mehr noch als bei autochthonen jungen Menschen ist ihre familiäre und/oder persönliche Biographie Erosionen sowie Entwurzelungs- bzw. „Verpflanzungserfahrungen“ ausgesetzt. Mehr noch als sie haben sie Ambivalenzen auszutarieren. Mehr noch als sie sind sie auch mit einem Wust von Integrationsleistungen konfrontiert, die sie zu vollbringen haben. Wurden noch zum Teil bis in die 90er Jahre hinein von Fachleuten ihre Sozialisationsleistungen vor allem darin erblickt, ein konfliktvolles Hin-und-Hergerissensein zwischen „Herkunfts-“ und „Gastkultur“ managen und dabei mit dem Dilemma klarkommen zu müssen, „zwischen zwei Stühlen“ zu sitzen, hat sich im Laufe des letzten Jahrzehnts eine Sichtweise etabliert, die die Angehörigen des Nachwuchses des migrantischen Milieus nun vermehrt als aktiv Handelnde begreift, die es verstanden haben, sich auf allen Stühlen einzurichten (vgl. Otyakmaz 1995) bzw. einen „dritten Stuhl“ zu bauen (vgl. Badawia 2002) und darauf Platz zu nehmen. Kennzeichnend für diesen Zwischenraum sind „natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeiten“ (vgl. Mecheril 2003). Für den, der sie verspürt, sind Entscheidungen für die eine oder die andere Zugehörigkeit immer mit Kosten verbunden; sie scheinen aber auch immer weniger notwendig zu werden, wenn immer mehr Menschen solche pluralen Zugehörigkeiten besitzen und der Zwang, Zugehörigsein eindeutig, konsistent und biographisch durchgängig zu dokumentieren, sich verflüchtigt.

Was für natio- und ethnokulturelle Zuordnungen gilt, also – verkürzt gesprochen – für die Chance auf das Sowohl-als-auch von Bestandteilen der familiär überlieferten sowie der deutschen Kultur, kann auch für die Amalgamierung „herkunftskultureller“ Elemente und jugend- sowie konsumkultureller Versatzstücke westlich-kapitalistischer Provenienz Gültigkeit beanspruchen. So zeigt etwa Hugger (2007) für jugendliche NutzerInnen die „(h)ybride Identitätskonstruktion in Migrantenportalen“ des Internet auf und beinhalten die in diesem Band präsentierten Interviews mit kulturell produktiven jungen Menschen zuhauf Belege für jugend- und ethnokulturelle Vermischungen – und dies nicht allein in den großen Metropolen wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt, sondern auch in der Provinz (vgl. z. B. die Gespräche mit Burak, Deniz und der Grup-Liman).

KULTURELLE POTENZIALE

Dass so genannte migrantische Jugendliche mit solchen Verflechtungen kreative Neuschöpfungen vollbringen, wird indes gegenwärtig noch kaum wahrgenommen. Zwar hat man mittlerweile registriert, dass bekannte Rapper wie Bushido, Werbe-Ikonen wie Gülcan Kamps oder Sportler wie Mario Gomez, allesamt junge Leute, die sich auf ihre je spezifische Weise gesellschaftliche Anerkennung und ein exzellentes finanzielles Auskommen gesichert haben, nicht deutscher Abstammung sind. Dass Figuren wie die Genannten in dieser Hinsicht allerdings nicht nur Beispiele für die gelungene Integration Einzelner abgeben, sondern aus einer breiten Masse kulturell produktiver junger Leute mit Einwanderungsback-ground hervorgegangen sind, wird noch wenig reflektiert.

Dementsprechend wird das kulturelle Potenzial, das in dieser Bevölkerungsgruppierung steckt, noch wenig beachtet, ja meist sogar mehr oder minder völlig ignoriert. Man hat sich stattdessen in weiten Teilen der Gesellschaft – und leider auch der Pädagogik – daran gewöhnt, die so genannten „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ als Problemgruppe wahrzunehmen: als schon im Kindesalter sprachlich zurückgeblieben, schulisch zumeist erfolglos, auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar, überproportional kriminell und auch sonst schlecht integriert.

Je stärker ein solcher Fokus dominiert, umso weniger können die Ressourcen und Potenziale dieser Jugendlichen in den Blick geraten. Neben ihrer Mehrsprachigkeit, ihren oft breit ausgefächerten Freundschafts-, Verwandtschafts- und Unterstützungsnetzwerken, ihren auch wirtschaftlich nutzbaren Kontakten ins Ausland u. Ä. m. gehören zu ihnen eben auch ihre kreativen und kulturellen Potenziale.

Allenfalls die Jugendarbeit ist es, die in gewisser Breite, wenn auch nicht konzeptionell profund grundiert und zumeist noch beschränkt auf Hiphop-orientierte Angebote, entsprechende Interessen aufgreift und das in diesen steckende Potenzial zu nutzen und weiterzuentwickeln sucht; nicht zufällig wachsen auch einige der in diesem Band präsentierten Beispiele für die Kreativität und kulturelle Produktivität junger MigrantInnen in diesem Umfeld heran.

Solche Ansätze können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kulturellen Gestaltungsbedürfnisse dieser Jugendlichen und die aus ihnen erwachsenden Kreationen bislang nicht die Beachtung finden, die sie verdienen, ja die sie geradezu erfordern.

Die Notwendigkeit, ihnen verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken, drängt sich dabei aus vielen Überlegungen und Erkenntnissen heraus, zumindest aber aus den folgenden vier, geradezu auf:

1. Jeder junge Mensch, ob deutscher Staatsbürger oder nicht, hat ein moralisches, aber auch im deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) verbrieftes „Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (ebd. § 1). Dazu gehört ausdrücklich auch die kulturelle Bildung (vgl. ebd. § 11).

2. Wissenschaftlich gut belegbar ist das Faktum, dass die Beschränkung oder gar Verwehrung der Realisierung von Bedürfnissen nach Lebensgestaltung ganz wesentlich zu jenen oben genannten individuellen und sozialen Problemen führt, die man schwerpunktmäßig gerade bei „Migrantenjugendlichen“ ausmacht – dies übrigens unabhängig von der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, also auch bei „Biodeutschen“ (vgl. etwa Baier u. a. 2006; Möller/Schuhmacher 2007).

3. Die Ignoranz gegenüber kulturellen Gestaltungsinteressen bestimmter Bevölkerungsgruppen läuft Gefahr, deren Realisierung in eine Art von kulturellem Ghetto abzudrängen, trägt damit zu Prozessen der Selbstethnisierung und des Rückzugs in spezifische Communities bei und unterläuft damit die inzwischen allerorts bekundete Integrationspolitik.

4. Eine Gesellschaft, die vorhandene Potenziale – zumal in der nachwachsenden Generation – nicht hebt, ist schlichtweg dumm: Sie nutzt bestimmte Optionen nicht, die sie zu ihrer Weiterentwicklung gut brauchen könnte.

Diesbezügliche Versäumnisse scheinen zwar in jüngerer Zeit den politisch Verantwortlichen mehr und mehr bewusst zu werden – man denke an die Einberufung von „Integrationsgipfeln“ und „Islamkonferenzen“ –, dennoch entgehen ganze Spektren jugendkultureller Produktivität öffentlicher und fachöffentlicher, dies heißt hier: jugendpädagogischer, Aufmerksamkeit.

An zwei Beispielen ist dieses Defizit zum einen besonders augenfällig deutlich zu machen, zum anderen in seinen politisch-sozialen Aspekten und möglichen Folgewirkungen zu diskutieren:

Zum Ersten: Besonders eklatant fällt die Wahrnehmungslücke in Hinsicht auf jenes Spektrum migrantisch geprägter Kultur aus, das mit dem Stichwort „Pop-Islam“ umrissen werden kann (vgl. v. a. Gerlach 2006; Schule ohne Rassismus 2008). Relativ unbemerkt vom mehrheitskulturellen Mainstream haben sich in Westeuropa – und so auch in Deutschland – Jugendtrends mit islamischer Kontur entwickelt. Muslimische Musiker, muslimische Modedesignerinnen, muslimische Internetplattformen, muslimische Events u. Ä. stehen für einen Lifestyle, der religiöse Traditionen und Überzeugungen mit modernen westlichen Lebens- und Ausdrucksformen zu verbinden sucht. Sänger wie Sami Yusuf, Ammar 114 oder Serkan 114 (114 steht dabei für die 114 Suren des Koran), Rapperinnen wie die „proud muslima“ Lady Scar oder Sahira, grüne Pop-Gruppen wie YA-HU („Gelobt sei Allah“), Websites wie MyUmma, waymo, Modelabel wie das Düsseldorfer comuni-t oder styleislam oder auch Bewegungen und Organisationen wie die der lifemakers und der Muslimischen Jugend Deutschlands (MJD) (vgl. dazu auch die Informationen in der Station „Moschee“ dieses Bandes) bringen jeweils auf ihre Weise – mal betont konservativ, mal hip gestylt – Elemente einer islamischen Jugendkultur hervor, die dem Lebensgefühl junger religiöser Muslime in der westlichen Diaspora Ausdruck verleiht. Was sie verbindet, ist die Intention, innerhalb einer Welt, in der man Minderheit ist, ein islamisches Selbstbewusstsein zur Geltung zu bringen, das die Vermittelbarkeit von muslimischem Glauben und Moderne unter Beweis zu stellen vermag. Ihren Protagonisten steht vielfach auch ein „deutscher Islam“ vor Augen und damit eine Lebensweise, die auch hierzulande muslimische Gläubigkeit und modernisierte politisch-soziale Verhältnisse prinzipiell nicht im Widerspruch sieht.

Eine Gesellschaft, die vorhandene Potenziale nicht hebt, ist schlichtweg dumm.

Image

Der Trend zur Herausbildung eines nicht nationalistischen, multikulturellen und gesellschaftlich und politisch in die demokratische Rechtsordnung integrierten Islams und seiner (jugend)kulturellen Ausdrucksformen vollzieht sich allerdings in einem Umfeld, in dem fundamentalistische Positionen und Organisationen weitere Strömungsgrößen bilden. Auch sie – von worttreuen Korananhängern bis zu Dschihadisten – werben um Nachwuchs unter jungen Muslimen in Deutschland (und Europa). Um welche Strömungen es sich im Einzelnen auch immer handelt – auf eines kann jede von ihnen ihre Hoffnungen bauen: Das Rekrutierungspotenzial ist enorm. 85% der muslimisch sozialisierten Jugendlichen – und damit ein nahezu doppelt so hoher Anteil wie unter nichtmuslimischen Migranten und mehr als der vierfache Anteil Einheimischer im selben Alter – bezeichnen sich als „gläubig“. Von ihnen wiederum gelten 44,2% als „fundamental orientiert“, halten also den Islam für die einzig wahre Religion, zu der Nicht-Gläubige bekehrt werden müssten, damit sie nicht „von Allah verflucht“ seien, und plädieren dafür, seine unveränderbaren und nicht an die Bedingungen der modernen Welt anpassbaren Regeln wortgetreu und rigide zu befolgen (vgl. Brettfeld/Wetzels 2007, vor allem S. 118, 201ff.). Etwa ein Achtel der „fundamental Orientierten“ ist sogar als „islamismusaffin“ einzustufen (vgl. ebd., S. 296). Dabei zeigt sich deutlich, dass fundamentalistische oder gar islamistische Orientierungen offenbar hochgradig mit Erfahrungen von Bildungsbenachteiligung, schlechter sprachlicher und sozialer Integration, Viktimisierung (zum Opfer werden) und Diskriminierung sowie traditionell-konservativen Geschlechterstereotypen, insbesondere Gewalt legitimierenden Männlichkeitsbildern, zusammenhängen (vgl. ebd., S. 331ff.). Damit deuten sich Ursachenkontexte an, deren Vorliegen im Übrigen auch bei „eingeborenen Deutschen“ als gefährliche Risikofaktoren für Gewaltakzeptanz und Demokratiedistanz wirken und in dieser Wirkung empirisch gut belegbar sind (vgl. z. B. Möller/Schuhmacher 2007).

Welche Strömungen sich innerhalb der islamischen Jugendkultur(en) durchsetzen werden, ist also von entscheidender Bedeutung für die Integration der Muslime insgesamt, für die weltanschaulichen Potenziale, die sie bereichernd einbringen, und für die Demokratie in Deutschland überhaupt. Als eine schwere Unterlassungssünde muss es da erscheinen, wenn Öffentlichkeit, Politik und Pädagogik die sich vollziehenden Entwicklungen der muslimischen Jugendkulturen „zwischen Pop und Dschihad“ (Gerlach 2006) bzw. im Spannungsfeld „zwischen Islam und Islamismus“ (Schule ohne Rassismus 2008) weiterhin nicht aufmerksam in den Blick nehmen – und aufgrund solcher Ignoranz dann auch keine Ansatzpunkte für gesellschaftliche Reaktionen, politische Steuerungen und pädagogische Konzeptualisierungen zu entfalten vermögen.

Zum Zweiten: Abgesehen von den links-alternativen Medien kaum wahrgenommen hat sich mit „Kanak Attak“ eine vorwiegend intellektuell geprägte Bewegung junger Migranten und Migrantinnen in Deutschland gebildet, innerhalb derer kultureller Aktivitäten vor allem die politischen Implikationen des Engagements hervortreten. Sie macht publik, dass migrantisch geprägte junge Menschen durchaus nicht allesamt gesellschaftliche Underdogs sind und gleichsam qua Aufenthaltsstatus bzw. Herkunftsfamilie zum sozialen Problemklientel zu rechnen sind. Das besonders Bemerkenswerte an dieser Bewegung jedoch ist der mit ihr verbundene Anspruch junger Migrantinnen und Migranten, nicht weiter zu Fürsorgeobjekten paternalistischer Politik, zu KlientInnen der „Betreuungsverbände“ (nomen est omen!) wie Caritas, Diakonie etc. zu unmündigen Unterstützungsbedürftigen selbst ernannter „Gutmenschen“ oder auch zu „Problemgruppen“ einer Sozialarbeit „von oben“ degradiert werden zu wollen. Vielmehr verstehen sich ihre AktivistInnen selbstbewusst als mit politisch-moralischen Rechten ausgestattete, mündige und wehrhafte EinwohnerInnen eines deutschen Staates, der längst zu einem Einwanderungsland geworden ist und die migrantische Bevölkerung für seine kulturelle, ökonomische und soziale Weiterentwicklung braucht, sie speziell aber auch politisch zur Bekämpfung des in ihm grassierenden Rassismus’ geradezu benötigt. Das Manifest der Vereinigung vom Herbst 1998 verkündet in diesem Sinne das „Ende der Dialogkultur“ mit den Instanzen gesellschaftlicher Vorherrschaft.

KANAK ATTAK – DAS MANIFEST (AUSZUG)