Cover

Über dieses Buch:

ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.

Man nennt ihn den Wächter, doch wem dient er? Der mysteriöse »steinerne Wolf« beschützte einst den Stein der Macht. Jetzt ist dieser der Hexe Vela in die Hände gefallen. Mit Hilfe des Steins kann sie die Macht über ENWOR an sich reißen. Um dies zu verhindern, jagt der Krieger Skar ihr nach. Auf seiner gefährlichen Reise merkt er schnell: Er ist nicht der Einzige, der die Verfolgung aufgenommen hat …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch MÄRCHENMOND. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX.

Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Bei dotbooks veröffentlichte Wolfgang Hohlbein die Romane FLUCH – SCHIFF DES GRAUENS, DAS NETZ und IM NETZ DER SPINNEN, die ELEMENTIS-Trilogie mit den Einzelbänden FLUT, FEUER UND STURM und die große ENWOR-Saga; eine chronologische Übersicht der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Wie wird es mit den Kriegern Skar und Del weitergehen? Finden Sie es heraus im nächsten Roman der ENWOR-Saga: ENWOR – Band 5: Das schwarze Schiff. Eine Leseprobe finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Neuausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 1984 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-435-1

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Wolfgang Hohlbein

ENWOR

Band 4: Der steinerne Wolf

Roman

dotbooks.

PROLOG

Es war still in dem großen, leeren Raum. Obwohl die Wände an vielen Stellen geborsten und durchbrochen waren und weder den Wind noch das rote, flackernde Licht der Sonne zurückhalten konnten, sperrten sie doch nachhaltig jedes Geräusch, jeden noch so winzigen Laut und jedes Zeichen von Leben aus und verwandelten den steinernen Saal in eine Gruft. Die Kälte war auch hier bemerkbar, vielleicht stärker als draußen; ein unsichtbarer, klammer Hauch, der wie flüsternder Nebel über dem Boden und zwischen den wenigen verfallenen Möbelstücken hing und ihn frösteln ließ. Aber es war mehr als Kälte, das fühlte er, weit mehr als der klirrende Hauch des Schnees, der die Berge und die verfallene Festung mit einem weißen Leichentuch überzog. Es war die Seele Coshs, die er spürte, die Stimme des Sumpfes, die ihnen wie ein unsichtbarer Begleiter gefolgt war: ihre Anwesenheit, ihren Atem, das sanfte Tasten unsichtbarer Finger, mit dem sie irgend etwas tief in seinem Inneren zu berühren oder vielleicht auch nur zu suchen schien. Die schlanke Gestalt auf dem steinernen Lager vor ihm schien hinter einer unsichtbaren Wand aus flimmernder Luft zu liegen, als hätten sich die Gesetze der Natur auf den Kopfgestellt und ließen die Luft nun vor Kälte wabern, und wenn er nur lange genug hinsah und sich dem Flüstern des Nebels und der eisigen Feuchtigkeit hingab, dann begannen ihre Umrisse zu verschwimmen, sich aufzulösen, und auf den erstarrten Lippen des Toten erschien wieder dieses flüchtige, junge Lächeln, dessen wahre Bedeutung vielleicht nur Skar selbst gekannt hatte. Tränen füllten seine Augen und zeichneten dünne Spuren von Wärme auf seine erstarrte Gesichtshaut. O ja, er fühlte Schmerz, jetzt, nachdem alles vorbei war. Einen größeren und furchtbareren Schmerz als je zuvor. Er hatte geglaubt, jenseits von Trauer und Leid zu sein, nachdem er einmal den Haß kennengelernt hatte, aber das stimmte nicht. Wie oft war er in den letzten vier Tagen hier gewesen? Ein dutzendmal? Zwei? Er wußte es nicht mehr. Er wußte auch nicht mehr, wie oft er so wie jetzt neben Dels Lager gesessen und die reglose, tote (es kostete ihn Überwindung, das Wort auch nur in Gedanken zu formulieren, denn es auszusprechen bedeutete, es zuzugeben, und es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich wünschte, die Augen vor der Wahrheit verschließen und sich in irgendeinen Winkel verkriechen zu können) Gestalt des jungen Satai betrachtet hatte, wie oft ihr Leben – ihr gemeinsames Leben, denn das, was vorher gewesen war, zählte nicht (auch das begriff er erst jetzt) – an ihm vorübergezogen war. Mit Del war ein Teil von ihm gestorben, ein Teil von ihm, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. Haß? Als er neben der blutbesudelten Gestalt im Schnee gekniet und in die offenen, mit Rauhreif bedeckten Augen des Toten gesehen hatte, hatte er für einen kurzen Moment geglaubt, Haß zu empfinden, aber auch das war nicht wahr gewesen. Es war nichts als Schmerz, nur ein anderer Ausdruck dieses Gefühles, und selbst das Ding in seinem Inneren, diese böse, flüsternde Stimme, die sonst jeden Augenblick der Schwäche ausnutzte, um ihn zu verhöhnen und zu verspotten, hatte geschwiegen. Del war tot, und das war alles. Es war so einfach, so brutal und so sinnlos, daß er am liebsten geschrien hätte, und vielleicht war dies das einzige, das wirklichen Zorn 'in ihm hervorrufen konnte. Sein Tod hatte keinen Sinn gehabt, und wenn doch, dann nur den, ihn – Skar – zu treffen und zu verletzen. Der Wolf hatte ihn gemeint und Del getötet, brutal und berechnend die Stelle auswählend, an der er seinem Opfer den größtmöglichen Schmerz zufügen konnte.

Das Geräusch leiser Schritte drang in seine Gedanken, und für einen winzigen Moment war es Skar, als husche eine unsichtbare, rasche Bewegung durch den Raum, ein lautloses Huschen und Flüchten, als zögen sich die Schatten und der klamme Griff Coshs eilig zurück. Er sah auf, starrte Gowenna eine endlose Sekunde lang an und erhob sich mit einer langsamen, mühevollen Bewegung. Gowenna wollte etwas sagen, aber er schüttelte rasch und mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, den Kopf deutete auf den Ausgang und ging an ihr vorbei. Eine schattenhafte Gestalt erhob sich neben ihm, wartete, bis Gowenna das Haus ebenfalls verlassen hatte. und trat dann lautlos hinein. Skar wußte nicht, wer es war – El-tra, Kor-tel oder irgendeiner der anderen namen- und gesichtslosen Sumpfmänner, die während der letzten vier Tage ununterbrochen Wache an Dels Lager gehalten hatten. Wenn er kam, dann gingen sie, immer und ohne auch nur einen Blick oder ein Wort mit ihm zu wechseln, als spürten und respektierten sie seinen Schmerz mit dem Instinkt wacher, finsterer Tiere, aber sie waren immer da; schweigende Schatten, die eine lautlose Totenwache hielten. Es wäre seine Aufgabe gewesen vier Tage und Nächte ohne zu schlafen und ohne sich zu bewegen, Wache zu halten am Totenlager des Satai, wie es die uralten Riten vorschrieben – aber er war zu müde dazu, und er war ihnen dankbar, daß sie ihm diese Last abnahmen. Jedenfalls konnte er sich einreden, daß sie es taten.

Es war keine Totenwache, das wußte er, und sie waren alles andere als Schatten. Aber er wollte nicht wissen, was sie wirklich taten. Er hatte schon einmal bei ihnen gesessen, vor Tagen, die ihm wie Jahre vorkamen, und er hatte schon einmal erlebt, wozu sie fähig waren. Was er gespürt hatte – damals, in einem anderen Leben –, das war nur ein winziger Hauch ihrer Macht gewesen, ein winziges Stückchen der ungeheuren psionischen Gewalt, die zu entfesseln sie in der Lage waren, aber schon diese flüchtige Berührung hatte genügt, ihn bis ins Innerste seiner Seele erschauern zu lassen. Er wollte es nicht wissen.

Er entfernte sich ein paar Schritte vom Eingang, blieb auf halbem Wege zwischen dem Haus und der halb verfallenen Wehrmauer stehen und zog den Umhang enger um die Schultern. Die Zinnen der Mauer begannen rechteckige schwarze Zacken aus der Sonne zu beißen, und die Nacht meldete sich mit einem merklichen Auffrischen des Windes und eisiger Kälte an. Es würde wieder kalt werden, kälter als in der Nacht zuvor, die ihrerseits eine Winzigkeit kälter als die vorhergehende gewesen war; ein winziges bißchen nur, aber doch kälter. Und auf dem Paß würde wieder eine Winzigkeit Schnee mehr liegen. »Du solltest damit aufhören, Skar«, sagte Gowenna leise.

Er hatte nicht gemerkt, daß sie ihm abermals gefolgt war. Er ging ihr aus dem Weg, seit vier Tagen; zuerst unauffällig, schließlich so offen, daß sie es einfach merken mußte. Aber augenscheinlich hatte sie sich entschlossen, seine kaum mehr versteckte Ablehnung zu ignorieren. »Womit?« fragte er, ohne sich umzudrehen. Der Wind peitschte sein Gesicht, und die winzigen Eiskristalle, die er mit sich trug, schmerzten. Es war ihm egal.

»Du weißt genau, womit«, sagte Gowenna betont. In ihrer Stimme schwang eine leise Spur von Ungeduld, hinter der sich Ärger verbergen mochte. »Du quälst dich, Skar«, fuhr sie fort, als klar wurde, daß er nicht antworten würde. »Seit vier Tagen hockst du dort drinnen und quälst dich selbst. Findest du es sinnvoll, das Messer, das dir Vela in die Brust gestoßen hat, auch noch selbst herumzudrehen?«

»Del ist tot«, sagte Skar dumpf Er atmete hörbar ein, drehte das Gesicht aus dem Wind und sah sie nun doch an.

Gowennas Lippen zuckten. In ihrem sehenden Auge blitzte es zornig auf »Das ist er nicht, Skar«, sagte sie gepreßt. »Die Sumpfmänner werden ihn retten und –«

Skar hob mit einer so abrupten Bewegung die Hand, daß Gowenna erschrocken abbrach und einen halben Schritt zurückwich. »Sie werden ihn wieder zum Leben erwecken, wie?« sagte er leise. »Sie werden ihn … wie haben sie es genannt? Neu schaffen? Und was werden sie mir geben? Eine Puppe? Ein Ding, das aussieht wie Del sich bewegt wie Del, redet wie Del und mir jeden Wunsch von den Lippen abliest, wie es deine drei Schattenmänner bei dir getan haben?«

»Dir geben?« wiederholte Gowenna erschrocken. »Sie werden dir nichts geben, Skar. Sie werden Del das Leben zurückgeben, das ist alles.«

Skar erschrak für einen Moment vor seinen eigenen Worten. Er hatte – ohne es im ersten Moment selbst zu bemerken – den Gedanken ausgesprochen, den er seit Tagen sorgsam bekämpft und irgendwo in seinem Inneren vergraben hatte.

»Vielleicht ist es gar nicht wirkliche Trauer, Skar«, fuhr Gowenna fort. »Vielleicht bist du nur zornig, weil Vela dir Del weggenommen hat.«

»Unsinn«, sagte Skar verwirrt. »Ich –«

»Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten«, unterbrach ihn Gowenna. Sie schüttelte den Kopf versuchte zu lächeln und fuhr sich mit einer raschen, unbewußten Geste über das Gesicht; eine Bewegung, die sie sich in den letzten Tagen mehr und mehr angewöhnt hatte, beinahe als müsse sie sich immer wieder neu davon überzeugen, daß die eine Hälfte ihres Gesichts noch unbeschädigt und heil war und das verbrannte Narbengewebe nicht etwa über Nacht unbemerkt weiter über die Grenze zwischen Engel und Teufel, die sich in ihr Antlitz gebrannt hatte, gekrochen war. »Die Späher sind zurück«, fuhr sie in verändertem, bewußt sachlichem Ton fort. »Es ist so, wie ich es gesagt habe: Der Paß ist verschneit. Du mußt schon fliegen lernen, um über die Berge zu kommen.«

»Ich werde trotzdem gehen«, sagte Skar ruhig.

Gowenna seufzte. »So nimm doch endlich Vernunft an, Skar. Es ist unmöglich. Du kannst nicht über den Paß. Niemand kann das.«

»Niemand?« Skar lächelte, bewußt kalt und bewußt verletzend. »Vela hat es geschafft.«

»Das vermutest du«, erwiderte Gowenna. »Aber es kann auch sein, daß sie irgendwo an einem geschützten Ort überwintert, während du in dein Unglück rennst.«

»Du weißt so gut wie ich, daß das nicht stimmt«, sagte Skar. »Sie ist jetzt bereits auf dem Weg nach Elay, und wenn wir warten, bis der Winter vorbei ist, dann wird sie ihre Macht bereits gefestigt haben, bevor wir überhaupt aufbrechen.«

»Und du wirst unsere letzte Chance, sie aufzuhalten, verspielen, wenn du jetzt losreitest und dich umbringst. Wahrscheinlich hast du recht, aber du vergißt dabei eine Kleinigkeit, Skar: Sie hat den Stein, um sich den Weg zu bahnen. Du nicht.«

Skar wandte sich um und sah lange und nachdenklich zu dem Gebäude am anderen Ende des Hofes hinüber. »Es ist sinnlos, Gowenna«, murmelte er. Er wollte nicht mehr diskutieren, weder mit ihr noch mit irgendwem. Vielleicht hatte sie recht, aber er war einfach müde, zu müde, um auch nur über ihre Argumente nachzudenken. »Ich werde gehen. Noch heute. Ich … hätte es längst tun sollen.«

»Wenn du stirbst, Skar, dann verliert Enwor vielleicht seine letzte Chance.«

»Enwor …« Die Schwärze hinter dem rechteckigen Eingang schien sich zu verdichten. Es war ein Grab. Selbst wenn Del sich nach einer Weile von seinem Totenbett erheben und das Haus verlassen würde, würde es nur ein Schatten des jungen Satai sein. Und er, Skar, wollte es nicht erleben. »Was kümmert mich die Welt, Gowenna«, sagte er abfällig. »Sie wird nicht untergehen, wenn ich sterbe. Vielleicht hat Vela sogar recht, und Enwor wird besser, wenn es Männer wie mich nicht mehr gibt.«

Gowenna erstarrte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verhärtete sich. »Und Frauen wie mich, nicht wahr? Das meinst du doch?«

Skar zögerte einen Moment zu antworten. Er wußte genau, wie sinnlos es war, dieses Spiel fortzusetzen. Es war wieder die alte Gowenna, wie er sie seit dem ersten Tag kannte. Sie wechselte ihre Taktik, schnell und ohne wirklich zu überlegen, instinktiv auf der Suche nach einer verwundbaren Stelle, nach einer Lücke in seiner Deckung, nach irgend etwas, wo sie ihn packen und festhalten konnte. Sie hatte noch nicht begriffen, daß es den Skar, mit dem sie geritten war, nicht mehr gab.

»Vielleicht«, sagte er schließlich. »Vielleicht sind wir beide nur Überbleibsel einer Welt, die schon längst gestorben ist, Gowenna. Vielleicht ist unsere Welt schon tot, ohne daß wir es bisher bemerkt haben, und vielleicht gehört die Zukunft Menschen wie Vela.«

Gowenna verzog abfällig das Gesicht. »Wenn du wirklich so denkst, Skar«, sagte sie, »warum nimmst du dann nicht dein verdammtes Schwert und stürzt dich hinein?«

»Vielleicht werde ich das tun, Gowenna«, antwortete er ernst. »Wenn alles vorbei ist.«

Gowenna wollte etwas erwidern, aber Skar drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ließ sie stehen.

1. Kapitel

Der schwere Regen der letzten zehn Tage hatte aufgehört, und das Meer war so ruhig, wie man es sonst nur vor einem Sturm beobachten konnte. Aber der Himmel war leer, und als die Sonne aufging und mit ihren wärmenden Strahlen auch den letzten Rest von Morgennebel und Dunst zu vertreiben begann, war nicht einmal die winzigste Wolke zu entdecken. Trotzdem machte die SHANTAR gute Fahrt – die Segel, die während der letzten Wochen mehr als nur einmal naß und schlaff von den Rahen gehangen hatten, blähten sich unter einer steifen, beständigen Brise, und die zwanzig Doppelruder auf jeder Seite verliehen dem Freisegler zusätzliche Geschwindigkeit, so daß das scheinbar plumpe Schiff mit überraschendem Tempo an der Küste entlangglitt. Das verquollene Holz der Masten, zehn Tage lang vollgesogen mit Regen und Nebel, dessen Feuchtigkeit beharrlich in jede Pore und jeden noch so winzigen Riß gekrochen war, ächzte unter der Belastung, als es die Kraft des Windes auffangen und an den Schiffsrumpf weitergeben mußte, und das monotone Klatschen der Ruder begann einen einschläfernden Einfluß auf Skar auszuüben. Seine Augen brannten – zum Teil eine Wirkung des Salzwassers, das in einem dünnen Sprühregen von den Spieren empor und auf das Deck gewirbelt wurde, zum größeren Teil jedoch einfach vor Müdigkeit. Er hatte während der zweieinhalb Wochen, die er an Bord der SHANTAR verbracht hatte, nicht sehr viel Schlaf gefunden. Das Schiff war groß, bot jedoch kaum Platz für Passagiere, denn es war vom Bug bis zum Heck vollgestopft mit Lade- und Frachträumen, und die Wände seiner Kabine waren so hellhörig gewesen, daß er nahezu jedes Wort gehört hatte, das irgendwo an Bord des Schiffes gesprochen wurde. Dazu kam etwas, das so banal wie ärgerlich war – Seekrankheit. Von der ersten Stunde an, die er an Bord gewesen war, war ihm übel gewesen, und wenn sich sein Körper auch allmählich an das beständige Auf und Ab des Schiffes zu gewöhnen begann, so genügte doch noch immer eine unbedachte Bewegung, um seinen Magen in einen schmerzhaften Klumpen zu verwandeln. Zumindest konnte er der Situation ein gewisses Maß an Ironie nicht absprechen – was Vela mit all ihrer Macht und Bosheit nicht gelungen war, das hatte das Meer geschafft. Er wäre im Moment nicht einmal fähig gewesen, mit einem Kind zu kämpfen.

»Nun, Satai?«

Skar sah auf, als eine hochgewachsene, in einen schwarzen, ledernen Regenmantel gehüllte Gestalt neben ihm an die Reling trat. Andred, der Kapitän des Freiseglers. Skar mochte ihn. Er war ein schlanker Mann unbestimmbaren Alters, der sich gern selbst reden hörte, dabei aber nicht annähernd solch haarsträubenden Unsinn verzapfte wie die meisten anderen Männer seines Schlages. »Deine Wache ist zu Ende«, fuhr er mit einer Kopfbewegung zum Horizont fort. Die Sonne war vollends aufgegangen und stand als glosender roter Ball über dem Meer. »Du kannst in deine Kabine gehen. Ich lasse dich wecken, wenn Essenszeit ist.«

Skar stemmte sich von der Reling hoch, massierte mit der Linken seinen steifen, schmerzenden Rücken und schüttelte den Kopf. Er war so müde, daß er Mühe hatte, die Augen offenzuhalten, aber irgend etwas sagte ihm, daß er sowieso keinen Schlaf finden würde. Vielleicht war es die Nähe Elays, die ihn wach hielt.

»Ich bleibe noch«, sagte er, ohne den Blick vom Meer zu nehmen. Die Küste war als schwarzer, unregelmäßiger Streifen an Backbord sichtbar, so wie während der gesamten vergangenen Woche. Die SHANTAR segelte – zumindest in nautischen Maßstäben – dicht an der Küste entlang; weit genug entfernt, um vor den Untiefen und Riffen, die diese Gewässer zu den gefürchtetsten der Welt werden ließen, sicher zu sein, aber auch nahe genug, um sich mit einem schnellen Manöver in Sicherheit bringen zu können, falls Piraten auftauchen oder ein Sturm heraufziehen sollte. Ein Tümmler näherte sich dem Schiff, ließ seine dreieckige Rückenflosse eine Zeitlang parallel zu dem gewaltigen schwarzen Rumpf durch die Wellen schneiden und entfernte sich dann so rasch, wie er aufgetaucht war. Skar sah ihm nach, bis er verschwand.

»Wie du willst«, sagte Andred nach einer Weile. Er lehnte sich neben Skar gegen die Reling, starrte blicklos auf die Wellen hinab und schüttelte ein paarmal und ohne Skar irgendeinen Grund dafür erkennen zu lassen, den Kopf. Sein Fuß hämmerte den Takt zu einer unhörbaren Melodie auf die Planken. »Unsere Reise endet bald, Satai«, sagte er plötzlich. »Wenn der Wind weiter so günstig bleibt, dann erreichen wir noch vor Sonnenuntergang Anchor.«

Skar nickte. »Ich weiß.«

»Du willst dort wirklich von Bord?« fragte Andred, nachdem er eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, daß Skar das Gespräch von sich aus weiterführen würde.

»Warum nicht?«

»Anchor ist ein seltsamer Ort für einen Satai«, murmelte Andred. »Eine Stadt voller verrückter alter Weiber und bissiger Drachen – was sucht ein Mann wie du dort?«

Skar lächelte. Wenn es etwas gab, das Andreds Schwatzhaftigkeit noch übertraf, dann war es seine Neugier. Er hatte vom ersten Tag an versucht, mehr über den wahren Grund von Skars Reise in Erfahrung zu bringen.

»Nimm an, ich hätte ein Geschäft zu erledigen«, sagte Skar.

»Ein Geschäft?« Andred sah ihn einen Herzschlag lang verblüfft an und lachte dann. Es klang unsicher. »Du? Seit wann sind die Satai unter die Krämer gegangen?«

Skar schwieg einen Moment. Er hätte Andred eine scharfe Abfuhr erteilen können, aber er wollte den Freisegler nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin hatte Andred ihm einen Platz auf der SHANTAR gewährt, ohne daß er für die Passage bezahlen konnte. Und es konnte sein, daß er schon bald in eine Situation kam, in der er einen Freund – oder wenigstens einen Mann, der nicht sein Feind war – gebrauchen konnte. »Ich … suche jemanden«, sagte er ausweichend.

»In Anchor?«

»In Elay«, antwortete Skar. »Wenn du mich zufällig dorthin bringen kannst …«

Das Lächeln auf Andreds Zügen wurde um eine Spur eisiger. »In Elay«, wiederholte er. »In Ordnung – du willst nicht darüber sprechen. Vielleicht hast du recht, und es geht mich nichts an.« Er drehte sich mit einer abrupten Bewegung um und wollte gehen, aber Skar hielt ihn noch zurück.

»Verzeih, Andred«, sagte er in versöhnlichem Tonfall. »Ich wollte dich nicht brüskieren.«

»Das … hast du nicht«, sagte Andred in einem Ton, der die Worte Lügen strafte. »Es geht mich wirklich nichts an. Ich bin nur ein Kauffahrer und sollte mich nicht in die Angelegenheiten eines Kriegers mischen. Ich …« Er stutzte, sah an Skar vorbei in Richtung Küste und streifte dessen Hand mit einer unbewußten Bewegung ab. Seine Augen wurden schmal.

Skar drehte sich ebenfalls um. Vor der dunklen Linie der Küste war ein schlanker, noch dunklerer Schatten erschienen. Ein Schiff. Es war noch zu weit entfernt, als daß man seine Herkunft oder auch nur seine Bauart hätte erkennen können, aber selbst für Skars nicht gerade seemännisch geschulten Blick war nach wenigen Sekunden klar, daß der fremde Segler direkten Kurs auf die SHANTAR hielt.

»Was ist das für ein Schiff?« fragte er.

Andred schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. »Ein Thbargscher Kapersegler«, murmelte er. »Aber hier? In diesen Gewässern?«

Skar sah den Freisegler an. »Glaubst du, daß er uns gefährlich werden wird?«

»Gefährlich?« Andred sah ihn einen Moment verwirrt an, als müsse er sich erst ins Gedächtnis rufen, was dieses Wort überhaupt bedeutete. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Das Wort klingt gefährlicher, als es ist – zumindest sind es keine Piraten, wenn es das ist, was du befürchtest. Aber sie halten sich normalerweise nur oben im Norden auf. Ich habe jedenfalls …« Er stockte, fuhr herum und schrie, mit den Händen einen Trichter vor dem Mund bildend, ein paar scharfe Kommandos zu den Matrosen in den Rahen hinauf. Skar sah erstaunt, wie die Männer begannen, die Segel zu reffen. Gleichzeitig wurde der Ruderschlag langsamer und hörte nach wenigen Augenblicken ganz auf. Die SHANTAR trieb, von ihrem eigenen Schwung getragen, noch weiter auf dem bisherigen Kurs, wurde aber bereits merklich langsamer.

»Was hast du vor?« fragte Skar mißtrauisch.

Andred zuckte abermals mit den Schultern, stellte sich wieder neben ihn und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zu dem anderen Segler hinüber. »Ich nehme Fahrt weg«, sagte er.

Skar schluckte die scharfe Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment hinunter. »Das ist mir nicht entgangen«, sagte er spitz. »Aber warum?«

Der Freisegler deutete mit einer knappen Geste auf das schwarze Kaperschiff. »Er hält Kurs auf uns«, erklärte er geduldig. »Und das heißt, daß sein Kapitän mit mir sprechen will. Und er ist mindestens doppelt so schnell wie wir und würde uns so oder so einholen. Warum also sollten wir uns auf ein ebenso sinnloses wie kräftezehrendes Rennen mit ihm einlassen? Außerdem haben wir keinen Streit mit ihm – weder mit ihm noch mit irgendeinem anderen Thbarg.« Er schwieg einen Moment, sah Skar mit einem langen, nachdenklichen Blick an und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Ich verstehe deine Nervosität nicht, Satai. Die Thbarg sind zwar gefürchtete Kapersegler, doch sie tun keinem etwas, der ihre Grenzen nicht überschreitet. Und einem Freisegler schon gar nicht.«

Skar schwieg. Seine Finger schlossen sich in einer unbewußten, kraftvollen Geste um das brüchige Holz der Reling. Andreds Worte klangen einleuchtend ganz egal, aus welcher Richtung er es bedachte; er hatte keinen Grund, nervös oder gar ängstlich zu sein. Und doch war etwas an diesem schwarzen, viermastigen Schiff dort drüben, das ihn alarmierte.

Vielleicht, versuchte er sich einzureden, war er auch nur übernervös. Die zweiwöchige Schiffsreise hatte mehr an seinen Kräften gezehrt, als er zugeben wollte, und die Nähe Elays und damit Velas tat ein übriges, ihn gereizt und vielleicht übervorsichtig werden zu lassen. Seit er Vela und die Sumpfleute verlassen und sich allein auf den Weg zu der Verbotenen Stadt im Herzen des Drachenlandes gemacht hatte, hatte er fast ununterbrochen an die ehemalige Errish gedacht, an sie und an das, was ihn erwarten mochte. Wenn man lange genug über eine unbekannte Gefahr nachdachte, dann fing man irgendwann einmal an, Gespenster zu sehen.

Aber der Thbargsegler dort drüben war kein Gespenst. Ganz und gar nicht.

Skar atmete hörbar ein, trat einen Schritt von der Reling zurück und sah sich unschlüssig an Deck um. Am liebsten wäre er in seine Kabine gegangen und dort geblieben, bis der Thbarg weitergesegelt war, aber das hätte zu sehr nach Flucht ausgesehen. Einen Moment überlegte er, ob er einfach seinen Mantel abstreifen und sich unter die Mannschaft mischen sollte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Die Besatzung der SHANTAR bestand ausschließlich aus kleinen, gelbhäutigen Freiseglern, unter denen er sofort aufgefallen wäre.

Er merkte plötzlich, daß Andred ihn beobachtete, drehte sich verlegen um und lächelte. »Ist es normal, daß ein Schiff auf hoher See den Kurs ändert, nur weil die Kapitäne einen Plausch halten wollen?« fragte er, ehe Andred Gelegenheit hatte, eine Frage zu stellen. Skars Verhalten konnte dem Freisegler nicht entgangen sein.

Aber wenn er sich seine Gedanken darüber machte, so ließ er sich – jedenfalls im Augenblick – nichts anmerken. »Manchmal«, sagte er. »Zumindest auf hoher See. In Küstennähe wie hier … Vielleicht brauchen sie Wasser oder Proviant«, sagte er achselzuckend. »Oder einen Heilkundigen. Wir werden es in wenigen Augenblicken wissen.«

Skar zuckte zusammen und sah beinahe erschrocken an Andred vorbei nach Westen. Der Thbarg hatte schon fast die halbe Entfernung zurückgelegt und kam rasch näher. Die Segel an den vier großen Masten waren gebläht, und vor dem beilscharfen Rammsporn des Schiffes gischtete ein weiße Bugwelle. Andred hatte nicht übertrieben – der Thbarg war doppelt so schnell wie die SHANTAR; mindestens.

»Wenn du unter Deck gehen willst«, sagte Andred plötzlich, »dann tu es, solange noch Zeit ist. Von der Mannschaft wird niemand verraten, daß du an Bord bist. Freisegler nehmen normalerweise keine Passagiere mit.«

»Ich …« Skar schüttelte den Kopf, sah Andred jedoch nicht direkt an. »Wie kommst du darauf, daß ich unter Deck möchte?« fragte er ausweichend.

Der Freisegler grinste, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Nur so«, murmelte er. »Du siehst nicht gerade aus wie ein Mann, der sich über das Zusammentreffen freut.«

Skar warf ihm einen finsteren Blick zu, schwieg jedoch und starrte dem näher kommenden Thbarg entgegen. Das Kaperschiff pflügte wie ein gewaltiger schwarzer Wal durch die Wellen. Es war größer als die SHANTAR, aber schlanker, so daß die Kraft des guten Dutzends Segel, die sich an den vier Masten blähten, optimal genutzt wurde und dem Schiff eine erstaunliche Geschwindigkeit – und wohl auch Wendigkeit – verlieh. Seine Bordwand war gut eine Manneslänge höher als die des Freiseglers, und hinter der hohen, durchbrochenen Reling waren die Drachenköpfe zahlreicher gespannter Katapulte zu erkennen, als das Schiff näher kam.

»Das ist seltsam«, murmelte Andred.

»Was?«

»Der Rauch dort – siehst du ihn?« Der Freisegler deutete auf das Heck des Thbarg. Eine Anzahl dünner, schwarzgrauer Rauchsäulen erhob sich vorn Achteraufbau des Kaperseglers. Sie trieben fast sofort im Wind auseinander, waren jedoch trotzdem deutlich zu erkennen. Über dem hinteren Teil. des Schiffes schien die Luft leicht zu flimmern, als wäre sie erhitzt. Skar nickte.

»Kohlen«, erklärte Andred. »Für die Katapulte. Sie sind in voller Kampfbereitschaft.«

»Hast du nicht gerade erst gesagt, daß du keinen Streit mit den

Thbarg hast?« fragte Skar mit mühsam beherrschter Stimme.

»Das gilt nicht uns«, widersprach der Freisegler. »Wollten sie uns angreifen, hätten sie es längst getan. Wir sind längst in ihrer Reichweite. Außerdem würde er dann kaum längsseits gehen, sondern uns im rechten Winkel rammen.« Seine Zunge fuhr in einer raschen, nervösen Bewegung über seine Unterlippe, und die Worte klangen nicht ganz so überzeugt, wie sie es hätten tun sollen. Der Freisegler war nervös, das sah Skar ganz deutlich.

Schweigend beobachteten sie das Näherkommen des Kaperschiffes. Der Thbarg minderte seine Geschwindigkeit nicht, änderte seinen Kurs erst im letzten Moment und segelte schließlich ein Stück hinter und neben der SHANTAR. Die Segel wurden gerefft; Skar konnte sehen, wie das Schiff wie ein großes, schwerfälliges Tier zitterte, als der Druck des Windes auf seine Spanten nachließ. Es war noch immer schneller als die SHANTAR, verlor jedoch nun rasch an Fahrt und kam nach wenigen Minuten fast auf den Meter genau neben dem kleineren Freisegler zum Stehen. Andred begleitete das Manöver mit einem flüchtigen Stirnrunzeln, aber selbst Skar – der von Schiffen kaum mehr verstand, als daß sie groß waren und schwimmen konnten – begriff, daß er hier Zeuge einer seemännischen Meisterleistung wurde.

»Ahoi, SHANTAR!« dröhnte eine Stimme vom Deck des Thbarg herüber. »Wir kommen an Bord!«

Eine Anzahl dunkler, gegen den flammenden Morgenhimmel nur als flache schwarze Schattenrisse zu erkennende Gestalten erschien hinter der Reling des Kaperseglers. Das gewaltige Schiff zitterte wieder, neigte sich ein wenig zur Seite und trieb dann ganz langsam auf die SHANTAR zu. Skar sah weder Ruder noch sonstige Hilfsmittel, mit denen das Schiff bewegte wurde; trotzdem schmolz die Entfernung zwischen den beiden Seglern sichtlich zusammen.

»Wie macht er das?« fragte Skar.

Andred zuckte erneut mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er. »Aber irgendwie hast du recht, –Satai – die Sache gefällt mir nicht.« Er hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt und flüsterte nur noch; seine Hände lagen auf der Reling, so fest, daß die Knöchel weiß durch seine sonnenverbrannte Haut hindurchschimmerten. Er gab sich alle Mühe, seine Unruhe zu verbergen, aber es gelang ihm nicht.

Der Thbarg kam näher und hielt schließlich auf die gleiche, geheimnisvolle Weise, auf die er sich in Bewegung gesetzt hatte, weniger als eine Armlänge neben der SHANTAR an. Ein schwacher Geruch nach frischem Teer und brennenden Kohlen wehte zu ihnen herüber.

In die Gestalten hinter der Reling kam Bewegung. Eine Planke wurde zum Deck der SHANTAR herabgelassen und mit kleinen kupfernen Krallen festgehakt; dann traten drei der Männer – rasch und mit ausgebreiteten Armen, um auf der abschüssigen Laufplanke das Gleichgewicht zu halten – zu ihnen herab.

Skar musterte die Neuankömmlinge mit unverhohlenem Mißtrauen. Sie waren allesamt groß und sehr muskulös und in bodenlange, dunkelblaue, mit silbernen Stickereien verzierte Mäntel gehüllt. Das einzige Unterscheidungsmerkmal war ein wuchtiger, goldbeschlagener Helm, den einer von ihnen trug. Nach dem einfachen, schon beinahe ärmlichen Leben, das Skar an Bord der SHANTAR kennengelernt hatte, erschien ihm die Aufmachung der drei Thbarg schon fast barbarisch in ihrer Pracht.

»Ich bin Gondered«, stellte sich der Anführer der Thbarg vor. Es war der Mann mit dem Goldhelm. Sein Blick tastete, rasch und mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der im Umgang mit Menschen geübt war, über Skars Gestalt, blieb eine halbe Sekunde an seinem Gesicht hängen und wandte sich dann Andred zu. »Ihr seid der Kapitän?« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und allein der herrische Ton, in dem sie vorgebracht wurde, klärte die Fronten zwischen ihnen deutlicher, als es die gespannten Katapulte gekonnt hatten.

Andred nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und verkrampft, und Skar sah, wie die Hand des Freiseglers langsam und in einer Bewegung, über die er sich wahrscheinlich selbst nicht im klaren war, zum Gürtel kroch. Der Griff seines Kurzschwertes zeichnete sich deutlich durch das glänzende Leder des Regenmantels ab. »Mein Name ist Andred«, sagte er mühsam beherrscht. »Ich bin Eigner und Kapitän der SHANTAR. Würdet Ihr mir verraten, was der Grund für Euren Besuch ist?« Seine Stimme klang spröde. Von der Freundlichkeit, die Skar an ihm kennen- und schätzengelernt hatte, war nichts mehr geblieben.

Auch Gondered entging der ablehnende Tonfall in den Worten des Freiseglers nicht, aber seine Reaktion fiel anders aus, als Skar erwartet hatte. In seinen Augen blitzte es amüsiert auf. »Gern, Kapitän«, sagte er. »Wir segeln im Auftrag der Ehrwürdigen Frauen von Elay und kontrollieren jedes Schiff, das sich den Küsten des Drachenlandes nähert.«

»Kontrollieren?« konterte Andred. »Wonach? Wenn Ihr nach Schmuggelgut sucht …«

Gondered unterbrach ihn mit einer abfälligen Handbewegung. »Wer spricht von Schmugglern?« sagte er lächelnd. »Wir sind Thbarg, Kapitän, keine Steuereintreiber. Ihr solltet uns besser kennen. Wir suchen Quorrl.«

»Hier?« erwiderte Andred ungläubig. »Verzeiht, Kapitän, aber –«

Erneut wurde er von Gondered unterbrochen. »Ich habe meine Befehle«, sagte der Thbarg hart. »Und die lauten nun einmal, mir jedes Schiff genau anzusehen.« Er schwieg einen Moment und lächelte dann flüchtig, wohl, um seinen Worten nachträglich etwas von ihrer Schärfe zu nehmen. »Natürlich glaube ich nicht, daß ich auf Eurem Schiff Quorrl oder sonstiges Kroppzeug antreffen werde, Kapitän, aber Ihr werdet mir erlauben, Eure Laderäume ganz kurz zu inspizieren?«

Skar sah alarmiert von Gondered zu Andred und wieder zurück. Er spürte, daß es in dem Freisegler kochte. Gondereds Freundlichkeit war bewußt aufgesetzt, und der Spott, der sich dahinter verbarg, kaum mehr zu überhören. Es schien dem Thbarg Freude zu bereiten, sich an der Hilflosigkeit seines Gegenübers zu weiden.

»Mein Schiff steht Euch zur Verfügung«, sagte Andred steif. »Wenn Ihr die Frachtpapiere sehen wollt …«

Gondered winkte ab. »Mit dem Papierkram sollen sich die Hafenbehörden befassen«, sagte er. »Ihr segelt nach Anchor?«

Andred nickte. »Wir wollen noch heute einlaufen.«

»Das werdet Ihr«, versicherte Gondered. »Es dauert nicht lange, vorausgesetzt, daß wir nichts finden.«

Andreds Lächeln wurde um eine weitere Spur eisiger, aber er zog es vor zu schweigen. Der Thbarg drehte sich herum, gab seinen Männern an Deck des Kaperschiffes ein Zeichen und trat zur Seite, als weitere Männer über die Planke zur SHANTAR herunter kamen. Sein Blick heftete sich wieder auf Skar.

»Ihr seid kein Freisegler?« fragte er.

Skar schüttelte den Kopf, schwieg aber. Er spürte ganz genau, daß Gondered mehr war als ein einfacher Kaperkapitän, der seine Befehle ausführte. Und der Thbarg gab sich nicht einmal sonderliche Mühe, sich zu verstellen.

»Wie kommt es, daß sich ein Thbarg in die Dienste der Errish stellt?« fragte Skar. »Ich dachte immer, ihr wäret ein stolzes Volk, das sich nicht verkauft.« Seine Worte taten ihm im gleichen Moment schon wieder leid, aber Gondered gehörte zu den Männern, die allein durch ihren Anblick schon Aggressionen in ihm weckten.

Die Mundwinkel des Thbarg zuckten. »Wir verkaufen uns nicht«, sagte er betont. »Aber wenn die Errish nach Hilfe rufen, dann kommen wir. Folgen nicht sogar die Satai dem Ruf der Ehrwürdigen Frauen?«

Skar hatte Mühe, nicht zusammenzufahren. Gondereds Gesicht wirkte entspannt und so herablassend-freundlich wie zuvor, aber es war gewiß kein Zufall, daß er ausgerechnet diese Frage stellte. Und das mißtrauische Glitzern in seinen Augen war unübersehbar.

Skar zuckte mit den Achseln, wandte sich halb um und sah scheinbar interessiert zu, wie Gondereds Männer über das Deck der SHANTAR ausschwärmten und in den Frachtluken und Aufbauten verschwanden. »Möglich«, sagte er. »Ich kümmere mich im allgemeinen nicht um solche Dinge.«

»Ihr habt nicht zufällig einen Satai getroffen, in letzter Zeit?« fuhr Gondered lauernd fort.

Skar wandte sich wieder zu ihm um, hielt seinem Blick eine endlose Sekunde lang stand und schüttelte den Kopf. »Der letzte, von dem ich hörte, schlug sich gerade in der Arena von Ikne für Geld mit irgendwelchen Barbaren herum«, sagte er ruhig.

Gondered nickte. Einen Moment schien er über Skars Worte nachzugrübeln. »Und wer seid Ihr?« fuhr er dann fort. »Wenn die Frage gestattet ist – immerhin trifft man selten einen Passagier an Bord eines Freiseglers.«

Andred sog erschrocken die Luft ein. Gondered mußte es erkennen, ließ sich jedoch keine Reaktion darauf anmerken.

»Mein Name ist Bert«, log Skar. »Ich bin ein reisender Händler aus Malab. Kapitän Andred war so freundlich, mir eine Passage auf seinem Schiff anzubieten. Der Landweg nach Elay ist weit und voller Gefahren.«

»Vor allem für einen hilflosen Kaufmann wie Euch, wie?« Skar lächelte dünn. »Wer sagt, daß Kaufleute unbedingt hilflos sein müssen?« gab er zurück.

»Bert ist ein guter Bekannter von mir«, mischte sich Andred ein. »Ich stand seit langem in seiner Schuld. Er … hat mir einmal zu einem guten Geschäft verholfen. Mit der Überfahrt kann ich das wettmachen.«

Gondered runzelte die Stirn, sah Andred einen Herzschlag lang zweifelnd an und wandte sich dann wieder an Skar. »Ihr werdet in Anchor keine guten Geschäfte machen«, sagte er. »Die Stadt steht in Waffen, und die Menschen haben anderes zu tun, als Geschäfte abzuschließen.«

»Gegessen wird immer«, gab Skar mit gespieltem Gleichmut zurück. »Und wo ein paar Goldstücke zu verdienen sind, da ist auch der Krieg rasch vergessen.«

»Was soll das heißen, die Stadt steht in Waffen?« fragte Andred hastig.

Gondered bedachte ihn mit einem beinahe mitleidigen Blick. »Ihr seid lange nicht mehr in diesem Teil Enwors gewesen, wie?« fragte er. »Das ganze Drachenland ist zu den Waffen geeilt, Kapitän, aus dem gleichen Grund, aus dem wir hier patrouillieren.«

»Quorrl?« fragte Skar.

Der Thbarg nickte. »Die Ehrwürdige Mutter ist endlich zur Besinnung gekommen und tut, was schon vor Jahrzehnten hätte getan werden sollen. Ein Heereszug der Quorrl hat die Grenzen überschritten und eine Stadt geschleift. Und jetzt jagen wir sie zur Hölle.«

Skar runzelte die Stirn. »Ihr sprecht sehr respektlos von Eurer Dienstherrin, Kapitän«, sagte er leise.

»Elay ist weit«, antwortete Gondered achselzuckend. »Und wie Ihr schon so richtig bemerkt habt, Bert« er betonte den Namen auf so seltsame Weise, daß Andred erneut zusammenfuhr –, »verkaufen wir Thbarg uns nicht. Wir erfüllen nur unsere Aufgabe. Aber das gründlich, mein Wort darauf.«

Skar verbiß sich die böse Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. Gondered wußte – oder ahnte zumindest –, daß er alles andere als ein harmloser Kauffahrer war, und wollte ihn provozieren. Skar mußte zugeben, daß Gondered nahe daran war, sein Ziel zu erreichen. Vielleicht hatte die Reise an Bord der SHANTAR zu lange gedauert. Nach der ununterbrochenen Anspannung, unter der Skar seit seinem ersten Aufbruch aus Ikne gestanden hatte, ließen ihn die zwei Wochen Ruhe an Bord des Seglers nicht nur müde, sondern auch unvorsichtig werden.

»Seit wann treiben sich Quorrl auf dem offenen Meer herum?« fragte Andred, bevor Skar vollends einen Streit mit dem Thbarg beginnen konnte.

Gondered zuckte mit den Achseln, als interessiere ihn die Antwort auf diese Frage überhaupt nicht. »Sie sind überall«, sagte er. »Das Heer wurde zerschlagen, aber die Überlebenden haben sich zu kleinen Banden zusammengeschlossen und ziehen plündernd durch das Land. Vor zwei Wochen haben sie einen Küstensegler gekapert und versucht, mit ihm das freie Meer zu erreichen.«

»Und?« fragte Skar.

Gondered lächelte häßlich. »Unsere Katapulte schießen sehr weit«, sagte er. »Und sehr genau, Bert. Die Quorrl haben das nicht geglaubt, aber wir haben es ihnen demonstriert.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Ihr solltet auf der Hut sein, Bert, wenn Ihr Anchor verlaßt und weiter durch das Land zieht.«

Skar lächelte böse. »Solange es Männer wie Euch gibt, Gondered, fürchte ich mich nicht vor Quorrl.«

Gondereds Hand schloß sich um den Schwertgriff unter seinem Mantel. Der Stoff bewegte sich raschelnd, und Skar sah, daß Gondered darunter ein glitzerndes Panzerhemd trug. Auch die letzte Spur von Freundlichkeit verschwand aus Gondereds Gesicht. »Das braucht Ihr auch nicht, Bert«, sagte er dumpf. Er fuhr mit einer abrupten Bewegung herum, entfernte sich ein paar Schritte und begann seine Leute anzubrüllen und zur Eile anzutreiben.

Skar und Andred sahen schweigend zu, wie die Thbarg das Schiff untersuchten. Es war alles andere als ein flüchtiger Blick, wie Gondered angekündigt hatte. Sie brauchten weniger als eine halbe Stunde, aber es mußten an die hundert Mann sein, die nach und nach auf das Deck der SHANTAR herunterstiegen, unter Deck gingen und jeden Winkel und jede Ecke durchstöberten.

Skar spürte, wie sich die Stimmung unter den Freiseglern mehr und mehr zuspitzte. Es war nicht viel, was er über das Volk der Freisegler wußte – er war den Männern während der letzten vierzehn Tage aus dem Weg gegangen, soweit dies in einer so beengten Umgebung wie einem Schiff möglich war; und sie ihm auch aber der Stolz dieser seefahrenden Händler war überall auf Enwor zur Genüge bekannt. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was jetzt hinter den scheinbar unbewegten Gesichtern der Männer vorging, und er sah mehr als eine Hand, die mit einer unbewußten Geste nach Säbel, Tau oder Enterhaken tastete. Im stillen bewunderte er die Disziplin, die Andreds Männer an den Tag legten. Gondereds Verhalten war mehr als eine bloße Provokation. Es war eine Demütigung, wie sie schlimmer kaum sein konnte, und zugleich eine ebenso überhebliche wie unnötige Demonstration von Stärke. Skar beobachtete den Thbarg genau – Gondered wirkte nur äußerlich gelassen und ruhig. Seine Freundlichkeit war nur eine dünne, nicht einmal besonders sorgsam aufgetragene Tünche, und dem Blick seiner dunklen, stechenden Augen schien nicht die winzigste Kleinigkeit zu entgehen. Skar war sicher, daß Gondered die gereizte Stimmung unter den Freiseglern ebenso deutlich bemerkte wie er. Gondered genoß die Situation sichtlich. Wahrscheinlich, überlegte Skar, wartete er nur darauf, seine Stärke und die Feuerkraft seines Seglers demonstrieren zu können.

Aber der gefährliche Moment ging vorbei, und schließlich zogen sich Gondereds Männer so schnell und unauffällig, wie sie gekommen waren, wieder zurück. Auch der Thbarg und seine beiden Begleiter wandten sich zum Gehen, blieben jedoch kurz vor Erreichen der Laufplanke noch einmal stehen.

»Ihr könnt weitersegeln, Andred«, sagte Gondered kalt. »Der Wind steht günstig, und wenn Eure Ruderer kräftig auslegen, dann erreicht Ihr Anchor noch vor Sonnenuntergang.« Er nickte, lächelte wieder sein dünnes, humorloses Lächeln und wandte sich noch einmal an Skar. »Auch wir segeln nach Anchor, Bert«, sagte er. »Ihr könnt den Rest der Reise auf unserem Schiff verbringen, wenn Ihr wollt. Ihr gewinnt einen halben Tag.«

Skar schüttelte den Kopf. »Es lohnt sich nicht mehr«, entgegnete er. »Mein Gepäck müßte umgeladen werden, und ich will Euch nicht länger von der Jagd auf Quorrl abhalten als nötig ist. Danke für das Angebot.«

Gondered zuckte die Achseln. »Wie Ihr wollt. Ich denke, wir sehen uns noch. In Anchor. Guten Wind, Kapitän.«

»Guten Wind«, erwiderte Andred steif. Mit unbewegtem Gesicht sah er zu, wie Gondered und seine drei Begleiter an Bord des Kaperseglers zurückkehrten und die Laufplanke eingezogen wurde. Ein tiefes, mahlendes Stöhnen ging durch den Rumpf des größeren Schiffes. Der Bug mit dem messerscharfen Rammsporn drehte sich ein wenig von der SHANTAR weg auf die entfernte Küste zu, die Segel wurden gesetzt, und das Schiff nahm wieder Fahrt auf. Andred starrte ihm länger als eine Minute nach, fuhr dann mit einer abrupten Bewegung herum und maß Skar mit einem undeutbaren Blick. »Ich glaube, Ihr seid mir eine Erklärung schuldig, Satai?« sagte er kalt.

Skar nickte. »Ich –«

Andred unterbrauch ihn mit einer hastigen Handbewegung. »Nicht hier«, sagte er. »In meiner Kabine. Ihr könnt schon hinuntergehen. Ich habe hier noch zu tun, komme aber gleich nach.« Er nickte, ging ohne ein weiteres Wort an Skar vorbei und begann seinen Männern Kommandos und Befehle zuzurufen.

Skar blieb noch einen Moment an der Reling stehen, ehe er sich ebenfalls umdrehte und langsam zum Achteraufbau der SHANTAR ging. Er hatte gespürt, wieviel Mühe es Andred gekostet hatte, ihn zumindest höflich zu behandeln – es war kein Zufall, daß der Freisegler nach fast zwei Wochen vom vertraulichen Du wieder zum reservierten Ihr zurückgekehrt war, und eigentlich kam es Skar jetzt erst richtig zu Bewußtsein, daß Andred vielleicht nicht nur seine Freiheit, sondern sein Leben und sein Schiff riskiert hatte, als er ihn deckte.

Er erreichte die Tür, blieb noch einmal stehen und sah dem rasch kleiner werdenden Kapersegler nach. Der Thbarg hatte volle Segel gesetzt und jagte mit großer Geschwindigkeit nach Norden, wie die SHANTAR der Küste folgend, jedoch näher; wahrscheinlich nahe genug, daß man von Deck aus noch das Geschehen auf den Küstenfelsen verfolgen konnte und gleichzeitig durch den gewaltigen schwarzen Schatten der Basaltklippen vor einer Entdeckung von See aus geschützt war. Skar konnte Gondered ein gewisses Maß an Anerkennung nicht versagen. In seinen Augen war der Thbarg nichts als eine Ratte, doch eine intelligente, gefährliche Ratte. Aber im Grunde hätte ihn diese Entwicklung nicht überraschen dürfen. Es war genau dieser Typ Mann, den Vela in ihre Dienste nehmen würde.

Mit einem entschlossenen Kopfschütteln vertrieb er den Gedanken, drehte sich herum und trat durch die Tür. Andreds Kabine lag am Ende eines langen, fensterlosen Ganges ganz im Heck des Schiffes. Es war der einzige Raum an Bord, der die Bezeichnung Kabine wirklich verdiente – auch er war klein, kaum fünf mal zehn Schritte messend, aber die Decke war wenigstens hoch genug, daß man stehen konnte, ohne sich ständig den Schädel anzustoßen, und durch die vier großen, aus farbigem Glas bestehenden Luken an der Rückseite drang genügend Sonnenlicht herein, um dem Raum wenigstens etwas von seiner Kerkeratmosphäre zu nehmen.

Skar schloß die Tür hinter sich, streifte seinen Umhang ab und warf ihn achtlos in eine Ecke. Gondereds Männer waren auch hier gewesen – einige der Bücher auf dem schmalen, mit einer silbernen Kette gesicherten Regal neben der Tür waren umgeworfen und nur achtlos wieder aufgestellt worden, und die Tür des Wandschranks stand einen Spaltbreit offen. Skar trat besorgt an die niedrige, metallbeschlagene Seekiste des Freiseglers heran und ließ sich davor in die Hocke sinken. Das Haar, das er in eines der Scharniere geklemmt hatte, war noch da.

Skar atmete innerlich auf. Er war sicher, daß die Thbarg auch seine Kabine durchsucht hatten, vielleicht gründlicher als jeden anderen Raum an Bord. Im nachhinein beglückwünschte er sich zu dem Entschluß, Andred gleich zu Beginn der Reise sein Tschekal und das schmale Satai-Stirnband in Verwahrung gegeben zu haben.

Als er sich wieder aufrichtete, wurde die Tür geöffnet, und Andred betrat den Raum. Er blieb einen Herzschlag lang stehen, sah zuerst Skar, dann die Seekiste an und ging schließlich mit übertrieben eiligen Schritten zu seinem Tisch. »Setz dich, Satai«, sagte er knapp, nachdem er selbst hinter dem wuchtigen, mit kostbaren Schnitzereien verzierten Schreibtisch Platz genommen hatte.

Skar zog sich einen der niedrigen dreibeinigen Schemel heran, ließ sich darauf nieder und sah Andred an. Der Freisegler hatte seinen Regenmantel abgelegt und wirkte jetzt noch schmaler, als er ohnehin war. Seine Finger spielten nervös mit einer zusammengerollten Karte. Aber er hielt Skars Blick gelassen stand.

Skar begann sich allmählich unwohl zu fühlen. Ihm wäre wohler gewesen, wenn Andred ihm Vorhaltungen gemacht oder wenigstens irgend etwas gesagt hätte.

»Du … wartest auf eine Erklärung«, sagte er stockend.

Andred lächelte. »Nicht unbedingt. Nur, wenn Euch danach ist, Satai«, sagte er spöttisch.

Skar zuckte zusammen. »Du hast dein Schiff und deine Ladung in Gefahr gebracht«, begann er, »und –«