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Über dieses Buch:

Seit er denken kann, will der Waisenjunge Tibor ein Ritter werden. Endlich scheint sein Traum wahr zu werden: Als Knappe tritt er in das Gefolge des weißen Ritters Wolff ein. Doch schon bald lernt Tibor die unendlichen Gefahren kennen, die das Schicksal für diejenigen bereithält, die sich dem Kampf verschrieben haben. Doch eine noch größere Bedrohung zieht am Horizont herauf: Resnec, der dunkle Herr, versucht mit aller Gewalt die Macht über das Land an sich zu reißen. Nur Tibor und seine Gefährten können sich ihm noch in den Weg stellen. Sie machen sich auf ins Reich hinter den Schatten, wo Verrat und Tod lauern …

Über den Autor:

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch Märchenmond. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX. Zeitgleich startete der in Neuss lebende Autor ein innovatives Hohlbein-TV-Projekt.

 

Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Bei jumpbooks erscheint von Wolfgang Hohlbein:
Der weiße Ritter - Erster Roman: Wolfsnebel
Der weiße Ritter - Zweiter Roman: Schattentanz
Nach dem großen Feuer
Ithaka
Drachentöter

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eBook-Neuausgabe Juni 2016

Copyright © 1986 by Loewes Verlag, Bindlach

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs unter Verwendung von © Marla (fotolia.com)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-129-6

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Wolfgang Hohlbein

Der weiße Ritter
Erster Roman – Wolfsnebel

jumpbooks

Kapitel 1

Der Fremde war am vergangenen Abend ins Dorf gekommen, und eigentlich sah er gar nicht so aus, wie sich Tibor einen Ritter vorgestellt hatte. Sicher–er ritt ein prachtvolles Schlachtroß, dessen weiße Satteldecke voller Goldstickereien und Borten war, und sein Schild und Helm hatten in der Abendsonne geglänzt wie poliertes Silber. Aber für einen Ritter schien er ihm noch verhältnismäßig jung zu sein, und die Art, in der er im Sattel gesessen hatte, war wohl mehr müde als stolz, und bei näherer Betrachtung hatte sich das Material seiner Rüstung eher als zerschrammtes Eisen denn als Edelmetall herausgestellt. Seine Hände hatten vor Erschöpfung gezittert, als er vor dem Haus des Dorfschulzen aus dem Sattel gestiegen und um ein Nachtlager gebeten hatte. Tibor hatte nicht verstanden, was er gesagt hatte, denn die weißgekleidete Gestalt war rasch von einer dichten Menschenmenge umringt gewesen, die ihn nicht durchließ. Aber seine Stimme hatte, wenn auch fest, so doch sehr leise geklungen. Er hatte nicht gefordert, wie es einem Ritter zukam, sein Auftreten war nicht das eines Fordernden, sondern das eines Bittenden gewesen, und Tibor war sich ziemlich sicher, daß er ohne ein Wort des Protestes wieder in den Sattel gestiegen und weitergeritten wäre, hätte der Schulze seine Bitte abschlägig beschieden. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte – Wolff von Rabenfels war ganz und gar nicht das, was sich Tibor unter einem Ritter vorgestellt hatte.

Was Tibor nicht daran hinderte, ihn geradezu grenzenlos zu bewundern. Solange er denken konnte, hatte er Ritter bewundert, und solange er sich erinnern konnte, war es sein größter Wunsch gewesen, selbst eines Tages auf einem prachtvoll geschmückten Pferd zu sitzen, ein Schwert am Gürtel und das Wappen seines Herren auf Schild und Brünne.

Aber es war eben nur ein Wunsch, und mit jedem Jahr, das ins Land ging, war Tibor klarer geworden, daß er das wohl auch immer bleiben würde. Statt ein Ritter in einer glänzenden Rüstung zu sein, würde er wohl den Rest seines Lebens damit zubringen, Kisten und Ballen auf und von Ochsenkarren zu laden, sich Farbe ins Gesicht zu schmieren und sich vor einer grölenden Meute zum Narren zu machen, um des Lohnes einer warmen Mahlzeit und eines Nachtlagers. Gar manches Mal schon war er mit Schimpf und Schande aus einem Dorf gejagt worden, und statt Münzen und einem warmen Mahl hatte es Steine und faules Obst geregnet. Nein, ein Ritter würde er niemals werden. Nicht einmal ein Knappe. Aber davon träumen durfte er, und er tat es gerne und oft.

»Heda, Tibor!«

Wirbes Stimme drang schrill und unangenehm in seine Gedanken und ließ die Vorstellung von einem weißen Pferd und einer silbernen Rüstung zerplatzen wie eine Seifenblase.

»Steh nicht rum und halte Maulaffen feil, Bursche!« polterte Wirbe. »In einer Stunde fängt die Vorstellung an, und der Wagen entlädt sich nicht von allein. Wenn du heute abend Suppe in deiner Schüssel haben willst, dann beeil’ dich gefälligst.« Er spie aus, bedachte Tibor mit einem strafenden Blick und humpelte davon, nicht, ohne ihm im Vorübergehen noch einen gehörigen Knuff in die Rippen zu versetzen.

So viel zum Thema Träume, dachte Tibor mißmutig, während er den schweren Ballen mit der Zeltbahn vom Wagen hob und damit zu dem erst halb aufgebauten Podest auf der anderen Seite des Angers hinüberwankte. Aber er wollte sich nicht beschweren: Wirbe war ein strenger Mann, aber trotzdem gut zu ihm. Er schlug ihn selten – und eigentlich niemals ohne Grund –, und er bekam satt zu essen, was schon mehr war, als so manch anderer Waisenknabe seines Alters von sich behaupten konnte. Und das Leben bei Wirbe und seiner Truppe gefiel ihm.

Keuchend setzte er seine Last ab, blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen, und ging dann schnell zum Wagen zurück, um weiterzuarbeiten. Wirbe sollte ihn nicht schon wieder beim Nichtstun überraschen – was zweifelsohne zu einer gehörigen Tracht Prügel oder zumindest einem ausgefallenen Abendessen geführt hätte. Und Wirbe hatte ja schließlich recht: Sie waren am Mittag des vergangenen Tages angekommen, und die Bühne und das Zelt waren noch nicht aufgebaut; sie mußten sich sputen, wenn sie pünktlich zur Mittagsvorstellung fertig werden wollten.

Sein Blick tastete über den Rand des Waldes, der das Dorf an drei Seiten wie eine natürlich gewachsene Wehrmauer umschloß. Es war nicht einmal Mittag, aber aus irgendeinem Grunde wurde es dort drüben nicht richtig hell, und die Schatten zwischen den Bäumen waren so schwarz wie mit dunkler Tusche gemalt. Ein leichter grauer Nebel schwebte wie Altweibersommer über dem Boden. Der Wind brachte einen ersten eisigen Gruß des bevorstehenden Winters mit sich, und der Anblick erinnerte Tibor daran, daß an den Tagen zuvor schon Rauhreif im Gras geglitzert hatte, als die Sonne aufging. Ein paarmal war er auch vor Kälte mitten in der Nacht aufgewacht. Es würde nicht mehr lange dauern, und statt des Nebels würde Schnee zwischen den Bäumen liegen.

Tibor fröstelte, als der Wind plötzlich auffrischte und unangenehm durch seine dünnen Kleider biß. Die Böen brachen sich wimmernd und heulend an den Dächern der Handvoll Häuser, aus denen der kleine Ort bestand, und irgend etwas war in diesem Geräusch, was Tibor erschaudern ließ. Es klang auf schwer in Worte zu fassende Weise… unheimlich: mehr wie das Heulen irgendeines Tieres als das des Windes.

Tibor schob den Gedanken von sich, zog fröstelnd die Schultern zusammen und beeilte sich, den Wagen weiter zu entladen. Wirbe war kein sehr geduldiger Herr.

Als er das dritte Mal über den Anger schlurfte, trat eine Gestalt ihm in den Weg, hob die Hand und sagte: »Warte einen Moment, Junge.«

Tibor blieb stehen, wankte einen Moment unter der schweren Last der Zeltbahn und setzte dann den Ballen hastig ab, ehe er die Balance verlieren und in den Schmutz fallen konnte.

»Du gehörst doch zu den Gauklern, oder?« fragte der Mann.

Das war eine ziemlich dumme Frage, fand Tibor. Die Mitglieder von Wirbes Truppe waren die einzigen Fremden, die seit Monaten hergekommen waren, und von den Dörflern würde wohl keiner seine Zeit damit totschlagen, die Wagen der Gauklertruppe zu entladen. Außerdem hatte ihn der Fremde erschreckt, und er hätte um ein Haar die saubere Zeltplane in den Schlamm fallen lassen, was ihm jede Menge Ärger eingebracht hätte. Tibor runzelte verärgert die Stirn, beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte zum Gesicht des Fremden hoch.

Aber die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, blieb ihm im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken, als er das Gesicht des Mannes sah. Er stand mit dem Rücken zur Sonne vor ihm und war im ersten Moment nur als schwarze Silhouette zu sehen. Aber dann senkte er den Kopf, und Tibor erkannte ihn.

Es war Wolff von Rabenfels, der junge Ritter, der am vergangenen Abend angekommen war, nur wenige Stunden nach ihnen.

»Was ist los, Junge?« fragte er, als Tibor keine Anstalten machte zu antworten, sondern ihn nur unverwandt und mit offenem Mund anstarrte. »Hat es dir die Sprache verschlagen, oder sprichst du nicht mit einem armen Ritter wie mir?« Seine Stimme klang ungeduldig und streng, aber in seinen Augen blitzte ein spöttischer Funke.

»Doch, Herr«, stammelte Tibor hastig. »Ich war nur… nur überrascht, das war alles. Ich habe Euch nicht gleich erkannt. Verzeiht!«

Der Ritter winkte ab, und obwohl er dabei lächelte, wirkte er mit einem Male ungeduldig und ein kleines bißchen verärgert. Er sah müde aus, fand Tibor. Und in seinen Augen war ein sonderbarer Ausdruck, den er kannte, aber nicht sofort einordnen konnte. Dann fiel es ihm ein: Im letzten Sommer hatte er einmal einen kleinen Hund aufgenommen, der von seinem früheren Herrn geschlagen worden und vollkommen verängstigt war. Nach und nach hatte er sein Vertrauen gewonnen, aber etwas von der alten Furcht war stets geblieben. Und es war genau dieser Blick, den er in den Augen des jungen Ritters zu lesen glaubte.

Tibor schob die Vorstellung beinahe erschrocken von sich. Unsinn, dachte er. Er ist ein Ritter. Müde zwar, aber trotzdem ein Ritter. Und Ritter kannten keine Angst.

Er spürte plötzlich, daß er Wolff schon wieder anstarrte, lächelte verlegen und fragte: »Was kann ich für Euch tun, Herr?«

»Ihr seid noch nicht lange in diesem Dorf. Seit gestern, nicht wahr?«

Tibor nickte hastig. »Wir sind kurz vor Euch angekommen.«

»Und wo wart ihr vorher?« wollte Wolff wissen.

Tibor zuckte mit den Achseln. »Mal hier, mal dort«, antwortete er ausweichend. »Wir ziehen durch das ganze Land, aber eigentlich ohne ein festes Ziel.«

»Ihr kommt von Süden«, stellte Wolff fest, obwohl Tibor dies mit keinem Wort gesagt hatte.

Überrascht nickte er. »Ja. Wir sind den Rhein hinaufgezogen. Wirbe will nach Köln, um dort zu überwintern. Doch woher wißt Ihr das, Herr?«

Wolff lächelte flüchtig, wurde sofort wieder ernst und deutete auf die graugefleckte Stute, die vor Wirbes Wagen stand und an den kümmerlichen Grashalmen zupfte, die in Büscheln auf dem zertretenen Anger wuchsen. »Pferde wie dieses werden nur im Süden gezüchtet«, antwortete er. »Und das Tier ist noch nicht sehr alt. Kein Jahr.« Ein flüchtiges Stirnrunzeln zog seine Brauen zusammen, und er fügte, etwas leiser und mit veränderter Stimme, hinzu: »Eigentlich ist es viel zu jung, um allein einen solch schweren Wagen zu ziehen. Und zu edel.«

Tibor blickte den dunkelhaarigen Ritter mit noch mehr Respekt an. Wirbe hatte das Tier tatsächlich weiter unten im Süden erworben – genauer gesagt hatte er es einem Tölpel, der es nicht besser verdiente, als übers Ohr gehauen zu werden, für ein Butterbrot abgeluchst, und Tibor hatte ihm selbst einmal zu seinem Weib sagen hören, daß ein Tier wie diese Stute eher dazu geboren sei, einen stolzen Ritter zu tragen, statt einen Karren zu zerren.

»Ihr habt… ein scharfes Auge, Herr«, sagte er stokkend.

Wolff lächelte geschmeichelt. »Das braucht man auch, wenn man ein Leben wie ich führt«, sagte er geheimnisvoll, wechselte aber sofort das Thema und deutete über die Strohdächer des Dorfes nach Süden. »Ich bin mit Freunden verabredet«, fuhr er fort. »Aber es scheint, als hätten wir uns verfehlt. Jemandem wie euch, die viel herumkommen, müßten sie aufgefallen sein. Sie sind zu viert oder fünft und tragen das gleiche Wappen wie ich.« Er deutete mit der Linken auf den schwarzen Raben, der kunstvoll unter der linken Schulter in sein Hemd gestickt war, und blickte Tibor scharf an. »Hast du Männer mit diesem oder einem ähnlichen Wappen gesehen?«

Tibor antwortete nicht gleich. Er war sicher, ein solches Wappen ganz bestimmt nicht gesehen zu haben. Es wäre ihm aufgefallen, denn nichts, was auch nur entfernt mit Kriegern und Rittern zu tun hatte, entging seiner Aufmerksamkeit. Trotzdem dachte er einen Augenblick angestrengt nach, schüttelte dann den Kopf und sagte bedauernd: »Nein Herr. Bestimmt nicht.«

»Schade«, seufzte Wolff. Aber seltsamerweise wirkte er eher erleichtert als enttäuscht, und er gab sich große Mühe, dies zu verheimlichen.

»Ich kann Wirbe oder einen der anderen fragen, Herr«, sagte Tibor hastig. »Vielleicht haben sie in den Wirtshäusern etwas gesehen oder von Euren Freunden gehört.«

Wolff dachte einen Moment über diesen Vorschlag nach, schüttelte aber dann den Kopf. »Danke«, sagte er. »Das ist…«

»Heda, heda, was soll das?« unterbrach ihn eine polternde Stimme. Wolff brach erstaunt ab und wandte den Blick. Und auch Tibor, der diese Stimme und den zornigen Ton darin nur zu genau kannte, drehte sich hastig um und schluckte ärgerlich, als er Wirbe mit hochrotem Kopf und gesenkten Schultern wie einen zornigen Bullen über den Anger heranstürmen sah. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Wagen entladen, du nichtsnutziger Faulpelz?« schrie er. »Von Herumstehen und Tratschen wie die Weiber war nicht die Rede. Warte, ich werde dich lehren, deine Zeit zu vertrödeln!« Drohend hob er den Arm und machte Anstalten, Tibor eine saftige Maulschelle zu verpassen.

Aber er führte den Schlag nicht zu Ende, denn Wolff trat mit einer schnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung zwischen Tibor und den Gauklerpatriarchen und fing seine Hand ab. Nicht gerade sehr sanft, wie Tibor mit einer Mischung aus Schadenfreude und Schrecken registrierte.

»Verzeiht, Herr«, sagte Wolff in einem freundlichen, jedoch bestimmten Tonfall. »Aber der Junge kann nichts dafür. Ich habe ihn angesprochen, und er hat nur geantwortet.«

»Was fällt Euch ein, Euch einzu…«, begann Wirbe zornig, brach aber dann mitten im Wort ab und duckte sich wie ein geprügelter Hund, als er erkannte, mit wem er sprach.

»Ich habe nicht vor, mich in Eure Dinge zu mischen«, entgegnete Wolff kühl. »Ich wollte nur verhindern, daß der Junge für seine Freundlichkeit auch noch büßen muß.« Die Drohung, die in diesen Worten mitschwang, war nicht zu überhören, und Wirbe schien ein weiteres Stück in sich zusammenzusinken. Aber der Blick, mit dem er Tibor dabei musterte, versprach nichts Gutes.

»Ich habe ihm verboten, mit Fremden zu reden«, sagte er trotzig, zog eine Grimasse und starrte Wolff mit einer Mischung aus Wut und schlecht verhohlener Furcht an, während er mit der Linken sein schmerzendes Handgelenk massierte. »Wir haben jede Menge Arbeit. In einer Stunde muß das Zelt aufgebaut sein. Die Leute bezahlen uns nichts, wenn wir nichts bieten.«

Wolff nickte. »Dann will ich Euch nicht länger aufhalten«, sagte er kühl. »Reserviert mir einen guten Platz für die erste Vorstellung. Ich komme bestimmt.«

Damit wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und ging mit raschen Schritten zum Haus des Dorfschulzen zurück. Aber Wirbe hätte schon taub und blind sein müssen, die unausgesprochene Warnung, Tibor ja in Frieden zu lassen, nicht zu bemerken. Tibor war nicht ganz sicher, ob er sich darüber freuen sollte.

Wirbe starrte dem Ritter nach, bis er in der ärmlichen, strohgedeckten Hütte verschwunden war. In seinen Augen blitzte es. Tibor duckte sich instinktiv, als sich Wirbe nach einer Weile wieder zu ihm umwandte. Aber die Schläge, mit denen er gerechnet hatte, kamen nicht. Wirbe versetzte ihm nur einen derben Stoß in die Seite und deutete auf den Stoffballen, den Tibor abgesetzt hatte. Hastig nahm er ihn hoch und lud ihn sich auf die Schulter. Aber Wirbe hielt ihn zurück, als er damit losgehen wollte.

»Was hat er von dir gewollt, der feine Herr?« fragte er.

»Er hat gefragt, woher wir kommen.«

»Woher wir kommen?« Wirbe runzelte die Stirn. »Was geht ihn das an?«

»Er… sucht wohl jemanden«, antwortete Tibor ausweichend. Irgendwie glaubte er zu spüren, daß es Wolff nicht recht wäre, wenn er Wirbe von den Männern erzählte, die er suchte. Andererseits würde Wirbe ihn schlagen, wenn er erfuhr, daß er ihn belogen hatte. Und Ritter hin oder her –Wolff von Rabenfels würde in ein paar Tagen der Vergangenheit angehören, während er mit Wirbe leben mußte. So fügte er noch eilends hinzu: »Er hat sich nach Männern erkundigt, die das gleiche Wappen wie er tragen.«

Wirbes Stirnrunzeln vertiefte sich; er schwieg weiter, aber Tibor wußte, daß er die Demütigung noch lange nicht vergessen hatte. Auf seine Art war Wirbe ein sehr stolzer Mann. Ein Mann vielleicht, der es mit den Gesetzen nicht immer ganz genau nahm, und der seine eigenen, manchmal recht eigenwilligen Vorstellungen von Recht und Ordnung hatte, aber trotzdem ein stolzer Mann. Er vergaß eine Beleidigung nie.

»Er wird zur Vorstellung kommen, Wirbe!« sagte Tibor aufgeregt. »Stell dir vor, welche Ehre das für uns bedeutet! Ein richtiger Edelmann als Gast unserer Truppe!«

»Ja«, raunzte Wirbe. »Ich fühle mich auch tief geehrt durch deinen Edelmann. Sie bringen immer viel Ehre, diese Ritter. Aber vom Bezahlen halten sie im allgemeinen nichts.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch, spie aus und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Und jetzt spute dich gefälligst, ehe ich wirklich die Geduld verliere und dir die Tracht verpasse, die du eigentlich verdient hättest.«

Tibor beeilte sich, aus Wirbes Nähe zu verschwinden, ehe der seine Meinung vielleicht noch änderte. Als er zum Wagen zurückging, schlug ihm ein eisiger Wind ins Gesicht, und wieder glaubte er, den unheimlichen Ton von vorhin zu hören: ein helles, heulendes Wimmern. Diesmal war er fast sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Aber als er stehenblieb und aus zusammengekniffenen Augen zum Waldrand hinüberblickte, sah er nichts als Schatten und Dunkelheit. Und Nebel.

Kapitel 2

Ihre Truppe war nicht besonders gut. Wenn man Wirbe glauben konnte, der vor jeder Vorstellung auf eine Kiste stieg und mit schriller Stimme das Volk zusammenrief, dann wurden den Zuschauern auf dem roh zusammengezimmerten Podest alle sechs Wunder der Welt – und noch ein paar dazu – dargeboten. Aber das stimmte bei weitem nicht. Sie hatten einen Messerwerfer, der aus fünf Schritten Entfernung Dolche und scharfe, beidseitig geschliffene Äxte auf eine sich drehende Scheibe schleuderte und nicht immer traf, Wirbes Sohn Gnide, der mit Bällen und hölzernen Keulen jonglierte und in den Pausen in einem Narrenkostüm herumhüpfte und allerlei Faxen machte, einen alten Tanzbären, der auf einem Auge blind war und dessen Fell bereits auszufallen begann, und schließlich Wirbe selbst und sein Weib, die wechselweise sangen, akrobatische Kunststücke oder Witze zum Besten gaben und dann und wann ein kleines Theaterstück aufführten. Aber das alles war – wie Wirbe manchmal, besonders wenn er aus dem Wirtshaus kam und betrunken war, selbst zugab–allerhöchstem zweite Wahl, nicht zu vergleichen mit den wirklich berühmten Gauklertruppen, die sie manchmal auf einem Jahrmarkt trafen: Männern und Frauen in glänzenden Kostümen aus Seide, Akrobaten, die auf fünfzig Schritt das Messer zu schleudern oder die tollsten Sprünge und Kletterkunststücke zu vollführen wußten. Sie wurden niemals wie die wirklich großen Gaukler auf Schlösser oder Burgen eingeladen, und wenn sie – was selten genug vorkam – einmal einen Stand auf einem Markt oder einer Kirmes ergattert hatten, dann wurden sie meist abgedrängt und mußten sich mit einem abgelegenen Flecken zufriedengeben – irgendwo am Rande der Plätze oder gar in einer Seitenstraße, wo nur die Betrunkenen hinkamen oder die, die kein Geld hatten. Aber sie verdienten immerhin so viel, um zu leben, und nach einem guten Jahr blieb manchmal sogar genug Geld übrig, um für alle neue Kleider und manchmal auch ein neues Paar Schuhe zu erstehen. Auf dem Hof, auf dem Tibor aufgewachsen war, war das nicht immer selbstverständlich gewesen. Er mußte bei Wirbe so hart arbeiten wie dort. Aber der Hunger, der früher wie ein vertrauter Kamerad mit jedem Winter wiedergekommen war, war aus seinem Leben verschwunden, und – was das Wichtigste war–er hatte bei Wirbe und seiner Familie zum ersten Mal erfahren, was das Wort Freiheit bedeutete.

Die Vorstellung war ein mäßiger Erfolg. Das Dorf, das kaum zweihundert Seelen zählte, war wie alle Orte in diesem Teil des Landes arm, und die Leute überlegten es sich zweimal, ehe sie einen Kupferpfennig in den Hut warfen, mit dem Tibor herumging. Aber es kam immerhin genug zusammen, um Wirbes Laune nicht noch mehr zu verschlechtern. Wolff, der wie versprochen zur Vorstellung gekommen war und auf einem eigens für ihn aufgestellten Stuhl ganz vorne saß und eifrig Beifall klatschte, sorgte tatsächlich dafür, daß fast alle Dörfler kamen – wenn auch, dessen war sich Tibor beinahe sicher, wohl eher, um den fremden Ritter zu begaffen, als um der Gaukler willen.

Er selbst sah allerdings kaum etwas von Wolff. Wie immer während der Vorstellungen hatte er sehr viel zu tun und hätte gut noch vier weitere Hände gebrauchen können, um die ganze Arbeit zu bewältigen! Wenn er nicht gerade mit dem Hut herumging, hatte er hinter der Bühne zu tun, legte Kostüme und Requisiten bereit, half Wirbe und seiner Frau Ola beim Umziehen, sortierte die Wurfdolche des Messerwerfers oder kümmerte sich um den Tanzbären, der immer wieder einzuschlafen drohte. Zwischendurch schlich er sich immer wieder hinter die Bühne und spähte durch den zerschlissenen Stoff nach draußen, um einen Blick auf Wolff zu erhaschen. Als er schließlich seine abschließende Runde mit dem Hut in der Hand drehte, beeilte er sich, fertig zu werden, um vielleicht doch noch ein paar Worte mit dem Rabenritter reden zu können.

Aber zu seiner Enttäuschung war Wolff bereits fort, als er zur Bühne zurückkehrte. Das Volk begann sich zu zerstreuen, nur ein paar gaffende Kinder und Halbwüchsige standen noch auf dem zertretenen Anger herum. Wirbe scheuchte sie mit ein paar groben Worten davon, riß Tibor den Hut aus der Hand und zählte mit finsterer Miene die Münzen, die er eingenommen hatte. Er schalt ihn, daß es so wenige waren, machte ihm Vorhaltungen, nicht genug Mitleid erweckt zu haben, und drohte, ihm zur Strafe die abendliche Suppe zu streichen. Aber das tat er immer, ganz egal, wie viel oder wenig Tibor einnahm.

Und trotzdem war heute etwas anders als sonst. Wirbe wirkte auf schwer in Worte zu fassende Weise nervös und fahrig. Immer wieder, wenn Tibor aufblickte, sah er, daß der Gaukler oder sein Weib und Gnide in seine Richtung starrten, allerdings jedesmal hastig den Blick abwandten, wenn sie sahen, daß er es bemerkte.

Schließlich verschwanden die drei im Zelt hinter der Bühne, und ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten zog Wirbe die Plane hinter sich zu – nicht, ohne sich vorher mit mißtrauischen Blicken davon zu überzeugen, daß sie auch wirklich allein waren und nicht belauscht wurden.

Ein um das andere Mal blickte Tibor zum Waldrand hinüber. Eigentlich, ohne zu wissen, warum. Es war, als ob eine geheimnisvolle Macht seinen Blick immer wieder in diese Richtung lenkte. Die Schatten wirkten noch immer so düster und schwarz wie am Vormittag. Doch Tibor hatte plötzlich das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden. Als hätte die Dunkelheit Augen bekommen. Wieder fiel ihm das sonderbare Geräusch auf, das sich in das Heulen des Windes gemischt hatte; und wieder wußte er nicht, was es war.

Für die nächsten Stunden hatte er allerdings anderes zu tun, als sich darüber und über Wirbes sonderbares Verhalten den Kopf zu zerbrechen. Nach der Vorstellung hatte er immer die meiste Arbeit: während sich die anderen dann zurückzogen, um sich bis zum nächsten Auftritt auszuruhen, oblag es ihm, neue Kostüme und Requisiten wieder bereitzulegen, alte wegzupacken, die Bühne zu fegen und nicht zuletzt noch einmal über den Platz zu gehen und nachzusehen, ob nicht etwa ein Zuschauer etwas verloren oder liegengelassen hatte. Einmal hatte er einen Heller übersehen, der jemandem aus der Tasche gerutscht sein mußte. Gnide hatte die Münze später entdeckt und zu seinem Vater gebracht, der Tibor halb totgeschlagen hatte wegen dieser Unachtsamkeit. Seither widmete Tibor dieser Tätigkeit immer seine besondere Aufmerksamkeit.

Schließlich war er mit diesem Teil seines Tagwerkes fertig und hatte noch fast eine Stunde Zeit, ehe Ola zum Abendessen rufen würde. Auf der anderen Seite des Angers spielte eine Horde zerlumpter Dorfkinder Fangen. Ihre Stimmen und ihr helles Lachen drangen verlockend zu Tibor hinüber, und einen Moment überlegte er, ob er einfach zu ihnen gehen und sie darum bitten sollte, mitspielen zu dürfen. Aber er entschied sich dann doch dagegen. Früher hatte er so etwas oft getan, aber die Erfahrungen, die er mit der Zeit dabei gemacht hatte, waren nicht dazu angetan gewesen, ihn die Versuche sehr oft wiederholen zu lassen. Meistens war er davongejagt und als Zigeunerkind und Bettler beschimpft oder gar geschlagen worden. Und selbst in den Orten, wo das nicht passiert war, spürte er die unsichtbare Mauer, die ihn von den anderen trennte, die Blicke und getuschelten Worte, die ihm auch so sagten, daß er anders war als sie. Aber es lag mehr Furcht vor ihm als Respekt oder der Wunsch nach wirklicher Freundschaft in ihren Blikken. Außerdem war es nicht gut, Freundschaften zu schließen für jemanden, der selten länger als drei Tage an ein und demselben Ort war.

Er verscheuchte den Gedanken, wandte sich um und ging um die Bühne herum auf den Zelteingang zu. Manchmal, wenn er Zeit hatte, erlaubte ihm Ola, ihr beim Zubereiten des Essens zu helfen, wobei auch manchmal eine Extrakartoffel oder ein Stück Zuckerrübe abfiel.

Aber als er das hölzerne Podest umrundet hatte, war die Plane vor dem Zelteingang noch immer heruntergelassen, und als er näher kam, hörte er Wirbes Stimme.

Unwillkürlich blieb er stehen und lauschte.

»… ganz sicher, daß er es ist«, sagte Wirbe gerade. Er klang aufgeregt.

»Und wenn nicht?« fragte Gnide mit seiner schrillen, unangenehmen Stimme.

»Verlieren wir auch nichts«, entgegnete Wirbe.

»Aber es ist… nicht richtig.« Das war Ola, und ihre Stimme klang besorgt, wie Tibor überrascht registrierte. »Er hat uns nichts getan. Und es ist nicht richtig, jemanden für Geld auszuliefern.«

»Schweig, Weib!« entgegnete Wirbe gereizt. »Wenn wir es nicht tun, tut es ein anderer und streicht das Geld ein. Außerdem…!« Er brach plötzlich ab, dann hörte man zwei schnelle Schritte, und noch ehe Tibor auch nur reagieren konnte, flog die Zeltplane auf, und Wirbes zorngerötetes Gesicht erschien in der Öffnung.

»Was tust du hier?« herrschte er ihn an. »Hast du gelauscht? Was hast du gehört?«

»Nichts, Wirbe!« antwortete Tibor hastig. »Ich wollte…«

Weiter kam er nicht. Wirbe war mit einem einzigen Schritt bei ihm, packte ihn am Kragen und versetzte ihm eine Ohrfeige, daß ihm der Kopf dröhnte.

Tibor entschlüpfte rasch seinem Griff, preßte die Hand auf die brennende Wange und brachte vorsichtshalber zwei, drei Schritte Distanz zwischen sich und Wirbe, ehe er sich wieder zu ihm herumdrehte. »Ich… wollte nur sagen, daß ich mit meiner Arbeit fertig bin«, stammelte er. »Ich habe nicht gelauscht.«

Wirbes Miene verfinsterte sich noch weiter. Drohend hob er die Hand, als wolle er ihn abermals schlagen, tat es aber dann doch nicht, sondern runzelte nur zornig die Stirn.

»Das nächste Mal gibst du Laut, wenn du kommst«, raunzte er, »und stehst nicht rum und belauschst uns. Und jetzt leg der Stute den Sattel auf.«

»Den Sattel?« wiederholte Tibor verwirrt. »Du willst… fortreiten?«

Wirbe nickte. »Ins nächste Dorf«, sagte er. »Wir brechen morgen früh auf. Der Ort hier gibt nicht mehr als eine Vorstellung her. Die Leute haben jetzt schon kaum genug gezahlt, um die Unkosten wieder hereinzuholen. Ich will ins nächste Dorf reiten und mit dem Schulzen um einen guten Platz verhandeln. Und jetzt beeil dich! Ich habe keine Lust, die halbe Nacht unterwegs zu sein.«

»Aber die Vorstellung!« widersprach Tibor. »Was ist mit der Abendvorstellung?«

»Die fällt aus«, schnappte Wirbe, dessen Geduld nun sichtlich zu Ende ging. »Warum sollen wir uns umsonst anstrengen? Diese dummen Bauern begreifen doch sowieso nicht, was ihnen geboten wird.«

Tibor blickte ihn verwirrt an. Es fiel ihm schwer, Wirbes Erklärung zu glauben ––