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F. Scott Fitzgerald

Die letzte Schöne

des Südens

Erzählungen

Herausgegeben von Silvia Zanovello

Aus dem Amerikanischen von

Bettina Abarbanell, Anna Cramer-Klett,

Dirk van Gunsteren, Christa Hotz,

Alexander Schmitz, Walter Schürenberg

und Melanie Walz

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachweis der einzelnen Erzählungen

am Schluss des Bandes

Umschlagillustration: George Barbier,

›Abendkleid, Modell von Worth, Paris‹, 1921

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24182 2 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60141 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Der Kindergeburtstag  [9]

›The Baby Party‹, deutsch von Bettina Abarbanell

Der Nachtkassierer  [28]

›The Pusher-in-the-Face‹, deutsch von Bettina Abarbanell

Liebe in der Nacht  [52]

›Love in the Night‹, deutsch von Melanie Walz

Einer meiner ältesten Freunde  [80]

›One of My Oldest Friends‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz

Nicht im Reiseführer  [105]

›Not in the Guidebook‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz

Junger Mann aus reichem Haus  [134]

›The Rich Boy‹, deutsch von Walter Schürenberg

Die Jugendhochzeit  [196]

›The Adolescent Marriage‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz

Der Tanz  [226]

›The Dance‹, deutsch von Anna Cramer-Klett

[6] Jakobsleiter  [251]

›Jacob’s Ladder‹, deutsch von Melanie Walz

Das Liebesschiff  [292]

›The Love Boat‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz

Kurzer Besuch daheim  [328]

›A Short Trip Home‹, deutsch von Walter Schürenberg

Das Stadion  [363]

›The Bowl‹, deutsch von Walter Schürenberg

Anziehung  [404]

›Magnetism‹, deutsch von Walter Schürenberg

Ein Abend auf dem Jahrmarkt  [442]

›A Night at the Fair‹, deutsch von Walter Schürenberg

Basil findet sich fabelhaft  [469]

›He Thinks He’s Wonderful‹, deutsch von Walter Schürenberg

Vor der Möbeltischlerei  [503]

›Outside the Cabinet-Maker’s‹, deutsch von Walter Schürenberg

Der gefangene Schatten  [511]

›The Captured Shadow‹, deutsch von Walter Schürenberg

Die letzte Schöne des Südens  [544]

›The Last of the Belles‹, deutsch von Bettina Abarbanell

Stürmische Überfahrt  [572]

›The Rough Crossing‹, deutsch von Dirk van Gunsteren

[7] Majestät  [605]

›Majesty‹, deutsch von Walter Schürenberg

In deinem Alter  [636]

›At Your Age‹, deutsch von Melanie Walz

Die Schwimmer  [662]

›The Swimmers‹, deutsch von Melanie Walz

Wie man 36000 Dollar im Jahr verprassen kann  [694]

›How to Live on $ 36000 a Year‹, deutsch von Melanie Walz

Wie man mit fast nichts über die Runden kommt  [715]

›How to Live on Practically Nothing a Year‹, deutsch von Melanie Walz

Nachwort von Paul Ingendaay  [745]

Leben und Werk  [765]

Editorische Notiz  [769]

[9] Der Kindergeburtstag

Immer wenn sich John Andros alt fühlte, fand er Trost in dem Gedanken, dass das Leben durch sein Kind weiterging. Die dunklen Posaunen der Vergänglichkeit tönten weniger laut, sobald er das Getrappel der kleinen Füße hörte oder die Kinderstimme, die ihm durchs Telefon verrücktes Kauderwelsch ins Ohr plapperte. Letzteres geschah jeden Nachmittag um drei, wenn seine Frau von ihrem Häuschen auf dem Land aus im Büro anrief, und er begann sich darauf zu freuen, weil es zu den lebendigsten Minuten seines Tages zählte.

Rein physisch war er nicht alt, aber er hatte sich in seinem Leben etliche Male etliche steile Berge hinaufgekämpft, und jetzt, mit achtunddreißig, da Krankheit und Armut besiegt waren, gab er sich weit weniger Illusionen hin als früher. Selbst für seine kleine Tochter hegte er begrenzte Gefühle. Sie war in seine recht intensive Liebesbeziehung mit seiner Frau eingebrochen, und ihretwegen wohnten sie in einem Ort vor der Stadt, wo sie für die gute Landluft endlose Probleme mit den Bediensteten und das ermüdende Karussell der Pendlerzüge in Kauf nahmen.

Die kleine Edith als greifbares Stück Jugend, das war es, was ihn hauptsächlich interessierte. Er genoss es, sie auf [10] dem Schoß zu halten und ausgiebig ihren duftenden, flaumigen Haarschopf und die Augen mit der morgenblauen Iris zu betrachten. Nachdem er ihr diese Huldigung erwiesen hatte, durfte das Kindermädchen sie gerne wieder mitnehmen. Denn nach zehn Minuten begann ihn eben diese Vitalität des Kindes aufzubringen; wenn etwas kaputtging, verlor er leicht die Beherrschung, und als die Kleine eines Sonntagnachmittags eine Bridgepartie zerstörte, indem sie das Pik-Ass für immer und ewig irgendwo versteckte, hatte er eine solche Szene gemacht, dass seine Frau in Tränen ausgebrochen war.

Das war lächerlich, und John schämte sich dafür. So etwas passierte nun einmal, es war unvermeidlich, und die kleine Edith konnte unmöglich all die Stunden, die sie im Haus verbrachte, oben in ihrem Kinderzimmer bleiben, zumal sie, wie ihre Mutter sagte, täglich mehr zu einer ›richtigen Persönlichkeit‹ heranwuchs.

Sie war zweieinhalb, und heute Nachmittag war sie auf einem Kindergeburtstag eingeladen. Die große Edith, ihre Mutter, hatte im Büro angerufen, um ihm dies zu berichten, und die kleine Ede hatte die Angelegenheit bestätigt, indem sie ›ich geh zu einem ’butstach!‹ in Johns nichtsahnendes linkes Ohr gebrüllt hatte.

»Komm doch nach der Arbeit noch bei den Markeys vorbei, ja, Liebling?«, schaltete sich ihre Mutter wieder ein. »Es wird sicher lustig. Ede wird todschick aussehen in ihrem neuen pinkfarbenen Kleidchen…«

Das Gespräch endete jäh mit einem Kreischen; offenbar war das Telefon heftig zu Boden gerissen worden. John lachte und beschloss, am Abend einen Zug früher zu [11] nehmen. Die Aussicht auf einen Kindergeburtstag in anderer Leute Haus ließ ihn schmunzeln.

›Was für ein herrliches Durcheinander!‹, dachte er amüsiert. ›Ein Dutzend Mütter, von denen jede ausschließlich Augen für ihr eigenes Kind hat. Die Kleinen machen ständig irgendwas kaputt und grapschen nach der Torte, und auf dem Nachhauseweg denkt jede Mama bei sich, dass ihr Kind allen anderen auf subtile Art überlegen ist.‹

Heute war er guter Dinge – alles in seinem Leben lief besser als je zuvor. Als er an seiner Haltestelle ausstieg, fertigte er einen aufdringlichen Taxifahrer mit einem Kopfschütteln ab und machte sich im kühlen Dezemberzwielicht zu Fuß auf den Weg den langen Hügel zu seinem Haus hinauf. Es war erst sechs Uhr, doch der Mond war schon aufgegangen und schien mit stolzem Glanz auf den dünnen, zuckrigen Schnee, der die Vorgärten bedeckte.

Während er so lief und seine Lungen mit kalter Luft vollsog, stieg seine Stimmung noch, und die Vorstellung eines Kindergeburtstags gefiel ihm immer besser. Er begann sich zu fragen, wie Ede wohl im Vergleich zu den anderen Kindern ihres Alters abschnitt und ob ihr pinkfarbenes Kleid aus dem Rahmen fiel und sie reifer wirken ließ. Er beschleunigte den Schritt und kam in Sichtweite seines Hauses, wo die Lichter eines ausgedienten Weihnachtsbaums noch im Fenster glühten, doch er ging daran vorbei. Die Geburtstagsfeier fand nebenan bei den Markeys statt.

Als er die Steinstufen hinaufstieg und an der Tür klingelte, hörte er drinnen Stimmen und freute sich, dass er nicht zu spät kam. Dann hob er den Kopf und horchte – es waren keine Kinderstimmen, sondern laute, zornige, die [12] sich überschlugen; mindestens drei konnte er unterscheiden, und eine, die gerade zu einem hysterischen Schluchzen anschwoll, erkannte er augenblicklich als die Stimme seiner Frau.

›Da muss etwas vorgefallen sein‹, dachte er.

Er legte die Hand an die Klinke, fand die Tür unverschlossen und öffnete sie.

Der Kindergeburtstag hatte um halb fünf begonnen, doch Edith Andros hatte schlau kalkuliert, dass das neue Kleid im Vergleich zu bereits zerknitterten noch mehr Aufsehen erregen würde, und deshalb ihren und Klein-Edes Auftritt für fünf Uhr geplant. Als sie eintrafen, war die Feier bereits in vollem Gang. Vier kleine Mädchen und neun kleine Jungen, jedes einzelne mit der ganzen Liebe eines stolzen und eifersüchtigen Mutterherzens gelockt, gewaschen und herausgeputzt, tanzten zur Musik eines Grammophons. Zwar tanzten nie mehr als zwei oder drei gleichzeitig, doch da alle unaufhörlich hin und her rannten, um sich von ihren Müttern ermuntern zu lassen, war der Effekt derselbe.

Als Edith und ihre Tochter hereinkamen, wurde die Musik vorübergehend von einem Chor übertönt, der hauptsächlich aus dem Wort »süß« bestand und sich auf die kleine Ede bezog, die dastand, sich schüchtern umschaute und am Saum ihres pinkfarbenen Kleidchens zupfte. Sie wurde nicht geküsst – man lebte schließlich im Zeitalter der Hygiene –, dafür aber an einer Reihe von Mamas entlanggeführt, die allesamt ›sü-üß‹ zu ihr sagten und ihr kleines rosa Händchen hielten, bevor sie sie an die nächste weiterreichten. Nach einiger Ermunterung und dem einen [13] oder anderen sanften Schubser mischte sie sich unter die Tanzenden und nahm bald lebhaft am Geschehen teil.

Edith stand an der Tür, wo sie mit Mrs. Markey plauderte und die kleine Gestalt im pinkfarbenen Kleid im Auge behielt. Mrs. Markey war ihr nicht besonders sympathisch; sie fand sie ebenso schnippisch wie ordinär, doch da John und Joe Markey einander mochten und jeden Morgen zusammen mit dem Pendlerzug fuhren, verwandten die beiden Frauen große Mühe darauf, den Schein warmer Freundschaftlichkeit zu wahren. Sie hielten sich ständig gegenseitig vor, dass die andere ›nicht mal vorbeischaute‹, und planten unablässig gemeinsame Unternehmungen, was meistens so begann: »Sie müssen bald zu uns zum Abendessen kommen, und demnächst gehen wir mal zusammen ins Theater«, aber sich nie über dieses Stadium hinaus entwickelte.

»Die kleine Ede sieht einfach bezaubernd aus«, sagte Mrs. Markey lächelnd und befeuchtete sich die Lippen auf eine Art, die Edith besonders abstoßend fand. »So erwachsen – kaum zu glauben

Edith überlegte, ob die Formulierung »die kleine Ede« auf den Umstand anspielte, dass Billy Markey, obwohl er einige Monate jünger war als Ede, annähernd fünf Pfund mehr wog. Sie nahm dankend eine Tasse Tee und setzte sich zu zwei anderen Damen auf einen Diwan, wo sie sich dem eigentlichen Zweck des Nachmittags widmete, der natürlich darin bestand, die jüngsten Meisterleistungen und kleinen Tollpatschigkeiten ihres Kindes zu schildern.

Eine Stunde verging. Das Tanzen verlor seinen Reiz, und die Kleinen suchten sich einen ernsteren Zeitvertreib. [14] Sie liefen ins Esszimmer, umrundeten den großen Tisch und probierten die Schwingtür zur Küche aus, vor der sie von mütterlichen Expeditionsstreitkräften gerettet wurden. Nachdem man sie eingefangen hatte, rissen sie sofort wieder aus und rannten ins Esszimmer, um sich erneut auf die vertraute Schwingtür zu stürzen. Das Wort »überhitzt« machte die Runde, und kleine weiße Stirnen wurden mit kleinen weißen Taschentüchern abgetupft. Allseits versuchte man, die Kleinen zum Hinsetzen zu bewegen, doch sie wanden sich mit energischen »Runter, runter!«-Rufen von den Schößen, und der Sturm auf das faszinierende Esszimmer begann von neuem.

Diese Phase des Geburtstags fand ein Ende, als zur Stärkung eine große Torte mit zwei Kerzen sowie Schälchen mit Vanilleeis serviert wurden. Billy Markey, ein stämmiger, etwas o-beiniger, fröhlicher Junge mit roten Haaren, blies die Kerzen aus und legte probehalber den Finger in den weißen Tortenguss. Torte und Eis wurden verteilt, und die Kinder aßen – gierig, aber ohne großes Durcheinander; sie hatten sich den ganzen Nachmittag über bemerkenswert gut benommen. Es waren moderne kleine Kinder, die regelmäßig aßen und schliefen, weshalb sie in guter Verfassung waren und gesund und rosig aussahen – eine so friedliche Geburtstagsfeier wäre vor dreißig Jahren nicht möglich gewesen.

Nach der Stärkung begann der allgemeine Aufbruch. Edith schaute besorgt auf die Uhr – es war fast sechs, und John war noch nicht aufgetaucht. Er sollte doch Ede mit den anderen Kindern sehen, sollte erleben, wie wohlerzogen, höflich und intelligent sie war und dass sie nur einen [15] einzigen Eiscremefleck auf ihrem Kleid hatte, und auch das nur, weil etwas von ihrem Kinn getropft war, als jemand sie von hinten angestoßen hatte.

»Du bist ein Schatz«, flüsterte sie ihrem Kind zu und drückte sie plötzlich an sich. »Weißt du, was für ein Schatz du bist? Weißt du das?«

Ede lachte. »Bauwau«, sagte sie unvermittelt.

»Bauwau?« Edith blickte sich um. »Hier ist kein Bauwau.«

»Bauwau«, wiederholte Ede. »Ich will einen Bauwau.«

Edith folgte dem kleinen ausgestreckten Finger.

»Das ist kein Bauwau, Herzchen, das ist ein Teddybär.«

»Bär?«

»Ja, das ist ein Teddybär, und er gehört Billy Markey. Du willst doch nicht Billy Markeys Teddybären haben, oder?«

Doch, das wollte Ede.

Sie riss sich von ihrer Mutter los und näherte sich Billy Markey, der das Plüschtier fest umschlungen hielt. Ede stand da und musterte ihn mit unergründlichem Blick, während Billy lachte.

Die große Edith schaute erneut auf die Uhr, diesmal voller Ungeduld.

Der Kreis der Gäste hatte sich gelichtet, abgesehen von Ede und Billy waren noch zwei Kinder da, und eines davon nur, weil es sich unter dem Esstisch versteckt hatte. Es war egoistisch von John, dass er nicht kam. So wenig stolz war er also auf sein Kind. Andere Väter, sechs an der Zahl, waren rechtzeitig erschienen, um ihre Frauen abzuholen, und sie waren alle noch eine Weile geblieben und hatten zugesehen.

[16] Auf einmal gab es ein lautes Geheul. Ede hatte den Teddybären ergattert, indem sie ihn Billy aus den Armen gerissen hatte, und Billy, der ihn sich wiederholen wollte, mir nichts, dir nichts einfach umgeschubst.

»Aber Ede!«, rief ihre Mutter, die ein Lachen unterdrücken musste.

Joe Markey, ein gutaussehender, breitschultriger Mann von fünfunddreißig, hob seinen Sohn vom Boden auf und stellte ihn auf die Füße. »Du bist mir ja einer«, sagte er leutselig. »Lässt dich von einem Mädchen umwerfen! Du bist mir ja wirklich einer.«

»Hat er sich den Kopf gestoßen?« Mrs. Markey hatte gerade die vorletzte Mutter hinauskomplimentiert und kam besorgt ins Zimmer zurück.

»Nei-iin«, rief Markey. »Er hat sich woanders gestoßen, nicht wahr, Billy? Er hat sich woanders gestoßen.«

Billy hatte den Sturz schon wieder so weit vergessen, dass er zu dem Versuch übergegangen war, sein Eigentum zurückzuerobern. Er packte ein Bein des Bären, das unter Edes Armen hervorschaute, und zog daran, doch vergebens.

»Nein«, sagte Ede mit Nachdruck.

Plötzlich ließ Ede, vom Erfolg ihres früheren, halb zufälligen Manövers ermutigt, den Teddybären fallen, legte die Hände auf Billys Schultern und schubste ihn, so dass er rückwärts fiel.

Diesmal landete er weniger sanft; sein Kopf schlug mit einem dumpfen, hohlen Geräusch neben dem Teppich auf dem blanken Boden auf, worauf er tief Luft holte und ein fürchterliches Gebrüll anstimmte.

Augenblicklich brach ein Tumult im Zimmer los. Mit [17] einem Aufschrei eilte Markey zu seinem Sohn, doch seine Frau war als Erste bei dem verletzten Kleinen, hob ihn vom Boden auf und nahm ihn auf den Arm.

»O Billy«, rief sie, »was für ein gemeiner Stoß! Man sollte ihr den Hintern versohlen.«

Edith, die auf der Stelle zu ihrer Tochter geeilt war, hörte diese Bemerkung und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

»Aber Ede«, flüsterte sie mechanisch, »das war gar nicht lieb von dir!«

Da legte Ede plötzlich den kleinen Kopf in den Nacken und lachte. Es war ein lautes, ein triumphierendes Lachen, siegesgewiss, frech und voller Verachtung. Leider Gottes war es auch ansteckend. Ehe ihre Mutter sich bewusstgemacht hatte, wie heikel die Situation war, lachte auch sie, ein hörbares, deutliches Lachen, das die gleichen Nuancen hatte wie das ihres Kindes.

Genauso plötzlich hörte sie wieder auf.

Mrs. Markeys Gesicht war zornesrot geworden, und Markey, der mit einem Finger den Hinterkopf des Kleinen befühlt hatte, schaute sie stirnrunzelnd an.

»Es ist geschwollen«, sagte er mit vorwurfsvollem Unterton. »Ich hole etwas Zaubernuss.«

Doch Mrs. Markey hatte die Beherrschung verloren. »Ich finde es überhaupt nicht lustig, wenn einem Kind weh getan wird!«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Die kleine Ede beobachtete indessen neugierig ihre Mutter. Sie merkte, dass ihr eigenes Lachen das ihrer Mutter hervorgerufen hatte, und sie fragte sich nun, ob die gleiche Ursache wohl immer die gleiche Wirkung erzielte. [18] Deshalb warf sie ausgerechnet in diesem Augenblick den Kopf ein zweites Mal zurück und fing wieder an zu lachen.

Für ihre Mutter war dieser neuerliche Heiterkeitsausbruch der Auslöser für einen hysterischen Lachanfall. Sie presste sich ihr Taschentuch vor den Mund und kicherte haltlos. Es war nicht nur eine nervöse Reaktion; vielmehr hatte sie das Gefühl, dass sie auf eine eigentümliche Weise mit ihrem Kind lachte – dass sie gemeinsam lachten.

Es war eine Art von Trotz: sie beide gegen den Rest der Welt.

Während Markey nach oben ins Badezimmer lief, um die Heilsalbe zu holen, ging seine Frau hin und her und wiegte den schreienden Jungen in ihren Armen.

»Bitte gehen Sie nach Hause!«, brach es plötzlich aus ihr hervor. »Das Kind ist bös gestürzt, und wenn Sie nicht den Anstand besitzen, still zu sein, dann gehen Sie besser nach Hause.«

»Na schön«, sagte Edith, nun ebenfalls gereizt. »Ich habe noch nie jemanden aus einer Mücke einen solchen…«

»Gehen Sie!«, rief Mrs. Markey außer sich. »Da ist die Tür, gehen Sie – ich will Sie nie wieder hier in unserem Haus sehen. Sie nicht und Ihr Balg auch nicht!«

Edith hatte ihre Tochter an die Hand genommen und ging rasch zur Tür, doch bei der letzten Bemerkung blieb sie stehen und drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht um.

»Wagen Sie es nicht noch einmal, sie so zu nennen!«

Mrs. Markey antwortete nicht, sondern lief weiter auf und ab und murmelte etwas, das nur sie und Billy hören konnten.

Edith fing an zu weinen.

[19] »Ich gehe schon!«, schluchzte sie. »In meinem g-ganzen Leben bin ich noch keiner so g-groben und o-ordinären Person begegnet wie Ihnen. Ich finde es g-gut, dass Ihr Junge umgeschubst wurde – er ist sowieso bloß ein d-dicker kleiner Dummkopf.«

Joe Markey kam gerade rechtzeitig die Treppe herunter, um diese Bemerkung mit anzuhören.

»Also, Mrs. Andros«, sagte er scharf, »sehen Sie denn nicht, dass der Junge sich weh getan hat? Sie sollten sich wirklich beherrschen.«

»Mich beherrschen!«, rief Edith mit bebender Stimme. »Sagen Sie lieber ihr, sie soll sich beherrschen. Ich bin in meinem ganzen Leben noch keiner so o-ordinären Person begegnet.«

»Sie beleidigt mich!« Mrs. Markey war jetzt außer sich vor Wut. »Hast du gehört, was sie gesagt hat, Joe? Ich möchte, dass du sie aus dem Haus wirfst. Wenn sie nicht gehen will, pack sie einfach an den Schultern, und wirf sie raus!«

»Wagen Sie es nicht, mich anzurühren!«, schrie Edith. »Ich gehe sofort – sobald ich meinen M-mantel gefunden habe!«

Blind vor Tränen machte sie einen Schritt in den Hausflur. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür, und John Andros trat mit besorgter Miene herein.

»John!«, rief Edith und eilte ihm aufgelöst entgegen.

»Was ist los? Ja was ist denn hier los?«

»Sie – sie werfen mich raus!«, heulte sie und fiel ihm in die Arme. »Er wollte mich gerade an den Schultern packen und rauswerfen. Ich brauche meinen Mantel!«

[20] »Das ist nicht wahr«, beeilte sich Markey zu widersprechen. »Niemand wirft Sie hier raus.« Er wandte sich an John. »Niemand wirft sie raus«, wiederholte er. »Sie ist…«

»Was soll das denn heißen?«, unterbrach John ihn barsch. »Worum geht es hier überhaupt?«

»Ach, bitte komm einfach mit!«, rief Edith. »Ich will hier weg. Sie sind so ordinär, John!«

»Also hören Sie mal!« Markeys Gesicht verfärbte sich dunkel. »Das haben Sie jetzt oft genug gesagt. Ihr Benehmen ist wirklich sehr sonderbar.«

»Sie haben Ede ein Balg genannt!«

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag äußerte die kleine Ede in einem unpassenden Moment ihre Gefühle. Verwirrt und von den lauten Stimmen erschreckt, fing sie an zu weinen, und ihre Tränen vermittelten den Eindruck, als hätte die Beleidigung sie tief gekränkt.

»Was soll denn das?«, polterte jetzt John. »Beleidigen Sie Ihre eigenen Gäste?«

»Es scheint mir eher Ihre Frau zu sein, die hier jemanden beleidigt hat!«, antwortete Markey scharf. »Und Ihr Kind da hat den ganzen Ärger ausgelöst.«

John stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Beschimpfen Sie ein kleines Mädchen?«, fragte er. »Das ist ja ein äußerst mannhaftes Verhalten!«

»Sprich nicht mit ihm, John«, sagte Edith. »Such lieber meinen Mantel!«

»Es muss ja schlecht um Sie stehen«, fuhr John ärgerlich fort, »wenn Sie Ihre Laune an einem hilflosen kleinen Kind auslassen müssen.«

»So etwas Verdrehtes habe ich in meinem Leben noch [21] nicht gehört«, rief Markey. »Wenn Ihre Frau da nur mal eine Minute lang den Mund halten würde…«

»Moment mal! Sie reden jetzt nicht mehr mit einer Frau und einem Kind…«

Es gab eine kurze Unterbrechung. Edith suchte auf einem Sessel nach ihrem Mantel, und Mrs. Markey hatte sie dabei mit heißen, wütenden Blicken beobachtet. Plötzlich legte sie Billy auf das Sofa, wo er sofort zu weinen aufhörte und sich hinsetzte; sie ging in den Hausflur, fand Ediths Mantel und hielt ihn ihr wortlos hin. Dann kehrte sie zum Sofa zurück, nahm Billy auf den Arm, wiegte ihn und schaute Edith erneut mit heißen, wütenden Blicken an. Die Unterbrechung hatte weniger als eine halbe Minute gedauert.

»Ihre Frau kommt hier herein und fängt an herumzuschreien, wie ordinär wir seien!«, wetterte Markey los. »Nun, wenn wir so furchtbar ordinär sind, dann bleiben Sie uns wohl besser fern! Und vor allem gehen Sie jetzt bitte!«

Erneut lachte John kurz und verächtlich auf.

»Sie sind nicht nur ordinär«, konterte er, »sondern offenbar auch ein schrecklicher Maulheld – zumindest gegenüber hilflosen Frauen und Kindern.« Er packte den Knauf und riss die Tür auf. »Komm, Edith.«

Seine Frau nahm ihre Tochter auf den Arm und trat hinaus, und John, den Blick immer noch voller Verachtung auf Markey gerichtet, machte Anstalten, ihr zu folgen.

»Augenblick mal!« Markey trat einen Schritt vor; er zitterte ein wenig, und zwei große Adern an seinen Schläfen waren auf einmal prall mit Blut gefüllt. »Sie glauben doch nicht, dass Sie sich so etwas bei mir herausnehmen können, oder?«

[22] Ohne ein Wort marschierte John aus der Tür und ließ sie offen stehen.

Edith, die immer noch weinte, war schon losgegangen. John folgte ihr mit den Blicken, bis sie den Hauseingang erreicht hatte. Dann drehte er sich wieder zum erleuchteten Türrahmen um und sah Markey langsam die rutschigen Stufen herunterkommen. Er zog Mantel und Hut aus und warf sie neben dem Weg in den Schnee. Auf den vereisten Steinen ein wenig ins Schlittern geratend, machte er einen Schritt vorwärts.

Beim ersten Schlag rutschten beide aus und fielen mit ihrem vollen Gewicht auf den Gehweg, richteten sich aber sofort wieder halb auf, um sich erneut gegenseitig zu Boden zu ziehen. Auf der dünnen Schneedecke neben dem Weg fanden sie mehr Halt und stürzten aufeinander los, wobei sie beide heftig austeilten und den Schnee unter ihren Füßen zu einem matschigen Brei zertrampelten.

Die Straße war menschenleer, und abgesehen von ihrem raschen, angestrengten Keuchen und dem gedämpften Geräusch, wenn einer von ihnen in den feuchten Matsch fiel, kämpften sie lautlos. Im vollen Mondlicht und bernsteinfarbenen Schein, der aus der offenen Tür drang, waren sie füreinander gut erkennbar. Mehrmals stürzten sie gemeinsam zu Boden, dann tobte der Kampf eine Weile wild und heftig auf dem Rasen weiter.

Zehn, zwanzig Minuten lang rauften sie sich dort im Mondschein ohne Sinn und Verstand. In einer Pause hatten beide in stillschweigender Übereinkunft ihre Jacketts und Westen abgelegt, und nun hingen ihnen die Oberhemden in tropfnassen, breiigen Fetzen vom Rücken. Beide waren [23] zerschunden und blutig und derart erschöpft, dass sie sich nur noch aufrecht halten konnten, wenn sie sich gegenseitig stützten – bei jedem Schlag, ja beim bloßen Ausholen zum Schlag landeten sie auf Händen und Knien.

Doch es war nicht die Erschöpfung, die der Sache ein Ende machte, und die Sinnlosigkeit des Kampfs schien eher ein Grund, nicht damit aufzuhören. Vielmehr ließen sie schließlich voneinander ab, weil sie, während sie sich auf dem Boden wälzten, auf einmal die Schritte eines Mannes auf dem Gehweg hörten. Sie waren, ohne es recht zu merken, in den Schatten gerollt, und beim Geräusch dieser Schritte hielten sie nun mitten im Kampf inne, bewegten sich nicht, atmeten nicht, sondern lagen wie zwei Jungen, die Indianer spielen, dicht aneinandergedrängt da, bis die Schritte verklungen waren. Dann rappelten sie sich auf und sahen sich an wie zwei Betrunkene.

»Ich denk nicht dran, hier noch weiterzumachen«, rief Markey mit belegter Stimme.

»Ich mache auch nicht mehr weiter«, sagte John Andros. »Ich hab die Nase voll.«

Erneut schauten sie sich an, misstrauisch jetzt, als verdächtige jeder den anderen, ihn zu einer Wiederaufnahme des Kampfs verleiten zu wollen. Markey spuckte einen Mundvoll Blut aus, das von seiner aufgeplatzten Lippe stammte; dann fluchte er leise, hob Jackett und Weste auf und schüttelte sie stirnrunzelnd aus, als wäre die Tatsache, dass sie etwas feucht geworden waren, seine einzige Sorge auf der Welt.

»Wollen Sie hereinkommen und sich säubern?«, fragte er plötzlich.

[24] »Nein, danke«, sagte John. »Ich sollte besser nach Hause gehen – meine Frau wird bestimmt langsam unruhig.«

Er hob ebenfalls sein Jackett und seine Weste auf, dann auch Mantel und Hut. Pitschnass und schweißgebadet, wie er war, erschien es ihm absurd, dass er all diese Kleider vor weniger als einer halben Stunde noch am Leib getragen hatte.

»Also dann – gute Nacht«, sagte er zögernd.

Unvermittelt gingen sie aufeinander zu und schüttelten sich die Hand. Es war kein beiläufiger Händedruck: John Andros legte den Arm um Markeys Schulter und klopfte ihm eine Weile behutsam auf den Rücken.

»Nichts passiert?«, fragte er mit rauher Stimme.

»Nein – und Ihnen?«

»Nein, nichts passiert.«

»Gut«, sagte John Andros nach kurzer Pause, »dann gehe ich jetzt. Gute Nacht.«

Mit den Kleidern über dem Arm machte John Andros sich leicht humpelnd auf den Weg. Der Mond schien immer noch hell, als er den dunklen Flecken zertrampelter Erde hinter sich ließ und über den Rasenstreifen ging. Weiter unten am Bahnhof, eine Meile entfernt, konnte er das Rattern des Sieben-Uhr-Zugs hören.

»Aber du bist ja verrückt«, rief Edith zittrig. »Ich dachte, du wolltest dich mit ihnen vertragen und ihnen die Hand reichen. Deshalb bin ich weggegangen.«

»Wolltest du denn, dass wir uns vertragen?«

»Natürlich nicht. Ich will sie nie wiedersehen. Aber ich [25] dachte eben, dass du es tun würdest.« Sie betupfte seine Blutergüsse an Hals und Rücken mit Jod, während er behaglich in der Badewanne saß. »Ich hole den Arzt«, sagte sie mit Nachdruck. »Vielleicht hast du innere Verletzungen.«

Er schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall«, antwortete er. »Ich möchte nicht, dass die ganze Stadt Wind von der Sache bekommt.«

»Ich verstehe nicht, wie das alles passiert ist.«

»Ich auch nicht.« Er lächelte grimmig. »Offenbar sind diese Kindergeburtstage eine ziemlich brutale Angelegenheit.«

»Aber eins ist gut«, sagte Edith hoffnungsvoll, »wir haben für morgen Abend Beefsteak im Haus.«

»Wieso ist das gut?«

»Für dein Auge natürlich. Weißt du, dass ich um ein Haar Kalb bestellt hätte? Haben wir da nicht unglaubliches Glück gehabt?«

Eine halbe Stunde später bewegte John – bis auf den Kragen, den sein Hals nicht dulden wollte, wieder vollständig angekleidet – probeweise seine Glieder vor dem Spiegel. »Ich glaube, ich muss mich wieder in Form bringen«, sagte er nachdenklich. »Ich werde anscheinend alt.«

»Damit du ihn beim nächsten Mal schlagen kannst, meinst du?«

»Ich habe ihn ja geschlagen«, erwiderte er. »Jedenfalls genauso, wie er mich. Und es wird kein nächstes Mal geben. Nenne die Leute in Zukunft bitte nicht wieder ordinär. Wenn es Probleme gibt, nimmst du einfach deinen Mantel und gehst nach Hause. Verstanden?«

[26] »Ja, Liebling«, sagte sie kleinlaut. »Das war sehr dumm von mir, und jetzt habe ich es verstanden.«

Auf dem Flur blieb er vor der Kinderzimmertür abrupt stehen.

»Schläft sie?«

»Tief und fest. Aber du kannst hineingehen und sie kurz anschauen – nur um gute Nacht zu sagen.«

Sie schlichen auf Zehenspitzen in das kühle, dunkle Zimmer und beugten sich gemeinsam über das Bett. Mit gesunden Bäckchen, die rosa Hände fest gefaltet, lag die kleine Ede da und schlief fest. John griff über das Geländer des Bettchens und strich ihr mit der Hand leicht über das seidige Haar.

»Sie schläft«, murmelte er, als erstaune es ihn.

»Natürlich – nach so einem Nachmittag.«

»Miz Andros.« Die Stimme des farbigen Dienstmädchens driftete vom Flur herein. »Mr. und Miz Markey sind unten und wollen Sie sprechen. Mr. Markey is’ ganz schön zerschunden, Ma’m. Sein Gesicht sieht aus wie ein Roastbeef. Und Miz Markey, die is’ wohl mächtig aufgebracht.«

»Was? Also die haben Nerven!«, rief Edith aus. »Sag ihnen, wir sind nicht zu Hause. Um nichts in der Welt gehe ich da hinunter.«

»Doch, das tust du.« Johns Stimme war fest und entschieden.

»Was?«

»Du gehst jetzt sofort da hinunter, und nicht nur das – egal, was diese Frau tut oder sagt, du entschuldigst dich für das, was du heute Nachmittag gesagt hast. Danach brauchst du sie nie wiederzusehen.«

[27] »Aber – John, das kann ich nicht.«

»Du musst aber. Und wenn es dir schwerfällt, denk einfach daran, dass es ihr wahrscheinlich doppelt so schwer gefallen ist, hierherzukommen.«

»Kommst du nicht mit? Muss ich alleine zu ihnen gehen?«

»Ich komme nach – gleich.«

John Andros wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann streckte er die Hände aus und nahm seine Tochter, mitsamt der Decke, auf den Arm, setzte sich in den Schaukelstuhl und drückte sie an sich. Sie regte sich ein wenig, und er hielt den Atem an, doch sie schlief ganz fest, und gleich darauf lag sie ruhig in seiner Armbeuge. Vorsichtig neigte er den Kopf, bis seine Wange ihr helles Haar berührte. »Liebes kleines Mädchen«, flüsterte er. »Liebes kleines Mädchen, mein liebes kleines Mädchen.«

John Andros wusste endlich, wofür er an diesem Abend so wild gekämpft hatte. Es war jetzt sein, er besaß es für immer, und eine Weile lang saß er da und schaukelte in der Dunkelheit langsam hin und her.

[28] Der Nachtkassierer

Der letzte Häftling war ein Mann – seine Männlichkeit sprang nicht gerade ins Auge, das ist wahr; vielleicht wäre es besser, ihn als »Person« zu beschreiben, doch fiel er zweifellos unter jenen Oberbegriff und wurde in der Gerichtsakte auch so klassifiziert. Er war ein kleiner, etwas schrumpeliger, etwas runzeliger Amerikaner, der wohl seit fünfunddreißig Jahren so dahinleben mochte.

Sein Körper sah aus, als hätte man ihn voriges Mal beim Schneider aus Versehen in seinem Anzug vergessen und mit einem heißen, schweren Bügeleisen in seine gegenwärtige markante Form gepresst. Sein Gesicht war einfach ein Gesicht. Es war die Art von Gesicht, aus dem Menschenmengen bestehen: grau, mit Ohren, die gegen den Kopf zurückschreckten, als fürchteten sie den Lärm der Stadt, und den müden, müden Augen eines Mannes, dessen Ahnen fünftausend Jahre lang zu den Zukurzgekommenen gehört haben.

Wie er da jetzt zwischen zwei baumlangen Kelten im Blau der Exekutive auf die Anklagebank geführt wurde, hätte man ihn für den Vertreter einer längst ausgestorbenen Rasse halten können, einen arg mitgenommenen und geschrumpften Kobold, der beim Wildern auf einer Butterblume im Central Park erwischt worden war.

[29] »Wie heißen Sie?«

»Stuart.«

»Und wie noch?«

»Charles David Stuart.«

Der Protokollführer notierte es kommentarlos in dem Buch der kleinen Vergehen und großen Fehler.

»Alter?«

»Dreißig.«

»Beruf?«

»Nachtkassierer.«

Der Protokollführer hielt inne und sah den Richter an. Der Richter gähnte. »Und die Anklage?«, fragte er.

»Die Anklage« – der Protokollführer blickte auf den Vermerk in seiner Hand –, »die Anklage lautet, dass er einer Dame einen Stoß ins Gesicht verpasst hat.«

»Geständig?«

»Ja.«

Damit waren die Formalitäten erledigt. Charles David Stuart, der ganz harmlos und beklommen wirkte, stand wegen tätlichen Angriffs und Körperverletzung vor Gericht.

Die Beweislage ergab zum nicht geringen Erstaunen des Richters, dass es sich bei der Dame, die den Stoß ins Gesicht abgekriegt hatte, nicht um die Frau des Angeklagten handelte.

Im Gegenteil, das Opfer war eine völlig Fremde – der Häftling hatte sie noch nie vorher gesehen. Seine Gründe für den tätlichen Angriff waren zweierlei gewesen: erstens, dass die Dame während einer Theateraufführung geredet, und zweitens, dass sie mit den Knien unentwegt die [30] Rückenlehne seines Stuhls traktiert hatte. Als dies eine Weile so gegangen war, hatte er sich umgedreht und ihr ohne Vorwarnung einen kräftigen Stoß ins Gesicht verpasst.

»Rufen Sie die Klägerin auf«, sagte der Richter und setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Wir wollen hören, was sie zu sagen hat.«

Die kleine Schar von Besuchern, ungewohnt matt in der Hitze des Nachmittags, wurde plötzlich munter. Ein paar Männer zogen von den hinteren Bänken in die Nähe des Richtertischs um, und ein junger Reporter beugte sich dem Protokollführer über die Schulter und schrieb den Namen des Angeklagten auf die Rückseite eines Briefumschlags.

Die Klägerin erhob sich. Sie war knapp diesseits der fünfzig und hatte ein entschlossenes, etwas herrisches Gesicht unter gelblich-weißem Haar. Ihr Kleid war ein gediegenes schwarzes, und sie erweckte den Eindruck, als trüge sie eine Brille; ja der junge Reporter, ein überzeugter Beobachter, hatte sie im Geist schon so beschrieben, bevor er merkte, dass gar keine solche Zierde auf ihrer dünnen Hakennase saß.

Wie zu erfahren war, handelte es sich um Mrs. George D. Robinson, Riverside Drive 1219. Sie habe schon immer viel für das Theater übriggehabt, und gelegentlich besuche sie die Nachmittagsvorstellung. Gestern hätten zwei Damen sie dorthin begleitet, ihre Kusine, mit der sie die Wohnung teile, und eine Miss Ingles – beide Damen waren im Gericht anwesend.

Folgendes hatte sich zugetragen:

Als der Vorhang zum ersten Akt aufging, hatte eine hinter ihr sitzende Frau sie gebeten, ihren Hut abzunehmen. [31] Mrs. Robinson war ohnehin im Begriff gewesen, dies zu tun, und hatte sich deshalb ein wenig über die Bitte geärgert und Miss Ingles und ihrer Kusine gegenüber eine entsprechende Bemerkung gemacht. Das war der Moment, in dem sie den Angeklagten, der direkt vor ihr saß, zum ersten Mal wahrgenommen hatte, denn er hatte sich umgedreht und ihr einen kurzen, äußerst unverschämten Blick zugeworfen. Danach hatte sie ihn gleich wieder vergessen – bis kurz vor Ende des Aktes, als sie irgendetwas zu Miss Ingles gesagt hatte und er plötzlich aufgestanden war, sich umgedreht und ihr einen Stoß ins Gesicht verpasst hatte.

»War es ein kräftiger Stoß?«, fragte der Richter dazwischen.

»Ein kräftiger Stoß«, sagte Mrs. Robinson empört, »ja, das war es allerdings! Ich hatte den ganzen Abend heiße und kalte Umschläge auf der Nase.«

»…Umschläge auf der Nase.«

Dieses Echo kam von der Zeugenbank, wo zwei welke Damen sich eifrig vorbeugten und zur Bestätigung mit dem Kopf nickten.

»Waren die Lichter an?«, fragte der Richter.

Nein, aber alle in der näheren Umgebung hätten gesehen, was passiert sei, und ein paar Leute hätten den Mann an Ort und Stelle festgehalten.

Damit war die Sache für die Klägerin abgeschlossen. Ihre beiden Freundinnen sagten das Gleiche aus wie sie, und für jeden im Gerichtssaal stellte sich der Vorfall als ein Akt grundloser und unverzeihlicher Brutalität dar.

Das Einzige, was nicht zu dieser Deutung passte, war [32] die Physiognomie des Häftlings selbst. Eine Reihe kleinerer Delikte hätte er, eins wie das andere, auf dem Gewissen haben können – Taschendiebe zum Beispiel hatten eine notorisch sanfte Art –, doch zu dieser speziellen Tätlichkeit in einem vollbesetzten Theater schien er körperlich außerstande. Er hatte nicht die richtige Stimme und nicht die richtige Kleidung und nicht den richtigen Schnurrbart für einen solchen Angriff.

»Charles David Stuart«, sagte der Richter, »haben Sie gehört, was gegen Sie vorgebracht wird?«

»Ja.«

»Bekennen Sie sich schuldig?«

»Ja.«

»Möchten Sie noch etwas sagen, bevor ich Sie verurteile?«

»Nein.« Der Häftling schüttelte verzweifelt den Kopf. Seine kleinen Hände zitterten.

»Kein einziges Wort zur Erklärung für diese ungerechtfertigte Tätlichkeit?«

Der Häftling schien zu zögern.

»Nur zu«, sagte der Richter. »Sprechen Sie – es ist Ihre letzte Chance.«

»Na ja«, sagte Stuart mit einiger Überwindung, »sie hat angefangen, über den Magen des Klempners zu reden.«

Im Gerichtssaal kam Unruhe auf. Der Richter beugte sich vor.

»Was meinen Sie damit?«

»Also, zuerst hat sie mit – mit den beiden Damen da« – er wies auf die Kusine und Miss Ingles – »nur über ihren eigenen Magen geredet, das war ja nicht so schlimm. Aber [33] als sie anfing, über den Magen des Klempners zu reden, änderte sich das.«

»Wie meinen Sie das – was änderte sich da?«

Charles Stuart blickte sich hilfesuchend um.

»Ich kann’s nicht erklären«, sagte er, und sein Schnurrbart bebte ein wenig dabei, »aber als sie anfing, über den Magen des Klempners zu reden, musste man – da musste man zuhören.«

Ein Kichern ging durch den Gerichtssaal. Mrs. Robinson und ihre Damen auf der Bank waren sichtlich entsetzt. Der Wärter trat einen Schritt näher, als sei er bereit, diesen Verbrecher auf ein Kopfnicken des Richters hin schleunigst in das finsterste Verlies Manhattans zu schaffen.

Doch zu seinem großen Erstaunen machte der Richter es sich auf seinem Stuhl bequem.

»Erzählen Sie uns davon, Stuart«, sagte er nicht unfreundlich. »Erzählen Sie uns die ganze Geschichte von Anfang an.«

Diese Aufforderung war ein Schock für den Häftling, und einen Moment lang erweckte er den Eindruck, als wäre ihm die Urteilsverkündung lieber gewesen. Doch nachdem er sich kurz nervös im Saal umgeschaut hatte, legte er die Hände auf die Tischkante, wodurch er an einen Foxterrier erinnerte, dem man das Männchenmachen beibringt, und fing mit zitternder Stimme an zu sprechen.

»Also, ich bin Nachtkassierer in T. Cushmaels Restaurant an der Third Avenue, Euer Ehren. Ich bin nicht verheiratet« – er lächelte ein wenig, als wisse er, dass alle sich das bereits gedacht hatten –, »deshalb gehe ich mittwochs und samstags nachmittags meistens ins Theater. Das hilft, [34] die Zeit bis zum Abendessen rumzukriegen. Es gibt da so einen Drugstore, vielleicht kennen Sie den, wo man für manche Vorstellungen Karten zu einem Dollar fünfundsechzig bekommt, da gehe ich meistens hin und suche mir ein Stück aus. An der Theaterkasse haben sie ja inzwischen furchtbare Preise.« Er gab ein langes, tonloses Pfeifen von sich und schaute den Richter treuherzig an. »Vier oder fünf Dollar die Karte…«

Der Richter nickte mit dem Kopf.

»Also«, fuhr Charles Stuart fort, »selbst wenn ich einen Dollar fünfundsechzig bezahle, erwarte ich, dass mir für mein Geld was geboten wird. Ungefähr vor zwei Wochen war ich in einem von diesen Kriminalstücken, wo einer der Schurke ist, der das Verbrechen begangen hat, aber keiner weiß, wer’s war. Na ja, der Witz an der Sache ist ja nun, draufzukommen, wer’s gewesen ist. Und hinter mir saß eine Dame, die das Stück schon kannte und dem Mann, mit dem sie da war, alles vorher verraten hat. Himmel« – er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf, immer hin und her –, »ich wär fast gestorben auf meinem Platz. Hinterher, zu Hause in meinem Zimmer, hab ich mich so aufgeregt, dass jemand kam und mich bat, das ständige Auf- und Abgehen sein zu lassen. Ein Dollar fünfundsechzig von meinem Geld weg, für nichts.

Gut, dann wurde es wieder Mittwoch, und diese Vorstellung wollte ich nun wirklich gerne sehen. Schon seit Monaten wollte ich sie sehen, und jedes Mal, wenn ich am Drugstore vorbeikam, fragte ich nach, ob sie Karten dafür hätten. Aber sie hatten nie welche.« Er zögerte. »Also nahm ich am Dienstag mein Glück selbst in die Hand und [35] ging zur Theaterkasse und kaufte mir eine Karte. Hat mich zwei fünfundsiebzig gekostet.« Er nickte bedeutungsschwer. »Zwei fünfundsiebzig. Als ob unsereins zu viel Geld hätte. Aber ich wollte diese Vorstellung sehen.«

Mrs. Robinson, in der ersten Reihe, stand plötzlich auf.

»Ich begreife nicht, was diese ganze Geschichte damit zu tun hat«, platzte sie ein wenig schrill heraus. »Es interessiert mich wirklich nicht…«

Der Richter schlug mit dem Hammer kräftig auf den Tisch.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte er. »Dies ist ein Gericht und keine Theatervorstellung.«

Mrs. Robinson setzte sich sehr aufrecht hin, bis sie ein einziger dünner Strich war, und schnaubte ein wenig, als wolle sie sagen, darüber werde gleich noch zu reden sein. Der Richter holte seine Uhr hervor.

»Erzählen Sie weiter«, sagte er zu Stuart. »Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.«

»Ich war der Erste«, fuhr Stuart mit flatteriger Stimme fort. »Außer mir und dem Mann, der saubermachte, war niemand im Saal. Nach einer Weile kamen die Zuschauer herein, es wurde dunkel, und das Stück fing an, aber als ich mich gerade zurechtgesetzt hatte und bereit war, mich zu amüsieren, hörte ich hinter mir einen grässlichen Krawall. Irgendjemand hatte diese Dame« – er zeigte auf Mrs. Robinson – »gebeten, ihren Hut abzunehmen, wie es sich sowieso gehört hätte, und das ärgerte sie. Sie erklärte den beiden anderen Damen immer und immer wieder, sie wär schon öfter im Theater gewesen und wüsste selbst, dass man da den Hut abnimmt. Das ging eine ganze Zeit lang so, [36] fünf Minuten vielleicht, und danach fiel ihr alle paar Minuten wieder irgendwas ein, das sie laut herausposaunte. Also hab ich mich schließlich umgedreht und sie angeguckt, weil ich wissen wollte, wie eine Frau aussieht, die so rücksichtslos sein kann. Kaum hatte ich mich wieder nach vorne gedreht, da zog sie auch schon über mich her. Ich wär unverschämt, sagte sie, und dann machte sie andauernd ›Tschk! Tschk! Tschk!‹, und die beiden anderen Damen machten auch ›Tschk! Tschk! Tschk!‹, bis man sich selbst kaum noch denken hören konnte und dem Stück lauschen erst recht nicht. Man hätte meinen können, ich hätte irgendwas Schreckliches getan.

Nach einer Weile, als sie sich beruhigt hatten und ich allmählich wieder mitbekam, was auf der Bühne passierte, merkte ich, wie mein Sessel nach vorne und wieder zurück knarrte, und mir war klar, dass die Dame jetzt ihre Füße dagegengestemmt hatte und mir ein schönes Geschaukel bevorstand. Himmel!« Er wischte sich über die blasse, schmale Stirn, auf der sich ein dünner Schweißfilm gebildet hatte. »Es war furchtbar. Glauben Sie mir, ich wünschte, ich wär gar nicht erst hingegangen. Einmal war ich selbst von einer Vorstellung so mitgerissen, dass ich andauernd gegen den Stuhl meines Vordermanns gestoßen bin, ich hab’s gar nicht gemerkt und war froh, als er mich gebeten hat, damit aufzuhören. Aber ich wusste, dass diese Dame gar nicht froh sein würde, wenn ich sie darum bitten würde. Sie hätte sich bloß umso kräftiger ins Zeug gelegt.«

Inzwischen warfen die Leute im Gerichtssaal der reifen Dame mit dem gelblich-weißen Haar heimliche Blicke zu. Sie war vor Wut buchstäblich krebsrot angelaufen.

[37] »Es war so gegen Ende des Aktes«, fuhr der kleine blasse Mann fort, »und ich amüsierte mich, so gut es eben ging, wenn man bedenkt, dass sie mich mal Richtung Bühne drückte und mal wieder losließ, so dass der Sessel mit mir an seinen Platz zurückruckte. Dann kam sie plötzlich ins Reden. Sie erzählte von irgendeiner Operation, die sie gehabt hatte – ich erinnere mich noch, wie sie sagte, sie hätte dem Arzt erklärt, dass sie ihren eigenen Magen ja wohl besser kennen würde als er. Genau in dem Moment wurde das Stück richtig gut – die Leute neben mir hatten ihre Taschentücher rausgeholt und weinten, und mir war so ähnlich zumute. Und da fing diese Dame plötzlich an, ihren Freundinnen zu erzählen, was sie dem Klempner über seine Verstopfung gesagt hatte. Himmel!« Erneut schüttelte er den Kopf; seine blassen Augen wanderten unwillkürlich zu Mrs. Robinson – dann schaute er rasch weg. »Man konnte gar nicht vermeiden, das eine oder andere mitzuhören, und schon hatte ich was verpasst und dann wieder was, und irgendwann lachten alle, und ich wusste nicht, worüber sie lachten, und sobald sie ruhig waren, ertönte wieder die Stimme der Dame. Dann brach ein großes, schallendes Gelächter los, das eine ganze Weile andauerte, und alle bogen sich und lachten und lachten, und ich hatte kein Wort verstanden. Ehe ich mich’s versah, war der Vorhang unten, und dann weiß ich auch nicht, was passiert ist. Ich muss wohl ein bisschen durchgedreht sein oder so was, jedenfalls bin ich aufgestanden und hab meinen Sessel hochgeklappt, die Hand ausgestreckt und der Dame einen Stoß ins Gesicht verpasst.«

Als er geendet hatte, ging ein langes Seufzen durch den [38] Gerichtssaal, so als hätten alle in Erwartung des Höhepunkts den Atem angehalten. Sogar der Richter keuchte ein wenig, und die drei Damen auf der Zeugenbank brachen in schrilles Geschnatter aus, das immer lauter und lauter und schriller und schriller wurde, bis der Hammer des Richters erneut auf den Tisch knallte.

»Charles Stuart«, sagte der Richter mit kräftiger Stimme, »ist dies Ihre einzige Erklärung dafür, dass Sie die Hand gegen eine Dame vom Alter der Klägerin erhoben haben?«

Charles Stuarts Kopf versank ein wenig zwischen seinen Schultern, als wolle er sich so weit wie möglich in den armseligen Schutz seines Körpers zurückziehen.

»Ja, Sir«, sagte er leise.

Mrs. Robinson sprang auf.

»Ja, Herr Richter«, kreischte sie, »und das ist nicht alles. Noch dazu ist er ein Lügner, ein dreckiger kleiner Lügner. Er hat sich gerade selbst als dreckigen kleinen…«

»Ruhe!«, rief der Richter mit fürchterlicher Stimme. »Ich sitze diesem Gericht vor und bin durchaus in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu fällen!« Er machte eine kleine Pause. »Ich werde jetzt das Urteil über Charles Stuart« – er warf einen Blick in das Protokoll –, »Charles David Stuart, 212½ West 22nd Street verkünden.«

Im Gerichtssaal wurde es still. Der Reporter beugte sich vor – er hoffte auf ein mildes Urteil, nur ein paar Tage auf der Insel anstatt einer Geldstrafe.

Der Richter lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versteckte seine Daumen irgendwo unter der schwarzen Robe.

»Angriff gerechtfertigt«, sagte er. »Klage abgewiesen.«

[39] Der kleine Mann Charles Stuart trat blinzelnd in den Sonnenschein hinaus, hielt an der Tür zum Gericht einen Moment lang inne und blickte sich verstohlen um, als rechne er halb damit, dass es sich um einen Justizirrtum handele. Nachdem er ein- oder zweimal die Nase hochgezogen hatte – nicht weil er erkältet gewesen wäre, sondern aus jenen vagen psychologischen Gründen, aus denen Menschen die Nase hochziehen –, ging er, nach einer U-Bahn-Station Ausschau haltend, langsam in südlicher Richtung los.

An einem Kiosk blieb er stehen, um sich eine Morgenzeitung zu kaufen; dann beförderte eine U-Bahn ihn weiter gen Süden zur 18th Street, wo er ausstieg und ostwärts zur Third Avenue marschierte. Hier war er in einem aus Glas und gipsweißen Kacheln gebauten Restaurant angestellt, das die ganze Nacht über geöffnet hatte. Hier saß er von der Sperrstunde bis zum Morgengrauen an einem Tresen, nahm Geld entgegen und führte die Bücher des Besitzers T. Cushmael. Und hier konnte er seine Augen, indem er sie ein wenig nach rechts oder links bewegte, während der nicht enden wollenden Nächte auf der gestärkten Leinenuniform von Miss Edna Schaeffer ruhen lassen.

Miss Edna Schaeffer war dreiundzwanzig und hatte ein liebes, sanftes Gesicht und Haare, die ein anschauliches Beispiel dafür waren, wie man Henna nicht verwenden sollte. Letzteres war ihr nicht bewusst, weil alle Mädchen, die sie kannte, Henna auf genau diese Weise verwendeten, weshalb der merkwürdig zinnoberrote Farbton ihres Schopfs vielleicht nicht weiter auffiel.

Charles Stuart wusste längst nicht mehr, was sie für eine [40]