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Donna Leon

Himmlische
Juwelen

Roman
Aus dem Amerikanischen von
Werner Schmitz

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel des Originals:

 ›The Jewels of Paradise‹

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Diego Rodríguez

de Silva y Velázquez, ›Philipp IV.

(1605 – 1665), König von Spanien‹,

wahrscheinlich 1624 (Ausschnitt)

Copyright © Tomas Abad / Alamy /

Mauritius Images

 

 

Für Markus Wyler

 

 

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24286 7 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60191 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] O mio fiero Destin, perversa sorte!
Sparì mia vita e non mi date a morte.

Oh mein stolzes Schicksal, launisch Los!
Zerstört mir das Leben, verweigert den Tod!

Agostino Steffani,
Niobe, 2. Akt, 5. Szene

[7] 1

Caterina Pellegrini zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken und dann mit dem Kopf dagegen. Ihre Beine zitterten, während die Anspannung allmählich nachließ, und nach einigen tiefen Atemzügen löste sich auch der Krampf in ihrer Brust. Am liebsten hätte sie vor lauter Freude sich selbst und die ganze Welt umarmt, doch sie bezwang, wie so oft in ihrem Leben, diesen heftigen Impuls, blieb mit hängenden Armen an die Tür gelehnt stehen und versuchte sich zu beruhigen.

Sie hatte unendliche Geduld gebraucht, aber es war geschafft. Sie hatte zwei Idioten ertragen, ihnen trotz ihrer Gier ins Gesicht gelächelt, Hochachtung geheuchelt und sie dazu gebracht, ihr den begehrten Job zu geben. Die beiden waren beschränkt, aber mächtig; sie waren unsympathisch, aber die Entscheidung lag bei ihnen; sie konnten Caterinas Fähigkeiten nicht einschätzen und hatten kein Verständnis für ihr Fachgebiet, doch der Auftraggeber waren nun einmal sie.

Und sie hatten ihn ihr gegeben, den begehrten Auftrag, und keinem der anderen Bewerber, in denen sie »Widersacher« gesehen hatte, so sehr hatten die letzten zehn Jahre ihres Berufslebens schon ihre Sprache infiziert. Als jüngste von fünf Schwestern hatte Caterina sich von klein auf durchzusetzen gelernt. Mit den Schwestern verhielt es sich wie in einem Stück von Goldoni: Da war Claudia, die Schöne; Clara, die Glückliche; Cristina, die Fromme; Cinzia, die [8] Sportliche; und als Letztgeborene Caterina, die Kluge. Claudia und Clara hatten gleich nach der Schule geheiratet, Claudia nach einem Jahr die Scheidung eingereicht und sich hochgetauscht, ein Anwalt, mit dem sie nicht groß harmonierte, während Clara mit ihrem ersten Mann zufrieden war und bei ihm blieb; Cristina hatte der Welt entsagt, war ins Kloster gegangen und hatte dann Theologie und Kirchengeschichte studiert; Cinzia hatte einige Medaillen bei Landesmeisterschaften im Tauchen gewonnen, dann geheiratet, zwei Kinder bekommen und Fett angesetzt.

 Caterina, die Kluge, hatte das liceo besucht, wo der Vater Geschichte lehrte und sie die Latein- und Griechischprüfungen alljährlich mit Auszeichnung bestand, während sie nebenher von ihrer Tante Russisch lernte. Danach hatte sie vergeblich ein Jahr lang Gesangsunterricht am Konservatorium genommen und anschließend zwei Jahre in Padua Jura studiert, was sie erst enttäuschend und dann nur noch langweilig fand. Die schönen Künste lockten noch immer, und so entschloss sie sich zum Studium der Musikwissenschaft, zunächst in Florenz und dann in Wien, und als ihr Doktorvater von ihren hervorragenden Russischkenntnissen erfuhr, besorgte er ihr ein zweijähriges Stipendium, um mit ihr Paisiellos russische Opern in Sankt Petersburg zu erforschen. Nach Wien zurückgekehrt, promovierte Caterina über die Barockoper. Der Doktorhut erfüllte ihre Familie mit Freude und Stolz und verhalf ihr nach nur einjähriger Suche zu einer Art innerem Exil im Süden, genauer gesagt zu einer Stelle als Dozentin für Kontrapunkt am Konservatorium Egidio Romualdo Duni in Matera. Egidio Romualdo Duni. Welcher Spezialist der Barockoper kannte [9] den Namen nicht? Für Caterina war er immer der »Duni, der auch komponierte«, der Mann, der seinen Opern dieselben Titel gegeben hatte wie jene von berühmteren oder begnadeteren Kollegen: Bajazet, Catone in Utica, Adriano in Siria. Duni. Er bedeutete ihr ebenso wenig wie den Intendanten an den Opernhäusern.

Die Doktorwürde der Wiener Universität, dann die Dozentenstelle am Konservatorium, wo sie Erstsemester in Kontrapunktik unterrichtete. Duni. Wochenlang hatte sie das Gefühl, sie könnte ebenso gut Mathematik unterrichten – so weit war ihr Thema vom Zauber der Gesangsstimme entfernt. Dieses Unwohlsein verhieß nichts Gutes, wie ihr schon bald nach ihrer Ankunft klar wurde. Doch erst nach zwei Jahren fasste sie den Entschluss, wieder aus Italien wegzugehen, diesmal nach Manchester, einem der führenden Forschungszentren für Barockmusik, wo sie vier Jahre lang forschte und als Lehrbeauftragte arbeitete.

Die Stadt selbst fand Caterina abstoßend hässlich, doch an der Uni fühlte sie sich durchaus wohl; sie beschäftigte sich mit den Werken – und in geringerem Maße auch mit dem Leben – einer Handvoll italienischer Musiker aus dem achtzehnten Jahrhundert, die in Deutschland Karriere gemacht hatten. Mit Veracini, Händels großem Rivalen; Porpora, dem Lehrer Farinellis; dem praktisch vergessenen Sartorio und mit Lotti, einem Venezianer, der so gut wie jeden unterrichtet hatte. Bald schon begann sie Parallelen zwischen dem Schicksal der Musiker und ihrem eigenen zu erkennen. Sie alle hatte es auf der Suche nach Arbeit und Ruhm, die sie in Italien nicht hatten finden können, in den Norden verschlagen. Wie etliche von ihnen hatte auch [10] Caterina Arbeit gefunden, und wie die meisten von ihnen litt sie an Heimweh und sehnte sich nach der Schönheit, der Luft und Leichtigkeit jenes Landes, das sie, wie sie erst jetzt erkannte, über alles liebte.

Die Rettung brachte, wie so oft, der Zufall. Die Gattin des Dekans ihrer Fakultät gab jährlich im Frühling ein Essen für die Mitarbeiter ihres Mannes. Ihr Chef betonte jedes Mal, dass zur Teilnahme kein Zwang bestehe: Kommen Sie, wenn Sie Zeit haben. Dienstältere wussten freilich, dass die Einladung einem Dekret von Iwan dem Schrecklichen gleichkam. Wer ihr nicht folgte, konnte jegliche Hoffnung auf Beförderung begraben; und wer sie annahm, verbrachte einen Abend in lähmender Langeweile. Heftige Wortwechsel, wüste Beschimpfungen oder gar Handgreiflichkeiten hätten für Abwechslung gesorgt, stattdessen war die Konversation bei Tisch von Zurückhaltung und einer schmallippigen Höflichkeit geprägt, die allerdings jahrzehntelanges sich Beäugen, Belauern und Karriereneid kaum zu übertünchen vermochte.

Caterina wusste, dass ihr Schmeicheln nicht lag, und beobachtete daher lieber schweigend das Treiben. Die meisten am Tisch sahen aus, als trügen sie die ungewaschene Kleidung breitschultrigerer Freunde. Dazu schäbige Schuhe. Und erst das Essen. Italienischen Kollegen gegenüber hatte sie schon manchmal gelästert, doch beim Thema Essen verschlug es ihr die Sprache.

Ihre Rettung war ein rumänischer Musikwissenschaftler, der, soweit Caterina das beurteilen konnte, die letzten drei Jahre vom Alkohol benebelt verbracht hatte. Dass er von morgens bis abends trank, hinderte ihn nicht daran, ihr auf [11] den Korridoren oder in der Bibliothek freundlich zuzulächeln, was sie jedes Mal gern erwiderte. Während seiner Vorlesungen war er erstaunlich nüchtern und überaus geistreich: Seine Interpretation der Metaphern in den Libretti von Metastasio war bahnbrechend, und seinen Darlegungen zur Korrespondenz des Wiener Hofpoeten Apostolo Zeno über die Gründung der Accademia degli Animosi folgten die Studenten mit offenen Mündern. Oft trug er schicke Kaschmirjacketts.

Am Abend ihrer Rettung saß der Rumäne ihr weinselig grinsend gegenüber beim Dinner des Dekans, und sie lächelte bereitwillig zurück, allein schon, weil sie sich fließend auf Italienisch verständigen konnten. Die meisten anderen am Tisch kannten Italienisch nur aus Opernlibretti, weshalb sie zu Liebessschwüren neigten, zu Schrecken und Reue, zuweilen gar dem Blutdurst verfielen. Caterina unterhielt sich mit ihnen lieber auf Englisch. Während sie die Anwesenden musterte, wurde ihr bewusst, wie treffend eine Wendung wie »Io muoio, io manco« ihre Gefühle in Worte fasste. »Traditore infame« wäre keine abwegige Bezeichnung für manche ihrer Kollegen. Und war nicht der Vorsitzende selbst »un vil scellerato«?

Der Rumäne stellte sein Glas ab – die Gabel erübrigte sich, da er sich mit fester Nahrung nicht aufhielt – und brach sein Schweigen, indem er auf Italienisch fragte: »Möchten Sie von hier weg?«

Caterina sah ihn neugierig an und fragte zurück: »Von diesem Essen oder der Universität?«

Er griff lächelnd zum Glas und sah sich nach einer weiteren Flasche um. »Der Universität«, sagte er klar und deutlich.

[12] »Ja.« Von ihrem Geständnis selbst überrumpelt, umklammerte sie ihr Glas.

»Ein Freund hat mir erzählt, die Fondazione Musicale Italo-Tedesca sucht jemanden vom Fach.« Er prostete ihr zu. Sein Lächeln war ein angenehmer Anblick, seine Zähne weniger.

»Die Fondazione Musicale Italo-Tedesca«, wiederholte sie. Zu Hause gab es so etwas Ähnliches. Irgendwelche Dilettanten, Amateure. Er musste eine Einrichtung in der deutschsprachigen Welt meinen.

»Die ist Ihnen bekannt?«

»Ich habe davon gehört«, log sie in demselben Tonfall, in dem sie auf die Frage antworten würde, ob sie von der Wanzenplage in New Yorker Hotels wusste.

Er trank sein Glas aus, hielt es sinnend hoch und fauchte zu ihrer Überraschung: »Italien.« Was war aus Italien? Das Glas? Oder der Wein?

»Geld«, fügte er in verführerischem Ton hinzu. »Eine Menge.« Ihm entging nicht, wie wenig Eindruck das auf sie machte, und sein Lächeln kehrte zurück, als seien sie sich einiger denn je. »Recherchen. Neue Dokumente.« Er merkte, wie sie darauf ansprang, und sah kurz in die Richtung des Dekans am Ende der Tafel. »Wollen Sie so enden wie er?«

Neugierig geworden, sagte sie aufmunternd: »Erzählen Sie mehr.«

Er ging nicht darauf ein, spähte vielmehr nach den Flaschen auf der Anrichte. Womöglich hatte er bereits jenen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab.

Er stellte sein leeres Glas neben das volle seiner rechten [13] Tischnachbarin, die sich angeregt unterhielt, und tauschte die Gläser.

»Idioten«, platzte es ziemlich laut aus ihm heraus, doch da sie Italienisch sprachen, gingen in seinem schleppenden Tonfall wenigstens die harten Konsonanten unter. Niemand drehte sich nach ihm um.

Caterina beobachtete verblüfft, wie er den Rand des vertauschten Glases erst mit der Serviette abrieb, ehe er sich einen ausgiebigen Schluck genehmigte.

Da das Glas schon fast wieder leer war, goss sie kurzentschlossen den Rest ihres Weißweins zu seinem Roten.

Er nickte. Sein Lächeln verschwand. »Ich will nicht. Sie vielleicht?«, murmelte er.

»Was denn?«, fragte sie verwirrt. Meinte er ihren Wein?

»Hab ich doch gesagt«, antwortete er und sah sie scharf an. »Hören Sie nicht zu? Nach Venedig. Ich hasse die Stadt.«

Also war es doch die Fondazione, die sie kannte: ein Job in Venedig, zu Hause. Doch wie bedeutend konnte diese Einrichtung schon sein, von der sie außer dem Namen nie etwas gehört hatte? Italiener schätzten den Barock nicht weiter. Nein: Für die zählten nur Verdi, Rossini und – Gott steh mir bei, dachte sie, während ihr eine fallende Kadenz den Rücken hinunterlief – Puccini.

»Sie sprechen von Venedig? Die Stelle ist in Venedig?« Sein Blick hatte sich während ihrer Unterhaltung immer mehr eingetrübt, und sie wollte sich erst Gewissheit verschaffen, ob er nicht phantasierte, ehe sie zu hoffen wagte.

»Furchtbares Kaff«, sagte er und verzog das Gesicht. »Entsetzliches Klima. Grauenhaftes Essen. Touristen. T-Shirts. Tattoos.«

[14] »Sie haben abgelehnt?«, fragte sie mit ungläubigem Staunen.

»Venedig«, wiederholte er und spülte das Wort angewidert hinunter. »Nach Treviso würde ich gehen, nach Castelfranco. Friaul. Guter Wein.« Er starrte sinnend in sein Glas, als könne der Rest ihm sagen, wo er herstammte; und als er keine Antwort bekam, wandte er sich wieder Caterina zu. »Sogar nach Deutschland. Ich mag Bier.«

Caterina, die schon so viele Jahre unter Akademikern verbracht hatte, zweifelte keine Sekunde, dass dies ein Entscheidungskriterium war.

»Warum ich?«, fragte sie nur.

»Sie sind nett zu mir gewesen.« Sprach er von dem halben Glas Weißwein, oder meinte er, dass sie ihn mit Respekt behandelt und ihm gelegentlich zugelächelt hatte? Wie dem auch sei. »Und Sie sind blond.« Das war immerhin nachvollziehbar.

»Würden Sie mich empfehlen?«, fragte sie.

»Wenn Sie mir eine Flasche Roten von der Anrichte holen.«

[15] 2

Große Veränderungen haben sich schon auf seltsamere Weise angebahnt, dachte sie und riss sich von ihren Erinnerungen los. Sie war wieder in Venedig, sie hatte den Job, der sich allerdings nur auf ein einziges Projekt bezog. Ihr Blick wanderte durch das Büro, wo sie auf den Leiter der Stiftung wartete. Falls man einen kleinen, dafür sehr hohen Raum mit zwei winzigen Fenstern – eins hinter dem Schreibtisch und eins so dicht unter der Decke, dass es zwar Licht einließ, aber keine Aussicht bot – ein Büro nennen konnte. Schreibtisch und Stuhl wiesen darauf hin, während das Fehlen von Computer, Telefon und sogar Papier eher an eine Mönchszelle denken ließ. Das Kabuff – in einem zweigeschossigen ehemaligen Wohnhaus am Ende der Ruga Giuffa – ließ beide Deutungen zu. Aber es war ein kalter Tag Anfang April, und hier drin war es warm: also offenbar doch ein Büro, eins, das benutzt werden sollte.

Das wenige, was sie vor der Bewerbung über die Fondazione in Erfahrung bringen konnte, hatte sie schon auf diesen tristen Anblick vorbereitet: Nichts in diesem Raum – und nichts, was fehlte – überraschte sie. Dem Internet zufolge war die Stiftung vor dreiundzwanzig Jahren von Ludovico Dardago ins Leben gerufen worden, einem venezianischen Bankier, der in Deutschland Karriere gemacht hatte und ein leidenschaftlicher Liebhaber der italienischen und deutschen Barockoper war. Er hatte sein Vermögen gestiftet, um die Aufführung der Werke italienischer Barockkomponisten zu [16] fördern, die in Deutschland und Italien gelebt und gearbeitet hatten.

Die Räumlichkeiten mochten bescheiden sein, lagen aber günstig. Bis zur Biblioteca Marciana mit ihrer bedeutenden Sammlung von Manuskripten und Partituren waren es nur zehn Minuten zu Fuß.

Angesichts der Umstände, die sie in diesen Raum geführt hatten, kam es Caterina so vor, als habe man sie für eine Nebenrolle in einem Melodram aus dem neunzehnten Jahrhundert engagiert: Der wiederentdeckte Schatz? Die feindlichen Vettern? Seit über einem Jahr lagen sich zwei Cousins, Nachkommen verschiedener Linien eines gemeinsamen Urahnen, in den Haaren wegen zweier wiederaufgetauchter alter Truhen. Beide konnten ihre Verwandtschaft mit dem Erblasser belegen, einem Kirchenmann und Musiker, der ohne direkte Nachkommen gestorben war. Da sich der Fall juristisch nicht klären ließ, hatten sie schließlich, zähneknirschend, einen Schlichter eingeschaltet, der ihnen angesichts ihrer Weigerung, den noch unbekannten Inhalt der Truhen gleichmäßig untereinander aufzuteilen, den Vorschlag gemacht hatte, einen unabhängigen Fachmann zuzuziehen, der die historischen Unterlagen und andere allenfalls in den Truhen befindliche Schriftstücke nach Hinweisen durchforsten sollte, welcher Zweig der Familie ihrem Urahn eher am Herzen gelegen habe. Für den Fall, dass sich ein solcher Hinweis finden ließe, kamen die Cousins in einem vom Schlichter aufgesetzten und in Anwesenheit eines Notars unterzeichneten Vertrag überein, den gesamten Inhalt beider Truhen dem Begünstigten zu überlassen.

Als der Schlichter, der Caterina einige Wochen zuvor zu [17] einem Gespräch nach Venedig eingeladen hatte, ihr dies auseinandersetzte, dachte sie zunächst, er scherze oder habe den Verstand verloren, oder vielleicht auch beides. Dennoch bat sie freundlich um nähere Einzelheiten, um sich ein besseres Bild von ihrer Aufgabe machen zu können. Dabei verschwieg sie, dass ihr Wiedersehen mit Venedig, die Gerüche und die Atmosphäre sie so überwältigt hatten, dass sie den Job um jeden Preis annehmen würde, Hauptsache, sie käme weg aus dem verfluchten Manchester.

Dottor Moretti tischte ihr eine Mischung aus Mythen, Familiendrama, Seifenoper und Possenspiel auf, ohne je konkret zu werden. Bei dem verstorbenen Kirchenmann, erklärte er, handle es sich um einen Barockkomponisten, von dem sie als Spezialistin gewiss schon gehört habe; er sei vor knapp dreihundert Jahren verstorben, ohne ein Testament zu hinterlassen. Sein Besitz sei in alle Winde verstreut; jüngst seien zwei Truhen gefunden und nach Venedig gebracht worden, die vermutlich Papiere und womöglich auch Wertsachen enthielten. Unstrittig sei, dass die Anwärter Nachkommen von Verwandten des kinderlosen Musikers seien: Beide hätten Kopien von Tauf- und Heiratsurkunden vorgelegt, die über zwei Jahrhunderte zurückreichten.

An diesem Punkt hatte Caterina nachgefragt, um wen es sich denn handle, was Dottor Moretti geflissentlich überging. Das werde sie erst nach der Anstellung erfahren, sagte er, und so weit sei man noch lange nicht. Ein kleiner, unmissverständlicher Peitschenhieb.

Aber, fragte sie, man werde den Namen doch wohl erfahren, bevor es an die Prüfung der Unterlagen gehe?

Das käme ganz auf die Fundstücke an, erklärte Dottor [18] Moretti. Noch ein Hieb. Die beiden Erben, sagte er zu ihrer Überraschung, würden alle in Frage kommenden Bewerber gerne persönlich kennenlernen. Einzeln. Caterina, die allmählich die Geduld verlor, fragte, ob dies kein Humbug sei. Worauf der Schlichter mit einer Miene verneinte, die ebenso zurückhaltend war wie seine Krawatte.

Ihre Aufgabe sei es, die in den Truhen vermuteten Dokumente zu studieren; die meisten dürften in Italienisch, Deutsch und Latein verfasst sein, manche vielleicht auch in Französisch, Niederländisch oder auch Englisch. Alles, was auf einen Letzten Willen schließen lasse oder sich auch nur auf das Verhältnis zu Familienmitgliedern beziehe, müsse vollständig übersetzt werden: Papiere, in denen es um Musik oder andere Lebensbereiche gehe, hingegen nicht. Die Cousins erwarteten regelmäßige Berichte über den Stand der Arbeit. Dottor Moretti schien es peinlich, dies zu erwähnen. »Sie schicken diese Berichte an mich, und ich leite sie weiter.«

Auf Caterinas leicht befremdete Frage, warum man nichts über den Inhalt der Truhen wisse, antwortete Dottor Moretti, die Siegel wirkten unversehrt, offenbar seien die Truhen seit Jahrhunderten verschlossen.

Caterina bemerkte leichthin, das alles klinge sehr interessant und für einen Wissenschaftler geradezu faszinierend. Dabei ging sie im Kopf bereits die Namen von einschlägigen Komponisten durch, aber da ihr weder der Geburtsort bekannt war noch der Ort, an dem er gestorben war – oder gelebt hatte –, kam sie mit ihren Überlegungen nicht weiter.

Immerhin hatte sie anscheinend einen guten Eindruck gemacht, denn Moretti erklärte, er wolle sie am Nachmittag gern [19] mit zwei Herren bekannt machen, die sie bitte mit allem Respekt behandeln möge. Eins sei jedoch Vorbedingung: Anhand der Namen der beiden könne sie auf die Identität des Komponisten schließen, er verlasse sich darauf, dass sie dem nur nachgehen werde, falls man sich für sie entscheide; dies hätten sich, kam er ihrer Frage zuvor, die beiden mutmaßlichen Erben, »Männer, die einigen Wert auf Geheimhaltung legen«, so ausbedungen.

Caterina sicherte dies zu.

Am Nachmittag war sie dann den beiden konkurrierenden Erben nacheinander vorgestellt worden. Treffpunkt war die »Bibliothek«, ein Raum, in dem die Libretti und Partituren der Lieblingsopern und -orchesterwerke von Signor Dardago als Abschriften aufbewahrt wurden. In der Bibliothek gab es außer einem großen Tisch einige Regale, in denen jene Abschriften nicht länger Anstalten machten, aufrecht zu stehen. Es gab auch ein paar vereinzelte Bücher, darunter einen historischen Roman über einen Kastraten.

Die beiden hätten auf Caterina durchaus wie Ehrenmänner gewirkt, wenn nicht Caterinas Eltern, bei denen sie während der Bewerbung untergekommen war, ihr am Abend zuvor in bester venezianischer Tradition berichtet hätten, was über die zwei Männer in der Stadt geklatscht wurde.

Franco Scapinelli besaß vier Läden mit Glaswaren rund um den Markusplatz. In Tat und Wahrheit war er – wovon im Verlauf des Vorstellungsgesprächs allerdings keine Rede war – wegen Wucherei vorbestraft und durfte in der Stadt kein eigenes Geschäft betreiben. Aber wer konnte einem Mann schon verbieten, seinen Söhnen zur Hand zu gehen? Welches Gesetz der Welt?

[20] Der andere, Umberto Stievani, besaß sieben Wassertaxis, versteuerte aber einem Freund von Caterinas Vater zufolge – der es von einem Freund bei der Guardia di Finanza wusste – jährlich gerade mal elftausend Euro. Und seine zwei Söhne, die als Bootsführer für ihn arbeiteten, verdienten zusammen noch weniger.

Beide Männer bekundeten ihr großes Interesse an den Handschriften und allem Übrigen, was sich in den Truhen befinden mochte, doch Caterina erkannte schnell, dass dies nicht der historischen oder musikwissenschaftlichen Bedeutung galt. Beide hatten sich erkundigt, ob Manuskripte wertvoll seien, das heißt, ob jemand so etwas kaufen würde. Stievani, der ja viel mit Taxifahrern zu tun hatte, fragte unverblümt in Veneziano nach dem Wert in barer Münze: »Valgono schei?«

Und nun, keinen Monat später, stand sie hier, nachdem sie Job und Wohnung in Manchester gekündigt hatte, in einem Büro der Fondazione Musicale Italo-Tedesca und konnte es kaum erwarten, an die Arbeit zu gehen. Endlich wieder daheim in Venedig mit seinen vertrauten und so wohltuenden Geräuschen und Gerüchen.

Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Hinter dem Schreibtisch, links vom Fenster, hingen in unregelmäßiger Reihe drei kleine Kupferstiche. Sie trat näher und betrachtete die Perückenmänner in ihren Ikea-Plastikrahmen. Apostolo Zeno identifizierte sie an der lang herunterhängenden Perücke und dem langen weißen Schal, der unter seinen Gewändern hervorschaute. Händel hatte sie schon so oft gesehen, dass er ihr wie ein alter Bekannter vorkam. Und links hing Porpora, der aussah, als trage er eine [21] Perücke von Bach und das Wams einer Marineuniform. Armer alter Porpora: Es so weit zu bringen, und dann mittellos zu sterben.

Caterina inspizierte das Fenster. Nicht größer als einer der Kupferstiche, fünfzehn mal zwanzig Zentimeter, war es das kleinste Fenster, das sie je gesehen hatte. Womöglich war es gar das kleinste Fenster der Stadt.

Sie drückte die Nase ans Glas und erspähte die Fensterläden der Wohnung auf der anderen Seite der calle: grün, verwittert, geschlossen, als schliefen die Bewohner noch. Es war zehn Uhr morgens, eine Zeit, zu der ehrbare Leute – »gente per bene«, hörte sie die Stimme ihrer Großmutter sagen – längst aufgestanden und in die Schule oder zur Arbeit gegangen waren.

Caterina, ein Opfer ihrer strengen Arbeitsmoral, hatte sich immer für die ferne Nachfahrin eines blonden Goten aus der Zeit der Völkerwanderung gehalten, dessen genetisch verankerter Arbeitseifer über Generationen brachgelegen hatte, um dann mit der Geburt des letzten Kindes von Marco Pellegrini und Margherita Rossi wieder voll zu erblühen. Wie sonst war der Eifer zu erklären, der sie schon als Kind beseelte? Wie sonst ihre Absage, als der Bürgermeister, ein alter Freund ihres Vaters, ihr einen Posten als städtische Beraterin für Musikerziehung anbot? Sie sah keinen Sinn darin, Geld von einer Schule zur anderen zu verschieben oder den Musikunterricht in Schulen zu überwachen, die weder über Bücher noch über Musikinstrumente verfügten und deren Lehrer zwar keine Noten lesen konnten, dafür aber die Absichten der Politiker, die ihnen Arbeit gaben, bestens interpretierten. Sie hatte abgelehnt.

[22] Daher ihr Exil in Wien, das jahrelange Studium, das Wühlen in den Archiven von Sankt Petersburg und dann die Plackerei in Matera, nachdem sie aus Heimweh nach Italien hatte zurückkehren müssen. Erneutes Exil, diesmal in Manchester, und jetzt das hier.

Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. »Avanti«, rief sie und machte Anstalten, dem Eintretenden zu öffnen. Doch da ging die Tür schon auf, und eine Frau, die ihre Mutter hätte sein können, betrat den Raum. Sie war klein und ein wenig korpulent, hatte ein rundes Gesicht mit rosiger Haut. Ihr Haar trug sie in einem hochgetürmten Nest aus ineinander verflochtenen Zöpfen und Locken, eine Frisur, die Caterina an eine Aufführung von Cherubinis Medea erinnerte, die sie vor vielen Jahren im Teatro Massimo in Palermo gesehen hatte; der Kostümbildner hatte Medea offensichtlich mit Medusa verwechselt und der Sopranistin einen schlechtsitzenden Schlangenhelm auf den Kopf gesetzt, dessen schwankendes Gewimmel der Darbietung sehr zugutekam, weil es die Aufmerksamkeit des Publikums vom Gesang ablenkte. Im Gegensatz zu denen der Sängerin von damals bewegten sich die Schlangen dieser Frau hier nicht.

»Dottoressa Pellegrini?«, sagte sie, und Caterina fragte sich, wer denn sonst. Die Frau reichte ihr mit dünnem Lächeln die Hand. »Ich bin Roseanna Salvi, die stellvertretende Direktorin der Stiftung.« Caterina wusste, dass Dottor Asnaldi, der ehemalige Direktor, vor einem Jahr gegangen war und dass bis auf weiteres seine Assistentin die Stiftung leitete.

»Wie freundlich von Ihnen, sich zu mir zu bemühen, [23] Dottoressa«, sagte Caterina ehrerbietig und ergriff die dargebotene Hand.

Als fürchte sie, man wolle ihr die Hand wegnehmen, zog Dottoressa Salvi diese sogleich wieder zurück und verschränkte beide Hände hinter dem Rücken.

»Möchten Sie sich nicht setzen?«, meinte Caterina, als sei dies von jeher ihr Büro, mit einem Wink zu ihrem Schreibtisch. Erst jetzt bemerkte sie, dass es nur den einen Stuhl dahinter in diesem Zimmer gab.

Caterina versuchte es mit einem ansteckenden Lächeln, doch die Miene ihres Gegenübers blieb starr. »Dottoressa«, sagte sie, »nehmen Sie doch bitte Platz.«

Die Hände immer noch hinter dem Rücken, sagte die Frau: »Ich fürchte, ich muss Sie korrigieren, Dottoressa.«

Jetzt kommt’s, dachte Caterina. Revier abgrenzen, den Neuling zurechtweisen, die Hackordnung klarstellen: so viel zur Solidarität unter Frauen. Sie schwieg mit wohlwollendem Gesichtsausdruck.

»Es handelt sich um ein Missverständnis. Ich habe keinen Doktortitel. Nichts dergleichen.« Die Miene der Nicht-Dottoressa entspannte sich, und die Hände kamen wieder zum Vorschein.

»Ah«, sagte Caterina und fasste mitfühlend den Arm ihres Gegenübers. »Das hat mir niemand gesagt. Man hat mir überhaupt nichts Näheres gesagt.« Und da sie Frauen waren, und um die Situation zu entspannen, fügte sie hinzu: »Sagen Sie doch einfach Caterina zu mir. Nicht Dottoressa.«

Signora Salvi lächelte, und die Schlangen um ihren Kopf verwandelten sich in Locken. »Und ich heiße Roseanna«, stellte sie sich vor.

[24] »Können wir ›du‹ zueinander sagen?«, setzte Caterina hinzu. »Schließlich arbeiten wir zusammen.« Caterina wusste nicht, inwieweit das stimmte, aber zumindest arbeiteten sie im selben Haus und waren somit Kolleginnen.

Wie meist nach dem Ende der Förmlichkeiten entspannte sich die Lage. Mit einem Blick zur Tür meinte Signora Salvi: »Gehen wir in mein Büro«, und fügte lächelnd hinzu: »Da gibt es immerhin zwei Stühle.«

Zwei Zimmer weiter fiel Caterina auf, dass der zweite Stuhl so ziemlich der einzige Unterschied war; dazu kam noch ein größeres Fenster, das nach hinten auf den Hof hinausging. Der Tisch war ebenso klein wie ihrer. Auch hier gab es kein Telefon, dafür thronte auf dem Tisch etwas, das Caterina seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte: eine Schreibmaschine. Zwar eine elektrische, aber doch eine Schreibmaschine. Hätte Caterina eine Frau in Krinoline und Kniehosen gesehen, wäre sie nicht weniger verblüfft gewesen. Sie ging dicht heran und betrachtete die Tastatur. Ja, die Buchstaben waren alle da.

Signora Salvi, der Caterinas Verblüffung nicht entging, zuckte resigniert oder entschuldigend die Achseln: »Wir haben keinen Computer mehr, also muss ich dieses Ding benutzen.« Ihrer Rolle als Gastgeberin eingedenk, zog sie lächelnd den Stuhl für Caterina unter dem Schreibtisch hervor. Ihren eigenen schob sie neben den Tisch, so dass die Schreibmaschine nicht zwischen ihnen stand.

Beide schwiegen eine Weile, warteten, dass die andere etwas sagte. Schließlich siegte Caterinas Neugier – Grundschulkinder machten ihre Hausaufgaben am Computer, Leute arbeiteten im Zug damit. »Wie kommt es, dass ein Institut wie dieses keinen Computer hat?«

[25] Signora Salvi warf einen Blick auf die Schreibmaschine. Als Caterina sich damit nicht zufriedengab, fügte sie hinzu: »Er wurde gestohlen.«

»Wie bitte?«

»Jemand ist nachts hier eingebrochen – vor ungefähr drei Monaten – und hat den Computer, den Drucker und das Geld aus der Schreibtischschublade mitgenommen.«

»Wie sind die reingekommen?«, fragte Caterina.

»Hier«, sagte Signora Salvi und zeigte auf das wesentlich größere Fenster in der Rückwand. »Ein Kinderspiel. Vom Hof aus haben sie den Fensterladen ausgehängt und die Scheibe eingeschlagen. Soweit ich weiß, haben sie sonst nichts mitgenommen. Aber nur, weil sie in die anderen Räume nicht reingekommen sind. Die Türen waren alle abgeschlossen.«

»War die Polizei hier?«, fragte Caterina.

»Natürlich. Ich habe sofort angerufen.«

»Und?«

»Ach, das Übliche«, sagte Signora Salvi, als habe sie tagtäglich mit der Polizei zu tun. »Erst haben sie unterstellt, ich selbst hätte das getan, dann meinten sie, das seien Jugendliche gewesen, die Geld für Drogen brauchten.«

»Und das war alles?«

»Sie haben mir geraten, das Fenster zu reparieren«, ereiferte sich Signora Salvi. »Die haben nicht mal gefragt, was für ein Computer es war, und Fingerabdrücke haben sie auch nicht genommen. Und überhaupt keine weiteren Fragen gestellt.« Empört fügte sie hinzu: »Und sie haben niemand sonst im Haus oder in den angrenzenden Häusern befragt.« Sie tat die Polizei mit einem Schulterzucken ab und lächelte wieder.

[26] »Wie kommst du bloß ohne ihn zurecht?«, fragte Caterina mit einem Nicken zur Schreibmaschine, als stünde die da zum frommen Gedenken an den verschwundenen Computer.

»Im Computer war nicht viel drin«, gab Roseanna zu. »Ich registriere nur die Neuzugänge an Dokumenten und beantworte die eingehende Post.« Mit schüchternem Lächeln erklärte sie: »Die Stiftung ist nicht sehr aktiv. Ich bin hier drei Stunden pro Tag. Und das auch nur für den Fall, dass jemand eine Auskunft benötigt.« Verlegen ergänzte sie: »Aber hier verirrt sich kaum jemand her. Na ja, ab und zu schon, aber die stellen keine Fragen, die wollen nur die Bibliothek benutzen.« Sie sah Caterina prüfend an, die sich vorzustellen versuchte, was jemand mit einer Bibliothek wie dieser anfangen könnte, und fügte leise hinzu: »Das sind sehr eigenartige Leute.«

»Inwiefern?«

Signora Salvi rutschte auf ihrem Stuhl herum, und Caterina fragte sich, ob die Vertraulichkeit sie nervös machte oder ob sie nicht schlecht von den Leuten reden wollte, die in gewisser Weise die Stiftung am Leben erhielten. Caterina nickte ihr aufmunternd zu.

»Die sehen aus wie die Leute, die den ganzen Tag in der Marciana rumhängen. Manche von ihnen kommen wohl nur her, weil hier geheizt wird. Im Winter. Weil sie es zu uns näher als zur Marciana haben.«

»Stellen sie Fragen zur Musik?«

»So gut wie nie. Die meisten wissen gar nicht, was das für eine Stiftung ist. Ich nehme an, es hat sich herumgesprochen, dass es hier warm ist und man sich drei Stunden lang [27] unbehelligt aufhalten kann. Sie kommen einfach und sitzen hier herum. Manchmal bringen sie eine Zeitung mit oder nehmen sich eine, die jemand liegengelassen hat. Oder sie machen ein Nickerchen.« Sie schien zu überlegen, wie weit sie sich Caterina noch anvertrauen durfte. »Manchmal, wenn es sehr kalt ist, schließe ich erst später.«

»Was ist denn die Aufgabe der Stiftung?«, fragte Caterina, um möglichst viel über ihren neuen Arbeitsort in Erfahrung zu bringen.

»Zu Beginn hat die Fondazione – ich arbeite erst seit drei Jahren hier – Dottor Dardagos Willen entsprechend die Aufführung von Opern subventioniert; Leute mit Geld unterstützt, die Partituren studiert und geforscht haben.« Ihr Lächeln war einnehmend. »Steht alles in den Akten: Jeder Betrag und wer ihn erhalten hat.« Sie unterbrach sich. »Seither hat sich viel verändert.«

»Was ist dann passiert?«

»Der erste Direktor hat das Geld schlecht angelegt, wodurch das Stiftungsvermögen geschrumpft ist. Und da wir keine Fördermittel mehr vergeben konnten, kam niemand mehr, der welche haben wollte. Vor zwölf Jahren hat Dottor Asnaldi hier angefangen, und es wurde immer nur schlimmer. Dann gab es vor zwei Jahren einen weiteren großen Verlust, und dann hat Dottor Asnaldi sich vor einem Jahr aus dem Staub gemacht.«

»Und was hat er hinterlassen?«, fragte Caterina, auch wenn das neugierig wirken mochte. Roseanna kratzte sich nachdenklich unter einer ihrer Locken. »Wir haben einen Rechnungsprüfer, der sich alle sechs Monate die Bücher ansieht, und der sagt, vom Stiftungsvermögen ist fast nichts [28] mehr übrig. Er meint, es reicht höchstens noch, die Stiftung ein weiteres Jahr lang offen zu halten.«

»Und dann?«

»Dann müssen wir wohl schließen«, sagte Roseanna und zuckte resigniert die Achseln. »Wenn kein Geld mehr da ist…«, fing sie an, brachte den Satz aber nicht zu Ende.

»Wer hat das entschieden? Dottor Moretti?«

»O nein. Ein anderer Anwalt, Fanno. Der verwaltet das Stiftungsvermögen.« Caterina kannte den Namen nicht und hielt es nicht für wichtig genug, sich näher nach ihm zu erkundigen. Dass die Tage der Stiftung gezählt waren, war ohnedies offensichtlich: kein Computer, kein Telefon, und dann dieser Kastratenroman im Regal. Auch wenn sie nicht für die Stiftung arbeitete, fragte sie aus reiner Neugier: »Ist die Korrespondenz von Beginn an archiviert?«

»O ja«, sagte Signora Salvi. »Das liegt alles oben.« Sie wies vielsagend mit dem Finger zur Decke.

»Oben?«

»Im Büro des Direktors.«

Caterina beschrieb mit der Hand einen Kreis. »Ich dachte, das hier ist das Büro des Direktors.«

»O nein. Ich meine Dottor Asnaldis Büro, also sein ehemaliges Büro.« Und etwas leiser: »Da stehen auch die Truhen. Dort sind sie sicher verwahrt.«

[29] 3

Wie Lots Frau erstarrte Caterina zur Salzsäule, verwandelte sich aber im Gegensatz zu jener sofort wieder in Fleisch und Blut: »Aber das ist un…«, begann sie, brach aber mitten im Wort wieder ab. Sie hatte keine Ahnung vom Aufbewahrungsort der Truhen gehabt, und für unmöglich hielt sie mittlerweile so gut wie gar nichts mehr. Die Cousins hatten mit einer Ehrfurcht von den Truhen gesprochen, als gehörten sie in einen Banktresor, doch stattdessen standen sie in einer Wohnung, deren Fenster im Erdgeschoss nicht einmal vergittert waren. In einer Wohnung, in die schon einmal eingebrochen worden war.

Caterina begriff nicht, warum die Truhen ausgerechnet hier in der Fondazione lagerten. Das Stiftungsvermögen war so gut wie aufgebraucht, die Büroräume hätten ebenso gut in Albanien sein können, die Heizung und der freie Zutritt lockten mehr oder weniger Obdachlose in die Bibliothek, und doch hatte man die Stiftung zur Aufbewahrung der Truhen auserkoren.

In der Hoffnung, dass Roseanna ihre Gedanken nicht lesen konnte, fuhr sie fort, als habe sie nur nach dem richtigen Wort gesucht: »…ungeheuer beeindruckend, wirklich. Dass sie hier in Sicherheit sind.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein, und da Roseanna freundlich blickte, fragte sie: »Wie ist denn das möglich?«

»Die Vorbesitzer haben den Tresor aus irgendeinem Grund in die Wand einbauen lassen. Er war schon da, als die [30] Stiftung die Wohnung angemietet hat. Dottor Asnaldi hat ständig seine Scherze damit getrieben: Manchmal hat er seinen Schirm hinter Schloss und Riegel verwahrt.« Roseanna senkte verschwörerisch die Stimme: »Man hat dir doch davon erzählt, oder?«

»Nicht ganz alles«, antwortete Caterina. »Viel Hintergrundinformationen hat man mir nicht gegeben, wenn ich so sagen darf.« Noch deutlicher wollte sie ihre Bitte um weitere Auskünfte nicht formulieren.

»Ich finde, du solltest schon wissen, woher die Unterlagen stammen, die du bearbeitest.«

Caterina nickte dankbar.

»Vor etwa vier Monaten hat einer der Cousins Dottor Asnaldi angerufen. Woher er seine Nummer hatte, weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht mehr, welcher der beiden es war. Jedenfalls hat er gefragt, ob der Dottore Interesse habe, sich einige Dokumente näher anzusehen und ein Gutachten darüber zu verfassen. Er hat sich mit den beiden Männern getroffen – den Cousins –, das Angebot aber abgelehnt. Warum auch immer.« Dazu wieder ihr Lächeln mit Schulterzucken.

Caterina nickte, und Roseanna fuhr fort: »Dann hat er mich angerufen, weil ich doch seine Stellvertreterin bin, und mir empfohlen, die Papiere hier aufzubewahren, im Tresor. Deswegen sind sie jetzt da oben.«

»Erstaunlich, dass sie nicht in der Marciana oder im Konservatorium nachgefragt haben, oder bei einer Bank. Das heißt, falls sie die Papiere wirklich für wertvoll halten«, meinte Caterina.

Roseanna strich gedankenverloren über den Tisch, wie um [31] zu prüfen, ob er gewachst werde müsse. »Weil es billig ist«, sagte sie schließlich. »Billiger.«

»Als?«

»Als die Marciana oder das Konservatorium oder eine Bank. Die beiden haben dreihundert Euro Monatsmiete für den Tresor angeboten, im Winter, als wir die Heizungsrechnung zahlen mussten.« Sie breitete resigniert die Hände aus. »Dottor Asnaldi hat mir den Betrag am Telefon genannt, und ich habe eingewilligt. Die anderen hätten viel mehr genommen.«

Angesichts der Tatsache, dass hier kürzlich eingebrochen worden war, wäre eine Bank dennoch besser gewesen; aber das behielt Caterina lieber für sich.

»Immerhin bin ich die stellvertretende Direktorin, ich musste den Vertrag unterschreiben.«

Sie schien so stolz auf den Titel, dass Caterina leise »complimenti« sagte. Roseanna errötete.

Da Roseanna beredt schwieg, hakte Caterina nach: »Und wie ging es weiter?«

»Dottor Moretti hat ihnen geraten, eine Fachkraft hinzuzuziehen.«

»Hat er geglaubt, das würde ihre Probleme lösen und ihren Streit beenden?«

»Oh«, sagte Roseanna lachend, »der Mensch, dem das gelingt, muss noch geboren werden.«

Die Stimmung hatte sich gelöst, so dass Caterina sich noch weiter vorwagte. »Ich nehme an, die Truhen sind da oben schon sicher.«

»Aber ja. Der Tresor ist nicht viel mehr als ein kleiner Einbauschrank, hat aber eine porta blindata. Das ist mehr, als die [32] meisten Geschäfte haben.« Und dann setzte sie noch hinzu: »Es gibt noch einen kleineren Schrank: Da befindet sich das Archiv.«

»Das Archiv?«

»Die Korrespondenz«, erklärte Roseanna. »Dottor Asnaldi hat das immer das Archiv genannt.«

»Wo genau?«

Roseanna hob den Blick zur Decke, was Caterina an die Heiligenbildchen der Therese von Lisieux erinnerte, wie sie hinten in den leeren Kirchen ausliegen. Die Schlangenhaare auf Roseannas Kopf ergäben, glatt nach unten gebürstet, den schwarzen Schleier. »Oben.«

Caterina musste unwillkürlich an Ugolino im Hungerturm denken, an Vercingetorix im Mamertinischen Kerker – den strich sie gleich wieder, weil dies ein unterirdisches Gefängnis war –, an Casanovas Flucht aus den Bleikammern. Erst das Büro des Direktors, jetzt das Archiv. Was mochte sonst noch alles da oben verborgen sein?

»Oben?«, wiederholte sie unnötigerweise.

»Im selben Zimmer, aber das ist nur ein einfacher Wandschrank mit einem normalen Schloss.«

»Was wird in dem Archiv aufbewahrt?«

»Partituren, die Dottor Dardago gesammelt hat.«

»Gehören die zum Stiftungsvermögen?«, wollte Caterina wissen. Wenn sie dazugehörten, war es merkwürdig, dass man sie nicht verkauft hatte, um mit dem Erlös die Fördertätigkeit fortzusetzen oder zumindest die Mängel hier im Haus zu beheben.

»Nein. Laut Dottor Dardagos Testament sollen sie an die Marciana gehen, falls die Stiftung eines Tages ihre Arbeit [33] einstellt. Er wollte offenbar verhindern, dass Stück für Stück verhökert wird. Die Stiftung hat lediglich ein Nutzungsrecht. Das war von Anfang an so geregelt.« Sie fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Viel ist es ohnedies nicht: eine gedruckte Partitur einer Oper von Porpora und ein paar Notenblätter.« Sie kam Caterinas Frage zuvor und fügte mit gepresster Stimme hinzu: »Nein, nur Abschriften der Noten, und nicht einmal zeitgenössische.« Die nächste Bemerkung kam erst nach einigem Zögern: »Ich fürchte, Dottor Dardago war ein Amateur.«

Für Caterina hörte sich das nicht gerade so an, als müsse diese Sammlung hinter Schloss und Riegel aufbewahrt werden, aber da sie selbst nichts mit dem Archiv zu tun haben würde, machte sie das nicht zum Thema.

»Wie hat man Zugang zum Archiv?«, fragte Caterina stattdessen.

Roseanna sah sie verwirrt an. »Über die Treppe.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, ließ es aber.

»Kann man sich das mal ansehen?«

Roseanna versuchte sich herauszuwinden. »Ich weiß nicht, ob du jetzt schon da raufdarfst.«

Wie die meisten Leute konnte auch Caterina es schlecht vertragen, wenn ihr ein Wunsch abgeschlagen wurde. Wie die meisten Frauen, die es in einem von Männern dominierten Beruf durch Können, Zähigkeit und große Begabung, die niemals anerkannt wurde und auf die man sich selten berufen konnte, zu etwas gebracht haben, hatte sie gelernt, ihre Wut angesichts unbegründeter Verbote zu zügeln, gegen das Herzrasen aber war sie machtlos.

Als sie sich wieder gefangen hatte, fragte Caterina [34] möglichst ruhig: »Früher oder später werde ich ohnedies hinaufmüssen, oder? Wenn ich dort arbeiten soll.« Beiläufig fügte sie hinzu: »Du hast doch vorhin die Briefe erwähnt. Ob ich mir die wohl mal ansehen kann?« Da Roseanna nicht direkt mit Nein antwortete, fuhr sie fort: »Vielleicht entpuppen sich manche Leute, die Anfragen an die Stiftung gerichtet haben – zu Fachfragen –, als die Art von Amateuren, von denen jeder Wissenschaftler träumt.« Die einzigen Träume, die Wissenschaftler von Amateuren hatten, waren Alpträume, aber das musste sie Roseanna nicht auf die Nase binden.

»Wir wissen nie, was sich als nützlich herausstellt«, fügte sie mit einem verschwörerischen Lächeln hinzu, Roseanna in das »wir« einschließend. »Von wem stammt die Vorschrift überhaupt?«

Roseanna antwortete nach kurzem Nachdenken: »Eigentlich ist das keine wirkliche Vorschrift. Es ist nur so, dass die Cousins…«

»Geheimniskrämer sind?«

Diesmal war Roseannas Lächeln größer als ihr Schulterzucken.

Caterina, die immer noch so tat, als interessiere sie sich einzig für die Belange der Stiftung, meinte lächelnd: »Ich möchte nur Zeit sparen und herausfinden, ob es mir womöglich bei meinen Recherchen behilflich sein könnte.« Und dann, wie zu einer Busenfreundin: »Ich kann nichts garantieren, aber diese Leute könnten hilfreich sein: Oft wissen sie viel mehr als die Experten, besonders auf einem so kleinen Gebiet.« Ziemlich schwach, dachte sie, aber vielleicht merkt Roseanna es nicht.

[35] Roseannas Zweifel waren offenbar zerstreut, denn sie stand auf und meinte: »Ich denke, es geht in Ordnung.« Mit solidarischem Lächeln fügte sie hinzu: »Immerhin bin ich die stellvertretende Direktorin, nicht wahr?«