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Jason Starr

Hard Feelings

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Bernhard Robben

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2002 bei

Vintage Books, New York,

erschienenen Originalausgabe: ›Hard Feelings‹

Copyright © 2002 by Jason Starr

Die deutsche Erstausgabe erschien

2003 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Steven Vote (Ausschnitt)

Copyright © Getty Images/Image Bank/Stevenvotedotcom

 

 

Für Sandy und Chynna

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23478 7 (3. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60243 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Ich wartete darauf, die Fifth Avenue überqueren zu können, als mein Blick auf Michael Rudnick fiel, mit dem ich in Brooklyn zusammen aufgewachsen war. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, trug einen schwarzen Anzug sowie eine dunkle Sonnenbrille und schaute direkt zu mir herüber, schien mich aber nicht zu sehen. Seit unserer letzten Begegnung – vor etwa zweiundzwanzig Jahren, als ich zwölf und er siebzehn Jahre alt gewesen war – hatte er sich ziemlich verändert; eigentlich konnte ich kaum glauben, daß ich ihn überhaupt wiedererkannt hatte. Damals war er dick gewesen, das Gesicht mit Aknepickeln übersät, und er hatte strubbeliges dunkelblondes Haar gehabt. Jetzt war er hochgewachsen und muskulös; das dichte, dunkle Haar hatte er mit Gel nach hinten gekämmt.

Die Fußgängerampel sprang auf Grün um, und die Menge strömte von zwei Seiten aufeinander zu. Selbst als uns nur noch wenige Schritte trennten, schaute ich Michael weiterhin unverwandt an und wartete darauf, daß er mich wiedererkannte, doch er ging stur geradeaus, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Dann aber, als wir auf gleicher Höhe waren, streifte er mich plötzlich mit seiner Schulter, und wir blieben mitten in der Menge stehen. In seiner Sonnenbrille entdeckte ich mein Spiegelbild – zwei [6] blasse Gesichter, die mich anstarrten. Noch ehe ich etwas sagen konnte, knurrte er verärgert etwas und ging weiter.

»Arschloch«, brummte ich.

Auf der anderen Seite drehte ich mich noch einmal nach ihm um, aber er war bereits verschwunden. Offenbar wollte er zur West Side und war schon in der Menge untergetaucht.

Nachdem ich Raymond, unseren Abendportier, begrüßt hatte, holte ich die Post – nichts als Rechnungen – und fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. Otis bellte, sobald ich die Wohnung betrat.

»Schnauze!« schrie ich, aber der überdrehte Cockerspaniel hörte nicht auf zu kläffen und sprang immer wieder an meinen Beinen hoch.

Also machten Otis und ich unseren üblichen Spaziergang auf der East Sixty-fourth Street, kehrten danach in die Wohnung zurück, und ich warf mich in Unterwäsche auf die Couch, starrte in die Glotze und grübelte über meine Arbeit nach.

Am Nachmittag hatte ich eine Besprechung mit Tom Carlson gehabt. Carlson war bei einer Versicherungsgesellschaft in Midtown Finanzdirektor und verantwortlich für ein Computer-Netzwerk mit hundert Usern. Zur Zeit lief das Netz mit einer alten Novell-Version, doch er wollte auf Windows NT aufrüsten und dafür neue PCs und Server kaufen. Es war unsere dritte Besprechung gewesen, und ich hätte nicht ohne einen unterzeichneten Vertrag aus seinem Büro gehen dürfen, doch als der richtige Augenblick gekommen schien, hatte ich gezögert, und der Hundesohn war mir wieder entwischt. Jetzt mußte ich ihn morgen [7] erneut anrufen – was immer miese Prozente bedeutete – und ihn bitten, mir einen unterzeichneten Vertrag zuzufaxen. Trotzdem bot Carlson die beste Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluß. Wenn es damit nichts wurde, wußte ich nicht, was ich sonst noch anstellen sollte.

Ich lag gedankenverloren auf der Couch und starrte in die Röhre, als Paula gegen halb neun mit Pumps und Designerkostüm nach Hause kam. Sie beugte sich über die Couch, gab mir einen Kuß und fragte, wie mein Tag gewesen sei, doch ehe ich auch nur ›beschissen‹ sagen konnte, rief sie: »Ich habe phantastische Neuigkeiten – einen Augenblick, ich erzähl sie dir gleich«, und ging ins Schlafzimmer. Otis lief ihr nach, wedelte mit dem Schwanz und bellte.

Ich wußte, was es mit diesen ›phantastischen Neuigkeiten‹ auf sich hatte. Paulas Schwester in San Francisco sollte nächste Woche ein Kind kriegen, aber offenbar war es ein paar Tage früher gekommen.

Einige Minuten später betrat Paula in Shorts und T-Shirt wieder das Wohnzimmer. Genau wie ich hatte sie in den letzten Jahren kein Fitnessstudio von innen gesehen. Früher war sie schlank gewesen und hatte straffe Muskeln gehabt, doch seit sie keinen Sport mehr trieb, brachte sie fast fünfzehn Kilo mehr auf die Waage. Jetzt redete sie ständig davon, wie dick sie sei und daß sie abnehmen müsse, aber mir gefiel die etwas fülligere Figur – jedenfalls wirkte sie dadurch viel weiblicher. Vor kurzem hatte sie ihr langes, glattes, blondes Haar kurz geschnitten. Wenn sie mich fragte, sagte ich ihr, die neue Frisur schmeichle ihrem Gesicht und betone ihre Wangenknochen, aber eigentlich fand ich langes Haar schöner.

[8] »Also«, sagte sie, »willst du meine Neuigkeiten hören?«

»Kathy hat einen Jungen gekriegt.«

»Rate noch mal.«

»Ein Mädchen.«

»Ihr Termin ist doch erst nächste Woche.«

»Ich gebe auf.«

»Komm schon, Rich, es ist was Wichtiges.«

Ich stellte die Flimmerkiste mit der Fernbedienung aus.

»Ich bin befördert worden«, rief sie lächelnd.

»Ehrlich?«

»Ist das nicht unglaublich? Ich hatte fest damit gerechnet, daß Brian die Stelle kriegt – so wie der sich ewig bei Chris angebiedert hat. Aber heute nachmittag bat mich Chris in sein Büro, um mir seine Entscheidung mitzuteilen – und vor dir siehst du die neue Vizepräsidentin der Abteilung Unternehmensanalyse.«

»Klasse«, sagte ich und versuchte, begeistert zu klingen.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin«, sagte Paula. »In den letzten Wochen ging es im Büro einfach wie verrückt zu – arbeite du mal an drei Berichten gleichzeitig und hab diese Beförderungsgeschichte im Nacken. Ich meine, irgendwann wollte ich nur noch, daß es endlich vorüber ist, so oder so, aber daß die Sache jetzt so ausgeht, das ist einfach irre. Wußtest du überhaupt, daß mir deshalb auch mein Gehalt erhöht wird?«

»Prima.«

»Mein Grundgehalt liegt jetzt bei siebzigtausend im Jahr.«

Zehn mehr als mein Grundgehalt, dachte ich.

»Wirklich phantastisch.«

»Ich schätze, das dürfte uns wieder ein bißchen Luft [9] verschaffen. Vielleicht können wir uns sogar etwas auf die Seite legen, die Schulden bei den Kreditkartenfirmen abbezahlen…«

»Das sollten wir am Wochenende feiern.«

»Wollen wir nicht gleich heute abend essen gehen? Komm schon, ich zieh mich bloß noch rasch um – in zehn Minuten bin ich fertig.«

»Ach, mir ist heute abend nicht danach.«

»Nun hab dich nicht so. Wann waren wir das letzte Mal zusammen essen? Laß uns zu diesem neuen Vietnamesen in der Third Avenue gehen. Es ist ein wunderschöner Abend; wir könnten draußen sitzen, eine Flasche Wein bestellen…«

»Ich sag doch, ich bin nicht in Stimmung.« Ich hatte den Blick abgewandt, konnte aber spüren, daß Paula mich anschaute.

Schließlich fragte sie: »Was ist?«

»Nichts.«

»Besonders glücklich wirkst du heute abend aber nicht gerade.«

»Ich bin bloß müde.«

»Und über meine Beförderung scheinst du dich auch nicht sonderlich zu freuen.«

»Was?« rief ich, als hätte sie eine völlig lächerliche Bemerkung gemacht. »Was redest du denn da? Ich find es einfach irre, daß du befördert worden bist, aber mir ist nun mal nicht danach, heute abend essen zu gehen. Ist das vielleicht nicht erlaubt?«

Ich stellte den Fernseher wieder an und schaltete von einem Sender zum nächsten. Paula saß neben mir auf der [10] Couch, die Beine untergeschlagen, und starrte ausdruckslos auf die Mattscheibe. Sie war noch wütend auf mich, ich hatte aber keine Lust mehr, mich mit ihr zu streiten.

Also fragte ich schließlich: »Sag mal, wie geht es Kathy eigentlich?«

»Wir müssen miteinander reden, Richard.«

»Jetzt nicht.«

»In letzter Zeit benimmst du dich ziemlich seltsam – zumindest seit einigen Wochen. Ständig wirkst du irgendwie abwesend und behältst alles für dich. Langsam fürchte ich, daß sich das auch auf unsere Ehe auswirkt.«

Ich haßte es, wenn Paula von ›unserer Ehe‹ sprach, aber uns selbst meinte, oder wenn sie mich zu analysieren versuchte. Seit fünf Jahren ging sie einmal in der Woche zum Seelenklempner, und seither erzählte sie mir andauernd, daß ich mich körperlich klarer ausdrücken müsse, daß ich zu ›passiv-aggressiv‹ sei, zu viel ›projiziere‹, meine Gefühle verdränge oder was für ein Psycho-Schwachsinn ihr sonst noch einfiel.

»Ich bin für so was echt nicht in Stimmung«, sagte ich auf dem Weg in die Küche.

Sie lief mir nach und sagte: »Siehst du? Genau das hab ich gemeint.«

Ich fischte die Speisekarte vom Chinesen aus einem der Schubfächer. Letztes Jahr hatten wir die Küche renoviert – eine Snack-Bar einbauen, neue Fliesen legen und die Schränke streichen lassen. Diese Modernisierung und die tollen Klamotten, die Paula für ihre Arbeit brauchte, waren eigentlich schuld daran, daß unsere Konten mit zwanzigtausend Dollar überzogen waren.

[11] »Du kannst nicht einfach wegrennen«, sagte Paula. »Wenn du Probleme hast, mußt du darüber reden.«

»Was hältst du von Garnelen mit Hummersoße?«

»Du ärgerst dich, weil ich befördert wurde«, sagte sie. »Dein männliches Ego fühlt sich bedroht – der Jäger hat Angst, er könnte nicht länger für die Familie sorgen.«

»Hör auf, mich zu analysieren, okay? Ich bestell jetzt. Willst du auch was?«

»Warum gibst du nicht einfach zu, daß dir meine Beförderung zu schaffen macht?«

»Also einmal Moo-Shu-Chicken für dich.«

Ich gab die Bestellung durch. Paula baute sich vor mir auf und stemmte die Hände in die Hüften.

»Gib’s zu«, sagte sie.

»Was soll ich zugeben?«

»Daß es dir lieber wäre, wenn ich weniger Geld verdienen würde als du.«

»Ist ja lächerlich«, sagte ich. »Je mehr du verdienst, um so besser. Von mir aus kannst du zweihundert-, dreihunderttausend im Jahr verdienen, denn wie es zur Zeit bei mir läuft, werden wir alles Geld brauchen, das sich auftreiben läßt.«

Otis begann wieder zu bellen. »Schnauze!« schrie ich und ließ mich dann auf die Couch fallen. Paula setzte sich neben mich, wartete einige Sekunden und sagte dann: »Wie ist das Verkaufsgespräch gelaufen?«

»Na wie wohl?«

Sie legte eine Hand in meinen Schoß.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Vielleicht solltest du lieber kündigen.«

»Was redest du denn für einen Schwachsinn?« Ich stand [12] auf, weil ich ihre Berührung nicht länger ertrug. »Glaubst du, ich kann da morgen einfach reinspazieren und kündigen? Das würde sich richtig gut auf meinem Zeugnis ausmachen – war sieben Monate dabei und hat nichts verkauft. Klingt doch klasse, wenn ich mich damit um eine Stelle bewerben will.«

»Ist ja nicht deine Schuld…«

»Wessen Schuld ist es dann?«

»Du könntest eine Menge Erklärungen vorbringen«, sagte Paula. »Die Firma wurde umstrukturiert; du hattest persönliche Differenzen mit deinen Vorgesetzten…«

»Solchen Quatsch durchschauen die doch aus einer Meile Entfernung.«

»Aber du mußt dich deshalb nicht so unter Druck setzen«, sagte Paula, »das macht alles doch nur noch schlimmer. Mit meiner Gehaltserhöhung…«

»Was kriegst du denn schon? Fünfzehn Riesen mehr im Jahr? Und was bleibt nach Abzug der Steuern davon übrig? Acht, neun Tausender? Na klasse. Hast du dir in letzter Zeit mal die Kreditkartenrechnungen angesehen? Kapier doch endlich, wir leben von einem Gehaltsscheck zum nächsten. Und was passiert, wenn wir noch mal renovieren wollen? Oder wenn wir irgendwann aus der Stadt fortziehen? Vielleicht möchtest du aber auch lieber die Wohnung verkaufen und hunderttausend Miese einstreichen…«

»Laß den Blödsinn«, sagte Paula und stand auf. »Bloß weil du einen schlechten Tag gehabt hast, mußt du deinen Ärger nicht an mir auslassen. Ich habe heute allen Grund, mich zu freuen, aber dich interessiert das offenbar einen Scheißdreck.«

[13] Paula stürmte ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Otis begann wieder zu kläffen. Ich warf ein Sofakissen nach ihm, das ihn am Hintern traf und dann zu Boden fiel. Der Hund bellte noch einmal trotzig und schlich dann mit eingeklemmtem Schwanz in die Küche.

Mit dem Kopf in den Händen blieb ich auf der Couch sitzen, bis das chinesische Essen gebracht wurde. Anschließend klopfte ich an die Schlafzimmertür und entschuldigte mich dafür, die Beherrschung verloren zu haben. Kurz darauf setzte sich Paula zu mir an den Tisch.

Wir aßen, sprachen aber fast kein Wort miteinander. Sie stocherte in ihrem Essen herum und erklärte, sie habe Kopfschmerzen.

»Vielleicht ist Glutamat drin«, sagte ich. »Ich habe vergessen, beim Bestellen Bescheid zu sagen.«

»Nein, ist nur meine Migräne. Ich leg mich besser hin.«

Paula ging wieder ins Schlafzimmer, und ich räumte ab und unternahm mit Otis einen letzten Spaziergang um den Block. Als wir in die Wohnung zurückkehrten, schlief Paula bereits.

»Tut mir leid wegen vorhin«, flüsterte ich über sie gebeugt.

»Ist schon in Ordnung«, murmelte sie im Halbschlaf.

»Fühlst du dich besser?«

»Ein bißchen.«

»Es tut mir ehrlich leid. Ich hätte meinen Frust nicht an dir auslassen sollen, und ich freue mich wirklich sehr über deine Beförderung. Eine großartige Sache, und ich würde sie morgen abend gern mit dir feiern.«

»Okay«, sagte sie.

[14] »Wie wäre es mit sieben Uhr?«

»Prima.«

»Gute Nacht, Liebes.« Ich drückte ihr einen Kuß auf die Lippen.

»Gute Nacht«, wisperte sie und drehte sich auf ihre Seite.

Nachdem ich den Abwasch erledigt hatte, legte ich mich zu Paula ins Bett und las noch einige Kapitel in Wie werde ich ein Verkaufsgenie, dem neusten Buch über erfolgreiche Geschäftsstrategien, das ich mir auf das Nachtschränkchen gelegt hatte. Doch plötzlich überkam mich die Müdigkeit. Ich ließ das Buch auf die Brust sinken und schloß die Augen. Michael Rudnick fiel mir ein, dem ich am Nachmittag auf der Fifth Avenue begegnet war, und dann sah ich mich selbst als zehn- oder elfjährigen Jungen vor unserem Haus in der Stratford Road in Brooklyn. Ich war allein und spielte auf dem Bürgersteig mit meinem Basketball, als Michael Rudnick vor mir auftauchte. Er war zu dick, ein Teenager mit einem Gesicht voller Pickel, und die buschigen Augenbrauen wuchsen über seiner Nase beinahe zusammen, weshalb ihm ein paar Jungs aus dem Wohnblock den Spitznamen ›Raupe‹ verpaßt hatten. Michael fragte, ob ich im Keller mit ihm Tischtennis spielen wollte. In der High-School und in meinem Block zählte er schon zu den Großen, weshalb es für mich eine besondere Ehre war, daß er mich zum Tischtennis einlud. »Klar«, erwiderte ich aufgeregt. »Sofort!« Michaels Eltern waren nicht daheim, und das Haus war dunkel und leer. Wir stiegen hinab in den kalten, muffig riechenden Keller, und ich schaute zu, wie Michael das Netz spannte. Dann erklärte er die Spielregeln – [15] wenn ich gewänne, bekäme ich fünf Dollar, wenn er gewänne, würde ich für einen Abrubbler herhalten müssen. Ich verstand unseren Handel nicht ganz, willigte aber ein. Natürlich standen die Chancen gegen mich, da er der bessere Tischtennisspieler war. Er gewann haushoch und kassierte fast jeden Ball. Ihm fehlte noch ein Punkt zum Gewinn, als mein Ball das Tischende verfehlte. Prompt warf er den Schläger hin und schrie: »Jetzt kriegst du was zu spüren!« Ich lachte hysterisch, glaubte, das gehöre noch zum Spiel, und rannte vor ihm davon, bis er mich von hinten schnappte, mir gleich an den Bauch griff und das Gummiband meiner Unterhose nach unten zog. Der Abrubbler tat weh, aber ich hörte nicht auf zu lachen. Mir gefiel nicht, was er tat, doch fürchtete ich, er würde mich nicht mehr im Keller Tischtennis spielen lassen, wenn ich mich jetzt beschwerte. Außerdem war er viel größer und stärker als ich, und er zerrte so heftig an mir herum, daß ich den Boden unter den Füßen verlor. »Hör auf! Hör auf!« schrie ich, lachte aber immer weiter, weil ich noch glaubte, daß wir ein Spiel spielten. Dann schubste er mich auf das Sofa. Ich wand mich, versuchte zu entkommen, doch er preßte mein Gesicht ins klebrige schwarze Kunstleder. Ich wußte nicht, warum er mir das antat – warum er es so lustig fand. Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa, und er lag auf mir, keuchte und schwitzte.

Abrupt riß ich die Augen auf; mein Herz raste, als hätte ich gerade einen Sprint eingelegt. Paula lag neben mir, schlief tief und fest und schnarchte leise. Ich stand auf. Otis wollte mir nachlaufen, aber ich zog vor seiner Nase die Schlafzimmertür zu, ging in die Küche, machte den [16] Kühlschrank auf und kippte mir den Orangensaft direkt aus der Flasche in den Hals. Ich brauchte frische Luft. Ich ging durch das Wohnzimmer auf den Balkon.

Es war eine warme, stickige Nacht, und ich glaubte, kaum Luft zu bekommen. Während ich mich an das Geländer lehnte und hinab auf die stark befahrene Third Avenue starrte, hörte ich Michael Rudnick wieder mit hoher Fistelstimme schreien: »Jetzt kriegst du was zu spüren!« Die Worte waren so deutlich, als stünde er auf dem Balkon nebenan. Selbst sein Gewicht konnte ich noch auf mir spüren, und ich fühlte mich unter ihm gefangen, hatte schreckliche Platzangst und roch erneut den widerlichen Geruch von billigem Rasierwasser – bestimmt das seines Vaters.

Ich ging zurück in die Wohnung und schloß die Balkontür. Als ich mir im Badezimmer kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, fiel mir ein Artikel aus der Times ein, in dem es geheißen hatte, daß manche Menschen traumatische Vorfälle aus ihrer Kindheit verdrängten, um sich Jahre später wieder plötzlich daran zu erinnern, doch fand ich den Gedanken unerträglich, daß mir so etwas passiert sein sollte.

Als ich mich wieder ins Bett legte, wurde Paula wach.

»Wo warst du?«

»Auf dem Balkon.«

»Warum?«

»Ich brauchte frische Luft.«

»Alles in Ordnung, Liebling?«

»Sicher.«

»Ganz bestimmt?«

»Klar doch.«

»Tut mir leid wegen vorhin.«

[17] »Mir auch.«

Dabei wußte ich gar nicht mehr, worüber wir uns überhaupt gestritten hatten.

[18] 2

Paula schob die Tür der Duschkabine auf. Ich hatte sie nicht ins Badezimmer kommen hören, und das Geräusch schreckte mich aus meinen Gedanken auf.

»Ich muß los«, sagte sie.

»Warte.«

Ich spülte mir den Seifenschaum aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuß. Gestern abend hatte ich mich ziemlich dämlich benommen, und ich wollte es wiedergutmachen.

»Vergiß nicht«, sagte ich, »daß wir heute abend deine Beförderung feiern wollen.«

»Mach ich nicht«, sagte sie. »Ich freu mich darauf.«

»Soll ich uns für sieben Uhr einen Tisch bestellen?«

»Lieber für halb acht. Ich ruf dich an, falls es später wird.«

Sie verabschiedete sich noch einmal, und ich schob die Duschkabinentür wieder zu. Es war zwanzig nach sechs. Meist ging Paula erst gegen sieben zur Arbeit, doch nahm ich an, daß sie heute etwas früher anfing, um einen guten Eindruck zu machen.

Paula hatte ziemlich hart für ihre Karriere gearbeitet – drei Jahre lang war sie zur Abendschule gegangen, um einen Abschluß in Betriebswirtschaft vorweisen zu können, dann hatte sie sich bei ihren Vorgesetzten [19] eingeschmeichelt und endlos Überstunden geschoben, um auf der Erfolgsleiter einige Stufen nach oben klettern zu können. Ich wußte, wieviel ihr die Beförderung zur Vizepräsidentin bedeutete, und heute abend wollte ich ihr das Festessen spendieren, das sie sich redlich verdient hatte.

Gegen halb acht verließ ich die Wohnung. Ich nahm immer denselben Weg zur Arbeit – über die Third Avenue bis zur Forty-eighth Street, dann quer durch die City zur Sixth Avenue. Nur manchmal – meist bei schlechtem Wetter oder an kalten Wintertagen – rief ich mir ein Taxi, benutzte aber niemals öffentliche Verkehrsmittel.

Nachdem ich mit der Magnetstreifenkarte die Eingangstür geöffnet hatte, betrat ich kurz vor acht Uhr die Firma, nahm mein hausinternes Handy vom Tisch und ging über den langen Flur, vorbei an den Glaskabinen der Sekretärinnen, zu meinem Büro in der Verkaufsabteilung.

Bei Network Strategies, meiner alten Firma, in der ich nur ein einfacher Verkaufsagent gewesen war, hatte ich ein großes Eckbüro mit herrlichem Blick auf den East River gehabt. Bei Midtown Consulting dagegen steckte man mich als leitenden Verkaufsagenten in eine enge, stickige Kammer mit einem einzigen Fenster, das auf die Rückwand eines anderen Gebäudes blickte. Ich vermißte das Prestige, das einem ein Eckbüro verlieh. Saß man in einem der größten, komfortabelsten Büros einer Firma, wurde man besonders zuvorkommend behandelt. Auf den Fluren oder am Wasserspender lächelten die Kollegen und fragten, wie das Wochenende gewesen sei und ob man in letzter Zeit einen guten Film gesehen habe. Oder sie boten an, beim Kopieren zu helfen, und fragten, ob sie einem etwas vom [20] Deli mitbringen könnten. Hier dagegen schenkten mir die Leute kaum Beachtung. Manchmal lächelte ich auf dem Flur jemandem zu und wurde so ausdruckslos angestarrt, als ob ich unsichtbar wäre.

In letzter Zeit hatte ich die Entscheidung bedauert, die mich vor sieben Monaten veranlaßt hatte, meinen alten Job aufzugeben. Als sich der Headhunter meldete, arbeitete ich seit sechs Jahren bei Network Strategies und dachte nicht daran, dort aufzuhören, aber dann lag plötzlich dieses unglaubliche Angebot auf dem Tisch: sechzigtausend Grundgehalt und beste Sondervergünstigungen. Dabei legte ich normalerweise gleich wieder auf, wenn ein Headhunter anrief, doch an jenem Tag hatte ich zugehört.

Ich konnte nicht wissen, daß der Wechsel zu Midtown Consulting womöglich die größte Fehlentscheidung meines Lebens war.

Mein Tag begann wie jeder Arbeitstag – ich stellte den Computer an, las meine E-Mails, hörte die Voice-Mail ab – ging zum Kaffeeautomaten und holte mir einen Kaffee, schwarz, mit drei Stück Zucker. Sobald ich wieder am Schreibtisch saß, rief ich meinen Programmplaner auf. Heute hatte ich keine Termine außer Haus, mußte am Vormittag aber einige dringende Rückrufe erledigen, zu denen auch das Gespräch mit Finanzdirektor Tom Carlson gehörte, den ich erst gestern nachmittag getroffen hatte.

Ich wählte Carlsons Nummer und rechnete damit, von seiner Sekretärin abgewimmelt zu werden, doch war er nach dem zweiten Klingeln selbst am Apparat.

»Guten Morgen, Tom«, sagte ich und versuchte, möglichst aufgeräumt zu klingen.

[21] »Wer ist denn da?«

»Richard Segal – Midtown Consulting. Wie geht es Ihnen heute?«

Nach einer langen Pause sagte er: »Ach so, ja.«

»Bestens, danke der Nachfrage«, erwiderte ich. »Ich rufe Sie an, Tom, weil sich gestern keine Gelegenheit mehr fand, Ihnen zum Kostenvoranschlag noch zu sagen, daß wir weitere zwei Prozent einräumen können, was es Ihrer Firma erlauben dürfte, für die Zeit der Vertragsdauer noch einmal zwanzig-, dreißigtausend Dollar einzusparen und –«

»Tja, ich hatte wirklich noch keine Gelegenheit, mir die Sache genauer anzusehen«, unterbrach er mich. »Ich melde mich, wenn ich soweit bin, okay?«

»Wenn irgend etwas unverständlich sein sollte, Tom, oder falls Klärungsbedarf besteht, Tom, wäre ich nur zu froh –«

»Habe ich Ihnen gestern nicht gesagt, daß ich Sie anrufe, sobald ich zu einer Entscheidung gekommen bin?«

»Natürlich, aber ich habe mir gedacht, Sie würden bestimmt gern erfahren, daß –«

»Wissen Sie, irgendwie glaube ich, daß Sie mir etwas aufschwatzen wollen, was ich gar nicht haben will«, sagte er, »und das gefällt mir überhaupt nicht.«

»Tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck auf Sie mache, Tom«, sagte ich, »aber der eigentliche Grund –«

»Hören Sie, warum vergessen wir nicht einfach die ganze Sache?«

»Ich… Wie bitte?«

»Ich habe beschlossen, mich anderweitig zu orientieren.«

[22] »Ich verstehe nicht recht«, sagte ich, ohne meine Enttäuschung noch länger verbergen zu können. »Ich meine, gestern… bei unserem Treffen…«

»Wir entscheiden uns für das Angebot einer anderen Firma, kapiert?«

»Aber haben Sie sich unser Angebot einmal genauer angesehen?«

»Mich interessiert Ihr Angebot nicht mehr.«

Jetzt konnte ich mich nicht länger beherrschen.

»Verdammt, warum waren Sie dann gestern bereit, sich mit mir zu treffen?«

»Wollen Sie es wirklich wissen? Weil mir die verfluchte Verabredung erst wieder eingefallen ist, als Sie plötzlich vor mir standen. Begreifen Sie doch endlich, die Antwort lautet nein, besten Dank auch. Auf Wiederhören.«

Carlson hatte eingehängt. Wie betäubt preßte ich den Hörer ans Ohr, bis ich das Besetztzeichen hörte, dann legte ich auf. Ich war schockiert. Ich konnte es einfach nicht fassen, daß all die monatelange Arbeit, die ich in Carlsons Kostenvoranschlag gesteckt hatte, umsonst gewesen war.

Ich schloß die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann trank ich einen Schluck Kaffee und machte mich wieder an die Arbeit.

Erst erwischte ich nur irgendwelche Anrufbeantworter, hatte aber schließlich Raschid Hamir am Apparat, den Leiter des Managementinformationssystems bei Prudential, den ich seit mehreren Wochen zu erreichen versuchte.

»Hallo Raschid, hier spricht Richard Segal von Midtown Consulting.«

»Wer?«

[23] »Richard Segal«, wiederholte ich langsam. »Sie erinnern sich? Wir haben uns letzten Monat getroffen, und vor zwei Wochen habe ich Ihnen ein Angebot für die beiden NT-Berater gemacht, die Sie unbedingt haben wollten.«

»Tut mir leid, dafür gibt der Haushalt kein Geld mehr her«, sagte er. »Versuchen Sie es im nächsten Quartal noch mal.«

Als ich einen Vorabtermin für das nächste Quartal wollte, legte Raschid auf.

Ich machte ein Dutzend weiterer Anrufe, ehe ich endlich wieder einen potentiellen Kunden am Apparat hatte, doch der erklärte mir, er würde gegenwärtig mit einer anderen Beratungsfirma zusammenarbeiten; ich solle nächstes Jahr noch mal anrufen. Und so wählte ich Nummer um Nummer ohne jeden Erfolg.

Während ich noch auf den Bildschirm starrte, fühlte ich mich schlagartig müde und erschöpft; die ersten Anzeichen nahender Kopfschmerzen meldeten sich. Ich ging über den Flur zur Kaffeeküche und schenkte mir einen Becher ein. Eine Stimme in meinem Rücken sagte: »Hallo Richie, wie läuft’s denn so?«

Ich blickte über die Schulter und sah die lächelnde Visage von Steve Ferguson. Steve war ebenfalls leitender Verkaufsagent bei Midtown, obwohl ich fand, daß er lieber Schuhe als Computer-Netzwerke verkaufen sollte. Letzten Monat war er zum zweiten Mal in Folge zum Midtown-Verkäufer des Monats ernannt worden, weil er für knapp eine halbe Million Dollar Aufträge an Land gezogen hatte.

»Nicht übel«, sagte ich und warf den dritten Zuckerwürfel in meinen Kaffee. »Und selbst?«

[24] »Hab letzte Nacht wen aufgerissen, kann mich also nicht beklagen«, erwiderte Steve und verzog grinsend die Mundwinkel. Dann hieb er mir auf den Rücken und rief: »Und? Wie läuft die Verkauferei?«

»Bestens«, antwortete ich und haßte ihn von ganzem Herzen.

»Ach ja? Ist der Vertrag mit MHI schon unter Dach und Fach?«

»Nein, noch nicht ganz«, sagte ich und preßte den Dekkel auf den Kaffeebecher.

»Hinter dem bist du schon eine ganze Weile her, nicht? Woran hapert’s?«

»Ich warte nur noch auf den unterschriebenen Vertrag.«

Ich ging um ihn herum und hielt das Gespräch für beendet, aber er blieb an meiner Seite und folgte mir aus der Küche.

»Ich habe den Deal mit Chase abgeschlossen«, sagte er, als ich ihn fragte, wie es denn um seine Vertragsabschlüsse stünde.

»Großartig«, erwiderte ich.

»Ach was, vier Berater, ein Projekt über neun Monate – was soll’s, kleine Fische. Dürfte mir allerdings eine hübsche Provision einbringen. Außerdem habe ich da noch ein paar nette Projekte in der Mache – springt hoffentlich was Dauerhaftes bei raus. Hast du schon vom Deal mit Everson gehört?«

»Nein«, antwortete ich.

»Mann, das ist diese Anzeigenagentur für Neue Medien in der Forty-second. Hatte gestern den unterschriebenen Vertrag in der Post – dreiundfünfzig Riesen. Ach so, falls [25] du Hilfe bei diesem MHI-Vertrag brauchst, kein Problem. Ernsthaft, brauchst bloß Bescheid zu sagen, wenn ich mal einen Anruf für dich erledigen oder bei einem Meeting dabeisein soll. Ich weiß doch, wie wichtig es ist, endlich die Unterschrift unter den ersten Vertrag setzen zu können.«

»Danke, ich denk drüber nach«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab.

Vor seinem Büro – einem Eckzimmer – blieb Steve stehen und sagte: »Dann also bis zehn Uhr.«

Ich erstarrte.

»Wieso? Was ist denn um zehn?«

»Die Verkaufsbesprechung. Hat Bob dir kein Memo geschickt?«

»Nein.«

»Aha, na ja, dann sehe ich dich eben später.«

Ich ging zurück in mein Büro und rief meine E-Mail ab, aber da war keine Nachricht von Bob wegen eines Meetings um zehn Uhr. Ich rief einen der Typen von der Technik an und sagte, daß es offenbar ein Problem mit meiner E-Mail gebe, aber er meinte, es sei alles in Ordnung.

Ich ging über den Flur zu den Kabinen, in denen Midtowns drei Junior-Verkaufsagenten arbeiteten. Peter Rabinowitz und Rob Cohen hingen am Telefon, aber John Hennessy arbeitete an seinem PC. John war Mitte Zwanzig, ein Mann von gepflegtem Äußeren, für den dies der erste oder zweite Job nach dem College war.

»Hallo, John«, sagte ich.

»Na, Richard«, erwiderte er. »Wie läuft’s denn so?«

»Nicht übel, gar nicht übel«, erwiderte ich. »Hat man dir ein Memo wegen des Meetings um zehn Uhr geschickt?«

[26] »Ja«, sagte er, »wirst du auch dasein?«

»Schon möglich«, gab ich zurück. »Bin unter Umständen aber auch bei einem Kunden.«

Eine letzte Möglichkeit fiel mir ein. Vielleicht, dachte ich, hatte Bobs Sekretärin Heidi einfach vergessen, mir das Memo zu schicken. Ich rief sie an und bat sie, in den nächsten Stunden meine Anrufe entgegenzunehmen, da ich in meinem Büro arbeiten wollte, und dachte, wenn ich an dem Meeting teilnehmen sollte, würde sie mir schon Bescheid sagen. Doch sie war ohne weiteres einverstanden, sich um meine Telefonate zu kümmern.

Ich hatte Ähnliches in anderen Jobs beobachtet und wußte genau, was es bedeutete, wenn man einen Angestellten, vor allem einen leitenden Angestellten, plötzlich von Meetings ausschloß. Dann wurde es für ihn höchste Zeit, die Bewerbungsunterlagen durchzusehen, denn er war schon so gut wie arbeitslos.

Ich lud mir neue Adressen aus meiner Datenbank auf den Schirm und war fest entschlossen, heute noch den Durchbruch zu schaffen. Doch nach zwei Stunden pausenlosen Telefonierens hatte ich nichts erreicht. Als ich mich plötzlich wieder in Michael Rudnicks Keller sah und ihn mit Jungenstimme rufen hörte: »Jetzt kriegst du was zu spüren!«, wurde mir schwindlig und übel. Mein Herz raste ganz wie gestern nacht. Verdammt, das war wirklich das Allerletzte, was ich jetzt in meinem Leben gebrauchen konnte.

Ich wollte mich wieder an die Arbeit machen, bekam aber Michael Rudnick nicht mehr aus dem Kopf. Ob das wirklich der Mann gewesen war, den ich gestern auf der [27] Straße gesehen hatte? Für Rudnick kam er mir im nachhinein viel zu schlank und zu fit vor, seine Haut hatte fast zu makellos gewirkt. Die ›Augenbrauenraupe‹ hätte ihn natürlich sofort verraten, doch die Brauen des Mannes auf der Straße waren von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt gewesen.

Ich wählte mich ins Internet ein und fragte mit einem Suchbefehl nach ›Michael Rudnick‹ in Manhattan. Die Suche ergab zwei Treffer, einen ›Michael L. Rudnick‹, wohnhaft Washington Street, und einen ›Michael J. Rudnick, Esquire‹, wohnhaft Madison Avenue. Michael J. Rudnick, der Anwalt, schien mir eher in Frage zu kommen, da die angegebene Adresse – vermutlich ein Büro – in der Gegend lag, in der ich ihn gestern an der Straßenkreuzung gesehen hatte. Außerdem schien mir der Gedanke, daß Michael Rudnick Anwalt geworden war, keineswegs abwegig zu sein. Als Teenager war er selbstbeherrscht, arrogant und egozentrisch gewesen – gute Voraussetzungen für eine juristische Laufbahn. ›Anwalt‹ deckte sich auch mit dem Eindruck, den ich an der Straßenecke gewonnen hatte – wohlhabend, erfolgreich und ziemlich selbstbewußt, was Aussehen und Stellung betraf. Außerdem erinnerte ich mich daran, wie er geknurrt hatte, als unsere Schultern sich berührten, fast so, als stünde ich unter ihm und sei deshalb bedeutungslos. Aber als Anwalt vor Gericht konnte ich ihn mir gar nicht vorstellen. Nein, ein Typ wie er würde irgendwas Unpersönliches machen. Bestimmt war er Steueranwalt.

Es ging auf Mittag zu, und niemand war in mein Büro gekommen, um mir zu sagen, daß ich eine [28] Verkaufsbesprechung verpaßte. Als mir bewußt wurde, daß ich den ganzen Morgen lang noch gar nichts gegessen hatte, beschloß ich, rasch einen Bissen zu mir zu nehmen und mich dann wieder ans Telefon zu hängen.

Ich entschied mich für die Pizzeria in der Seventh Avenue, in der ich gelegentlich zu Mittag aß. Die Pizza war nicht besonders, aber was kümmerte mich das? Meist schlang ich den Fraß so schnell in mich hinein, daß ich ebensogut Pappe mit Tomatensoße und Gummikäse hätte essen können, ohne den Unterschied zu bemerken.

Ich setzte mich mit meinen zwei Pizzastücken an einen der hinteren Tische, schluckte die Bissen halb zerkaut runter und grübelte über meinen beschissenen Vormittag und mein noch beschisseneres Leben nach. Ich hatte stets angenommen, daß ich mit Mitte Dreißig glücklich verheiratet wäre, in einem großen Haus in der Vorstadt leben, zwei Kinder und reichlich Geld haben würde. Vielleicht hatten Paula und ich früher zuviel ausgegeben, damals, für unseren extravaganten Urlaub auf den Bahamas oder auf Hawaii. Im Gegensatz zum Rest der Welt, der sich an der Börse eine goldene Nase verdiente, waren wir pleite. Dank einer neuen Gebäudeschätzung war unsere Wohnung nur noch halb soviel wert wie das, was wir mal dafür gezahlt hatten. Und bis auf unsere Pensionsfonds hatten wir fast kein Geld auf der hohen Kante, eine ziemlich erbärmliche Leistung für ein Ehepaar in unserem Alter. Dann waren da noch die überzogenen Kreditkarten und die Stromrechnungen und all die zusätzlichen Ausgaben, die ständig wie aus dem Nichts aufzutauchen schienen. Natürlich könnten wir die Wohnung mit Verlust verkaufen und uns für ein paar Jahre [29] eine kleinere Bleibe mieten, bis die Schulden abbezahlt waren. Doch wir waren auf die Steuervergünstigungen angewiesen, die wir als Wohnungseigentümer geltend machen konnten, und wahrscheinlich wäre die Miete genauso hoch wie unsere jetzigen Kosten.

Ich rührte das zweite Stück Pizza nicht mehr an, ging aus dem Restaurant und stand wieder auf der Seventh Avenue. Die Luft war stickig und verqualmt. Eben hatte es noch ein wenig genieselt, doch jetzt klarte der Himmel auf. Ganz in Gedanken lief ich schließlich die Straße entlang und hielt erst inne, als mir plötzlich auffiel, daß ich an der Kreuzung Fifth Avenue und Forty-eighth Street stand, an ebenjener Straßenecke, an der ich gestern Michael Rudnick begegnet war. Die Stelle lag mehrere Blocks von der Pizzeria entfernt, und ich hatte keine Ahnung, warum ich hierher gelaufen war.

Aus meinem Büro rief ich das Maison an, ein französisches Lokal in der Second Avenue, und bestellte für halb acht einen Tisch. Ich hatte noch nie da gegessen, wußte aber, daß Paula französische Küche liebte, und um ihre Beförderung zu feiern, wollte ich ein ganz besonderes Restaurant.

Dann führte ich wieder einige Verkaufstelefonate, hatte aber immer noch kein Glück. Gegen halb drei rief Heidi mich an und sagte, ich solle sofort zu Bob kommen. Ich fragte sie, ob sie wisse, worum es gehe, aber sie behauptete, keine Ahnung zu haben.

Als ich Bobs Büro betrat und ihn sah, wie er an seinem Tisch saß und mit ernster Miene auf einen Computerbildschirm starrte, nahm ich an, daß er beschlossen hatte, mich [30] zu feuern. Ich malte mir schon aus, wie ich Paula heute abend die Neuigkeit mitteilte und wie ich am Sonntag die Stellenanzeigen studierte.

»Setzen Sie sich«, sagte Bob, ohne mich anzuschauen.

Als Präsident der Firma besaß Bob natürlich ein riesiges Eckbüro. Durch das nach Norden blickende Fenster hinter seinem Tisch konnte ich einen Zipfel vom Central Park und das Hochhaus von General Electric neben dem Rockefeller Center im Osten erkennen.

Bob war klein – etwa eins achtundsechzig –, und er bedeckte die große, kahle Stelle mitten auf seinem Kopf mit einem schwarzen Gebetskäppchen. Er war Ende Dreißig, vielleicht auch Anfang Vierzig und schien immer das gleiche weiße Hemd mit Knopfleiste zu tragen, das er sich achtlos in eine schwarze Hose stopfte. Wenn wir uns auf dem Flur begegneten, blieb er manchmal stehen, um mir den neusten Witz zu erzählen. Ich habe von Anfang an gewußt, daß er mich vor allem deshalb mochte und wohl nur ungern auf die Straße setzen würde, weil ich mit Nachnamen Segal hieß. Beim Vorstellungsgespräch hatte er mich für einen Juden gehalten, und ich hatte ihn in dem Glauben gelassen.

Ich saß in dem Polstersessel vor seinem Schreibtisch. Eine Zeitlang starrte er noch auf den Bildschirm, und ich fragte mich schon, ob er vielleicht vergessen hatte, daß ich in seinem Zimmer war, als er sich schließlich zum Tisch umdrehte und sagte: »Tut mir leid, daß Sie so lange warten mußten. Wie geht es Ihnen?«

»Geht so«, antwortete ich.

»Wird wärmer da draußen, wie?«

[31] »Wärmer?«

»Das Wetter.«

»Ach so«, erwiderte ich, »ja, ist in letzter Zeit gar nicht übel.«

»Meine Frau und ich werden uns bald in unser Landhaus nach Tuxedo verziehen«, sagte Bob.

»Wie schön!«

Wir blickten uns an.

»Egal«, sagte er. »Ich habe Sie zu mir gebeten, um den aktuellen Stand der Verhandlungen mit einigen Ihrer Klienten zu erfahren – damit ich weiß, was Sie so treiben und wie es weitergehen soll.«

»Okay«, sagte ich und war erleichtert, daß ich nicht geschaßt wurde, jedenfalls noch nicht.

»Steve hat mir übrigens gesagt, daß Sie kurz davor stehen, den Handel mit Media Horizons abzuschließen.«

»Steve hat das gesagt?«

»Also ist es noch nicht soweit?«

»Sie warten nur darauf, daß der Haushalt verabschiedet wird«, sagte ich und nannte damit die naheliegendste Erklärung für eine mögliche Verzögerung.

»Wurde Ihnen gesagt, wann Sie Näheres erfahren?«

»In ein paar Tagen – höchstens noch ein, zwei Wochen.«

»Na ja, hoffen wir, daß es klappt. Haben Sie sonst noch was in Aussicht?«

»Das ein oder andere«, log ich.

»Ausgezeichnet. Was denn?«

»Eine Offerte für einige Berater, dann noch eine Fremdvergabe.«

Ich gab meine Antworten rasch und voller [32] Selbstvertrauen, so daß er gar nicht merken konnte, was für einen Blödsinn ich ihm erzählte.

»Gut – freut mich zu hören, daß Sie einige Eisen im Feuer haben. Hoffentlich schließen Sie alle drei Verträge ab und sind dann auf dem richtigen Weg.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte ich.

»Aber ich will ehrlich zu Ihnen sein, Richard – ich komme meinen Angestellten nur ungern mit irgendwelchen Überraschungen. Als ich Sie eingestellt habe, ließen Sie mich glauben, daß Sie einige Kunden mitbringen würden. Erinnern Sie sich? Und ich nehme an, Sie wissen selbst, daß Sie seit sieben Monaten hier arbeiten und noch nicht einen einzigen Verkauf für uns abgeschlossen haben. Ich weiß, dafür gibt es eine Menge Gründe, für die Sie nichts können, und ich will Ihnen auch überhaupt keinen Vorwurf machen. Allerdings werde ich Ihre Stellung hier bei Midtown überprüfen müssen, wenn sich Ihre Leistungen nicht bessern. Ich weiß, Sie haben in Ihrer alten Firma allerhand geleistet, und ich weiß auch, daß Sie es wieder schaffen können. Außerdem halte ich Sie für einen prima Kerl und hoffe aus tiefstem Herzen, daß Sie unserer Firma noch viele Jahre erhalten bleiben. Doch ich habe nun mal ein Geschäft zu führen und kann mir keinen Verkäufer leisten – in welcher Position auch immer –, nur weil ich ihn nett finde. Sie verstehen mich doch, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich.

»Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie kommen bestimmt drüber hinweg. Schließen Sie einfach die drei Verträge ab, die Sie gerade erwähnt haben, und ehe Sie sich’s versehen, kann ich Sie als Verkäufer des Monats [33] auszeichnen. Wenn ich Ihnen übrigens in dieser Firma irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich bitte wissen; ich bin gern dazu bereit.«

»Ich weiß das zu schätzen, aber im Augenblick gibt es nichts, was Sie für mich tun könnten«, sagte ich. »Ich brauche die Verträge nur noch abzeichnen zu lassen, das ist alles.«

»Vielleicht sollten Sie Steve Ferguson zu einem Ihrer nächsten Verkaufsgespräche mitnehmen. Oder Sie begleiten ihn mal zu einem seiner Gespräche. Ich weiß, Sie haben sicher Ihre eigenen Techniken, aber manchmal kann es recht hilfreich sein, jemanden zu beobachten, der so überaus erfolgreich ist.«

»Ich denke nicht, daß mir das nützen würde«, erklärte ich.

»Vielleicht sollten Sie es trotzdem versuchen«, sagte Bob. »Man kann nie wissen, was davon hängenbleibt. – Übrigens, haben Sie schon den von dem Polacken gehört, der seinen Schlüssel im Wagen eingeschlossen hatte? Er brauchte eine Schlinge, um seine Familie zu befreien.«

Ich lachte höflich über diesen blöden Witz.

»Bevor ich es vergesse«, sagte Bob, als ich aufstand. »Sie haben vermutlich schon gehört, daß nächste Woche für das Büro einige personelle Veränderungen anstehen.«

»Nein, davon wußte ich noch nichts«, sagte ich.

»Weil einige neue Leute bei uns anfangen, werden wir unsere Abteilungen für Personalanwerbung und Marketing vergrößern. Und das bedeutet, daß jemand auf sein Büro verzichten muß. Wir haben uns noch nicht entschieden, wer diese Person sein wird, doch war mir wichtig, daß Sie Bescheid wissen. Wie schon gesagt – keine Überraschungen.«

[34] Gelassen ging ich in mein Büro zurück, und dann knallte ich die Tür hinter mir zu, daß die dünnen Wände nur so wackelten.

Ich fragte mich, ob ich meinen alten Boss bei Network Strategies anrufen und ihn bitten sollte, mir meine frühere Stelle wiederzugeben, aber ich wußte, es wäre Zeitverschwendung. Wir hatten uns nicht gerade in bestem Einvernehmen getrennt, und unser Verhältnis hatte sich auch nicht gebessert, als ich – vergebens – versuchte, einige meiner alten Klienten mit nach Midtown zu nehmen.