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Joey Goebel

Ich gegen Osborne

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Hans M. Herzog

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel des amerikanischen Originals:

›I Against Osbourne‹

Copyright © 2012 by Joey Goebel

Die deutsche Erstausgabe erschien

2013 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Elizabeth Peyton,

›For Oscar from Bosie, February 2, 1894‹, 1998

Copyright © Elizabeth Peyton

Mit freundlicher Genehmigung von Gavin Brown’s

Enterprise, New York

 

 

 

 

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24284 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60286 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Meiner lieben Schwester CeCe,
meinem Gewissen

[7] Stundenplan

Vor dem Unterricht  [9]

Ordnungsstunde  [24]

Chemie  [53]

Kreatives Schreiben  [104]

Algebra II  [157]

Mittagspause  [215]

Deutsch II  [254]

Englisch IV  [309]

Kunst IV  [363]

Nach dem Unterricht  [409]

 

Danksagung  [432]

[9] Vor dem Unterricht

7.47  Wie jeder andere vernünftige Mensch auch hasste ich die Highschool. Doch mit siebzehn hatte ich bereits begriffen, dass man mindestens siebzig Prozent seines Lebens damit zubringt, Sachen zu machen, die man lieber nicht machen würde. Und so fand ich mich mit dem zentralen Irrsinn meines Lebens ab, dass ich fünf von sieben Wochentagen an dem Ort der Welt verbrachte, an dem ich am liebsten überhaupt nie sein wollte. Schon erstaunlich, was die Menschen sich zumuten, dachte ich oft.

Also bog ich durch das offene Schultor auf den Parkplatz der Osborne Senior Highschool ein, genau wie Tausende andere pickelgesichtige Trottel vor mir und bestimmt ebenso viele Tausende noch lange nach mir. Nichts bereitete mich darauf vor, dass, wenn um 15.15 zum letzten Mal die Schulklingel ertönte, ausgerechnet ich – das chronisch erschöpfte Nervenbündel, das bis zu diesem Tag die exquisite Einsamkeit des unzufriedenen Querdenkers genossen hatte – als beliebtester Schüler von Osborne High vom Parkplatz fahren würde. Ein wahr gewordener Traum? Ach was.

Ich fuhr um das Blumenrondell herum, in dem der Fahnenmast stand, und wunderte mich einmal mehr, dass hier überhaupt etwas Schönes wachsen konnte. Und während [10] ein paar grün uniformierte Schüler, Mitglieder des Junior Reserve Officer Training Corps JROTC, die amerikanische Fahne hissten, dachte ich an die acht Stunden, die sich wie ein Berg des Grauens vor mir auftürmten. Ich musste mich mit einer ernsten Angelegenheit befassen – sogar der ernstesten meines bisherigen Lebens. Doch rasch richtete sich meine Aufmerksamkeit auf Chloe Gummere. Ich hoffte, sie in den nächsten zehn Minuten um ein Date bitten zu können. Diese Möglichkeit (abgesehen davon, dass ich mich in der zweiten Schulstunde einer Textkritik meiner Mitschüler stellen musste) war mein Hauptgrund, heute überhaupt zur Schule zu kommen.

Aufgeregt suchte ich schon mit den Augen ihren taubenblauen und holzgetäfelten Oldsmobile-Kombi, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Seit dem ersten Tag meines dritten Jahrs auf der Highschool war ich in Chloe verknallt. Sie war die Person, nach der ich auf dem Parkplatz und bei den Versammlungen immer Ausschau hielt, deren Wege von einem Unterrichtsraum zum anderen mir vertrauter waren als nötig, deren Name meine Ohren irgendwie noch beim chaotischsten Krawall im Klassenzimmer heraushörten. Da dies unser erster Schultag nach dem Spring Break, den Osterferien, und sie in den Ferien verreist gewesen war, hatte ich Chloe seit einer Woche weder gesehen noch gesprochen. Ich sehnte mich nach ihr. Ich sehnte mich so sehr danach, sie zu sehen, dass ich das Gefühl hatte, etwas stimme nicht mit mir, und ich litte an einem speziellen Wahn. Ich fragte mich, ob sich ein anderer Mensch jemals so gefühlt hatte. Es wäre hilfreich gewesen, mit jemandem darüber reden zu können.

[11] Nachdem ich das Wachhäuschen samt Security-Mann passiert hatte, unterbrach das nervige Hupen eines kleinen weißen Honda Accord meine Suche nach Chloe. Im Rückspiegel sah ich zwei junge Männer – beide sicherlich ausgezeichnete Schüler – mit erhobenen Stinkefingern. Anscheinend war ich der einzige Schüler auf Osborne, der die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit einhielt. Das störte unweigerlich die hinter mir Fahrenden, die es aus unerfindlichen Gründen immer eilig hatten, diesen grauenhaften Ort zu erreichen. Ich reagierte auf die Einserschüler, indem ich zwei Stundenkilometer langsamer fuhr, einen für jeden Finger.

Ich erachtete meine Langsamkeit für notwendig, da meine Mitschüler sich offenbar für unsterblich hielten. Oft genug tauchten abrupt jugendliche Fußgänger vor meinem Wagen auf wie unbeaufsichtigte Kleinkinder, oder sie schlenderten wie lethargische Prostituierte des Wegs, ohne zu bedenken, dass sie sich in einer der belebtesten Gegenden der ganzen Stadt aufhielten, in der sich fast täglich mindestens ein kleinerer Unfall ereignete, wie die zerknautschten Stoßstangen belegten, die ich überall sah.

Sie alle konnten hupen, so viel sie wollten (was sie gewöhnlich auch taten); ich fuhr langsam – rechtschaffen, rebellisch langsam.

7.49  Um die anhaltenden Störgeräusche der Autohupen zu dämpfen, drehte ich meine Musik lauter, eine Jazz-Kassette, die ich für mich zusammengestellt hatte. Ich suchte weiter nach Chloes Kombi, behielt aber gleichzeitig den Tacho im Auge und das Bein ruhig, um nicht wegen einer [12] Freud’schen Fehlleistung meines Fußes einen Mitschüler zu überfahren. Damit zwei unterklassige Schüler, eine Mischung aus Preppy und Schlägertyp, vorbeigehen konnten, hielt ich ganz an, was bei den Herren hinter mir bestimmt Krämpfe auslöste. Die Preppy-Schläger vergalten mir meine Freundlichkeit, indem sie sich Zeit ließen. Sie bekamen vierundzwanzig Stunden am Tag nichts mit und hatten mich wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Doch egal: Fußgänger hatten immer Vortritt, und ich war ein hervorragender Fahrer.

Mein Vater hatte immer betont, was für ein hervorragender Autofahrer er sei, dabei machte er Dustin Hoffman in Rain Man nach. Als ich sieben war, nahmen mich meine Eltern ins Kino mit, wo ich mir Rain Man ansah, was mir nicht ungewöhnlich vorkam, weil sie mich Erwachsenenfilme sehen ließen, seit ich allein auf dem Klo sitzen konnte. Als Kind gehörte Die Farbe des Geldes zu meinen Lieblingsfilmen, außerdem alles mit Jack Nicholson – dem Lieblingsschauspieler meines Vaters. Manchmal gingen Dad und ich auch allein ins Kino, um uns einen Jack-Nicholson-Film anzusehen. Dass ich so früh Filmstoff für Erwachsene sehen durfte, trug vielleicht mit dazu bei, dass ich später im Leben nicht auf Sex und Gewalt fixiert war, was bewirkte, dass ich in meiner Altersgruppe nie einen Fuß auf den Boden bekam.

Nachdem die Schleicher in ihren Abercrombie & Fitch-Klamotten endlich weg waren, fuhr ich weiter auf den hinter der Schule gelegenen zweiten Parkplatz und steuerte eine der beiden letzten Schrägparklücken vor den Tennisplätzen an. Ehe ich auch nur zu einem Viertel eingeparkt [13] hatte, rasten die Einserschüler rücksichtslos an mir vorbei, als wollten sie demonstrieren, wie schnell ich ihrer Meinung nach hätte fahren sollen.

Ich suchte mir immer bevorzugt schräge Parklücken, weil ich so den 1988er Lincoln Town Car meiner Eltern, der an meinem sechzehnten Geburtstag in meinen Besitz übergegangen war, viel leichter einparken konnte. Vornehm marineblau und in der Länge fast mit einer Limousine vergleichbar, sah er aus, als hätte er sich aus einer Wagenkolonne des Präsidenten entfernt, wären da nicht die erkennbaren Mängel gewesen: ein Sprung, der sich auf der Beifahrerseite über die halbe Windschutzscheibe hinzog, und ein kaputter Scheinwerfer (weil mich im vorigen Monat auf dem Schulparkplatz jemand gerammt hatte). Es war ein lädierter Aristokrat von einem Automobil, das sich von all den Camrys, Grand Ams, Pick-ups und SUVs abhob.

Ich stellte den Automatikhebel auf Parken. Obwohl die Schulvorschriften besagten, man müsse sich nach dem Eintreffen umgehend in der Schule melden und dürfe nicht im Auto bleiben, stieg ich nie aus, ehe meine alte goldene Armbanduhr 7.56 anzeigte, weil ich mit diesen Leuten keine Minute länger verbringen wollte als unbedingt nötig. Diese Einstellung hatte ich nicht ohne Schuldgefühle. Ständig rief ich mir in Erinnerung, dass nicht alle so grässlich waren, vor allem wenn man sie allein erwischte und sie nicht irgendeine Rolle spielen mussten. Das Problem lag darin, dass die meisten schlecht erzogen waren und bald ihre eigenen Kinder schlecht erziehen würden, und auf diese Weise wurde das Gute in ihrem Blut im Lauf der Generationen immer mehr verwässert.

[14] Häufig sagte ich mir im Stillen, ich müsse keine Schuldgefühle haben, weil ich sie verurteilte, denn wenn wir in die Köpfe der anderen gelangen könnten, würden wir erkennen, dass wir für einander ohnehin Arschlöcher waren.

7.51  Ich ließ die Seitenfenster oben, aus Rücksicht auf diejenigen, die meine Musik vielleicht nicht hören wollten, und weil sie bestimmt »Schwuchtel« (eins ihrer Lieblingswörter) rufen würden, wenn sie hörten, was es war: Oscar Petersons Klavierversion von »Someone to Watch Over Me«. Ich bemühte mich, jede Note in mich aufzunehmen, wohl wissend, dass ich wahrscheinlich den ganzen Tag keinen Frieden mehr finden würde.

Herrje, ich wollte wirklich nicht da rein, heute weniger denn je! Durch meine kaputte, schmutzige Windschutzscheibe konnte ich sie alle beobachten. An manchen Tagen tat ich so, als kontrollierte ich ihre Bewegungen mit meinem Verstand (du gehst nur, weil ich will, dass du gehst), doch heute lehnte ich den Kopf gegen das Beifahrerfenster und beobachtete nur. Viele zelebrierten gerade ihr Ritual einer letzten Morgenzigarette, was sie tun konnten, weil der Parkplatz nicht überwacht wurde, als würde die Schule sagen: »Wir wollen nicht mal wissen, was ihr außerhalb dieses Gebäudes macht.« Diese Laissez-faire-Einstellung führte nach Schulschluss regelmäßig zu Schlägereien zwischen kleingeistigen männlichen wie weiblichen Teenie-Monstern, die einander wegen allem und jedem windelweich prügelten, ob gleichschenklige Dreiecksbeziehungen oder verirrte spuckegetränkte Papierkügelchen.

Wer nicht rauchte, schlenderte und trödelte herum und [15] quatschte, redete vermutlich über Fajitas oder versuchte herauszufinden, wer die krasseste Geschlechtskrankheit hatte. Die Übrigen watschelten Richtung Schule, sei es paar- oder grüppchenweise, nie allein. Sie alle wirkten so glücklich, besonders die Pärchen aus Freund und Freundin, mit ihren Rucksäcken und den Kaugummi kauenden Kiefern und ihrem grenzenlosen Selbstvertrauen. Ich betrachtete sie und fragte mich, mit welchem Trick sie das bloß schafften.

Die Paarungszeit war voll im Gange – nicht, dass sie je endete –, doch diese Phase lag zwischen den besessenen Sexkapaden des Spring Break und dem Dauerausstoß jugendlicher Sekrete namens Schulabschlussball, einem Ereignis, das viele für den wichtigsten Abend ihres Lebens hielten, ihr A und O, ihren Daseinszweck, für den ultimativen Initiationsritus. Die pheromongesättigte Aprilluft verwandelte die Genitalien sämtlicher Jungs in winselnde Wiesel, die sich abstrampelten, um zu den Mädchen zu gelangen, deren Eierstöcke durch Verhütungsmittel geschützt waren. Nur vier Jahre zuvor hatten sie noch alle mit Power Rangers gespielt. Mehr als einmal dachte ich: Satan, dein Name ist Pubertät.

Während ich darüber nachdachte, wie die Zeit uns alle vorangetrieben hatte, bekämpfte ich den Drang, meinen Kopf aus dem offenen Seitenfenster zu strecken und zu brüllen: »Eines Tages werden wir uns alle die Köpfe an Badewannen stoßen!«

7.52  Junge Leute und ihre Shorts – beim ersten Frühlingslüftchen schlüpften sie hinein. Als wollten sie sagen: Nun [16] lasst uns alle unsere wohlgeformten Waden zeigen. (Ich wusste kaum, wie meine Beine aussahen.)

Die meisten von ihnen hielten sich eisern an die aktuellen Modetrends (Tommy Hilfiger, Gap, Abercrombie & Fitch und American Eagle obenrum; Khakishorts, Cargohosen, Baggy-Jeans für unten), aber niemand war übertrieben schick, von der süßen Chloe mit ihren Vintage-Kleidern abgesehen, den Midiröcken, Cardigans, gestreiften Leggings und den zahllosen Armreifen, die wie Slinky-Spiralen ihre knochigen Unterarme hoch- oder runterrutschten. Während ich auf der Suche nach ihr den Hals reckte, fuhr in die Parklücke neben mir ein Grand Cherokee mit getönten Scheiben, aus dem der Mastdarm-erschütternde Bass von Rapmusik ertönte, die beliebteste Musik meiner rechtgläubigen Altersgenossen.

War das da drüben Chloes Wagen? Es war schwer zu erkennen; über zweitausend Schüler besuchten diese Schule, und vielleicht die Hälfte davon kam mit dem Auto.

Die Person in dem Wagen neben meinem ließ das Fenster ein wenig herunter, und da wurde mir klar, dass ich mit einem Song beschallt wurde, der vermutlich den Titel »Make ’Em Say Uhh« trug, ein Lieblingslied – eine regelrechte Hymne – meiner Mitschüler. Mir war dieser Song so verhasst, dass ich das Leben verabscheute, wenn ich ihn nur hörte. Der Refrain bestand hauptsächlich aus Grunzgeräuschen, bei denen man unwillkürlich an Lust und/oder Verdauungsprobleme dachte. Der schlechte Geschmack von Menschen meines Alters erschütterte mich, und die Jugendkultur generell bewirkte, dass ich mir am liebsten in die Hände gekotzt hätte.

[17] Ich hatte Recht gehabt: Es war Chloes Wagen. Langsam bog sie in eine Lücke auf der anderen Seite der Tennisplätze ein. Uns trennten Maschendrahtzäune und drei Tennisplätze.

Ich war von mir selbst enttäuscht, weil jemand in mir das Gefühl weckte, so dumm und schwach zu sein. Mit einem Kopfschütteln konnte sie mich auf das Maß eines unartigen Jagdhundes zurechtstutzen, und ihre Laune konnte bestimmen, wie sich mein Tag entwickelte. Ich war mir ziemlich sicher, sie wusste, dass sie mich in ihrem Händchen hielt und zerquetschen konnte.

Und so was nannte sich eine Freundin.

7.54  Als sie aus ihrem Kombi stieg und in meine Richtung zu blicken schien, entzündeten sich Funken in meinem Blut. Es war irgendwie surreal, endlich die Person zu sehen, die in meiner Phantasie so viel Zeit und Raum beansprucht hatte. Ich fand es geradezu aufregend, sie in Fleisch und Blut vor mir zu sehen, festzustellen, dass sie wirklich mehr als nur eine Idee war. Und sie ging allein, Gott sei Dank.

Ich machte die Musik aus. Im Rückspiegel überprüfte ich meine Frisur, dann nahm ich die Bücher (meinen Deutschtext und eine Taschenbuchausgabe von George Orwells 1984 sowie meine Mappe für Kreatives Schreiben) und stieg aus dem Wagen.

Sie winkte mir zu. Ich winkte zurück. Sie blieb stehen und wartete auf mich, dabei strich sie sich nervös die Haare aus dem Gesicht, eine Angewohnheit von ihr.

Vielleicht bildete ich mir das ja nur ein, aber wie in einem Teeniefilm, oder einer Idiotenversion von Pygmalion, [18] schienen ihre Brille und die exzentrische Kleidung zu verhindern, dass die Leute sahen, wie hübsch sie wirklich war, auch wenn sie wohl eher niedlich als hübsch war. Meine Mutter hätte über sie vielleicht gesagt: »Die kleine Chloe sieht nur so aus, als wär sie süß.« Und sie war nicht nur niedlich, süß, anmutig etcetera, wahrscheinlich würde sie die Schule auch als eine der Jahrgangsbesten abschließen.

Für mich war sie das verführerischste Mädchen der westlichen Hemisphäre, und ich hatte beschlossen, mich heute aus dem jämmerlichen Beziehungsschwebezustand zu lösen, in dem sie mich hielt. (Dieser Blick, den sie mir zuwarf – bedeutete der, dass sie mich mochte? Und wie sie von mir verlangte, mich an ihrem College zu bewerben – lag das nur daran, dass wir Schulfreunde waren?) Da meine schlimmste Phase jetzt hinter mir lag, war es an der Zeit, das Glück zu ergreifen, das sich mir so lange entzogen hatte. Chloe verkörperte für mich die Möglichkeit, glücklich sein zu können, doch wenn sie in mir nur eine Art verlässlicher Kleiner-Bruder-Ersatz sah, würde ich mich dem nächsten Liebeskummer zuwenden. Entweder gewann sie einen richtigen Freund, oder sie verlor einen platonischen.

Doch dann sah ich etwas, bei dem mir das Herz in die Hose rutschte.

Sie hatte neue Schuhe an.

7.55  Es waren Nikes, aber keine Retro-Nikes. Diese hier waren neumodisch und strahlend weiß, und sie ließen Chloes Füße groß aussehen. Fürchterlich viele Jungs und Mädchen auf Osborne trugen solche Schuhe.

Davon abgesehen, schien alles andere noch zu stimmen: [19] schwarze Cat-Eye-Brille, langes, gewelltes brünettes Haar, ein hellblaues T-Shirt mit schwarzgrauer Herrenweste und ein grauer knielanger Rock, der zu den Schuhen komisch, aber nicht lächerlich aussah. Ihre ungewöhnlich helle Haut war in Florida nur dezent getönt worden.

»Hey, James.«

»Morgen, Chloe.«

Es folgte die absurde Farce, bei der ich so tun musste, als hätte ich nicht jede Minute der Ferien an sie gedacht. Gemeinsam gingen wir Richtung Schule, die immer irgendwie bedrohlich wirkte. Die Architektur war denkbar schlicht: Das Haus sah aus wie ein gewaltiger Schuhkarton aus braunem Backstein.

»Du hast neue Schuhe.«

»Stimmt.«

»Warum?«

Chloe lachte. »Weil ich etwas Bequemeres haben wollte.«

»Verstehe.« Alles musste bequem sein. Manchmal versuchte ich, mir Clark Gable in Shorts oder Audrey Hepburn in Nikes vorzustellen.

»Tut mir echt leid«, sagte Chloe plötzlich. »Ich hätte ja angerufen, bin aber erst gestern Abend nach Hause gekommen, aber da hätte ich wohl noch anrufen können, andererseits war es vielleicht zu spät, und ich hätte besser anrufen sollen, als ich noch unten war. Jedenfalls tut es mir leid.«

»Schon in Ordnung. Darf ich deine Bücher tragen?«

»Oh, ich hab meinen Rucksack, aber lieb, dass du fragst.«

»Drückt er denn nicht zu sehr auf deinem Rücken?«

»Eigentlich nicht.«

»Keine Ahnung, wie ihr’s alle mit diesen doofen [20] Rucksäcken aushaltet. Du willst also eine Art Statement abgeben, mit deinen Schuhen, meine ich –«

Wieder lachte sie. »Du machst mich verlegen. Das sind doch nur Schuhe.«

Es klingelte zum ersten Mal. In fünf Minuten würde es erneut klingeln, zu Beginn der ersten, einer Ordnungsstunde. Doch von »Klingeln« konnte schon lange keine Rede mehr sein. Unser »Klingeln« waren einfache, schrille Töne, die »Ding, ding… Diiing« machten.

»Tut mir leid, aber normalerweise wechseln die Leute nicht aus heiterem Himmel die Schuhe.«

»Ich bin in den Ferien furchtbar viel gelaufen und habe auf die harte Tour erfahren, dass Chuck Taylors nicht für lange Wanderungen gemacht sind, deshalb habe ich diese hier gekauft, als ich in – als ich da unten war.«

»Bitte, Chloe. Du kannst mit mir reden, das weißt du.« Seit ich dieses Mädchen kannte, hatte sie Sattelschuhe, Mary Janes, Chucks, Vans oder gelegentlich mal Abendschuhe getragen, doch plötzlich tauchte sie auf und sah aus, als wolle sie unbedingt Kickball spielen. »Was ist passiert?«

»Hörst du auf damit?« Sie lächelte zwar, doch ich hörte ihren Ärger heraus. »Ich hab mich nicht verändert. Es sind nur Schuhe.«

»Es sind nie nur Schuhe. Vielleicht sind Schuhe für Erwachsene etwas, das sie sich einfach anziehen, aber nicht für uns.«

Sie antwortete nicht. Jetzt erst merkte ich, dass das Wetter perfekt war. Es wehte eine leichte Brise, und die Temperatur hätte nicht angenehmer sein können. Chloe betrachtete die Autos, genau wie ich.

[21] Nicht nur einmal, sondern mehrmals hatte ich auf dem Parkplatz mitbekommen, dass ein Auto obszön ruckelte, aber nicht heute. Es war erst Montag.

7.57  Wir näherten uns Osborne. »Du hattest bestimmt einen schlimmen Spring Break«, sagte Chloe nach einer kurzen Pause.

»Ja, aber das war zu erwarten. Wie war’s in Destin?«

»Schon okay, schätze ich.« Sie räusperte sich. »Übrigens bin ich dann doch nicht nach Destin gefahren.«

»Wo warst du denn?«

»In Panama City Beach.«

Panama City Beach in Florida hatte auch den Beinamen »Spring-Break-Hauptstadt der Welt«. Nach dem, was ich auf MTV gesehen hatte, wusste ich, dass es ein heißer, stinkender, benutzter Tampon von einer Stadt war. Ihre schnaufenden, rotgesichtigen Touristen hingen in Whirlpools ab, als würden sie in Fleischbrühe gegart.

»Mit deiner Familie?«, fragte ich zuversichtlich.

»Nein. Christy hat mich auf den letzten Drücker eingeladen. Ich bin selbst überrascht, dass ich überhaupt mitgefahren bin.« Von dieser Christy hatte ich nie viel gehalten.

»Du hast deinen Eltern einfach abgesagt?«

»Nein. Meine Mom hat mir sogar zugeredet mitzufahren, ob du’s glaubst oder nicht. Sie hat gesagt, sie wisse, wie gestresst ich sei und wie schwer ich für die Schule geackert hätte, und mir das nötige Kleingeld gegeben.«

»Aber wir haben uns doch immer über Leute lustig gemacht, die nach Panama City fahren.«

»Ich weiß, aber jetzt, wo ich da war, wurde mir klar, dass [22] das nicht richtig von uns war, da ja vorher keiner von uns beiden da gewesen ist.«

»Was hast du da unten eigentlich gemacht

»Am Strand gewesen, in der Ferienwohnung abgehangen. Hey, fast hätt ich’s vergessen! Der Text, den du verteilt hast, hat mir gut gefallen!«

»Danke. Du hast mir als Publikum vorgeschwebt – na ja, nicht du persönlich, sondern Menschen wie du. Also, wenn er dir nicht gefallen hätte, wäre der Text ein totaler Fehlschlag gewesen.« Während ich mit ihr sprach, fiel mir auf, dass sie zu zwei coolen Typen hinübersah, die beide Khakishorts und Nikes anhatten. Den einen mochte ich, den anderen nicht. Sie erwiderten ihren Blick.

»Mir hat er gut gefallen«, wiederholte sie. »Du hast tolle Arbeit geleistet.«

»Danke.«

Sie sah ein zweites Mal zu den Jungs rüber, diesmal aus den Augenwinkeln. Weil ich überempfindlich war, entgingen mir solche Sachen nie. Hier lief eindeutig etwas. Chloe war an einem Ort in Florida gewesen, wo alle soffen wie Bauarbeiter, die gerade eine Scheidung durchmachten; da hätte alles geschehen können. Womöglich hatte sie sich so gründlich verändert, dass wir nicht mehr zueinander passten.

So hatte ich unser Gespräch überhaupt nicht eingeübt. Ich traf eine Entscheidung: Ich würde sie erst in der zweiten Stunde fragen, ob sie mit mir ausging.

Wie ich es immer bei allen machte, hielt ich Chloe die Tür auf.

»Danke«, sagte sie im Vorbeigehen. Doch dann näherten [23] sich noch zwei Mädchen der Tür, Mädchen von der Sorte, die wahrscheinlich schon als Babys einen dummen Gesichtsausdruck gehabt hatten, denen ich auch die Tür aufhielt. Unterdessen wartete Chloe nicht auf mich. »Wir sehen uns in der zweiten Stunde«, sagte sie beim Gehen über die Schulter.

»Bis dann«, sagte ich, während die beiden Mädchen durch die Tür gingen, die ich offenhielt.

Sie bedankten sich nicht.

[24] Ordnungsstunde

7.59  Falls wirklich jemand über mich wachte, so durfte er oder sie die Schule offenbar nicht zusammen mit mir betreten. Sobald ich diese Tür durchschritt, musste ich ihn oder sie auf der anderen Seite zurücklassen, so wie Freunde und Verwandte, die einen am Flughafen verabschieden, aber nur bis zur Sicherheitskontrolle mitkommen dürfen. Ich wusste aber, dass man an viel schlimmeren Orten festsitzen konnte, und vergaß nie die tröstliche Gewissheit, dass die Highschool irgendwann zu Ende sein würde. Das musste man der Highschool lassen: Sie dauerte nicht ewig.

Kaum hatte ich das riesige Schulgebäude betreten, verspürte ich sofort einen seltsamen Druck, als säße eine fette Krankenschwester auf meinem Kopf. Ich ging unverzüglich in mein Klassenzimmer, wo eine ganz bestimmte Person sein würde, die mir wahrscheinlich die schmutzigen Details – falls es welche gab – von Chloes Aufenthalt in Panama City erzählen konnte.

Die Lampen strahlten so hell, dass meine müden Augen schmerzten. Ich ging Richtung 200er-Flur. Die Schule war komplett ebenerdig, und die Klassenzimmer gingen von sieben unglaublich langen Korridoren ab. Jeder Korridor war von graubraunem Teppichboden bedeckt und von Spinden gesäumt, die in Dunkelorange oder Minzgrün [25] gehalten waren – beim Bau der Schule in den 1960er Jahren beliebte Farben, die jedoch inzwischen schäbig aussahen.

Ich ging schnell. Schüler drängten sich in die Kursräume. Ich hörte Spindtüren knallen, obszöne Rufe und die Räder des Hausmeisterkarrens. Der Hausmeister und ich tauschten ein Kopfnicken aus; er hatte Goldzähne, und man munkelte, er hätte mit mindestens zwei Lehrerinnen geschlafen.

»Schicke Klamotten«, sagte er.

»Danke.« Diese Worte fielen immer, wenn wir uns sahen. Ich fragte mich, ob ihm klar war, dass er mich jedes Mal zum selben Outfit beglückwünschte.

8.00  Als ich mein Klassenzimmer betrat, sah ich zuerst Mr. Runnels – wie üblich über das Lehrerpult gelümmelt, den Kopf in die Hand gestützt, wobei er die Finger über das Gesicht spreizte wie die Beine einer Tarantel, und ein Auge linste durch diese ausgestreckte Kralle. Als ich eintraf, nahm er die Hand kurz weg und musterte mich einen Moment lang aus müden Augen, ehe er sich die Finger wieder vors Gesicht hielt. Ich wusste diese Geste zu schätzen.

Während ich zu meinem Platz auf der anderen Seite des Zimmers ging, sah ich mich um. Niemand beachtete mich. Was Grüppchenbildung anging, waren wir ein bunter Haufen, in dem sich keiner für jemand anderen zu interessieren schien.

Ich nahm Platz, glücklicherweise direkt hinter der Person, die ich befragen musste. Sofort fing ich an, die Haut um meinen Daumennagel abzupulen, eine Angewohnheit [26] von mir. Als es klingelte, drehte sich der nach Eau de Cologne duftende blonde Schönling vor mir um und fragte: »Was geht ab?«

»Morgen, Tyler.«

Tyler war ein Preppy, hatte sich aber im Laufe der Jahre in vielen anderen Rollen versucht: als Redneck, als Alterna-Teen, als Gangsta und schließlich in dieser aktuellen Inkarnation, die er sich im letzten Semester zugelegt hatte. Seine Uniform des modebewussten Durchschnittsamerikaners bestand aus Nikes, Abercrombie-Hemd und Khaki-Cargo-Shorts. Ich verstand Tylers Typwechsel, da auch ich etliche Mutationen hinter mir hatte, wofür mein jetziger Aufzug der Beweis war.

Tyler drehte sich zur Seite, damit er mit mir reden konnte, was mir gefiel, da wir uns so selten unterhielten. Das lag wahrscheinlich daran, dass der Basketballspieler, der normalerweise links von uns saß, heute nicht da war. Was Tyler von der permanenten Sorge befreite, ob der angesehene Dre »D-Dub« Walker ihn für gaga hielt, weil er mit mir sprach, oder – schlimmer noch – für arsch, ein beliebtes Wort auf Osborne, von »arscheng«, was zu enge Jeans bezeichnete (man sollte sie baggy tragen, schlabbrig). Irgendwann bedeutete »arsch« so viel wie »uncool« und war somit synonym mit »gaga«, und manchmal kombinierte ein besonders inspirierter Schüler die beiden Begriffe zu »arschgaga«.

Jetzt, wo Tyler wirklich mit mir sprach, merkte ich, dass ihm die Worte fehlten.

»Hattest du angenehme Ferien?«, bot ich an.

»Irgendwie schon. Hätten länger sein können, aber ich hab die Zeit ausgekostet, wenn du weißt, was ich meine.« [27] Seine Rede war von Rap-Videos voller Hintern und Filmen mit Ice Cube inspiriert.

»Warst du verreist?«

»P.C.B.«

Der in der Zimmerecke angebrachte Fernseher schaltete sich automatisch ein. Auf dem Schirm erschien das Schulemblem, ein schlechtgelaunter Adler, der aussah, als wolle er jeden Moment jemanden umbringen.

»Wie läuft’s bei dir so, halt, du weißt schon –«

»Gut, danke.«

»Ich war in Panama City, ey. Sonst wär ich hier gewesen.«

»Mach dir nichts draus.« Am liebsten hätte ich ergänzt, das sei der wohl längste Gesprächsversuch, den er in unserem ganzen vierten Highschool-Jahr unternommen hatte, also warum so tun, als würde ich ihm plötzlich etwas bedeuten? Doch ich merkte, dass er sich wirklich Mühe gab, das Richtige zu sagen. Ernst zu sein, fiel Tyler nicht leicht. Selbst jetzt sprach aus dem engelsgleichen Gesicht unter der modischen Cäsar-Frisur eine Spur Verschmitztheit.

Mr. Runnels überprüfte rasch die Anwesenheit, dazu benutzte er eine Liste mit Nachnamen, die alle mit U bis Z anfingen. Man hatte uns in unserem ersten Highschool-Jahr der Obhut von Larry Runnels anvertraut, und wir hatten die ganzen vier Jahre denselben Klassenlehrer behalten. Glücklicherweise verehrte ich Mr. Runnels sehr. In vier Jahren hatte ich den Mann kein einziges Mal lächeln sehen, dennoch hielt ich ihn für einen warmherzigen, netten, herzensguten Menschen. Er hatte mir gezeigt, dass ein warmherziger, netter, herzensguter Mensch gleichzeitig [28] Basketballtrainer sein konnte. Er hatte dunkle Augen und eins dieser Gesichter, die ich mir nicht ohne Schnauzbart vorstellen konnte. Trotz seiner müden Art und des Hundeblicks war er einer der fünf witzigsten Menschen, die mir je begegnet waren. Ich stellte ihn mir zu Hause bei seiner Familie vor, wo kein Augenblick ohne Gelächter verging.

Einer nach dem anderen meldete sich mit »hier«. Mit seiner lauten, sonoren Stimme sprach Mr. Runnels häufig unsere Nachnamen falsch aus, um uns zum Lachen zu bringen, und heute probierte er es bei mir, verhunzte meinen Namen besonders übel, doch aus irgendeinem Grund hätte ich diesmal am liebsten geheult.

8.03  Wie konnte ich Tyler dazu bringen, mir zu erzählen, was ich wissen wollte? Ihn einfach geradeheraus zu fragen, wäre nicht mein Stil gewesen. Er hatte sich schon wieder umgedreht und legte gerade den Kopf aufs Pult, träumte vermutlich davon, wie er zu Gangstas Kontakte knüpfte – wahrscheinlich hatte er Tagträume, wie er sie in einem rauchgeschwängerten Sportstudio massierte, während sie ihn an ihrem Olde-English-Bier nippen ließen.

Für die jungen weißen Männer der Osborne High verkörperten ihre schwarzen Gangsta-Kollegen den Goldstandard bei jener begehrtesten aller Eigenschaften: Coolness. Die Hälfte der jungen Weißen auf meiner Schule bemühte sich, wie die Gangstas zu sein. Ich fragte mich, was die G’s davon hielten. Vermutlich fühlten sie sich so ähnlich, wie ich mich fühlte, wenn irgendein Hipster mit perfektem Sehvermögen als Modeaccessoire eine Brille trug, während ich seit der ersten Klasse eine Brille tragen musste und in der [29] neunten zu Kontaktlinsen wechselte, denn sogar wenn ich mir die Hand vor die Augen hielt, sah sie ohne Korrekturgläser wie eine fleischfarbene Wolke aus. Und doch galt diesen weißen Jungs mein Mitgefühl, da sie die ultramaskuline Coolness, die sie so verzweifelt anstrebten, nie erlangen würden.

Mr. Shankly tauchte auf dem Bildschirm auf, unser humorloser weißhaariger Schulleiter.

Dass dieser Mann eine Führungsperson war, machte für mich die gesamte Schule zu einer Farce. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, verengten sich meine Augen unwillkürlich zu Schlitzen, als könnte ich durch ihn hindurchsehen, und ich schüttelte ganz leicht den Kopf. Doch ich gestattete mir nur diese physischen Symptome meiner Abscheu; ich hatte meiner Mutter geschworen, nie, unter gar keinen Umständen, ein Wort von dem weiterzusagen, was sie mir über den Mann erzählt hatte. Meine Mom war in ein Geheimnis eingeweiht, das von höchstens sechs Personen bewahrt wurde, und ich war eine davon. Ich konnte ihn unmöglich ansehen oder auch nur seinen Namen hören, ohne an die abscheuliche Tat zu denken, die er, wie ich wusste, verübt hatte.

»Hallo, Schülerinnen und Schüler, und willkommen in der Schule. Ich hoffe, alle hatten angenehme Ferien, und hier sind die Bekanntmachungen. Wir gratulieren unserer Baseballmannschaft zu ihrem Acht-zu-vier-Sieg über West Heights…« Danach nannte er alle Ergebnisse der Spiele, die während des Spring Breaks stattgefunden hatten. »…die Baseballmannschaft von Osborne High tritt heute Abend um halb sechs im Eagles Stadion gegen Mason County an. [30] Die Jungentennismannschaft spielt um sechzehn Uhr in Irvine Southern gegen Irvine Southern. Erscheint zahlreich und unterstützt eure Eagles. Der Walzerkurs für den Abschlussball findet heute Abend zwischen sieben und halb neun in der Sporthalle statt.«

Ich fand es albern, dass auf dem Schulball etwas so Stilvolles wie Walzer getanzt werden sollte. Eigentlich wurde vor dem Ball Walzer getanzt, und zwar von den Vätern und Töchtern. Nach dem Walzer reichten die Väter ihre Töchter an deren Ballpartner weiter, die sich dann den restlichen Abend daranmachten, die jungen Damen zu den Klängen von Top-40-Pop rhythmisch zu malträtieren.

»Der Abschlussball des letzten Jahrgangs findet am Sonntag, dem ersten Mai, statt. Was bedeutet, dass Sie keine zwei Wochen mehr Zeit haben, um für sich und Ihre Begleitung Karten zu kaufen. Eintrittskarten gibt es für zehn Dollar pro Stück im Sekretariat. Und nicht vergessen, ohne Karte darf man den Ballsaal nicht betreten.«

Ich stellte mir ein in Tränen aufgelöstes Pärchen vor, für das die Welt untergeht, als es erfährt, dass es ohne Karten nicht zum Ball darf. Ich hatte schon beschlossen, nicht hinzugehen – aus zahlreichen vom Praktischen bis ins Philosophische reichenden Gründen –, auch wenn ich nichts dagegen gehabt hätte, Chloe zu begleiten.

»Außerdem, liebe Schüler, hat das Ballkomitee das Thema für Ihren Ball bekanntgegeben. Das Thema lautet ›Eine Nacht in Hollywood‹.«

Vor dem Spring Break hatten wir über das Thema des Abschlussballs abgestimmt. Anstatt eine der vorgeschlagenen Varianten zu wählen, hatte ich schriftlich »Begräbnis« [31] vorgeschlagen. Ich fand es lustig, ein großes Transparent zu machen, auf dem stand: »Alles stirbt. Sogar der Planet Erde.«

»Außerdem sind noch Karten für den Militärball des JROTC am kommenden Sonnabend erhältlich. Lehrkräfte, nicht vergessen, die Arbeitsberichte für Ihre Schüler müssen bis zum Donnerstag fertig sein. Und schließlich, die Theaterprobe für Hexenjagd in der Aula wurde von sechzehn Uhr dreißig auf fünfzehn Uhr dreißig vorverlegt. Das wäre erst einmal alles. Ich wünsche uns ein gutes restliches Schuljahr.«

Der Bildschirm wurde schwarz. »Ihr beruhigt euch jetzt alle, keine Widerrede!«, schrie Mr. Runnels. Alle lachten sich kaputt, weil niemand auch nur das geringste Geräusch gemacht hatte. Manchmal schien es, als wäre Mr. Runnels nur Lehrer geworden, um seine Schüler zu unterhalten. Eines Morgens kam er zum Unterricht und hatte sein Sakko verkehrt herum an, und als wir ihn darauf ansprachen, tat er so, als wisse er nicht, was wir meinten. Man hatte ihn auch dabei ertappt, wie er mit seinem Füllfederhalter redete, den er »Pepé« nannte. Wie ich gehört hatte, war er auf dem Basketballplatz viel ernster, doch das ging wohl nicht anders, weil ein Basketballspiel so eine ernste Angelegenheit war.

8.07  Im Fernseher lief jetzt Channel One News, eine speziell auf Schüler zugeschnittene, landesweit ausgestrahlte Nachrichtensendung. Offenbar hielt Mr. Runnels nicht sehr viel von dieser Sendung, da er uns erlaubte zu reden, während das Programm lief.

»Hallo«, sagte ein Reporter mit früh ergrautem Haar – [32] ein prima Look für einen jungen Mann –, »wir kommen zu den Nachrichten. Am Sonnabend wurden in Brixton im Süden Londons fünfzig Menschen verletzt, als in einer belebten Straße eine Nagelbombe explodierte…«

Normalerweise ging ich zu Beginn der Channel One News nach vorn und unterhielt mich mit Mr. Runnels, aber heute nicht. »Tyler, bist du wach?«

Tyler hob den Kopf und drehte sich um. »Was geht ab?«

»Ich hab mich gefragt, nur so aus Neugier, was ihr unten in Panama City gemacht habt?«

»Hauptsächlich Party.«

»Ihr habt also Tag und Nacht einfach gefeiert?«

»Na ja, tagsüber sind wir an den Strand gegangen oder haben irgendwas im Freien gemacht wie Bungeespringen oder Motorrollerfahren. Aber meistens haben wir am Strand gechillt.« Ich sah sonnenverbrannte Lenden mit sich schälender Haut vor mir. »Einmal waren wir Tauchen, mit Geräten.«

»Wie habt ihr denn Party gemacht?«

»Warum? Willst du uns bei der Drogenfahndung verpfeifen?«

»Nein. Ich bin nur neugierig. Wenn es dir unangenehm ist, musst du’s mir nicht sagen.«

»Na ja, hauptsächlich säuft und kifft man halt, aber hier und da hat vielleicht auch mal einer härteres Zeug dabei. Alles von – weiß auch nicht. Alles zwischen Acid und Opium. Die ganze Palette. Ich hab aber hauptsächlich gesoffen.«

Ich war bei Tyler gewesen, als er den ersten Alkohol seines Lebens getrunken hatte. Ich fragte mich, ob er sich [33] noch daran erinnerte. »Sag mal, weißt du noch, wie unsere Moms uns an der Bowlingbahn abgesetzt haben?«, fragte ich. »Da standen ein paar Bierflaschen rum, und in jeder war noch ein kleiner Bierrest –«

»Und wir haben sie genommen und alles in einen Becher gekippt, wussten aber nicht, dass wir bloß den Sabber anderer Leute gesammelt hatten?«

»Ja. Ich weiß noch, wie ich dachte: Deswegen machen Erwachsene so einen Aufstand?«

8.09  Tyler Wilkey war mein bester Freund aus Kindertagen. Jetzt teilten wir uns nur noch denselben Spind. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, würden wir nicht einmal das tun. Als man uns am ersten Schultag auf der Senior High die Spinde zuwies und Tyler und ich zu den Letzten gehörten, schrie Tyler quer durch das Zimmer Dre zu: »Dre! Du und ich!« Am liebsten hätte ich geheult oder ihn mit einem Bleistift Härtegrad zwei erstochen.

 Stattdessen hatten wir uns gegenseitig am Hals. Als Zwölftklässler hatte ich vergessen, wie es sich anfühlte, einen besten Freund zu haben.

Während wir uns unterhielten, lief in der Glotze ein Bericht über die Ausweitung der Bombardierung Belgrads durch die Vereinigten Staaten. Das war die große Neuigkeit von der Clinton-Regierung, jetzt wo sich der Sexskandal des Präsidenten allmählich totgelaufen hatte. Direkt anschließend wurde der moderne Klassiker »Gettin’ Jiggy Wit’ It« gespielt, während die Nachrichten von einem TV-Spot für ein Aknemittel abgelöst wurden. Genau wie zu Hause wurde die Lautstärke für die Werbung erhöht, mit [34] dem Unterschied, dass man hier nicht den Sender wechseln konnte. Vor Channel One gab’s kein Entkommen.

»Waren alle Leute von der Osborne im selben Komplex mit Ferienwohnungen untergebracht?«

»Nö. Einige waren im Hotel, weil’s billiger war. Aber viele Mädchen wohnten in den Apartments.«

»Und irgendwann abends seid ihr dann alle zu einer wüsten Orgie zusammengekommen, ja?«

»Ha! Er hat wüste Orgie gesagt. Na ja, schon, irgendwann nachts sind wir alle zusammen irgendwo gelandet und haben bei anderen gepennt. Von Orgien weiß ich nichts. Es konnte aber durchaus heftig werden.«

»Wie das?«

»Ich weiß nicht, ob du das überhaupt hören willst.«

»Warum denn nicht?«

»Ich weiß, dass du nicht gern die Sau rauslässt.«

»Hört auf, mit Sachen zu werfen!«, schrie Mr. Runnels, und diesmal meinte er es ernst. »Kommen Sie her, Winkler!«

»Aber er hat mich beworfen!«

»Was gab’s denn zu feiern?«, fragte ich Tyler.

»Hä?«

»Ich mach nicht gern Party, weil man einen Grund zum Feiern haben sollte. Und was in aller Welt gab’s denn da bloß zu feiern?« Tyler zuckte die Schultern. »Im Übrigen hab ich mehr Erwachsenenkram gesehen, als sich viele deiner Freunde überhaupt nur vorstellen könnten, also behandle mich bitte nicht wie ein Baby. Das tut weh.«

»Schon gut, James. Bleib cool.«

»Entschuldige. Was war denn so heftig daran?«

[35] »Na ja, wir sind halt in ’n Club, und da ist es dann total abgegangen. Und viele von uns – ich sag nicht, ich war dabei, denn ich will nicht, dass du’s deiner Mom erzählst, weil die’s dann meiner Mom weitererzählt, also machen nur andere solche Sachen, klar?«

»Du hast mein Wort.« Und das hatte er. Ich war stolz darauf, der einzige mir bekannte Mensch zu sein, der auch wirklich zu seinem Wort stand. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass ich damit ziemlich allein war. (Nur Chloe war auch so.)

»Is’ klar. Also, viele gehen in so ’n Club, baggern eine an, schleppen sie ab, ins Hotel oder in die Ferienwohnung der Mädchen oder in ein Auto oder was weiß ich, und den Rest kannst du dir denken. Jeden Abend eine andere. Und manchmal mehr als eine. Doch im Grunde geht’s nur darum, wer die meisten Chicks flachlegt.«

»Warum ist unsere Welt so schlecht?«, fragte ich und stellte mir die vielen lieblosen Penetrationen vor, verdrehte Augen unter einem Wust gegelter Haare, und meine Frage war nicht rhetorisch, doch Tyler lachte nur und sagte: »Du bist vielleicht ’ne Nummer, James!«

»Und wer hat gewonnen?«

»Hamilton Sweeney wahrscheinlich.«

Allein von dem Namen bekam ich Juckreiz. Hamilton Sweeney, eine zentrale Gestalt der Osborne-Hipsterelite, war der ungekrönte König aller Bumser. Das ganze Leben des ehemaligen Basketballspielers schien nur aus Reiz–Reaktion, Reiz–Reaktion zu bestehen. Für mich war er ein Affe mit haarigen Handflächen und einer Garderobe aus dem Einkaufszentrum.

[36] »Und was war mit den Mädchen? Waren die genauso drauf?«

»Und ob! Eines Abends sind wir Jungs wieder in den Club, und wieder haben wir den Laden gerockt –«

Ich unterbrach ihn, da ich mir nicht sämtliche fleischlichen Ausschweifungen seiner Jungs anhören wollte. »Hast du da unten Chloe Gummere gesehen?«

Tyler gab die denkbar schlimmste Antwort.

Er lachte, nickte langsam und sagte: »Jaaa. Ich hab Chloe da unten gesehen.«

8.12  Ich wartete, dass Tyler mit Details rüberkam, als der Reporter im Fernsehen sagte: »In Wyoming gibt es im Fall eines Hassverbrechens, nämlich der Ermordung von Matthew Shepard, neue Entwicklungen…«

»Du stehst auf sie, stimmt’s?«, fragte Tyler.

»Nein.«

»Ich hab euch im Kunstunterricht gesehen.«

»Ich hasse den Ausdruck.«

»Hä?«

»Stehst auf sie. Das klingt so… besitzergreifend.«

»Na schön. Du bist in sie verknallt.«

»Nein. So würde ich es auch nicht formulieren.«

»Wie würdest du es denn formulieren?«

»Ich würde sagen, ich bin ihr zugetan.«

»Du bist ihr zugetan

»Ja. Zwischen uns besteht eine wechselseitige Zuneigung. Sie ist da unten wohl echt wild geworden?«

Er nickte. »Chloe hat uns alle überrascht. Sie ist richtig aus sich herausgegangen.«

[37] »Was hat sie gemacht?«

»Nun, da unten in Panama City war sie echt zugetan.«

»Das ist nicht die korrekte – was meinst du damit genau?«

Mr. Runnels kam mit einer Sprühflasche und einem Wischlappen auf uns zu. »Aufstehen, Mr. Wilkey.«

»Warum?«

»Ich muss Ihr Pult saubermachen!« Das sagte er so laut, dass das Mädchen neben Tyler zusammenzuckte. Derweil lief im Fernsehen eine Deo-Werbung, die unterschwellig andeutete, niemand könne auch nur darauf hoffen, ohne Unterstützung dieses speziellen Produkts Geschlechtsverkehr zu haben.

Mr. Runnels hatte die fixe Idee, sein Klassenzimmer klinisch sauber zu halten. Vermutlich war es als Witz gemeint, doch für einen Witz verwandte er – meist am Freitag – eine Menge Energie darauf. Selbst wenn es nur ein Witz war, stellte ich mir gern vor, dass Mr. Runnels mit der Putzerei sagen wollte, auch wenn die Schule ein stinkender, schmutziger Ort war, könnte doch wenigstens dieser eine Raum sauber bleiben.

8.14  Nachdem Mr. Runnels mit seinem Lappen die glänzenden Tischbeine und das Büchergestell unter Tylers Tisch bearbeitet hatte, nickte er ihm zu und ging an sein Pult zurück. Tyler setzte sich wieder, und ich sagte: »Und?«

»Und… Wie gesagt, die Osborne-Clique ging in diesen Club, und wir übernahmen den Laden.«

»Na schön. Ihr legt also Wert auf gesellschaftliche Dominanz. Das wäre geklärt. Aber würdest du mir jetzt bitte von Chloe erzählen?«

[38] »Was mach ich denn gerade?«

»Entschuldige. Red weiter.«

»An dem Abend wurde es richtig heftig. Wohin man auch sah, nichts als knutschende Dreiergrüppchen. Es gab einen Wet-T-Shirt-Contest, doch irgendwann zogen alle die Titten blank und wurden begrapscht.«

»Hat Chloe dabei mitgemacht?«

»Nein, aber dazu komm ich noch. Von da an ist es immer mehr ausgeufert. Alle waren total außer Rand und Band, bis schließlich zwei oder drei Cliquen – die Osborne-Clique und noch welche aus Alabama oder Tennessee oder so, wir sind alle zurück in eine Ferienwohnung, und kaum waren wir da, auf dem – wie soll ich sagen –, auf dem Siedepunkt des Ganzen, ging Chloe in ein Schlafzimmer, und ein paar Typen haben mit ihr ’ne Fließbandnummer abgezogen.«

Der Bauch war da, wo er sein sollte, und ich spürte ihn überdeutlich. Meine Gedanken klumpten sich zu einer Murmel zusammen, die in meinem Bauch herumwirbelte. Jeder Zentimeter meines Körpers wurde ganz heiß, und sicher sah das ganze Klassenzimmer, wie die Schweißperlen aus meinem zweifellos roten Gesicht platzten.

»Fließbandnummer?«, wiederholte ich vorsichtig und zerrte unauffällig an meinem Hemdkragen. »Ist es das, was ich mir darunter vorstelle?«

»Jau. Einer nach dem anderen. Wie sich herausstellte, ist sie ein echtes Tier. Angeblich war sie zu dem Zeitpunkt echt zugedröhnt. Aber trotzdem…«

Ich überlegte, wie ich mich abkühlen konnte, mir wurde aber nur noch heißer. Ich hätte auf der Stelle kotzen können. Mir schossen mindestens fünfzehn Fragen durch den [39] Kopf, die ich Tyler stellen wollte. Stattdessen überlegte ich, ob ich nicht lieber auf die Toilette gehen sollte, um dort den Kopf unters kalte Wasser zu halten. Schließlich wechselte ich einfach das Thema. »Was sagst du dazu?«, sagte ich und deutete zum Bildschirm hoch.

»Eishockeylegende Wayne Gretzky hat am Sonntag sein letztes Spiel bestritten«, verkündete eine Stimme aus dem Fernseher, die Lichtjahre entfernt klang. »Der einzigartige Spieler verabschiedete sich von…«

Während alle hochsahen, wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Ich würde das durchstehen.

»Wie viele Typen?«, fragte ich mit unnatürlich fester Stimme.

»Weiß nicht genau. Drei oder vier vielleicht.«

Es war also nicht nur mir aufgefallen. Anscheinend war Chloe eine Art Eliza Doolittle, ein Mauerblümchen, das spät aufblüht und aus sich herausgeht. Und was wusste ich denn, vielleicht ging das schon eine ganze Weile so.

All das fühlte sich so unwirklich an, doch ich wusste, wie wirklich es war: Alle machten alles, als wäre es gar nichts. Es waren rasante Zeiten; die Leute machten solche Sachen tatsächlich. Weshalb sollte Chloe anders sein?

»Mit wem hat sie es getrieben?«

»Mit niemandem von der Osborne. Mit ’n paar Typen aus Tennessee, glaub ich.«

»Also mit Wildfremden

»Ja, aber so ist P.C.B. halt. Hey, in P.C.B. ist halt einfach alles erlaubt.«

Ich stellte es mir vor, und es war grauenhaft: Chloes Schenkel und diese Typen, ihr verkrampftes Gesicht und [40] diese Typen, deren Hemdschöße und sie, deren abstoßende Arschbacken und sie. Mir wurde bewusst, dass meine Atmung ganz flach geworden war. Ich hechelte nur noch. »Gesehen hast du wohl nichts, oder? Hast du denn Beweise, dass sie das wirklich gemacht hat?«

»Ich sag’s mal so, es wurde darüber geredet. Ich war zu der Zeit draußen auf dem Parkplatz, weil ich und meine Jungs in eine wüste Schlägerei mit ein paar Idioten aus Alabama verwickelt waren. Das war voll geil. Doch als ich danach in die Wohnung kam, haben die Leute über Chloe geredet. Es war irre. Ich hab sie immer für die Unschuld vom Lande gehalten. Sie hat echt die Sau rausgelassen.«

»Hört sich ganz so an.«

»Wir sagten: Meine Güte, Chloe!« Dann sagte er plötzlich besorgt: »Ey, Alter.«

Er blickte auf meine Hände. Ohne es zu merken, hatte ich mir in den letzten fünf Minuten so viel Haut vom Daumen gepult, dass er ganz blutig und lädiert war. Wenigstens konnte ich ihn noch bewegen.

8.16  Nachdem ich mein Taschentuch fest um den Daumen gewickelt hatte, fragte Tyler: »Du bist ihr also immer noch zugetan

»Ich weiß nicht. Jedenfalls sehe ich sie jetzt mit ganz anderen Augen. Aber bitte, Tyler, erzähl keinem von meinem Interesse an Chloe.«

»Okay.«

Kurz vor der Pause schlenderte Dre herein, was Tyler bewog, sich von mir abzuwenden. »Was geht ab, D-Dub?«, fragte er mit ebenso beiläufiger wie angespannter Stimme.

[41] »Was geht ab, Mann?«

Ich stellte fest, dass ich von seinem besten Freund aus Kindertagen zum seltsam gekleideten Typ mutiert war, der zwar noch nicht ganz am unteren Ende des gesellschaftlichen Totempfahls angelangt war, sich aber auch nicht so weit oben befand, dass man sich vor anderen mit ihm befassen sollte. Oder kurz und knapp gesagt: Ich war nur noch der Freak im Anzug. Das Jackett war reine Schurwolle, graubraunes Fischgrätenmuster, »Ludlow-Schnitt« (wie meine Mutter wegen der schlanken Taille und der schmalen Revers sagte). Dazu trug ich eine graue lange Hose, ein weißes Hemd, schwarze Glattlederschuhe und, zur Feier des Tages, eine schräggestreifte grauschwarze Krawatte. Die anderen waren meine Kluft inzwischen gewöhnt und verdrehten höchstens noch manchmal die Augen.

Tyler führte nun mit Dre ein einseitiges Gespräch über Autolautsprecher, zu dem ich unmöglich etwas beisteuern konnte, was mir Zeit ließ, über Chloes neue Karriere als Erotomanin nachzugrübeln. Dabei war ich genauso angewidert wie einige Wochen zuvor, als ich einen zusammengeknüllten Zettel mit einem blutverschmierten Pflaster drin vom Fußboden des Klassenzimmers aufgehoben hatte.

Um nicht zu kotzen, schob ich alle Gedanken an Chloe beiseite und konzentrierte mich auf das Gatorade Play of the Week auf Channel One, die beeindruckende Zurschaustellung physischer Kompetenz durch für diesen Zweck besonders ausgebildete Männer irgendwo in Amerika.