Agnes Sapper

Das erste Schuljahr

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066111458

Inhaltsverzeichnis


Erstes Kapitel. Was im Wochenblatt steht.
Zweites Kapitel. Der erste Schultag.
Drittes Kapitel. Der Hans.
Viertes Kapitel. »Es ist immer so!«
Fünftes Kapitel. Felix Acosta.
Sechstes Kapitel. Wo ist das Rohr?
Siebentes Kapitel. Gute Kameraden.
Achtes Kapitel. Es geht geheimnisvoll zu.
Neuntes Kapitel. Eine wichtige Neuigkeit.
Zehntes Kapitel. Der Abschied.
Elftes Kapitel. Aller Anfang ist schwer.
Zwölftes Kapitel. Ein böser Verdacht.
Dreizehntes Kapitel. Fräulein Treppners Hund.
Vierzehntes Kapitel. Belohnter Fleiß.
Fünfzehntes Kapitel. Die alte Heimat.

Erstes Kapitel.
Was im Wochenblatt steht.

Inhaltsverzeichnis

»Ei der tausend, da steht ja etwas im Wochenblatt, was mein Gretchen angeht!« sprach Herr Reinwald zu seiner kleinen Tochter, die neben ihm am Tisch saß und mit farbigen Würfeln spielte, während der Vater die Zeitung las.

»O Vater, du machst nur Spaß,« antwortete Gretchen und sah ungläubig, aber doch neugierig zum Vater auf.

»Nun hör einmal selbst, wenn du's nicht glaubst,« erwiderte der Vater, und langsam und deutlich las er vor:

»Am 1. März vormittags 11 Uhr sind diejenigen Kinder, die bis dahin das siebente Lebensjahr zurückgelegt haben, zur Schule anzumelden. Dies wird allen Eltern und Vormündern, insbesondere auch den Eltern von Gretchen Reinwald, zur Kenntnis gebracht.«

Mit größter Aufmerksamkeit hatte Gretchen zugehört und als ihr eigener Name kam, war sie dunkelrot geworden. Als aber der Vater die Zeitung weglegte, hatte er ein so eigentümliches Lächeln um den Mund, daß Gretchen dachte, am Ende sei doch alles nur Spaß – man wußte nämlich nie recht, wie man in solchen Dingen mit dem Vater daran war. Da mußte die Mutter zur Hilfe kommen.

Gretchen sprang hinaus in die Küche, wo die Mutter eben mit der Lene Beratung hielt, denn morgen war Fastnacht und da sollten Küchlein gebacken werden.

»Mutter, komm doch herein, aber schnell, bitte, es steht ja etwas im Wochenblatt von mir

»Von dir?« riefen die Mutter und Lene gleich sehr erstaunt.

»Ja, der Vater sagt's, o sieh doch auch in die Zeitung!« und Gretchen zog die Mutter ganz ungestüm ins Zimmer. Fragend sah die Mutter den Vater an, dieser reichte ihr lächelnd das Blatt und wies auf eine Stelle.

»Ja, ja, das geht freilich dich an,« sagte die Mutter, nachdem sie gelesen hatte, »am 1. März müssen wir dich zur Schule anmelden!«

»Nun, glaubst du's jetzt?« fragte der Vater. »Nicht wahr, da steht's deutlich: insbesondere auch den Eltern von Gretchen Reinwald.« Die Mutter lachte. »Unsern Namen kann ich gerade nicht sehen, aber jedenfalls gehört Gretchen Reinwald zu den Kindern, die da gemeint sind.«

»Gelt, Vater, ganz wahr ist's doch nicht gewesen, das hab' ich dir gleich angesehen!«

»Sieh, darum ist's gut, wenn du bald selbst lesen lernst, dann kann ich dich gar nimmer anführen.«

»Wann ist der 1. März?« wollte nun Gretchen wissen.

»Wenn noch zwei Wochen vorüber sind.«

Ganz nachdenklich räumte Gretchen die Würfel weg, mit denen sie gespielt hatte. Sie hatten auf einmal kein Interesse mehr für sie. Es kamen ihr ganz neue Gedanken. Wie würde es wohl in der Schule sein? Wenn nur die nächsten zwei Wochen schon vorbei wären. Sie erschienen aber unserm Gretchen ganz ungewöhnlich lang, doch endlich kam der Tag, an dem der Vater verkündigte: »Heute ist die Anmeldung!«

Es war ein ganz kleines Städtchen, in dem Herr Reinwald als Beamter mit seiner Familie lebte; aber es war doch eine große Anzahl Schulkinder, die an jenem 1. März den gleichen Gang mit Gretchen machten. Es gab eben nur eine einzige Schule und in dieser waren Knaben und Mädchen beisammen.

Das Schulhaus war ganz nahe bei Herrn Reinwalds Hause, und es kam Gretchen ganz sonderbar vor, daß sie Hut und Mantel anziehen sollte für die wenigen Schritte, die sie auf der Straße zu gehen hatte. Sprang sie doch sonst durchs ganze Städtchen, ohne etwas anzuziehen; aber die Mutter sagte: »Das ist ein wichtiger Gang, zu dem muß man sich auch ordentlich herrichten.« Und so ließ es Gretchen geduldig geschehen, daß Lene noch einmal mit der Bürste über den Mantel fuhr, der doch schon vorher ganz rein war, und die Stiefel fester schnürte, die doch nicht offen standen. Mit dem ersten Schlag 11 Uhr ging Gretchen mit der Mutter zum Haus hinaus und blieb ganz sittsam an ihrer Hand, obwohl die schönste Schleife neben der Straße herlief und fast unwiderstehlich zum Schleifen einlud. Mit dem elften Schlag standen sie schon vor dem Schulhaus.

»Sieh, Mutter, da kommt unsere Wäscherin mit ihrer Marie, die wird heute auch angemeldet, und den Franz von unserm Holzhacker habe ich schon vorhin hineingehen sehen. Das ist mir so recht, daß ich so viele gute Bekannte treffe.«

Gretchen stieg nun mit der Mutter die Schultreppe hinauf, und als sie oben ankamen, trat der Holzhacker mit seinem Franz schon wieder zur Türe heraus. Im Vorbeigehen sagte der Franz leise zu Gretchen: »Ich bin schon angemeldet, aber du noch nicht,« und Gretchen fand es ganz natürlich, daß Franz jetzt stolz auf sie herabblicke.

In dem großen Schulzimmer, in das sie nun eintraten, stand am Katheder ein älterer Mann. Gretchen wußte schon: das war Herr Baumann, der Schullehrer. Neben ihm saß an einem Tischchen ein junger Mann und schrieb. Herr Baumann grüßte Gretchens Mutter. Er kannte sie wohl.

»So, so, Ihre Kleine kommt auch schon an die Reihe,« sagte er und streckte Gretchen freundlich seine große Hand hin, in der ihre kleine Hand ganz verschwand.

»Wie heißt du denn?« fragte er.

»Gretchen,« antwortete sie.

Nun wandte er sich an den jungen Mann.

»Schreiben Sie: Margarete Reinwald.«

»Weißt du auch, wann du geboren bist?«

»An meinem Geburtstag,« antwortete Gretchen.

»Den weiß ich eben nicht, das ist der Fehler!« sagte der alte Herr freundlich. Die Mutter aber, die bemerkte, daß schon mehrere Väter und Mütter mit ihren Kindern warteten, beeilte sich nun, das Nötige anzugeben. Als sie fertig waren, sagte der junge Mann zu Gretchen: »Am 10. April morgens um 9 Uhr hast du zum erstenmal zu mir zu kommen.«

Daran merkte Gretchen, daß dies der Lehrer für die Kleinen war. Herr Stein war sein Name. Als sie eben weggingen, trat ein kleiner Bursche vor in einem recht verflickten Jäckchen. Er kam ganz allein, während doch alle andern Kinder von Vater oder Mutter begleitet waren.

»Sieh doch, Mutter, der kommt ganz allein,« flüsterte Gretchen. Die Mutter bemerkte den Kleinen nun auch. Er war ärmlich gekleidet, sah aber kräftig und rotbackig aus und blickte mit großen blauen Augen treuherzig um sich.

»Wer bist du?« fragte ihn der Lehrer.

»Des Schäfers Hans,« war die Antwort.

»Warum ist niemand mit dir gekommen?«

Hans antwortete nicht, aber er zog ein zerknittertes Blättchen aus seinem Wams und reichte es dem Lehrer. Dieser studierte eine Weile daran und sagte dann:

»Ich will's gelten lassen. Daß du mir aber am 10. April in die Schule kommst! Sonst geht's schlecht.«

»Ich komm' schon,« antwortete der Kleine zuversichtlich, und trabte ganz wohlgemut wieder zur Türe hinaus.

Als Gretchen mit der Mutter die Treppe hinunterging, begegnete sie der Frau Apotheker. Die führte eben ihre kleine Emilie herauf.

»Sieh, sieh,« sagte die Frau Apotheker erfreut, »da kommt ja Gretchen schon herunter und sieht ganz vergnügt aus. Meine Emilie hat so Angst,« sagte sie zu Frau Reinwald, »sie ist ein gar schüchternes Dinglein; ich will nur sehen, wie es ihr in der Schule geht.«

»Es wird sich bald machen,« tröstete Frau Reinwald, und Gretchen flüsterte der Kleinen zu:

»Darfst keine Angst haben, man darf gleich wieder fort.« Die Kleine ging aber doch mit Herzklopfen hinauf, während Gretchen gar fröhlich die Treppe heruntersprang, der Mutter Hand losließ und sich wieder sorglos auf ihrer Schleife tummelte – bis jetzt war ja alles so gut gegangen!


Zweites Kapitel.
Der erste Schultag.

Inhaltsverzeichnis

Gretchen lehnte an der Haustüre und sah der Lene zu, die eben die messingene Türschnalle schön blank putzte.

»Morgen ist Ostern und wenn dann noch ein Sonntag vorbei ist, geht die Schule an; weißt du das auch schon, Lene?« fragte Gretchen.

»Daß morgen Ostern ist, kann ich wohl merken, denn deswegen hab' ich so viel zu putzen, und daß du dann in die Schule kommst, ist mir schon recht, dann bist du doch aufgehoben und mir nicht immer im Weg.«

Gretchen merkte, daß Lene wieder in ihrer Samstagsstimmung war; da ließ sich nie gut mit ihr plaudern. So ging sie vors Haus, um sich nach besserer Unterhaltung umzuschauen. Da erblickte sie den Vater, der eben heimkam, und sprang ihm vergnügt entgegen.

»Vater, hast du auch schon dran gedacht, daß morgen Ostern ist und ich schon so bald in die Schule komme?«

»Ja, ja,« sagte der Vater freundlich, »ich habe es schon dem Osterhasen gesagt, damit er auch passende Ostereier für mein Schulkind legt.«

»Passen denn die gewöhnlichen Ostereier nicht?«

»Natürlich nicht; den Kindern, die in die Schule kommen, legt er viereckige Eier. Hast du das noch nicht gewußt?«

»Nein, und ich glaub's auch nicht,« sagte Gretchen. Vater und Tochter waren inzwischen miteinander ins Haus gegangen und fanden die Mutter im Wohnzimmer, wo sie eben die frischgewaschenen Vorhänge an den Fenstern aufgemacht hatte. Alles sah dort schon rein und festtäglich aus. Gretchen war nun sehr begierig auf ihre Ostereier und als am Ostersonntag die Eltern aus der Kirche heimkamen, sprang sie ihnen voll Erwartung entgegen.

»Wo legt der Has?« fragte sie, »im Garten?«

»Nein, da ist alles noch naß vom Regen.«

»Also im Zimmer. Soll ich gleich draußen bleiben?«

»Meinetwegen,« sagte der Vater und ging mit der Mutter hinein, während sich Gretchen in der Küche umschaute. Lene schälte gerade Kartoffeln zum Salat; sie sah heute auch festtäglich aus mit ihrer frischen weißen Kochschürze, und daß sie guter Laune war, durfte Gretchen gleich erfahren, denn sie bekam einen frischen Kartoffelschnitz. Sie hatte ihn kaum verzehrt, als ihr auch die Mutter schon rief und nun fing Gretchen an, nach ihrem Hasen zu suchen. Als sie den Deckel vom Holzkasten aufschlug, der neben dem Ofen stand, sah sie etwas darin – viereckig und groß: ein wunderschöner Schulranzen war es, mit dunkelgrünem Plüsch überzogen und silbern glänzten daraus hervor die zwei Anfangsbuchstaben von Gretchens Namen. Ganz entzückt nahm Gretchen den Ranzen heraus, lief jubelnd damit auf die Eltern zu und dankte ihnen. Unter dem Ranzen war eine Tafel und ein Federkästchen gelegen.

»Die will ich gleich in den Ranzen packen,« sagte Gretchen und machte ihn auf; er war aber ganz angefüllt mit Moos und in diesem steckten allerhand Häschen und Eier.

Das war nun ein glücklicher Ostertag für Gretchen und als nach Tisch die Sonne so schön schien, huckelte sie ihren Ranzen auf und ging ganz stolz mit ihm im Garten hin und her spazieren.

Durch den Zaun bemerkte sie bald einen kleinen Buben, der neugierig hereinsah, und als sie näher trat, merkte sie, daß es ein künftiger Schulkamerad von ihr war, nämlich des Schäfers Hans, der bei der Anmeldung ganz allein gekommen war.

»Hast du auch schon einen Ranzen?« fragte ihn Gretchen.

»Den alten von meinem Bruder,« antwortete der Hans.

»Und einen Federkasten?« Der Hans schüttelte den Kopf.

»Ich hab' heut einen bekommen und auch Eier und Hasen. Du auch?«

Der Hans schüttelte wieder nur den Kopf.

»Legt bei dir der Has so spät?«

»Er legt gar nicht.«

»Gar nicht?« wiederholte Gretchen erstaunt und sah den Hans ganz mitleidig an.

»O dann bekommst du von meinen Eiern! Wart nur, ich komme gleich wieder!« Und hinauf sprang sie so eilig, wie wenn zu fürchten wäre, daß der Hans ihr durchginge, und der dachte doch gar nicht daran. Er hätte wohl noch eine Stunde gewartet. Droben in einem Körbchen lagen Gretchens Eier und Hasen. Sie nahm davon in ihr Schürzchen, ohne lang zu wählen, und sprang wieder hinunter in den Garten. Durch den Zaun reichte sie nun dem Hans ein Stück nach dem andern und der Hans schob alles ein, bis die Taschen in seinem Wams und in seinen Hosen ganz eckig herausstanden. Sein ganzes Gesicht strahlte vor Vergnügen, als er mit seinen Schätzen heimging. So ein reiches Ostern hatte er wohl noch nie erlebt! Gretchen aber sprang wieder lustig im Garten herum, wo schon die ersten Veilchen blühten, und jubelte vor sich hin: »In die Schul', in die Schul', ich hab' ja schon den Ranzen!«

Am Abend bemerkte die Mutter die große Lücke in Gretchens Hasenkorb und erfuhr auf ihre Fragen, wohin alles gekommen war.

»Du hättest mich vorher fragen sollen,« sagte sie zu Gretchen.

»Ist dir's denn nicht recht, daß ich dem Schäferhans etwas gegeben habe?«

»O ja, ich gönne es ihm, er ist gewiß ein armer Tropf; aber du sollst mich immer vorher fragen, ehe du etwas hergibst.«

»Ja, das will ich,« sagte Gretchen und nun nahm sie ihren schönen Ranzen und ordnete ihn wieder; er wurde aber noch so manchesmal aus- und eingepackt, bis endlich der große Tag gekommen war, der erste Schultag.

Gretchen saß mit den Eltern beim Frühstück.

»Nun bin ich nur begierig, was du uns heute Mittag alles erzählen kannst,« sagte die Mutter, »wie es dir gefallen hat und neben wem du sitzst.«

»Neben wem ich sitze, das habe ich mir schon ausgedacht,« antwortete Gretchen, »ich setze mich ganz vornhin auf die erste Bank und neben mich muß auf die eine Seite Apothekers Emilie und auf die andere Seite der Schäfer-Hans.«

»Ja,« sagte der Vater, »so wird's; sowie du in die Schule kommst, sagt der Lehrer: ›Bitte, Fräulein Gretchen, suchen Sie sich den besten Platz aus und befehlen Sie, wer neben Ihnen sitzen soll.‹« Gretchen verstand gleich, was der Vater meinte.

»Darf man sich denn nicht hinsetzen, wo man will?« fragte sie.

»Nein, mein Kind,« sagte der Vater, und er sah nun ganz ernst aus: »In der Schule darf man weder sitzen noch stehen, weder kommen noch gehen, wie man will, sondern man muß sich immerfort und in allem nach dem Lehrer richten. Merke du dir das recht, dann wirst du eine glückliche Schulzeit haben; und nun muß ich fort; leb' wohl, mein Schulkind.«

Der Vater ging und auch die Mutter verließ das Zimmer. Gretchen war ganz ernst geworden; die Worte des Vaters gefielen ihr nur halb. Schon eine gute Weile stand sie nachdenklich am Fenster, dann ertönte Glockengeläute von der Kirche und Lene kam herein.

»Gretchen, bist du fertig? es läutet schon.«

In dem Städtchen Föhrenheim, in dem die Familie Reinwald lebte, ist es Sitte, daß die Kinder, ehe sie zum erstenmal in die Schule gehen, von ihren Eltern in die Kirche geführt werden, und so machte sich nun auch Frau Reinwald mit Gretchen auf den Weg. Lene sah ihnen vom Fenster aus nach und sagte vor sich hin: »Es ist ein großes Kind, unser Gretchen, und ein schönes Kind und ein gescheites Kind; es werden nicht viele solche in die Schule kommen. Gewiß wird sie die Erste.« Mit diesem stolzen Gefühl verließ Lene das Fenster.

In der Kirche sammelten sich nach und nach die kleinen Knaben und Mädchen mit ihren Vätern oder Müttern. Auch der Schäfer-Hans war diesmal nicht allein, ein altes Großmütterchen begleitete ihn.

Nun sprach der Pfarrer gar freundlich und herzlich zu den Kindern. Gretchen horchte aufmerksam zu und verstand alles, was er sagte.

Zum Schluß wurde noch ein Lied gesungen, ein Gebet gesprochen, dann verließen die Kinder das Gotteshaus und wurden wieder von Vater oder Mutter geleitet, aber nur noch bis zur Türe des Schulhauses. Dort trennten sich die Eltern von den Kindern und die Treppe hinauf ging's nun schon allein.

Gretchen hatte keine Angst: sie sprang lustig hinauf mit der ganzen Schar der neuen Schulkameraden und bald wuselte alles unruhig durcheinander in dem großen Schulzimmer. Der alte Lehrer war auch da und sprach noch ein paar Worte mit dem jungen Lehrer. Dann verließ er das Zimmer. Herr Stein nahm nun ein Lineal und klopfte mit diesem so stark auf den Katheder, daß alle Kinder erschraken und es plötzlich ganz stille wurde im Zimmer.

»Nun wird eines nach dem andern beim Namen gerufen und wer gerufen wird, kommt zu mir her; die andern aber sind ganz stille,« befahl Herr Stein und rief sofort den ersten Namen: »Franz Abenheim«.

Des Holzhackers Franz trat vor.

»Sieh, du wirst der Erste, weil dein Name mit A anfängt; wir wollen sehen, wie lange du auf dem ersten Platz bleibst!« Jetzt kam der Berger und so ging's fort, bis alle Knaben ihren Platz hatten und nur der Schäfer-Hans noch dastand. Nun rief der Lehrer: »Johannes Zaiserling«. Da trat der Schäfer-Hans vor und setzte sich an den letzten leeren Platz. Das konnte Gretchen nicht mitansehen.

»Der heißt ja gar nicht so,« sagte sie, »der heißt Schäfer-Hans.« Sie wußte nicht, daß der Vater des Hans ein Schäfer war, aber Zaiserling hieß. Der Lehrer lachte, aber er drohte dabei mit dem Finger und mahnte: »Warte du, bis du gefragt wirst,« und der Schäfer-Hans kam auf den letzten Platz. Nun kam die Reihe an die Mädchen. Eine Bank nach der andern füllte sich und immer stand unser Gretchen noch außen. Ihr Gesichtchen wurde immer länger und trübseliger, denn sie fand es gar nicht nett, daß sie so weit hinten sitzen sollte. Nun war nur noch die letzte Bank frei. Da ertönte endlich der Ruf: »Margarete Reinwald«. Der Lehrer führte sie selbst an ihren Platz und sagte freundlich zu ihr: »Nur munter, du wirst bald weiter hinaufkommen.«

Neben sie kam Luise Seiz zu sitzen, ein ärmlich gekleidetes Mädchen, und nachdem noch drei weitere Mädchen ihren Platz in der letzten Bank gefunden hatten, waren alle Bänke voll und alle Kinder aufgehoben.

»Wißt ihr jetzt alle eure Plätze?« fragte der Lehrer und alle Kinder riefen zumal: »Ja«; aber es klang bei vielen nicht wie »Ja«, sondern wie »Jo«.

»In der Schule sagt man nicht ›Jo‹, da sagt man ›Ja‹; ruft alle: ›Ja‹.« Nun klang das »Ja« schon besser, aber dem Lehrer noch nicht schön genug.

»Noch einmal ›Ja‹,« und nun riefen alle, so hell sie nur konnten: »Ja«.

»So, jetzt habt ihr schon etwas gelernt,« sagte der Lehrer, »und nun schlägt's auch schon 10 Uhr, jetzt dürft ihr alle eine Viertelstunde hinunterspringen und euer Brot essen, und wenn es Viertel schlägt, kommt ihr wieder herauf und jedes setzt sich an seinen Platz.«

Lustig stürmte die Schar der Kleinen hinaus und hinunter auf den freien Platz vor dem Schulhaus. Die meisten Kinder hatten ein Stück Brot bei sich. Gretchen aber, die keines mitgebracht hatte, wußte sich schon zu helfen: sie wohnte ja so nahe. Sie sprang nur nach Hause.

»Schon wieder da?« fragte Lene ganz verwundert, als Gretchen heraufstürmte und »Ja, kommst du schon wieder?« rief ebenso erstaunt die Mutter, denn sie hatte schon Gretchens Schritte auf der Treppe erkannt.

»Ja, ich möchte mir nur schnell ein Stück Brot holen, ich muß gleich wieder fort,« rief Gretchen, die von dem raschen Lauf noch ganz atemlos war. Lene brachte schnell den Brotlaib herbei, die Mutter schnitt ein Stück herunter, Gretchen nahm es, rannte wieder davon und rief noch von der Treppe herauf: »Heut Mittag erzähl' ich alles, es ist wunderschön in der Schule!« und fort war sie wie der Sausewind. Die Mutter aber lachte und sagte zu Lene:

»Nun, der Anfang ist wenigstens nicht zu streng, wenn jetzt schon Freiviertelstunde ist!« und sie ging ins Zimmer, setzte sich an den Nähtisch und dachte: »Wie still ist's doch, wenn das Kind nicht da ist« und Lene, die eben »Flädle« zur Suppe backte, legte eines beiseite und sagte sich: »Das muß ich doch unserm Schulkind aufheben.«

Mit dem Schlag Viertel fanden sich die kleinen Abc-Schützen wieder in ihrem Schulzimmer ein. Die meisten Kinder fanden gar schnell ihr Plätzchen wieder, nur einzelne kannten sich nicht gleich aus und unter diesen war auch Apothekers kleine, ängstliche Emilie. Als Gretchen schon am Platz saß, stand das schüchterne Kind noch zweifelnd da, seine Augen füllten sich mit Tränen und es sah ratlos umher. Schnell begriff Gretchen Emiliens Verlegenheit. Sie sprang noch einmal auf und wollte auf Emilie zugehen. Der Lehrer aber sah dies, klopfte mit dem Lineal auf den Pult und rief laut: »Jedes bleibt an seinem Platz.«

»Ich gehe gleich wieder hinein,« antwortete Gretchen ungeniert, huschte schnell zu Emilie hin und führte sie an ihre Bank. Der Lehrer hatte begriffen, warum Gretchen nicht augenblicklich folgte, und ließ sie gewähren; die kleine Emilie faßte aber von diesem Tag an ein großes Zutrauen zu Gretchen und wandte sich in allen Nöten an sie.

Die Kinder mußten nun ihre Tafeln nehmen und gerade Striche machen lernen; dies war schon eine ernste Arbeit und sie hatte vielleicht eine Viertelstunde gedauert, als mitten unter den Knaben sich einer erhob, seine Tafel in den Ranzen schob und sich anschickte, die Schule zu verlassen.

»Wohin, wohin?« fragte der Lehrer erstaunt und alle Kinder sahen auf den Kleinen. Es war Artur, der Sohn des Doktors.

»Ich gehe jetzt heim,« erklärte der Kleine.

»Halt,« sprach der Lehrer, »so geht das nicht, jetzt ist die Schule noch nicht aus.«

Aber Artur ließ sich nicht so schnelle irre machen.

»Meine Mama hat gesagt, ich soll mich nicht so lang aufhalten,« erwiderte er und ging fest auf die Türe zu. Ehe er sich's aber versah, war der Lehrer neben ihm, hob ihn mitsamt seinem Ranzen hoch in die Luft und über die Köpfe der andern hinweg wieder an seinen Platz.

»So,« sagte der Lehrer, »da bleibst du jetzt, bis alle gehen. Deine Mama hat wohl nur gemeint, du sollst dich auf dem Heimweg nicht lange aufhalten. Frage sie nur, ob man aus der Schule laufen darf, wann's einem beliebt.«

So mußte denn der kleine Artur noch einmal seine Tafel auspacken und standhalten, bis nach einer weiteren halben Stunde der Lehrer verkündigte: »Jetzt ist die Schule aus und heute nachmittag machen wir einen Spaziergang miteinander und suchen Schlüsselblumen auf der Wiese!«

Unter lautem Jubel verließ nun die ganze Schar das Schulhaus und in die verschiedensten Häuser des Städtchens wurde nun die fröhliche Kunde von dem versprochenen Spaziergang gebracht. Am Abend aber standen in allen Häusern der kleinen Schulkinder größere oder kleinere Sträuße von Schlüsselblumen; nur unser Gretchen war mit leeren Händen heimgekommen.

»Hast du denn keine Blumen gefunden?« fragte die Mutter.

»O ja, doch, aber ich habe die meinigen den andern Kindern geschenkt.«

»Aber warum denn, sie haben doch gewiß selbst welche gefunden?«

»O freilich, manche haben ganze große Büsche, aber ich habe ihnen die meinigen noch dazugegeben. Ich möchte nur immer alles verschenken!«

»Hör, Gretchen, du bist eine kleine Verschwenderin. Wenn die andern selbst haben, was sie brauchen, so mußt du deine Sachen nicht an sie verschleudern.«

»O Mama, du schenkst doch auch so oft etwas den Armen, warum darf ich's denn nicht tun?«

»Weil du noch nicht weißt, wo es nottut zu geben und was die Armen brauchen. Sei du nur sonst immer recht gut gegen die armen Kinder, und wenn du siehst, an was es ihnen fehlt, dann erzähle mir's nur immer; soweit wir können, wollen wir ihnen helfen.«

»Und darf ich ihnen dann etwas schenken?«

»Gewiß; aber nie ungefragt; nicht wahr? Merke dir das.«

Gretchen versprach es. Aber im nächsten Augenblick hatte sie es wieder vergessen über dem vielen, was sie heute erlebt und zu erzählen hatte. Die Mutter mußte natürlich alles wissen und dann kam die Lene an die Reihe. Die hatte in der Küche eine kleine Wäsche zu waschen, das war gar geschickt, da mußte sie so fest an ihrem Waschzuber bleiben und alles geduldig anhören. Sie tat's aber auch heute ganz gerne. Dann, als der Vater zum Abendessen kam, fand Gretchen noch einmal einen freundlichen Zuhörer. Ja, als es ½8 Uhr war und die Mutter, wie jeden Abend, mahnte: »Kind, es ist Zeit ins Bett zu gehen,« sagte der Vater ganz leise zu Gretchen: