Der neue Landdoktor – 47 – Mia sät Zwietracht

Der neue Landdoktor
– 47–

Mia sät Zwietracht

Was ein verängstigtes Mädchen anrichtete

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-972-6

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»Wohin geht die nächste Tour?«, wollte Emilia wissen, als Markus mit dem in Alufolie verpackten Essen aus der Küche des Biergartens kam.

Sie hatte am Eingang der Brauerei Schwartz auf ihn gewartet und half ihm, das Essen in der Styroporbox zu verstauen, die auf dem Gepäckträger seines Mopeds befestigt war. Zweimal in der Woche übernahm Markus Mittner in den frühen Abendstunden die Fahrten für den Lieferdienst des Biergartens, um sich ein bisschen Geld zu verdienen.

»Die Bestellung geht in die Ferienhaussiedlung«, sagte der Junge, der sein blondes langes Haar zu einem Zopf gebunden hatte, damit der Fahrtwind es ihm nicht ins Gesicht blies.

»Bestimmt eine Familie mit kleinen Kindern, die noch nichts für Knödel und Braten übrig haben. Die Eltern bringen ihren Nachwuchs ins Bett und gönnen sich dann ein Abendessen, für das sie nicht erst stundenlang in der Küche stehen müssen.«

»Was gut für den Biergarten ist und demzufolge auch für mich«, entgegnete Markus lächelnd, während er seinen Helm aufsetzte. »Seit mein Vater den neuen Mähdrescher und die Melkmaschine angeschafft hat, gibt es auf unserem Hof ja nicht mehr so viel für mich zu tun.«

»Was du auch eurer Adoptivoma zu verdanken hast.«

»Ich weiß, dass ich nicht mehr so oft auf meine Geschwister aufpassen muss, das ist echt unbezahlbar.« Die Zwillinge Senta und Benjamin waren mit ihren sechs Jahren schon ziemlich selbstständig und ließen sich nur ungern etwas von ihm sagen. Die endlosen Diskussionen, wenn er die Verantwortung für sie hatte, waren manchmal ziemlich anstrengend.

»Obwohl, eigentlich finde ich es ganz lustig, wenn wir mal auf Bastian aufpassen. Weißt du noch, neulich, als wir ihn in seinem Buggy am Hotel Sonnenblick vorbeigeschoben haben und dieses freundliche ältere Ehepaar uns für eine junge Familie gehalten hat«, erinnerte Emilia ihn kichernd an dieses Erlebnis mit dem Nesthäkchen der Familie Mittner.

»Die waren vermutlich stark kurzsichtig. Als Eltern gehen wir wohl noch nicht durch.«

»In manchen Ländern gibt es Ehen zwischen vierzehnjährigen Mädchen und sechzehnjährigen Jungen.«

»Wollen wir heimlich heiraten, oder soll ich zuerst mit deinem Vater sprechen?«

»Schon gut, anderes Thema«, entgegnete Emilia lachend.

»Aber das mit Pia ist schon wahr, ohne sie hätte ich weitaus weniger Freizeit. Ich bin deinem Vater echt dankbar, dass er auf diese Idee mit der Adoptivgroßmutter kam.«

»Papa weiß eben, wer wem helfen kann«, antwortete das Mädchen und setzte seinen Helm auf, der in dem gleichen knalligen Rot leuchtete wie der von Markus.

Pia Mechler hatte sich nach dem Tod ihres Mannes einsam gefühlt. Sie hatte keine Kinder und keine nahen Verwandten.

Auf dem Mittnerhof war gerade das vierte Kind auf die Welt gekommen, und es gab keine Großeltern mehr, die sich mit um die Kinder und den Hof kümmern konnten. Sebastian Seefelds Idee, Pia könnte diese Lücke ausfüllen, hatte sich als glückliche Fügung für beide Seiten erwiesen.

»Dein Vater hat eben ein gutes Gespür für Menschen, auch was ihre seelischen Probleme betrifft, deshalb ist eure Praxis auch immer voll«, sagte Markus.

»Das war sie auch schon bei Opa, als Papa und ich noch in Kanada waren.«

»Schon, aber …«

»Aber?«, hakte Emilia nach, als Markus innehielt.

»Mir gefällt es so besser.«

»Was genau gefällt dir besser?«, fragte Emilia mit einem spitzbübischen Lächeln und sah den Jungen mit ihren hellen grauen Augen abwartend an.

»Mir gefällt, dass du jetzt hier bist«, antwortete Markus und stieg auf den Fahrersitz des Mopeds.

»Mir gefällt es, dass wir uns begegnet sind. Nur der Grund, warum Papa und ich hier sind, der gefällt mir nicht. Der gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Ich weiß, Emi«, sagte Markus leise. Er streichelte über die Hände des Mädchens, das sich auf den Sozius setzte und seine Arme um ihn legte, um sich während der Fahrt an ihm festzuhalten.

»Fahr los«, forderte Emilia den Jungen auf und lehnte ihren Kopf an seinen Rücken, als er den Motor des Mopeds anließ. Sie vermisste ihre Mutter, und es verging kein Tag, an dem sie nicht an sie dachte. Sie würde niemals vergessen, wie ihr Vater sie damals angesehen hatte, als er ihr sagen musste, dass ihre Mutter einen Autounfall hatte und dabei ums Leben gekommen war. Diese tiefe Traurigkeit, die auch sie empfand, hatte sie beide miteinander verbunden, und diese Verbundenheit hatte ihnen die Kraft gegeben, sich gegenseitig zu trösten und trotz ihrer Trauer wieder Freude empfinden zu können. Mittlerweile zweifelte sie nicht mehr daran, dass es richtig war, dem Vorschlag ihres Vaters zuzustimmen, Kanada zu verlassen und nach Bergmoosbach zu gehen. Sie hatte ein wundervolles Zuhause und sie hatte neue Freunde gefunden. Und ich bin Markus begegnet, dachte sie, und dieser Gedanke ließ sie wieder lächeln.

Die Ferienhaussiedlung lag von hohen Birken umgeben am Rande des Waldes, der Bergmoosbach von seiner Nachbargemeinde Mainingberg trenn­te. Die acht Bungalows mit ihren hübschen Holzfenstern und gefliesten Terrassen waren mit einer großen Wohnküche, drei kleinen Schlafzimmern und einem gemütlichen Bad ausgestattet. Sie waren kreisförmig um eine Rasenfläche mit Spielplatz gruppiert, die sich auch als Liegewiese und zum Aufstellen von Planschbecken eignete. Die Bungalows waren bei Familien mit jüngeren Kindern besonders beliebt und auch an verlängerten Wochenenden fast immer ausgebucht. An diesem Abend war es aber schon recht kühl. Weder auf den Terrassen noch auf dem Spielplatz war jemand zu sehen. Auch die Bewohner des Hauses mit der Nummer 7, die das Essen im Biergarten bestellt hatten, waren wohl schon ins Haus gegangen.

»Das ist merkwürdig«, stellte Markus fest, nachdem er zweimal an der Eingangstür geläutet hatte und niemand öffnete. Er spähte vorsichtig durch das kleine Fenster neben der Kiefernholztür. Bis auf die Regenjacken, die die Bewohner an die Garderobe in der Diele gehängt hatten, konnte er nichts erkennen.

»Hast du schön öfter vor verschlossener Tür gestanden?«, fragte Emilia, die inzwischen auch ihren Helm abgenommen hatte und ihn genau wie Markus an den Lenker des Mopeds hängte.

»Nein, bisher ist mir das noch nicht passiert. Normalerweise werde ich von den Leuten bereits sehnsüchtig erwartet, und sie kommen gleich zur Tür.« Markus drückte erneut auf die Klingel. Aber es rührte sich auch jetzt niemand.

»Ich gehe mal ums Haus herum, vielleicht sehe ich jemanden«, sagte Emilia.

»Okay, und ich rufe im Biergarten an. Sie notieren sich die Telefonnummern, wenn jemand eine Bestellung aufgibt. Sie könnten nachfragen, was das hier soll.« Markus zog sein Handy aus der Jeanstasche und rief die eingespeicherte Nummer des Biergartens auf.

»Hallo, hier ist Markus, es gibt ein Problem in der Ferienhaussiedlung«, hörte Emilia ihn sagen, als sie sich auf den Weg zur Rückseite des Hauses machte.

Sie öffnete die weiße Lederjacke, die sie zu ihrer schwarzen Jeans trug, und ordnete ihr langes kastanienfarbenes Haar, das vom Tragen des Helms zerzaust war. Schließlich wollte sie niemanden mit ihrem Anblick erschrecken. »Hallo, ist jemand da?!«, rief sie, als sie sah, dass die Terrassentür nur angelehnt war.

Als sie keine Antwort erhielt, schob sie die Tür vorsichtig auf. Im Zimmer war niemand zu sehen. Auf der einen Seite stand ein großes Ecksofa, auf dem eine ordentlich gefaltete Wolldecke lag. Auf der anderen Seite war die offene Küche aus hellem Kiefernholz, und davor stand der Esstisch mit vier Stühlen. Emilia schloss aus den drei Tellern und den Gläsern auf dem Tisch, dass das Abendessen erwartet wurde. Aber wo waren die Bewohner des Hauses? Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich ein Handy läuten hörte.

»Das ist vermutlich der Anruf vom Biergarten«, flüsterte Markus, der ihr gefolgt war und nun hinter ihr stand.

»Wollen wir nachsehen?«

»Bleib du hier an der Tür, ich gehe rein.« Markus schob das Mädchen sanft zur Seite und betrat das Wohnzimmer. »Da liegt jemand!«, rief er gleich darauf. Er stellte das eingepackte Essen auf dem Sofatisch ab und lief ins Badezimmer, dessen Tür offenstand.

»Was ist denn hier passiert?« Emilia kam gleich zu ihm und schaute erschrocken auf die junge Frau, die zwischen Waschbecken und Dusche auf dem mit Terrakotta gefliesten Boden lag. Sie trug einen langen orangefarbenen Rock und einen leichten weißen Pulli. Eine Haarspange aus Perlmutt lag unter dem Waschbecken. »Hallo, können Sie mich hören?« Emilia hockte sich neben die Frau auf den Boden, umfasste ihr linkes Handgelenk und ertastete den Puls.

»Und?«, fragte Markus.

»Ihr Herz schlägt ziemlich langsam. Möglicherweise ist ihr Kreislauf im Keller. Geht es wieder?«, erkundigte sich Emilia, als die Frau die Augen aufschlug.

»Meine Haarspange ist mir runtergefallen. Ich habe mich gebückt, und als ich mich wieder aufrichten wollte, wurde mir plötzlich schwindlig, und ich bin weggesackt«, antwortete die Frau leise.

»Sie könnten sich verletzt haben. Machen Sie langsam«, bat Emilia, als die Frau aufstehen wollte, sich aber gleich wieder hinsetzte.

»Vermutlich habe ich mir den Kopf gestoßen. Er tut ganz schön weh«, sagte sie und lehnte sich mit dem Rücken an die geflieste Wand.

»Dann sollten Sie sich erst einmal nicht mehr bewegen. Ich werde meinen Vater bitten herzukommen. Er ist Arzt«, fügte Emilia hinzu, als die Frau sie verwundert anschaute.

»Ich weiß nicht, ob das wirklich nötig ist. Es wird mir sicher gleich besser gehen.«

»Mein Vater ist wirklich super nett und quält seine Patienten niemals. Sie können sich ihm bedenkenlos anvertrauen«, versicherte ihr Emilia lächelnd. Sie stand auf, fischte ihr Handy aus der Jackentasche und rief ihren Vater an.

»Was ist los, Spatz?«, meldete sich Sebastian.

»Papa, komm bitte in die Ferienhaussiedlung zum Haus Nr. 7. Markus und ich haben gerade eine junge Frau gefunden. Ihr war schwindlig und sie ist gestürzt.«

»Ich bin gleich da.«

»Danke.«

»Was macht ihr eigentlich hier?«, wollte die junge Frau wissen, nachdem Emilia ihr Telefonat beendet hatte.

»Wir bringen Ihnen das Essen, das Sie im Biergarten bestellt haben«, sagte Markus. »Da Sie auf unser Klingeln nicht reagiert haben, wollten wir nachsehen, ob etwas nicht stimmt. Ich bin Markus Mittner, und das ist meine Freundin Emilia Seefeld.«

»Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Ela Westhof«, stellte sie sich den beiden vor. »Ich habe das Klingeln nur ganz aus der Ferne gehört. Tut mir wirklich leid, dass ich euch diese Unannehmlichkeiten bereite. Aber ich danke euch, dass ihr nachgesehen habt, sonst würde ich vielleicht noch immer auf dem Boden liegen.«

»Wird Ihnen häufiger schwindlig?«, fragte Emilia.

»In den letzten Tagen hatte ich häufiger so ein merkwürdiges Gefühl, und mir war auch übel. Wenn ich etwas trinke, geht es aber meistens wieder. Vielleicht trinke ich einfach nur zu wenig.«

»Gutes Stichwort. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.« Markus lief in die Küche und kam gleich darauf mit einem Glas kaltem Wasser zurück.

»Danke, Markus.« Ela nahm das Glas und trank das Wasser in kleinen Schlucken.

»Ich habe den gedeckten Tisch gesehen. Wo sind denn die anderen, die mit Ihnen hier sind?«, wollte Emilia wissen.

»Mein Verlobter und seine Tochter sind mit den Rädern unterwegs. Ich denke, dass sie bald zurück sein werden.«

»Das ist bestimmt mein Vater.« Emilia sprang auf und lief in die Diele, als es an der Haustür läutete.

»Wo ist sie?«, fragte Sebastian, als er mit seiner Arzttasche in der Hand das Haus betrat.

»Im Badezimmer«, sagte Emilia und ging voraus.

»Dir und Markus geht es gut?«, wollte Sebastian wissen.

»Ja, Papa, alles in Ordnung«, versicherte Emilia ihm. »Frau Westhof, das ist mein Vater, Doktor Seefeld. Er wird sich um Sie kümmern«, sagte sie, als Sebastian das Badezimmer betrat. »Wir warten draußen. Komm.« Sie nahm Markus an die Hand und zog ihn mit sich auf die Terrasse hinaus.

»Wie fühlen Sie sich im Moment?«, fragte Sebastian, als er mit Ela allein war.

»Mein Kopf brummt ein bisschen, aber ansonsten geht es ganz gut. Es ist mir unangenehm, dass ich Ihren Feierabend störe, aber Ihre Tochter hat sich nicht davon abbringen lassen, Sie anzurufen«, entgegnete Ela. Der gut aussehende junge Arzt, der sie mit seinen hellen grauen Augen mitfühlend anschaute, hatte sicher Besseres zu tun, als sich in seiner Freizeit um ungeschickte Touristinnen zu kümmern.

»Es war gut, dass Emilia mich gerufen hat. Ich würde Sie gern mit in meine Praxis nehmen«, sagte Sebastian, nachdem er Ela untersucht hatte.

»Halten Sie das wirklich für nötig?«

»Ich möchte ungern etwas übersehen, was zu späteren Komplikationen führen könnte.«

»Also gut, dann komme ich mit«, erklärte sich Ela einverstanden. Wenn er sich schon herbemüht hatte, dann wollte sie seinen Rat auch annehmen.

»Markus, würdest du mir bitte helfen, Frau Westhof zu meinem Auto zu bringen?!«, rief Sebastian, als er aus dem Badezimmer herausschaute und den Jungen auf der Terrasse stehen sah.

»Sicher, Doktor Seefeld«, sagte Markus und war gleich bei ihm.

Gemeinsam halfen sie Ela vom Boden auf und stützten sie auf dem Weg zu Sebastians Geländewagen, den er direkt vor der Haustür geparkt hatte.

»Kommst du mit nach Hause?«, fragte Sebastian seine Tochter, nachdem Ela sich auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatte und er auf der Fahrerseite einstieg.

»Ich wollte Markus zur Bandprobe in den Rathauskeller begleiten.«

»Stimmt, der Jugendabend am Freitag.«

»Stell dir vor, es gibt kaum noch Karten im Vorverkauf«, erzählte Emilia ihrem Vater voller Stolz.

»Davon war auszugehen. Du bist mit einem bekannten Musiker befreundet, Schatz.«