Cover
eigen.jpg

Piper-SF_Logo-mit-Slogan.tif

Übersetzung aus dem Englischen von Simon Weinert

ISBN 978-3-492-97811-8
© Andrew Bannister 2017
Titel der englischen Originalausgabe: »Iron Gods« bei
Transworld Publishers, The Random House Group Limited,
London 2017
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Miriam Verlinden, Guter Punkt, unter
Verwendung von Motiven von Thinkstock und shutterstock
Datenkonvertierung: psb, Berlin

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

Für Lara – für alles

1

Der Spin

Achtundachtzig Planeten und einundzwanzig Sonnen, allesamt Artefakte bis zum letzten Partikel.

Vor mehr als zehntausend Jahren wurde ein Pakt geschlossen. Mit ihm begann, was die Menschen das Zeitalter der Stabilität nannten, und es hielt auch dann noch an, als der Pakt bereits in Vergessenheit geraten war.

Aber nicht von allen. Einige wenige erinnerten sich – doch sie hatten vergessen, woran sie sich erinnerten.

Aber wir haben uns erinnert.

2

Dreiviertelringhafen

Belbis war elf Jahre alt gewesen, als er den Langen Marsch zum ersten Mal gegangen war. Er hatte fast drei größere Monde dafür gebraucht, und in den ersten einundzwanzig Tagen hatten seine Beine vom Aufstehen bis zum Abend gezittert und geschmerzt. Sieben Jahre später war er um einiges kräftiger geworden. Nun würde er kaum mehr als einen größeren Mond brauchen – bei seiner Ankunft wäre er trotzdem erschöpft.

Er ging gleichmäßig, mit den kurzen, kraftsparenden Schritten, mit denen man in seinem Volk aufwuchs, sobald man gehen konnte. Gehen war wichtig, und es musste richtig gegangen werden. In jüngeren Jahren hatte Belbis es so ernst betrieben, dass seine Lehrer schier verzweifelt waren.

Andrerseits betrieb Belbis alles mit großem Ernst. Denn wie sollte man es sonst tun? Die Aufgaben waren dafür da, ernst genommen zu werden. Wie sonst sollten sie erledigt werden? Die meisten anderen schienen das nicht zu begreifen, doch das kümmerte Belbis nicht, denn er wusste ganz genau, dass er wiederum die meisten anderen nicht verstand. Darauf hatten er und seine Lehrer sich immerhin einigen können. Deshalb hatte es auch keinen Zweifel gegeben, welchen Weg er im Leben einschlagen sollte. Alle, er selbst eingeschlossen, waren darüber erleichtert. Außerdem war der letzte Maler des Rings im vorigen Winter gestorben, und die Prediger waren der ehernen Überzeugung, dass ihnen nur eine begrenzte Zeit der Gnade zustand, um einen neuen zu finden. Deshalb war Belbis der Sonderbare ganz schnell und ohne Widerstand zu Belbis dem Maler geworden. Beinahe erleichtert legte er die graue Kutte eines Novizen an – des niedrigsten Rangs im Orden. Allerdings war es auch der höchste, der einem Maler zustand. Schlichte Gewissheiten passten Belbis gut.

Der Verlauf des Langen Marschs war nicht kompliziert. Aus Tradition begann er an der äußersten Stelle des längsten Landungsstegs von Ringhafen. Von dort ging es an Land, vorbei an den Slipanlagen mit ihren lebhaften Gerüchen von Teer und menschlichen Abfällen, vorbei an den Seilerbahnen und Öllagern und vorbei an den Flenshöfen, in denen wertvolle große Finnwalbullen mit klingenbewehrten Spaten zerteilt wurden. Die Überreste troffen an den glitschigen Eingeweiderampen hinunter und landeten wieder im Hafen, wo weniger edle Tiere mit offenen Mäulern warteten. Diese niederen Tiere wurden ihrerseits zur Beute von Kreaturen, die in der gesellschaftlichen Rangordnung noch tiefer standen. Die Hungernden, Kranken und Alten standen mit Keulen und Stecken über ihnen und lauerten auf eine günstige Gelegenheit. Warst du zu krank oder zu alt, um Fische zu fangen, hatte Ringhafen weder Verwendung noch Nahrungsmittel für dich.

Belbis mochte keine starken Gerüche. Den ersten Teil des Marschs brachte er eilig mit gesenktem Blick und zugespressten Lippen hinter sich, um keine Gotteslästerung zu begehen und sich zu übergeben.

Nach den Flenshöfen wich die Route dem Haus des Hafenfeldwebels aus, das wieder anders roch, nämlich nach Gebratenem, nach Rauch, der aus dem Kamin aufstieg, und nach Strunkbräu. Und das war angenehmer. Wenigstens größtenteils angenehmer. Den Teil, der an den großen Wohnhäusern am oberen Ende der Gründerwiese vorbeiführte, mochte Belbis nicht. Hier hatten die Reichen ihre Stadthäuser, große Hallen aus gewaltigen Balken, die auf niedrigen Mauern aus vermörteltem Schiefer ruhten. Die Reichsten hatten auch Dächer aus Schiefer – statt aus Reet oder Torf –, und der Rauch aus ihren Kaminen roch nicht nach Seetang, sondern nach Dufthölzern. Sie mochten so gut riechen, wie sie wollten, doch Belbis hatte das Unsagbare festgestellt, dass nämlich Familien, je reicher sie waren, desto agnostischer wurden. Freilich niemals offen atheistisch, denn das wäre selbstmörderisch gewesen. Und doch blieb es für Belbis höchst verwunderlich, welch große Zweifel man haben konnte, ohne tatsächlich als Ungläubiger zu gelten. Vor allem dann, wenn man reich war.

Seine Verwunderung bewahrte ihn nicht vor Spott und gelegentlichen Steinwürfen. Doch denen konnte er ausweichen. Derlei war schon immer Teil seines Lebens gewesen. Vermutlich würde das auch so bleiben. Der Orden war unbeliebt, und man hatte ihm erzählt, dass die Priesterschaft allgemein gehasst wurde, vor allem in Zeiten, in denen die Fischerei schlechte Erträge brachte. Allerdings begaben sich die Prediger niemals auf Fischfang.

Hinter Gründerwiese führte der Lange Marsch an dem großen öffentlichen Park von Gründerfeld vorbei, knickte ab, wo der Park schmaler wird und um Endort herumläuft. Dort fanden jede Woche einige Verurteilte den Tod durch die Axt des Abfertigers. Verbrecher natürlich, Verräter und auch solche, die zwar weniger zweifelten als die Bewohner der großen Häuser in Gründerwiese, aber auch weniger reich waren.

Der Abfertiger trug eine nachtschwarze Kutte und kam in der Hierarchie damit unmittelbar nach den zehn höchsten Klerikern. Unter den Stadtbewohnern hatte Belbis munkeln hören, dass man auf Schwarz keine Blutflecken sah, aber das war nicht der wahre Grund. Dem Abfertiger unterstanden andere, die sich um das Blut kümmerten, ob auf den Kutten oder anderswo.

Der Kanal von Endort wand sich in die Stadt hinunter, ohne die wohlhabendsten Viertel zu berühren, bis er im Hafen in die Eingeweiderampen mündete. Belbis hatte gehört, dass dem Blut eine Substanz beigefügt wurde, damit es flüssig blieb. Er kannte sich nicht aus, aber die Vermutung leuchtete ihm ein. So etwas war möglich, wie er aufgrund seines eigenen Berufs wusste. Schließlich war es nicht wünschenswert, dass die Kanäle verstopften.

Endort markierte den Stadtrand. Danach verlief der Marsch vorbei an Privatgrundstücken und Ackerland, bis er von den Küstenebenen, die Stadt und Hafen ernährten, aufstieg und sich den Bergen zuwandte. Von Tag zu Tag zog sich die Landschaft ringsum enger zusammen, breite Täler wurden zu schmalen Felsspalten, durch die oft kalte Flüsse rauschten. Nacht für Nacht schlief er, wie man es ihm beigebracht hatte – ausgestreckt unter seinem Mantel, die Wange auf dem Arm abgelegt und die Augen von den Sternen abgewandt. Die Sterne würde er erst wieder sehen, wenn seine Reise zu Ende war. Kein Maler sah vorher zu den Sternen auf.

Gegen Ende des Marschs bekam er stets großen Hunger. Unten in den Ebenen gab es Beeren und gelegentlich auch größere Früchte. Die Tradition gestattete es dem Maler, zehn Schritt links und rechts des Marschs nach Nahrung zu suchen, und die älteren Bauern pflanzten manchmal Büsche innerhalb dieses Bereichs und sahen mit einem Kopfnicken zu, wie ein Maler die Früchte pflückte. Doch je weiter er sich von dem fruchtbaren Land entfernte, desto weniger Essbares fand er. So musste er sich mit dem Gebackenen begnügen, das er in seinem kleinen Beutel mit sich trug. Das reichte nicht, aber es sollte auch nicht reichen. Man sagte, der Maler solle am Wachhaus mit großen Augen und dünnem Blut ankommen.

Belbis erreichte das Wachhaus am dritten Tag vor der vollen Dunkelheit des letzten größeren Mondes des Jahres. Dies war eine Glück verheißende Zeit. Der Himmel war klar, schwarz vom Frost, und die Sterne leuchteten hell.

Das Wachhaus thronte auf einem schmalen Gipfel an der höchsten Stelle der Wirbelsäule, die ihren Namen der Tatsache verdankte, dass sie sich in einer schwach geschwungenen S-Form wie eine Missbildung durch den Kontinent zog. Das Haus war aus Holz gefertigt, eine ramponierte Burg, die wie ein Keil über die Bergspitze aufragte und sich mit mächtigen, groben Stämmen auf dem grauen Fels abstützte. Es besaß nur einen Zugang, einen schwankenden, ungeschützten Holzsteg, der an einem Felsvorsprung endete. Dieser war gerade groß genug, dass man allein darauf stehen konnte, wenn man den Rücken gegen die Felswand presste.

Der Steg – für sich schon eine spirituelle Herausforderung – war zwanzig Schritt lang. Am anderen Ende warteten die drei Haushälter, verschwommen und grau im Licht der Sterne. Sie trugen keine Laternen. Aus Rücksicht auf die Bedürfnisse des Malers blieb das Wachhaus nachts in völliger Dunkelheit, und das galt auch für die Haushälter. Beim Näherkommen erkannte Belbis ihre leeren Augenhöhlen, tiefere Schatten im Grau. Bei ihrem ersten Anblick hatte ihn ein Schauer erfasst.

Maler wurden in jungen Jahren erwählt, Haushälter jedoch schon bei der Geburt.

Belbis verneigte sich vor den Haushältern, wie er es auch in den letzten sieben Jahren getan hatte. Mit den geschärften Sinnen derer, die schon ihr Leben lang blind waren, spürten sie seine Verneigung. Stets fragte er sich, wie sie dies vermochten. Durch die Luftbewegungen? Durch das Rascheln seiner Kutte? Jedenfalls verneigten sie sich ihrerseits, traten zur Seite und luden ihn mit einer Handbewegung ins Wachhaus ein.

Seine Füße kannten den Weg. Er erklomm Stufen, stieg dann weiter hinauf über schmalere Treppen zur Dachkammer des Malers. Die Bank war leer bis auf die beiden Antimonschalen, groß wie seine Handteller. Die übrigen Werkzeuge brachte er selbst mit. Er öffnete seinen Beutel, entnahm ihm die Lederrolle und breitete sie zwischen den beiden Schalen auf der Bank aus. Eins nach dem anderen kamen die Werkzeuge zum Vorschein: die Federn mit ihren unterschiedlich großen Spitzen, von dünn bis breit. Die Pinsel und die anderen Utensilien. Und die Verbände.

Er zögerte einen Augenblick lang, bevor er eine der Glasscherben auswählte. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, hob die Kutte, um den Oberschenkel zu entblößen, und nahm einen raschen Schnitt vor.

Dunkle, beerenförmige Blutstropfen quollen hervor. Er legte die Scherbe zurück auf das Leder, nahm eine der Schalen und drückte ihren Rand ein Stück unterhalb des Schnitts gegen den Schenkel. Am Boden der Schale lief das Rinnsal langsam zusammen.

Belbis wartete, bis sich eine zwei Finger breite Pfütze gebildet hatte. Dann stellte er die Schale auf den Tisch und drückte den Verband auf den Schnitt. Es brannte, und er kniff die Augen zusammen. So zählte er auf zehn, um dem Adstringens Zeit zu geben, den Schnitt zu verschließen. Dann griff er zu einer feinen Profilfeder, tunkte sie in die Schale und hielt sie über das Blatt Papier. Dann erst streckte er den anderen Arm aus, um an der Kordel zu ziehen, mit der die Mondläden zu öffnen waren.

Einen Moment lang starrte er mit großen Augen hinaus. Dann schrie er.

Zum ersten Mal in seinem Leben, zum ersten Mal in fünfhundert Jahren wies der Himmel die falsche Anzahl von Göttern auf.

Sein Schrei rief die Haushälter herbei. Erst stammelte er wirr und deutete auf den Streifen Himmel, den er durch die Mondläden sah, doch sie schüttelten die Köpfe und wiesen auf ihre leeren Augenhöhlen. Daraufhin erklärte er es ihnen.

Die alten Männer berieten sich. Dann winkten sie Belbis mit grimmigen Mienen, er möge ihnen folgen. Sie führten ihn unzählige Treppen hinunter, die er kaum wahrgenommen hatte, in einen Teil des Wachhauses, den er noch nie zuvor betreten hatte. Es war eine Kammer, die aus dem Berggipfel herausgemeißelt worden sein musste, denn anders als der Rest des Hauses bestand sie nicht aus Holz, sondern aus Stein, so trocken und staubig wie jahrhundertealte Leichen. Mitten in der Kammer erhob sich eine einzelne schwarze Säule, die einer senkrecht angebrachten, mit der Mündung nach oben weisenden hüfthohen Kanone glich.

Der älteste der Haushälter fuhr mit der Hand über die Mündung. Dann wich er zurück.

Eine Weile geschah nichts. Dann zuckte Belbis zusammen. Aus dem Nichts erklang eine leise Stimme. Zwar hatte sie einen fremdartigen Akzent, doch die Worte waren klar verständlich. »Zündung aktiviert«, sagte sie. »Bitte räumen Sie das Areal!«

Belbis musterte die Haushälter. Sie hatten sich bei den Händen gefasst und bildeten einen Kreis um die Säule. »Das Ding will, dass wir gehen«, sagte er. »Aber wohin?«

Der Älteste antwortete, ohne sich Belbis zuzuwenden. »Geh, so weit du kannst!« Dann presste er die Lippen fest aufeinander.

Belbis drehte sich um und rannte los. Als er den äußeren Steg erreichte, blitzte hinter ihm geräuschlos das Licht auf.

Unten in den Ebenen sahen die Menschen nach oben und wunderten sich über den grellen grünen Strahl, der in den Himmel stach.

3

Hohe Umlaufbahn von Wabenwelt, Spin-Innenseite

Es war spät, und Seldyans Nase und Mund waren wie ausgetrocknet von dem allgegenwärtigen aggressiven Staub. Sie presste Luft durch die Nase und spürte im Gesicht den warmen Atem, der durch die brüchigen Dichtungen ihrer Filtermaske austrat.

Eigentlich hätte ihr das Sorgen machen sollen, aber an diesem Abend war es ihr gleichgültig. Blinzelnd sah sie sich im Nebel um. Vor ihr bewegte Hufsza, der in der engen Röhre die Schultern eingezogen hatte, die Saugerdüse über die Schachtoberfläche. Sie arbeiteten in Paaren. Kott und Lyste waren außer Sichtweite in einem anderen Schacht. Doch manchmal hörte sie beim Reinigen ein Kratzen und Klappern. Von Merish war nichts zu sehen, doch das war gut so. Von ihm sollte nichts zu sehen sein. Noch nicht.

Zentimeter für Zentimeter erkämpften sie sich einen Weg durch die linke Windung des hinteren Zweigs der Kohlendioxid-Hauptsammelleitung. Wäre sie in Betrieb gewesen, wären sie rückwärts hinausgepustet worden in die eine Milliarde Kubikmeter große Halle der größten Biomasseanlage des Spin – in einen gigantischen, abgeschlossenen Wald in seinem eigenen Weltraumwürfel. Vorher aber wären sie im Kohlendioxid erstickt, das das Wachstum beförderte.

Leider erhöhte das Kohlendioxid nicht nur das Biomassewachstum, sondern gab auch einem ganzen Ökosystem aus Schimmeln und Pilzen Nahrung, von denen einige nur in dieser Mikrosphäre vorkamen. Mindestens eine der Schimmelarten lebte parasitär von einer Kombination aus zwei anderen Schimmelarten, und fast alle sonderten Sporen ab, die sich zu rußigen, körnigen schwarzen Klumpen ballten. In den Ecken sammelten sich diese Klumpen an, bildeten Krusten, die die Filter verstopften, und zerstoben in Wolken von Staub, der sich überall verteilte.

Die Reinigungsarbeiten waren entsetzlich hart und mussten regelmäßig von Hand durchgeführt werden, von Helfern mit Saugern und Drahtbürsten, ohne Rechte und ohne Wahl.

Auf dem Papier stand wahrscheinlich Wabentechniker, doch alle nannten sie nur Schachtaffen. Zwei Teams aus je zwei Personen krochen mit verkrampften, schmerzenden Gliedern durch Hitze und Staub, und ein Einweiser hielt am Eingang Wache. Zwei Personen kratzten das schwarze Zeug mit Drahtbürsten ab und saugten es mit den nörgelnden Saugern auf, bis ihnen der Rücken wehtat, die Knie schmerzten und bis die Handflächen wund waren. Und falls sie ihr Tagessoll nicht erreichten, würden sie bestraft werden.

Seldyan schüttelte sich. An diesem Tag ging es nicht ans Sterben, und sie musste sich konzentrieren. Sie rückte die Maske zurecht und spähte durch den Staub an Hufsza vorbei. In dem Einerlei der Schächte war es schwierig, Distanzen abzuschätzen, aber sie waren doch bestimmt bald dort, oder? Sollten sie die Stelle verpasst haben, bekämen sie keine zweite Chance. Oder wenn die Stelle ausgebessert worden wäre. Oder wenn …

Sie streckte den Arm aus und klopfte Hufsza auf den Fuß. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er über die Schulter zu ihr zurück. Sie nickte und deutete nach vorn.

Einige Meter vor ihnen wies die Metalloberfläche eine zusätzliche Fuge auf. Und ein Meter dahinter war eine weitere zu erkennen.

Seldyan spürte die Maske über die Wangen scheuern, als sie lächelte. Es war noch da.

Eine Bewegung vor ihr verriet ihr, dass Hufsza es auch gesehen hatte. Er setzte sich auf die Fersen, bis sein Kopf die Schachtdecke streifte, und schaltete den Sauger aus.

Es wurde still. Zweimal schlug Seldyan kräftig auf das Blech. Das Echo dröhnte und erstarb. Sie lauschte angestrengt. Kaum zu hören, drang ihr das Geräusch eines Saugers ans Ohr. Jetzt wurde er abgeschaltet. Und dann, viel lauter, zwei Schläge.

Alle waren in Stellung. Oder vielmehr – beide Zweierteams waren in Stellung. Sie konnte nur hoffen, dass Merish es auch war. Sie schlug ein weiteres Mal auf das Blech, bevor sie die Augen schloss und stumm zählte. Sie kam bis fünf.

Bumm.

Noch bevor sie das tiefe, matte Geräusch hörte, spürte sie es schon im Metall des Schachts vibrieren. Als es verklang, stob ein viereckiger Staubring durch die Röhre auf sie zu. Sie nickte vor sich hin. Merish war im Einsatz.

Dann erklang ein elektrisches Summen, und es roch unangenehm verkohlt. Erst glühten die zwei Fugen schwach rot auf und durchliefen dann das Spektrum bis zu einem grellen Weißgelb. Ein ein Meter langes Stück Metallröhre fiel heraus.

Der geheime, von niemandem bemerkte Ausgang stand offen.

Seldyan holte tief Luft. »Geh!«, sagte sie, doch die Aufforderung war nicht nötig, denn Hufsza hatte sich bereits vorgeschoben. Er ließ sich durch die Lücke fallen und verschwand.

Seldyan robbte zum Rand der Lücke. Sie hatte sich gefragt, ob sie zögern würde, wenn sie es so weit geschafft hätte. Sie zögerte nicht. Das Schlimmste, was sie erwartete, wenn sie Hufsza folgte, war ein schneller Tod. Das Beste, was sie sich einhandeln würde, wenn sie blieb, war ein langsamer Tod.

Sie schloss die Augen und stieß sich ab.

Sie fiel wie ein Stein.

Niemand in der Wabe sprach offen von Flucht. Von Überleben war jedoch auch keine Rede. Trotzdem dachten alle ständig daran.

Wabe, eigentlich WAB, stand für WertArbeit zu Bestpreisen. Wabenleute betrachteten dies als bitterbösen Witz.

Die Wabe war die größte Zwangsarbeiterkolonie des Spin. Sie war das wirtschaftliche Herz der Innenseite, ein Stadtstaat innerhalb eines Staats im Weltraum. Die etwa eine Million umfassende Einwohnerschaft war angeheuert, um jede nur denkbare Arbeit für jedermann zu erledigen. Es war Sklaverei in mehr als industriellem Ausmaß, und Seldyan hatte nie etwas anderes gekannt.

Ihr wurde flau von der Beschleunigung, und ihr Körper bestürmte sie, die Augen zu öffnen, mit den Armen zu rudern, sich zu retten. Doch es gelang ihr, nicht darauf zu achten, sich so klein wie möglich zusammenzukauern und die Augen geschlossen zu halten. Im Moment war es für sie das Einfachste und Beste, in gerader Linie zu fallen.

Sollte Merish etwas übersehen haben, würden die internen Überwachungsaufnahmen des Würfels zeigen, wie vier verzweifelte Entflohene in den sicheren Tod stürzten. Eine gerade Linie war der einzige garantierte Weg, die Aufnahme Lügen zu strafen. Käme sie mehr als hundert Meter von der Bahn ab, wäre sie Grütze.

Nun, ziemlich garantiert wenigstens. In der dicken, feuchten Atmosphäre des Würfels sollte ihre Geschwindigkeit am Ende nicht allzu hoch sein, hatte Merish behauptet, doch sie erschien ihr hoch genug. Sie spürte, wie sie sich überschlug, und ein Wind, der sich anfühlte wie etwas Festes, prügelte auf sie ein. Die Versuchung, die Augen zu öffnen, war fast unerträglich, doch sie hatte sich darauf trainiert, unter allen Umständen zu widerstehen.

Dann wurde sie von etwas getroffen, und es fühlte sich an, als würde sie von einer Nebelschwade gepeitscht.

Sie stieß einen erleichterten Schrei aus, denn sie war in gerader Linie gefallen und auf den Federpalmen gelandet.

Mit ihrem öligen Saft sorgten die Federpalmen fast für die Hälfte aller Pflanzenfette, die auf der Innenseite verbraucht wurden. Jeder Baum war über hundert Meter hoch. Ihre Wurzeln waren flach, und um das auszugleichen und den starken Winden auf ihrem Heimatplaneten standzuhalten, rückten sie so eng zusammen, dass ihre Stämme sich fast berührten. Selbst hier in dieser kontrollierten Umwelt waren sie in einem Sechseckmuster in einem Abstand von einem Meter voneinander gepflanzt worden. Zum Glück war es noch keinem Gentechnologen gelungen, ihre weichen, dichten und verschwenderisch dicken Blätterdächer wegzudesignen.

Weich war bei ihrer Geschwindigkeit Ansichtssache, dick ließ sich jedoch nicht leugnen. Selbst zusammengekauert, wie sie war, wurde Seldyan ein paarmal so heftig herumgeworfen, dass sie fürchtete, ihr würden sämtliche Gelenke ausgekugelt. Hätte sie die Glieder ausgestreckt, wären sie mit Sicherheit abgetrennt worden. Aber ihr Fall wurde abgebremst, und schließlich fühlte sie sich in der Lage, die Augen zu öffnen und aktiv zu werden.

Zweige peitschten an ihr vorbei. Sie griff nach einem der Äste, doch er glitt ihr aus der Hand und fetzte ihr ein Stück Haut weg. Dennoch wurde sie immer langsamer, und am nächsten Ast konnte sie sich tatsächlich festhalten. Sie atmete schwer, ihre Hand schmerzte, und der widerlich ölige Geruch der Palmen stieg ihr in die Nase. Ein breites Lächeln sprengte ihr förmlich das Gesicht.

Sie wartete, bis sich ihr Atem halbwegs beruhigt hatte. Schließlich hangelte sie sich durch das restliche Blätterdach nach unten, bis sie an einem einzelnen Ast zum Stamm gelangte. Dieser war glatt und schlank genug, dass sie ihn mit den Armen umschlingen konnte. Ungefähr dreißig Meter ließ sie sich daran hinabgleiten, bis er zu dick wurde. Dann machte sie eine Bestandsaufnahme. Die Palmen standen tatsächlich dicht beieinander. Wenn sie das Bein genau so ausstreckte, konnte sie sich am Nachbarbaum abstützen. Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihrer Palme, stemmte sich mit den Schultern dagegen und schob sich Stück für Stück nach unten, ohne auf die Schmerzen im Rücken zu achten.

Sie hatte den Boden schon fast erreicht, als ihr Fuß an einer öligen Stelle abglitt.

»Verdammter Mist!« Bevor sie sich zügeln konnte, war ihr der gellende Schrei entfahren. Sie landete mit dem Rücken auf einer Ansammlung von Wurzeln, und der Aufprall raubte ihr die Luft. Eine Weile blieb sie japsend liegen. Doch als die Krämpfe in ihrem Zwerchfell nachließen, rollte sie sich herum und nahm eine kauernde Haltung ein. Im trüben Licht erkannte sie nichts als Bäume und hörte nichts als eine undurchdringliche, hölzerne Stille.

Sie wagte nicht aufzustehen, denn der Waldboden war kein echter Boden. Um wenigstens eine gewisse Stabilität zu erreichen, wucherten die Wurzeln der Bäume am Boden entlang, und durch den enormen Durst schrumpften die Böden. Dadurch verwandelte sich das Gelände in ein einziges Hindernis aus Wurzelknoten, auf dem herabgefallene Äste herumlagen, die noch tückischer waren als die Wurzeln selbst. Der nächste Teil ihres Plans musste unbedingt aufgehen. Andernfalls würde man sie in einigen Jahren genau an dieser Stelle finden, tot wie ein Stein und nach Baumöl riechend.

Vorsichtig sah sie sich in dem Zweigdickicht um und suchte nach einem stabil wirkenden Ast, der ungefähr halb so lang war wie sie selbst. Sie fand ihn, hob ihn auf, holte aus und schlug damit so fest wie möglich gegen den Stamm, an dem sie vor Kurzem herabgerutscht war.

Hier unten war die elektronische Kommunikation aus demselben Grund ausgefallen wie in der Schachtwelt. Klopfzeichen waren jedoch kein Problem.

Der Baum tönte wie ein Musikinstrument.

Sie lauschte, während das Geräusch verklang. Lange musste sie nicht warten. Fast im selben Moment erschallten drei Antworten. Sie nickte. Alle waren in Sicherheit.

Der nächste Teil lag an Merish. So wie der letzte, doch Seldyan hatte kein schlechtes Gewissen. Auf sie und die anderen drei wartete später noch eine bedeutende Aufgabe. Wenn sie es bis später schafften.

Außerdem kannte sie sich selbst gut genug, und ein schlechtes Gewissen war nicht eben ihre Stärke.

Sie unternahm größte Anstrengungen, um auf einer der Wurzeln Halt zu finden. Das war nicht einfach, aber schließlich fand sie zu einer halbwegs erträglichen Stellung, indem sie sich mit einem Fuß gegen eine andere Wurzel stemmte. Dies war zwar äußerst unbequem, doch es kümmerte sie nicht. Selbst unbequem konnte sich gut anfühlen, wenn es einen Schritt aus der Wabe in die Freiheit hinaus bedeutete.

Ich kehre niemals wieder zurück, schwor sie sich. Das Wort klang für sie wie Gesang. Nie-mals, nie-mals, nie-mals.

Minuten später blickte sie nach oben. Die hölzerne Stille war gewichen, und sie hörte ein regelmäßiges Klopfen, ungefähr doppelt so schnell wie ihr Herzschlag. Rasch sah sie sich um und nickte. Zwei Stämme weiter bildeten zwei parallele Wurzeln eine Brücke, auf der sie gerade so eben stehen konnte.

Darunter entdeckte sie eine Mulde, in der sie kauernd Platz fände. Das würde reichen. Sie hoffte, dass Merish das Geräusch verursachte, aber vielleicht war er es auch nicht. Dann erwies sich ein Versteck womöglich als nützlich.

Staksend betrat sie die Brücke, lehnte sich gegen einen Stamm und lugte vorsichtig um die Ecke in die Richtung, in der sie die Geräusche verortete. Als sie deren Ursache erkannte, hätte sie beinahe laut gelacht – teils aus Erleichterung, dass es Merish und kein Fremder war, teils aber auch wegen des lustigen Anblicks.

Er stand aufrecht, obwohl sie nicht wusste, wie er das zustande brachte. Und zwar auf einer Plattform, bei der die Baumstämme als vertikale Sprossenwand dienten. Mit einer Vorrichtung, die aussah wie eine Ansammlung baumgroßer Feststellzangen, hangelte er sich vorwärts, indem er sich an einem Baum festhielt und nach dem nächsten griff, ungefähr einen Meter über dem Wurzelwerk. Irgendwie gelang es ihm, sich mehr oder weniger horizontal zu halten, doch schwankte das Gebilde gefährlich von Seite zu Seite. Auf Hüfthöhe befand sich ein T-förmiger Griff, und Merish schien sich krampfhaft daran festzuhalten.

Sie beugte sich vor und winkte. Er nickte und betätigte eine Steuerung an dem Griff. Die Plattform wurde langsamer und kam einige Bäume weiter zum Stehen.

Sie lächelte ihn an, bevor sie seinen Gesichtsausdruck sehen konnte. Doch dann verging ihr das Lächeln. »Sag schon!«, rief sie. »Keine freie Bahn, oder?«

Er nickte. »Definitiv keine freie Bahn. Die haben eine Zusatzschicht laufen. Warum, weiß der Teufel.«

Sie verkrampfte sich. »Eine komplette Zusatzschicht? Zehn Leute stark?«

»Ja. Tut mir leid.«

»Warum? Du hast sie ja nicht eingeladen. Mich würde interessieren, wer es getan hat.« Einen Moment lang blickte sie in die Ferne und rechnete. »Ist die Hauptschicht erledigt?«

Er nickte. »Klar. Durch eine unerklärliche Serie von Systemfehlern in einem halb explodierten Überwachungsraum eingeschlossen. Der Teil hat gut funktioniert. Aber die Zusatzschicht reicht aus, um die Wege nach draußen zu überwachen.«

»Sind Personen im Gewächshaus?«

»Weiß nicht. Kann schon sein.«

»Dann gehen wir besser davon aus, dass welche hier sind. Lass uns die anderen holen! Vielleicht müssen wir uns eine andere Definition von Ausgang einfallen lassen.« Neidisch beäugte sie die Plattform. »Du hast es gut auf dem Ding, zumindest einigermaßen gut. Aber es ist nur groß genug, um eine Person zu malträtieren. Was ist mit uns?«

Er blinzelte und wies über die Schulter nach hinten.

Sie folgte seiner Geste. »Oh …«

Hinter ihm waren vier weitere Plattformen aufgereiht.

Er wirkte verlegen. »Mehr habe ich nicht geschafft. Sie hängen alle an dieser hier. Wenn sie keine Bäume umklammern, schweben sie einfach so in der Gegend. Ziemlich komfortabel.«

Sie nickte. »Du weißt doch, Merish, komfortabel muss es von mir aus nicht sein. Jetzt, da es für mich um Freiheit geht … Und du hast deine Aufgabe erfüllt.« Entschlossen zog sie die Schultern nach hinten. »Lass uns das Team finden! Jetzt sind wir dran.«

Einen Augenblick lang sah er weg, und sie bemerkte, dass seine Lippen zuckten.

Zehn Minuten später hatten sie die anderen eingesammelt und bildeten eine schwankende Fünferkette mit Merish als Anführer. Seldyan war übel, teils von dem unangenehmen Ruckeln der Plattform, teils von dem allgegenwärtigen Ölgeruch der Federpalmen, aber es kümmerte sie nicht. Sie näherten sich dem Rand der Plantage und einem weiteren Schritt zur Freiheit, auch wenn zusätzliche Hindernisse auf sie warteten. Den Rand zu erreichen, bedeutete auch, dass sie sich bald nicht mehr hangeln, sondern dass sie schweben würden. Das war auf jeden Fall gut, selbst unter diesen Umständen.

Kurz hatten sie über diese Umstände gesprochen, als sie zu fünft zusammen waren. Sie hatten einen Plan. Der musste gelingen, denn keinem von ihnen war etwas Schlaueres eingefallen.

Als sie den Rand der Federpalmenbepflanzung erreicht hatten, teilten sie sich auf. Niemand sprach ein Wort.

Das Gewächshaus war in hundert Meter breite Streifen eingeteilt. Jeder zweite Streifen stand voll mit Federpalmen. Dazwischen wuchsen vor allem niedrige Saftpflanzen, die als Kombination aus Feuchtigkeitsstabilisatoren und Brandschutzmauern dienten. Seldyan lenkte ihre Plattform einen solchen Streifen entlang und drückte aufs Gas. Das Gefährt neigte sich nach unten und nahm Fahrt auf, bis ihr der Wind in die Augen stach und die Hände fast vom T-Griff riss. Sie hielt sich an den Rand der Palmen, die ihr Schutz boten, falls jemand nach ihr Ausschau hielt. Aber bald würde sie sowieso entdeckt werden. Geschwindigkeit war alles.

Das Ende des Streifens raste auf sie zu. Sie hielt das Tempo, bis es ihr zu brenzlig wurde. Im letzten Moment riss sie die Plattform steil nach oben und warf sie im rechten Winkel so heftig herum, dass es ihr in den Ohren klingelte. Schließlich schoss sie in den schmalen Spalt zwischen dem Ende des Streifens und der inneren Umfassungsmauer des Gewächshauses hinein. Wie durch ein Wunder konnte sie sich während des Manövers festhalten. Sie beugte sich vor und drehte den Griff wieder auf volle Kraft. Ihr blieb nicht viel Platz. Aufgrund ihrer Geschwindigkeit schob sie einen Luftstau vor sich her, der gegen die Palmen schlug, von den Stämmen abprallte und ein heulendes Stakkato verursachte, das auf ihr Trommelfell einhämmerte. Dann war sie an den Palmen vorbei und schwirrte am Ende eines weiteren Niedrigwuchsstreifens über offenes Feld.

Den einen Kilometer zum anderen Ende des Gewächshauses legte sie in etwas mehr als zwanzig Sekunden zurück. Dort brachte sie die Plattform zum Stehen. Ihr Gesicht fühlte sich wund gescheuert an, die Arme schmerzten, und es klirrte ihr in den Ohren. Noch hatte sie es aber nicht hinter sich.

Sie hatte den längsten Weg von allen. Alle anderen sollten inzwischen auf ihren Positionen angelangt sein. Es gab jedoch keine Möglichkeit, dies zu überprüfen, befanden sie sich doch zu weit auseinander, um mithilfe von Stockschlägen miteinander kommunizieren zu können. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als blind davon auszugehen.

Was bedeutete, dass es jetzt losging. Sie fuhr die Plattform hinunter und ließ sie auf den Boden absinken. Im ausgeschalteten Zustand war sie erstaunlich leicht. Ohne große Anstrengung drehte Seldyan sie um, begutachtete sie und fuhr mit dem Finger über eine eckige Rille auf der glatten Oberfläche. Eine Klappe öffnete sich und gab zwei gräuliche Vierecke frei, auf denen ominöse Symbole in einer ihr unbekannten Sprache angebracht waren. Enthält keine vom Anwender zu wartenden Teile, dachte sie.

»Die Plattformen besitzen zwei Akkus«, hatte Merish ihnen erklärt. »Aber sie kommen eine Weile auch mit einem aus.«

»Lange genug?«, hatte sie sich erkundigt und ihn fragend gemustert.

Er hatte nur einen Wimpernschlag lang gezögert, bevor er nickte. Sie glaubte nicht, dass den anderen etwas aufgefallen war.

Jetzt griff sie in die Vertiefung und zog an einem der Vierecke. Es entpuppte sich als Teil eines Würfels von ungefähr zwei Handbreit Kantenlänge. Als sie ihn herauslöste, war ein leises Knistern zu hören. Sie drehte ihn um. Auf der Unterseite befand sich eine eingelassene Kontaktfläche, die von weiteren seltsamen Symbolen umgeben war.

Die Drahtbürste, mit der sie die Innenseite des Schachts geschrubbt hatte, hing noch immer an ihrem Gürtel. Sie hakte sie aus. Dann schloss sie die Klappe und drehte die Plattform wieder um, nahm den Akku und trat damit an den Rand des Palmenfelds. Zehn Schritte weit ging sie in den Wald hinein und legte den Akku mit den Kontakten nach oben auf dem Boden ab. Mit den Borsten nach unten hielt sie die Drahtbürste über den Akku. Sie schluckte, ließ die Bürste fallen, und noch bevor diese auf den Kontakten aufkam, rannte sie los.

Der Lichtbogen war hell, obwohl sie ihm den Rücken zukehrte. Ein wütendes Summen, gefolgt von einer Explosion. Zu diesem Zeitpunkt war Seldyan bereits bei der Plattform angelangt. Sie sprang hinauf, umklammerte den Griff und presste ihn so weit nach vorn, wie sie sich eben noch traute.

Die Beschleunigung riss ihr fast die Arme aus. Sie wagte nur einen einzigen Blick zur Seite. Die ersten Palmen am Rand der Plantage standen schon in Flammen – das elektrochemische Inferno zu ihren Füßen hatte sie in Brand gesteckt.

Das gesamte Feld der öligen Bäume würde abfackeln. Sie hoffte nur, dass sich der Flächenbrand rasch genug ausbreitete.

Aber nicht zu schnell. Sie versuchte, den Griff noch weiter hinunterzudrücken, doch er stand schon auf Maximum. Sie hatte keine Ahnung, welche Spitzengeschwindigkeit die Plattform hatte oder wie lange sie mit nur einem Akku zu halten war. Oder ob der ganze verrückte Plan gelingen würde oder oder oder.

Ihr war noch immer zum Schreien zumute.

Dann quietschte hinter ihr etwas, und es knallte. Eine Wand aus Infraschall erschütterte die Plattform.

Sie riskierte einen Blick über die Schulter. Die erste Brandschutzwand war heruntergelassen worden. Jetzt waren die ersten hundert brennenden Meter des Gewächshauses durch einen tausend Tonnen schweren Vorhang aus Mineralfasern abgetrennt. Es war die vorletzte Schutzmaßnahme des Gewächshauses, um jedes beliebige Problem erst einmal zu isolieren.

Das funktionierte nur nicht, wenn fünf behelfsmäßige Brandbomben gleichzeitig hochgingen. Wieder sah sie sich um – die Bäume vor der Brandschutzwand qualmten. Und dann leckten Flammen daran hoch. Sie blickte nach vorn und biss die Zähne zusammen. Obwohl sie sich schon weit entfernt hatte, roch die Luft nach brennendem Öl.

Rums! Die zweite Wand. Noch acht. Diesmal sah sie sich nicht um. Beim letzten Mal hatte sie gemerkt, dass sie langsamer geworden war. Geschwindigkeit war alles. Der Brandgeruch wurde intensiver.

Rums! Diesmal schien die Erschütterung stärker zu sein. Ihr Vorsprung verringerte sich. Noch sieben. Am Hinterkopf spürte sie Hitzewellen.

Rums! Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Eigentlich hätte inzwischen ein Luftstrom durch das Gewächshaus fegen müssen, der das Feuer auf eine Stelle konzentrieren sollte, doch stattdessen war die Luft von Rauschschwaden erfüllt.

Dann fiel es ihr ein. Sie hatten die Schächte demoliert. Deshalb gab es keinen Luftstrom, der den Rauch abtrieb oder das Feuer eindämmen half. Sie wollte auf die Steuerung einprügeln, traute sich aber nicht.

Rums! Sie blinzelte. Diesmal hatte es sich leiser angehört. Kurz glaubte sie, wieder Vorsprung zu gewinnen, aber das konnte nicht stimmen, denn Hitze und Rauch nahmen zu. Dann begriff sie – nicht die Brandschutzwand war leiser, sondern alles andere war lauter. Es herrschte ein stampfendes Dröhnen. Nun wagte sie doch noch einmal einen Blick über die Schulter – und bereute es sogleich.

Wo Bäume stehen sollten, sah sie nur brodelnden schwarzen Rauch, in dem sich Feuerblasen ausdehnten. Es war viel zu nahe und näherte sich weiter.

Der Plan würde nicht aufgehen. Dann korrigierte sie sich – für sie würde er nicht aufgehen. Sie hoffte, dass sich die anderen weiter vorn aufhielten. Es hieß, Wabenleute könnten unmöglich ausbrechen. Vier von fünf, die das Unmögliche schafften, wären schon mal ein ziemlich gutes Ergebnis.

Außerdem war es noch nicht zu Ende mit ihr. Sie beugte sich so weit wie möglich vor, presste die Ellbogen an den Körper, um weniger Luftwiderstand zu bieten, und drehte den Knüppel so kräftig, dass sie ihn zu zerbrechen fürchtete. Wenn sich Freiheit so anfühlte, befand sie, dann war es ein gutes Gefühl.

Besser als gut. Besser als alles, was sie zuvor erlebt hatte.

Und dann merkte sie, dass die Plattform langsamer wurde.

Sie musste lachen. Bei ihrer nächsten Begegnung mit Merish würde sie ihm sagen, dass lange genug eben doch nicht lange genug war. Aber im Moment sah es so aus, als würde sie Merish nicht wiedersehen.

Die Plattform sackte ab, Seldyan hechtete von ihr hinunter und sprintete sofort los. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Vorsprung sie vor der Feuerwand hatte oder wann und wie weit vor ihr die nächste Brandschutzwand herunterfallen würde. Sie wusste lediglich, dass sie rennen und dabei Luft atmen musste, die keine richtige Luft mehr war, sondern Rauch, Ruß und Hitze, die ihr die Kehle wund rieb und die Lungen verseuchte. Ihr Herz raste, und allmählich wurde ihr schwarz vor Augen.

Sie nahm das Kreischen und Rumsen der letzten Schutzwand dicht über ihr wahr. Die Beine knickten ihr ein. Sie stürzte, rollte sich umständlich über den Boden und hoffte, dass sie sich noch immer vorwärtsbewegte.

Irgendwann blieb sie liegen, und eine Weile geschah nichts. Dann hörte sie das Feuer und wusste, dass es vorbei war.

Kurz darauf spürte sie Hände, die sie auf den Rücken drehten.

»Seldyan! Alles in Ordnung mit dir?«

Sie schlug die Augen auf. Es war Merish. Erst wollte sie sich aufrichten und ihm um den Hals fallen. Dann dämmerte es ihr, und sie sank wieder zusammen. Wenn er bei ihr war, dann hatten sie beide versagt. Sie verbesserte sich – sie hatte versagt und ihn mit ins Unglück gerissen.

»Seldyan! O Mist, reiß dich zusammen! Du musst dich bereit machen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Bereit wofür?«

»Was glaubst du denn? Hast du deine Vakuumtablette noch?«

Das Denken fiel ihr schwer, und außerdem redete er Blödsinn. Doch ihm zuliebe spielte sie das Spiel mit und klopfte auf die obere Tasche ihres Overalls.

»Jap, da ist sie. Und?«

»Dann nimm sie, verdammt noch mal!«

Jetzt erst öffnete sie die Augen ganz und starrte ihn an. »Im Ernst?«

»Natürlich im Ernst! Nimm sie! Sofort!«

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, kramte sie die kleine Pille aus ihrer Tasche hervor. Es war die Standardausführung, die jeder bekam, der im Weltraum zu tun hatte, selbst Wabenleute. Dem Vakuum ausgesetzt zu sein und zu sieden, war nicht so angenehm. Die Vakuumtablette verschaffte einem einige Minuten.

Ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten. Wenn sie eine Tablette nahm, bedeutete das …

Sie schluckte sie und sah Merish an. »Wie lange?«

Er zuckte mit den Achseln. »Sollten so zehn Sekunden sein.«

»Nun gut. Dann halten wir uns besser fest.« Sie wälzte sich herum, streckte die Hände aus und krallte sich mit steifen Fingern zwischen den Saftpflanzen in die Erde. Einen panischen Moment lang bekam sie nichts zu fassen. Doch dann trafen ihre Finger auf einen Widerstand und umklammerten ihn. Es handelte sich um das Geotextilgewebe, das die Erde zusammenhielt. Das sollte halten.

Merish lag neben ihr, und auch seine Hände gruben sich ins Erdreich. Dann kam es – lauter als das Fallen der Brandschutzwände, lauter als das Fauchen der brennenden Bäume. Es war das Geräusch, das für zehntausend Generationen von weltraumfahrenden Tieren den eiskalten Siedetod bedeutet hatte.

Es war das Heulen von Luft, die in irrsinnigem Tempo entwich.

Seldyan sah nach oben und spürte, wie sich ihre Augen weiteten. Das gewölbte Dach zerbrach in Segmente wie die Schale einer Frucht. Wenn sie noch eine Bestätigung gebraucht hätte, das wäre sie gewesen. Also hatten sie es doch noch in die letzte Kammer geschafft, und das Gewächshaus hatte seinen letzten Schutzmechanismus aktiviert. Konnte das Feuer nicht isoliert werden, dann zum Teufel mit der Biomasse! Hauptsache, die Bausubstanz wurde erhalten. Der ganze Bereich öffnete sich dem Vakuum.

Seldyan hielt sich fest.

Ein Orkan erfasste sie. Kreischende Winde rissen ihren Leib vom Boden weg. Ein Strudel aus Pflanzen, brennenden Baumteilen und Erde schoss nach oben, der Leere entgegen. Die Last, die an ihren Armen zerrte, war gewaltig, aber auszuhalten.

Doch dann bemerkte sie, dass Merish mit einer Hand den Halt verlor, wild um sich schlug und nach oben gerissen wurde. Mit der anderen Hand grub er sich noch immer zitternd ins Erdreich. Doch schon lösten sich nach und nach die gekrümmten Finger.

Noch bevor ihr Verstand Einspruch einlegen konnte, hatten ihre Muskeln reagiert. Sie ließ mit der rechten Hand los, riss sie aus der Erde, schleuderte sie zu ihm hinüber und zog sie wieder zurück, gerade als Merish mit einem Aufschrei den Halt verlor.

Sie bekam seine Schulter zu fassen, doch sie entglitt ihr wieder, dann seinen Oberarm, doch auch der rutschte ihr aus den Fingern, und schließlich spürte sie, wie seine Hand nach ihr griff. So fest sie konnte, packte sie zu, biss die Zähne zusammen, während sein Gewicht sie auseinanderzureißen schien. Gleich würden ihre Schultern auskugeln, und ihre gequälten Finger wimmerten um Gnade.

Sie beachtete es nicht. Es ist nur Schmerz, sagte sie sich. Und diesmal ist es Schmerz, den du selbst gewählt hast. Nimm ihn hin!

Sie nahm ihn hin.

Gleich darauf wurden sie von einem Sturm aus Holzsplittern und schwelenden Blättern durchgerüttelt, und mit geschlossenen Augen erwartete sie in dem Bombardement den Tod. Doch schließlich ließ das Reißen nach, und sie öffnete die Augen.

Eine Wolke aus Eiskristallen vernebelte den Blick, bildete einen Strudel, der den klirrenden Trümmern durch das Dach hinaus folgte. Erst als auch das Eis draußen war, war die gesamte Luft entwichen. Ohne Vakuumtablette wären ihr nun ungefähr zwanzig Sekunden geblieben. Mit ihr vielleicht drei Minuten. Das reichte, wenn der Plan gelang, den sie im Gewächshaus hastig gefasst hatten.

Nachdem der Wind nachgelassen hatte, wirkte die Gravitation des Gewächshauses wieder. In der vollkommenen Stille des Vakuums fielen sie sacht zu Boden, erst sie, dann Merish, der auf ihr landete. Er ließ ihre Hand los und rollte sich von ihr herunter. Vorsichtig zog sie die Finger aus dem Bodengewebe.

Das Loslassen schmerzte noch heftiger als das Festhalten. Sie ballte die Hand zur Faust und beobachtete fasziniert, wie ein Blutstropfen ins Vakuum entschwebte.

Sie schüttelte sich. Merish wies zum Ende der Wand, wo sie seine Plattform entdeckte, die aus irgendeinem Grund immer noch gehorsam am Boden kauerte. Fragen schossen ihr durch den Kopf, die sie im Augenblick nicht stellen konnte. Und um zu Atem zu kommen, blieb auch keine Zeit. Sie rannten los. Merish rückte die Plattform gerade, sprang auf und gab Seldyan ein Zeichen. Sie stellte sich hinter ihn und umklammerte seine Taille.

Im Vakuum war die Plattform auch mit zwei Mitfahrern sehr schnell. In zwanzig Sekunden erreichten sie die Stirnwand – Merishs Akku hatte anscheinend nicht so sehr gelitten wie ihrer. Nun standen sie vor einer seltsam altmodisch anmutenden Luftschleusentür mit einem Schaltrad in der Mitte. Sie betrachtete es und formte mit den Lippen eine Frage. »Manuell bedienbar?«

Er nickte. Sie ergriffen das Rad und drehten daran. Erst gab es nicht nach, doch schließlich bewegte es sich. Es brauchte aber eine ganze Umdrehung, bis es Last aufnahm. Und eine weitere ganze Umdrehung, um einzurasten. Obwohl es nicht zu hören war, spürte Seldyan ein Scheppern. Die Tür schwang auf.

Sie drängten sich in die Luftschleuse. Hinter ihnen schloss sich die Tür, und es entstand jener Eiskristallkuss von gefrierender Luft, die sich im Vakuum ausbreitet.

Seldyan beobachtete die Anzeige an der Wand und spürte dabei das Herz gegen die Rippen pochen. Sie unterdrückte das Bedürfnis, Luft zu holen, denn solange die Anzeige rot leuchtete, war das keinesfalls ratsam. Auch die Vakuumtablette vermochte die negativen Auswirkungen von dünner, kalter Luft auf das ausgelaugte Lungengewebe nicht zu verhindern. Sie musste warten, bis die Schleuse überzeugt war, dass ihre Atmosphäre dicht und warm genug war.

Grün. Gut. Jetzt durfte sie atmen.

Trotzdem tat es weh. Die Kühle kitzelte Nerven, die sie zuvor nie wahrgenommen hatte. Sie überstand es und sah dann zu Merish hinüber.

»Danke.«

Er nickte und griff nach ihrer Hand. Sie zuckte zusammen, ließ aber zu, dass er sie umdrehte und auseinanderbog. Daran hingen Erdklumpen, die das Blut aus den tiefen Schnitten an den Fingeransätzen glänzend rot gefärbt hatte.

Er musterte sie eindringlich. »Ach, du Scheiße …«

Sie zuckte mit den Achseln. »Entweder diese Verletzung, oder ich hätte loslassen müssen. Im Shuttle gibt es Medikamente. Das Shuttle ist doch unsere nächste Station, oder?«

»Ja. Die anderen drei müssten in der nächsten Schleuse sein. Tut mir leid, Seldyan.«

»Muss dir nicht leidtun.« Sie lächelte, und das fühlte sich gut an. »Denn weißt du, was wir als Nächstes tun werden? Mit deiner Hilfe, Technik-Maestro, leihen wir uns einen Haufen Kohle.«

Zögernd lächelte er. »Das kann ich machen«, bestätigte er.

4

Wabe, Jugendtrakt

Soweit Seldyan sich erinnern konnte, war ihre Kindheit normal verlaufen. Die Wabe war – alles gewesen. Sie erinnerte sich an das Essen, ans Schlafen, an Erwachsene, die groß, fern und manchmal Furcht einflößend waren, meistens aber keine Rolle spielten.

Aber vermutlich schien die Kindheit der meisten normal zu sein, bis etwas passierte, was diesen Anschein infrage stellte. Bei ihr war das sehr spät passiert. Es war nicht passiert, als sie vier Jahre alt gewesen war. Damals hatte man sie eines Tages aus ihrer Klasse geholt und in ein Zimmer getrieben, das sie nie zuvor gesehen hatte. Dort hatte man ihr befohlen, ihr Hemd auszuziehen und sich zusammenzukauern. Dann wurde ihr etwas Scharfes in den Rücken gedrückt, oberhalb des Pos. Es hatte so furchtbar wehgetan, dass sie geheult hatte, bis ihre Kehle ebenso geschmerzt hatte wie ihr Rücken. Doch man hatte sie festgehalten, damit sie sich nicht bewegen konnte.

Den Rest des Nachmittags ließ man sie ausruhen. Mit der Schüssel Abendessen gab man ihr etwas zum Schlafen. Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich beinahe in Ordnung, nur ein bisschen wund. Als sie in die Klasse kam, sagte jemand, dass man ihr den Chip verpasst habe. Das war ein neues Wort, das sie sich merkte.

Es war auch nicht passiert, als sie gerade ihre Geschlechtsreife erreicht und der Aufseher ihr ein Einzelzimmer statt eines Schlafsaalplatzes verschafft hatte. In der ersten Nacht hatte er sie dort besucht, gerade als sie sich über das Zimmer gefreut hatte. Natürlich hatte sie gewusst, dass Männer anders waren, aber ihr war nicht klar gewesen, dass sie einer anderen Person solche Schmerzen zufügen konnten. Zwei Wochen lang ertrug sie sein Herumfingern, sein Grunzen und seine Ferkelei. Doch dann, während sie im Unterricht alle eine Lektion aufsagten, gab es über ihren Köpfen einen Knall, und eine der großen Glühbirnen verwandelte sich in einen Scherbenregen. Eine Scherbe landete dicht vor ihr. Es gelang ihr, sie zu stibitzen und im Ärmel ihres Hemds zu verstecken. Sie schnitt sich leicht daran, aber das kümmerte sie nicht.

Später schnitt sie den Aufseher viel tiefer.

Sklave