Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung der Autorin

I.   Problemstellung

II.  Wege in die Fuggerei

III. Die äußere Form der Bittbriefe

IV. Wege ins Abseits

V.   Wege aus dem Abseits

VI.  Resümee

Anhang

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Register

Abstract

Abstrakt

Zur Autorin

Vorbemerkung der Autorin

Das Projekt »Armut in Stadt und Land vom Ende des Alten Reiches bis zum Ersten Weltkrieg. Kommunale und private Armenfürsorge und Überlebensstrategien armer Leute in der Augsburger Fuggerei und in Dörfern Mittelschwabens«, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit entstand, wird seit 2011 von der Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt, wofür ich mich sehr bedanke. Nicht weniger ist den Fürstlich und Gräflich Fuggerschen Stiftungen für die Beförderung des Gesamtprojektes wie auch für die Ausrichtung der Tagung »Prekariat im 19. Jahrhundert – Armenfürsorge und Alltagsbewältigung in Stadt und Land« (20.–21. September 2012) zu danken.

Anke Sczesny

I. Problemstellung

Armut hat viele Gesichter, sie ist ein Phänomen, deren Ursachen sich über die Jahrhunderte zwar strukturell verändert haben mögen, die jedoch immer eines bedeuten: Mangel an ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen. Armut ist ferner relativ, wenn Regionen, Jahrhunderte oder gesellschaftlich definierte Armutskriterien verglichen werden. Und Armut ist subjektiv, je nach Lebensstandard und je nach Aufstiegsmöglichkeiten und Abstiegsrisiken1.

Hatte Armut in der vorindustriellen Zeit ihre Ursachen in Krisen des ›Alten Typs‹, die aus Seuchen, Missernten und Hungersnöten erwuchsen, so war sie seit der Industrialisierung in Krisen des ›Neuen Typs‹ verankert, die sich aus kapitalbestimmten konjunkturellen Schwankungen ableiteten.2 Während also in der Vormoderne Armut mit Besitzlosigkeit verknüpft war, generierten seit dem 19. Jahrhundert wirtschaftliche Auf- und Abwärtsbewegungen Armut und Arbeit(-slosigkeit). Im Zuge dieses strukturellen Wandels von Armut veränderte sich auch die Armenfürsorge, die zunächst von kirchlicher und privater Seite getragen war, seit dem 16. Jahrhundert aber auch zunehmend den ›Staat‹ mit einbezog, der durch Policeyund Bettelordnungen versuchte, der zunehmenden Zahl an Bedürftigen3 Herr zu werden4. Im 19. Jahrhundert, geprägt durch Bevölkerungswachstum und Massenverelendung, wurden infolge der Sozialgesetzgebung Ende der 1860er Jahre und der Liberalisierung der Ansässigmachung – also des Wechsels von der Unterstützung durch die Heimatgemeinde hin zur Unterstützung durch die Wohngemeinde – die Fürsorgeaufgaben den Kommunen übertragen. Eine einheitliche Regelung auf Reichsebene erfolgte erst 19245.

Die ehemalige Reichsstadt Augsburg, die bis Ende des 18. Jahrhunderts die führende Textilmetropole im süddeutschen Raum gewesen war, spürte die strukturellen sozioökonomischen Veränderungen in besonderem Maße. Erlebte das Handwerk schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts negative Wirtschaftstendenzen, erkennbar an der sinkenden Zahl der Meister, wurde vor allem das Textilgewerbe noch zusätzlich durch die englische und sächsische Konkurrenz geschwächt. An der Wende zum 19. Jahrhundert kann schätzungsweise fast die Hälfte der Augsburger Bevölkerung den verarmten Unterschichten zugerechnet werden6 und mehr als 1.300 Personen wurden wöchentlich vom Armenfond unterstützt7. Zwar versuchte die städtische Politik durch verschärfte Gewerbekonzessionierungen Einfluss auf den Wirtschaftsmarkt zu nehmen, weil durch diese restriktiven Maßnahmen der innerstädtische Konkurrenzdruck eingedämmt werden sollte. Erst jedoch die Gründung des allgemeinen deutschen Zollvereins im Jahre 1834 und späterhin die Gewerbefreiheit seit 1864 schoben in Augsburg die Industrialisierung an, wobei wiederum der Textilsektor die führende Position einnahm. In dieser Branche stieg die Zahl der Fabrikarbeiter zwischen 1847 von knapp 4.500 Arbeitern auf über 11.000 Beschäftigte im Jahre 1907 an8. Weitere innovative und die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung mittragende Industriezweige in Augsburg waren der Maschinenbau und die Papierverarbeitung9.

Die Industrialisierung war auch in Augsburg mit einem vehementen Bevölkerungswachstum verknüpft. Zählte diese Stadt um die Wende zum 19. Jahrhundert etwa 28.000 Einwohner, wuchs deren Zahl bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 40.000 und bis 1880 auf 60.000 Bewohner. Bis 1910 hatte sich die Einwohnerzahl fast vervierfacht, denn nun lebten ungefähr 105.000 Menschen in der ehemaligen Reichsstadt10.

Dieser strukturelle Wandel schuf jedoch Probleme. Einerseits näherte sich das Handwerk infolge der schlechten Einkommensmöglichkeiten der Armutsgrenze an, andererseits war aber auch die wachsende Fabrikarbeiterschaft durch konjunkturelle Schwankungen permanent von Armut bedroht. Infolge der geringen Verdienste von Handwerkern und Fabrikarbeitern wurde die Situation dann höchst prekär, wenn außergewöhnliche Belastungen eine Familie trafen. So weist eine Statistik von 1885 40% der Augsburger Armen als unterstützungsbedürftig aus, weil ein Familienmitglied erkrankte, und 17% erhielten Beihilfen infolge des Todes des Familienernährers. Ferner zählten zu den Armutsursachen Altersschwäche (11%), körperliche und geistige Gebrechen (12%) und Arbeitslosigkeit (2%)11. Frauen wiederum waren mit anteilig 70–80% der Armen am stärksten betroffen, weil ihre Arbeit zu den nicht-qualifizierten gerechnet wurde und sie trotz gleicher Arbeitsleistung wie die der männlichen Bevölkerung weniger verdienten12.

Gegen die zunehmende Verarmung der Bevölkerung versuchte die Stadt Augsburg seit 1816 im Zuge der Rekommunalisierung der Armenverwaltung mit der Einrichtung einer »Beschäftigungs-, Verpflegungs-, Suppen- und Armenkinderanstalt«, die im ehemaligen Dominikanerkloster in Augsburg untergebracht war, vorzugehen13. Neben dieser städtischen und durch den Armenpflegschaftsrat geführten Institution traten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Betriebseinrichtungen wie Kranken-, Pensions- und Betriebssparkassen hinzu, deren Funktion die Absicherung der Menschen im Alter und bei Krankheit war14.

Der durch die Industrialisierung hervorgerufene Wandel15 sowohl bezüglich des allgemeinen Entwicklungsganges von Armut als auch in Bezug auf die Genese neuer sozialpolitischer staatlicher bzw. kommunaler Maßnahmen ist in breiterem16 und auch lokalem Rahmen relativ gut erforscht17. Diesen Arbeiten ist jedoch die Perspektive ›von oben‹ gemein, die die Bedürftigen einerseits mittel- und langfristigen Entwicklungen subsumiert, sie damit aber andererseits zu einer konturlosen Masse werden lässt und ihrer Stimme beraubt.

Denn was ging in Menschen des 19. Jahrhunderts vor, wenn sie den nöthigen Lebensunterhalt und erforderliche Miethe durch der Hände Arbeit18 nicht mehr verdienen konnten, wenn sie in einem kleinen Kämmerlein bey fremden Leuten ihr Unterkommen19 suchen mussten, wenn sie durch mehrfältige schwere Kranckheiten, durch Bildungs-, Erziehungs- und Unterrichtskosten [der] beiden Kinder und andauernde gänzliche Brodlosigkeit20 oder wenn sie durch die mit einem hohen Alter von 75 Jahren vorgerückten Kraftlosigkeit21 von Armut bedroht waren oder gar gänzlich in sie abrutschten? Wie gingen die Bedürftigen mit solch risikobehafteten Situationen um, wie bewältigten sie ihren Alltag, auf welche Hilfen konnten und wollten sie zugreifen?

Jene notleidenden Menschen, die in die private Sozialsiedlung der Fuggerei in der ehemaligen Reichsstadt Augsburg aufgenommen werden wollten, gewähren zur Beantwortung der angeschnittenen Fragen bemerkenswerte Einblicke. Um eine Wohnung in der 1514 gegründeten und 1521 mit einem Stiftungsbrief von Jakob Fugger versehenen Fuggerei zu erhalten, mussten die Supplikanten nicht nur verschiedene Aufnahmekriterien erfüllen, die noch genauer zu erläutern sind. Vielmehr legten sie ihren Antragsformularen auch einen individuellen Bittbrief bei, in dem sie ihre Not und zum Teil ihren Lebensweg beschrieben.

Genau diese Bittbriefe sollen nachfolgend vorgestellt werden, denn Schriftstücke Bedürftiger sind eine einzigartige Quelle zur Sozial- und Alltagsgeschichte der Armut und der Armenfürsorge. Bisher konzentrierte sich die Forschung unter den Topoi der Selbstzeugnisse bzw. der Ego-Dokumente stärker auf die literaten Oberschichten und deren Autobiographien, Tagebücher, Briefwechsel, Berichte usw., um die individuellen Wahrnehmungen gesellschaftlichen Lebens zu ergründen22. Erst seit etwa 20 Jahren rücken Zeugnisse von in Not geratenen Menschen ins Blickfeld der Historiker, wobei Supplikationen23 und Beschwerdebriefe bzw. Petitionen24 eher exemplarisch analysiert wurden. Mittlerweile nimmt auch die systematische Erfassung und Beschäftigung von und mit seriellen Armenbriefen25 aus verschiedenen Perspektiven zu: Es geht um die Alltagsbewältigung und -strategien bedürftiger Menschen unter den Bedingungen des Alters, von Krankheit, illegitimen Kindern, Arbeitslosigkeit oder auch Straffälligkeit26, wobei all diesen Arbeiten gemein ist, dass sie um die »ordinary writings«27 bzw. den »voices in the crowd«28 zentrieren und im Rahmen »von Selbstzeugnissen die untere Grenze markieren«29.

Die Supplikationen jener Bedürftigen, die sich eine Wohnung in der Augsburger Fuggerei erhofften, sind gleichfalls solchen Armenbriefen oder »ordinary writings« zuzuordnen und ermöglichen es, an einem lokalen Beispiel Armut und ihre Bewältigung exemplarisch zu untersuchen. Nach einem Abschnitt zur Fuggerei und den Aufnahmevoraussetzungen in diese private Sozialsiedlung werden die Briefe unter Berücksichtigung quellenkritischer Anmerkungen bezüglich ihrer äußeren Form vorgestellt. In einem weiteren Schritt werden die in den Supplikationen genannten Wege ins Abseits nachgezeichnet, um anschließend die Bewältigungsstrategien von Armut bzw. die Versuche der Bedürftigen, dieser zu entkommen, zu illustrieren. Ein Resümee richtet den Blick auf die Bedeutung und die Besonderheiten der Augsburger Armenbriefe sowie der Fuggerei.

II. Wege in die Fuggerei

Als Jakob Fugger der Reiche im Jahre 1514 den Bau der Fuggerei beginnen ließ und diese wachsende Sozialsiedlung 1521 mit einem Stiftungsbrief versah,30 tat er dies weniger aus Gründen einer kapitalistisch motivierten Investition resp. einer Kapitalanlage31, sondern weil er noch der mittelalterlichen Theologie der Heilsvorsorge verbunden war. Diese sah in wohltätigen Werken wie Stiftungen, Pilgerreisen und Ablassbriefen die einzigen Wege, nach dem Tod möglichst schnell dem Fegefeuer als dem ›Dritten Ort‹ zwischen Himmel und Hölle zu entkommen.32 Insofern basierte die Stiftung der Fuggerei auf der mittelalterlich vorreformatorischen Gedankenwelt und zielte für den Gründer darauf, die Verweildauer im Fegefeuer und damit die Ableistung seiner Sündenstrafen zu verkürzen.