Materialien zur Geschichte der Fugger

Band 7

herausgegeben vom Fugger-Archiv

Inhalt

Vorwort

Im September 2012 fand in Augsburg eine Tagung zum Thema ›Prekariat im 19. Jahrhundert – Armenfürsorge und Alltagsbewältigung in Stadt und Land‹ statt. Anvisiert war damit nicht nur, die institutionelle Armenfürsorge und die reale Armut in zwei unterschiedlichen Räumen – Stadt und Land – vergleichend zu diskutieren, sondern auch, den Alltag und die Erfahrungen der Betroffenen – der Armen selbst – in den Vordergrund zu rücken, zumal in einem Jahrhundert, das durch die Auswirkungen seiner sozialen, ökonomischen und kulturellen Umwälzungen bis in unsere Zeit reicht. Mit dem vorliegenden Band werden die Erträge der Tagung nun der Öffentlichkeit vorgelegt und möchten zur weiteren Diskussion einer gesellschaftlich immer noch höchst relevanten Thematik anregen.

Wie alle Dokumentationen von Tagungen bedurfte dieser Band mannigfaltiger Unterstützung, um der Öffentlichkeit vorgelegt werden zu können. Die Fürstlich und Gräflich Fuggerschen Stiftungen trugen die Hauptlast und ihnen gilt deshalb zuvörderst unser Dank: Sie stellten nicht nur die Räumlichkeiten der Leonhardskapelle in der Fuggerei für die fruchtbaren Diskurse zur Verfügung, sondern sie schufen auch die finanziellen Rahmenbedingungen für die Tagung und deren Publikation; Wolf-Dietrich Graf v. Hundt und Sabine Darius mit ihrer ›Mannschaft‹ unterstützten uns zudem mit tatkräftiger organisatorischer Hilfe und sorgten nicht zuletzt dafür, dass die Gespräche in einer sehr angenehmen Atmosphäre stattfinden konnten.

Unser Dank gilt weiterhin der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, die das Projekt »Armut in Stadt und Land vom Ende des Alten Reiches bis zum Ersten Weltkrieg. Kommunale und private Armenfürsorge und Überlebensstrategien armer Leute in der Augsburger Fuggerei und in Dörfern Mittelschwabens« finanziell fördert und mit der zeitweisen Anwesenheit von Dr. Frank Suder ihre Wertschätzung zum Ausdruck brachte.

Schließlich gilt unser Dank denen, die für die Drucklegung des Bandes Verantwortung übernommen haben: dem Wißner-Verlag für die professionelle und sorgfältige Betreuung der Beiträge, Frau Diana Egermann-Krebs für die redaktionelle Hilfe. Ohne das Engagement und die Mühen der Autoren hätte dieser Band jedoch nicht vorgelegt werden können; ihnen gilt deshalb unser besonderer Dank.

Augsburg, im Februar 2014

Anke Sczesny

Rolf Kießling

Johannes Burkhardt

Anke Sczesny/Rolf Kießling/Johannes Burkhardt

Einleitung

Armut ist eine allgegenwärtige, alle Gesellschaften und Epochen durchziehende Wirklichkeit, die trotz Fortschritt und Wohlstand in den westlichen Ländern auch heute noch längst nicht überwunden ist. So starteten die Vereinten Nationen als globale und internationale Organisation jüngst eine Offensive mit ihrer Agenda 2030, mit der sie bis zum genannten Zeitpunkt die ›extreme Armut‹ in der Welt abzuschaffen gedenken.1 Auf europäischer Ebene bereitet vor allem die Jugendarbeitslosigkeit in den ohnehin am stärksten von der Finanzkrise gebeutelten Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien, aber auch Italien große Sorge, die durch finanzielle Transferangebote der wohlhabenderen Länder gemildert werden soll. Der nationale Brennpunkt wiederum richtet sich auf die Altersarmut, die als drohendes Gespenst aus dem Wandel der Demographie wie dem Arbeitsmarkt resultiert. Zudem sind, wie schon seit Jahrhunderten, Frauen, Alleinerziehende und Kinder die von Armut am stärksten betroffenen Gruppen, wie auch der aktuelle Reichtums- und Armutsbericht 2013 der Bundesrepublik ausweist.2 Dort heißt es weiter: »Staatliche Maßnahmen setzen dort an, wo die Möglichkeiten des Einzelnen nicht ausreichen, aus eigener Kraft akzeptable Teilhabeergebnisse zu erzielen. Staatliches Handeln unterstützt subsidiär, was Einzelne und kleinere Gemeinschaften (Familie, Nachbarschaft, Kommune, Betrieb u.ä.) nicht aus eigener Initiative zu leisten vermögen,«3 was vice versa bedeutet, dass die ersten Schritte gegen Armut zunächst auf einer ›untersten‹ Stufe zu leisten sind. Neben staatlicher Unterstützung kann dies zur Linderung der ärgsten Not seitens der Kommunen und Kirchen mittels Tafeln, Materialspenden oder Sozialkaufhäusern geschehen oder durch informelle Hilfen von Verwandten und Freunden.

I.

Das aber ist nichts Neues. Schon seit Jahrhunderten erbaten und erhielten Bedürftige in Stadt und Land Unterstützungen von Kirchen, Stiftungen, Kommunen oder von Nachbarschafts- und Verwandtennetzen, wie eine kaum noch überblickbare Anzahl von Forschungen über Arme und zur Armenfürsorge herausgearbeitet hat. Seit etwa einem viertel Jahrhundert jedoch hat sich die Forschungsperspektive verändert, weil nicht mehr Bedürftigkeit und Wohlfahrtsmaßnahmen aus einer wie auch immer gearteten Metaebene beleuchtet und dargestellt werden, sondern die Armen selbst buchstäblich zu Wort kommen sollen.

Diese Betroffenenperspektive einzunehmen war auch gleichfalls Ziel der Tagung »Prekariat im 19. Jahrhundert – Armenfürsorge und Alltagsbewältigung in Stadt und Land«, die vom 20. bis 21. September 2012 in der Leonhardskapelle der Fuggerei in Augsburg stattfand und deren Beiträge in diesem Band vorgelegt werden. Dabei hat der Tagungsort eine besondere Bedeutung, schuf doch Jakob Fugger mit der 1521 gestifteten Fuggerei eine noch heute funktionierende Fürsorgeeinrichtung, wie Franz Karg in einem kurzen Beitrag erläutert. Diese Siedlung war für fromme, arme und unverschuldet in Not geratene Augsburger Bürger bestimmt, die für einen rheinischen Gulden im Jahr dort wohnen durften und im Gegenzug für Jakob Fugger und seine Nachkommen täglich zu beten hatten. Karg betont den präventiven Charakter der Fuggerei; sie sollte nicht den Ärmsten Hilfe bieten, sondern jenen, die durch den Einzug in diese Sozialsiedlung ihre Ehre und ihre Selbstachtung bzw. ihren Stand wahren wollten. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Fuggerei von einem Verwalter, anschließend von einem Administrator geleitet, der gegenüber dem aus drei Fuggerschen Linien (Babenhausen, Glött, Kirchberg und Weißenhorn) bestehenden Familienseniorat verantwortlich war. Der Attraktivität der Fuggereiwohnungen aufgrund des nur symbolischen Mietpreises ist auch einmaliges Quellenmaterial geschuldet, bestehend aus Antragsformularen, pfarramtlichen und Arbeitszeugnissen, ärztlichen Attesten und vor allem Bittschriften der Bedürftigen, die entweder an das Familienseniorat, an die jeweiligen Senioratsvorsitzenden oder an den Administrator gerichtet waren.

Trotz dieses vorzüglichen Archivbestandes und trotz der langen Existenz der Fuggerei blieb die Innenperspektive der Fuggerei bislang verborgen. Denn zunächst standen die Fugger selbst im Zentrum der historischen Forschung. Ihr ökonomischer Aufstieg in der enorm boomenden Textilindustrie des 15. und 16. Jahrhunderts mit Augsburg als Wirtschaftszentrum, der Ausbau ihrer Besitzungen im ostschwäbischen Raum und ihr reichspolitisches Wirken unter den Gründungsfiguren Jakob und Anton waren Schwerpunkte historischer Abhandlungen. Mit der Ausdehnung sowohl der Epochengrenzen bis in das 18. Jahrhundert als auch der thematischen Verschiebung der Fuggerforschung hin zu Kunst und Kultur im Umfeld der Familie war ein weiterer Schritt in der differenzierteren Darstellung dieser Augsburger Familie getan; sie wurde komplettiert durch die Hinwendung zur sozialen Praxis der Fugger, wofür nicht zuletzt die Fuggerei ein Sinnbild ist.4 Diese Sozialsiedlung wiederum ist Ausgangspunkt einer Erweiterung nicht nur der Epochen. Der Fund der genannten Dokumente der Armen Augsburgs im 19. Jahrhundert erlaubt es auch, die Handlungsweisen der Fugger wie ihrer Verwalter in der Stiftung zu erkunden. Und der nächste Schritt besteht darin, die Befindlichkeiten und Nöte der Armen im Industrialisierungsjahrhundert zu beleuchten. Diese Entfaltung der Augsburger Sozialgeschichte kann damit an die federführende britische Armenforschung anschließen, die sich seit fast 25 Jahren mit den Ursachen der Bedürftigkeit und den Auswegen aus der Armut aus der Betroffenensicht anhand von Supplikationen intensiv beschäftigt.

Darüber hinaus ist auf ein landesgeschichtliches Langzeitprojekt in der Augsburger Forschungslandschaft zu rekurrieren, das die Ermittlung langfristiger Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft in der ›Textilregion Ostschwaben‹ vom Spätmittelalter bis in die Zeit der Industrialisierung verfolgt. Ein Schwerpunkt war dabei von Anfang an die kritische Auseinandersetzung mit dem in den 1970er Jahren aufgekommenen Theorem der Protoindustrialisierung,5 das seinerzeit heftig diskutiert wurde, inzwischen jedoch in vielfacher Hinsicht modifiziert worden ist. Vor allem in Schwaben mit seiner territorialen Kleinkammerung konnte in der zunftgebundenen Arbeit des ländlichen Handwerks eine besonders interessante Variante der ›Industrialisierung vor der Industrialisierung‹ aufgedeckt werden.6 Das Forschungskonzept kommt also aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, was nicht ganz unwichtig für die Fragestellungen ist, die es evozierte. Der Transformationsprozess von der Vormoderne zur Industriegesellschaft war nämlich nur wenig von einer ›Proletarisierung‹ der ländlichen Gesellschaft, wie es angenommen worden war, geprägt, sondern im Gegenteil: Handwerker, vor allem aus dem Textilbereich, konnten zu gleichberechtigten Positionen in der bäuerlichen Gemeinde aufsteigen. Wie aber vollzog sich dieser Wandel in Stadt und Land konkret?

›Massenarmut und Hungerkrisen‹ – mit dem bekannten Titel verwies Wilhelm Abel bereits vor langer Zeit das Phänomen des ›Pauperismus‹ in den Kontext der Krisen vom ›type ancien‹ um und nach der Wende zum 19. Jahrhundert, ehe der moderne Typus der Wirtschaftskrisen in Relation zu den Konjunkturverläufen einsetzte.7 Das langfristige Nebeneinander dieser beiden Erscheinungsformen lässt sich freilich nicht übersehen, denn gerade in Augsburg resultierten die Weberunruhen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bereits aus der Produktion in Abhängigkeit von weitgehend anonym empfundenen Märkten, deren Chancen im interregionalen und internationalen Kontext zu einer kollektiven Verelendung zu führen drohten. Dennoch war Armut in dieser Zeit zumindest ideell immer noch von den Kategorien der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaftsordnung bestimmt, auch wenn sich der Wandel durch Freizügigkeit und wirtschaftliche Liberalisierung bereits andeutete. Zwar war die Doppelpoligkeit von schicksalhafter, oder besser: gottgegebener Armut und Caritas als Ausfluss der christlichen Nächstenliebe immer noch gültig, doch erfuhr diese Mildtätigkeit eine partielle Säkularisierung insofern, als nun die Nützlichkeit von armen Menschen handlungsleitend wurde. Dies schlug sich vor allem in der Ausdifferenzierung von Armut in zwei Richtungen nieder: in der Unterscheidung von arbeitsunfähigen ›würdigen‹ und arbeitsfähigen ›unwürdigen‹ Armen einerseits und in der Abgrenzung der ›eigenen‹, einheimischen von den ›fremden‹ und mobilen Armen andererseits.

Diese Differenzierung zog dann auch scharfe ordnungspolitische Konsequenzen nach sich, die nicht zuletzt in die ›Gute Policey‹ mit ihren pädagogisch-restriktiven Maßnahmenkatalogen eingingen, weil erkannt wurde, dass zwischen Armut und Arbeitslosigkeit ein Zusammenhang bestand. Der politische Strukturwandel der Reformära des beginnenden 19. Jahrhunderts verlagerte das Koordinatensystem der Einschätzung seinerseits immer mehr von der korporativen Ebene wie den Zünften oder den Gemeinden und Kirchen auf die staatlich-administrative Ebene, wobei Ansässigmachung und Aufenthalt unter dem Gesichtspunkt des ›Heimatrechts‹ freilich noch auf die alten Zusammenhänge verwiesen. Erst allmählich setzte sich der Gedanke durch, dass »der grundsätzliche Anspruch auf Unterstützung als Staatsbürger erhoben werden konnte und in der auch die Fürsorgeempfänger als vollwertige Mitglieder einer zunehmend national verstandenen Solidargemeinschaft Anerkennung fanden«, wie Lutz Raphael es formulierte.8 In welche Formen diese Zuschreibungen in der Sozialpolitik mündeten, beschrieb Susanne F. Eser für Augsburg in dieser Phase des 19. Jahrhunderts in ihrer Arbeit ›Verwaltet und verwahrt. Armenpolitik und Arme‹, die allerdings die Betroffenenperspektive aufgrund fehlender Quellen kaum thematisieren konnte.9

Diese nur knapp gehaltenen Ausführungen zu den grundsätzlichen Vorstellungen und Veränderungen zu Armut und Armenfürsorge bieten jedoch noch keinen Einblick in die Lebenswelt der Armen selbst. Eine erste Annäherung ist jedoch mit Rekurs auf Überlegungen zur Frühen Neuzeit zu finden, wie sie beispielsweise Rainer Beck mit der ›Ökonomie des Notbehelfs‹, der an eine Untersuchung von Olwen H. Hufton über Frankreich anknüpfte, in seiner klassischen Studie zu Unterfinning bei Landsberg am Lech für den ländlichen Bereich entwickelt hat.10 Denn erstmals kamen die Bewältigungsstrategien von unterständischen Schichten zur Überwindung von Notsituationen in den Blick, deren Verdienstformen sich aus Landwirtschaft, Gewerbe, Kleinhandel und Taglohn sowie Betteln, Kleinkriminalität und öffentliche Fürsorge zusammensetzten. Hier schließen sich grundsätzliche Überlegungen zum Begriff der ›Nahrung‹ an, in denen die Subsistenz in einer Kombination verschiedenster Faktoren von jeder Art von Einkommen, aber auch der Aushilfe von Familienangehörigen, Nachbarschaften und nicht zuletzt in Form von kurzzeitigen Kapitalaufnahmen gesichert wurde, womit die sozialen Netzwerke fokussiert wurden. Nach Katrin Marx-Jaskulskis Studien zu ländlichen Gemeinden der Eifel, des Hunsrücks und des Moselgebiets, ging Anke Sczesny diesen Fragen anhand ländlicher Weberdörfer des 17. und 18. Jahrhunderts in Schwaben nach und hat dies jüngst auch für das 19. Jahrhundert bestätigen können.11

Waren solche Formen unabhängig von öffentlichen Systemen der Fürsorge? Martin Dinges hat angemahnt, die Grenzen der obrigkeitlichen ›Sozialdisziplinierung‹ in der praktischen Anwendung nicht zu übersehen, und er bezeichnet die Formen der ›Selbsthilfe‹ als »hauptsächliche Strategie der frühneuzeitlichen Gesellschaft,« die durch das Sozialkapital in den »Strukturen und Beziehungen [in] Haushalte[n], Familie, Verwandtschaft, Patenschaft, Freundeskreis, Arbeits- und Mietverhältnisse[n]« gebildet wird, um »das Absinken in Bedürftigkeit zu verhindern.« Insofern ist seiner Meinung nach »das Angebot obrigkeitlicher Fürsorge sekundär.«12 Wie eng andererseits derartige Strategien zudem mit klassischen Formen der Fürsorge verbunden waren, zeigte Thomas Max Safley in seiner umfassenden Darstellung der Augsburger Waisenhäuser,13 die nicht einfache Bewahranstalten waren, sondern deren Leitungsfiguren sich an dem Prinzip orientierten, die Eingliederung der Waisen in die stadtbürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen. Zugleich offenbaren die jeweiligen Wege, die die Zöglinge vor der Aufnahme und nach der Entlassung gingen, vielfache Varianten dieser Überlebens- und Selbsthilfestrategien.

II.

Ohne das Spektrum von Armut und Armenfürsorge sowie der jeweiligen Deutungen weiter vertiefen zu können, folgen die hier aus der Tagung hervorgegangenen Beiträge einem dreifachen Ansatz: Einerseits zielen sie auf den Vergleich von Stadt und Land, andererseits auf den Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert, von der Vormoderne in die Moderne, und zum dritten sind die Protagonisten der vorgestellten Überlegungen die Armen selbst. Gibt es markante Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Armut, prägnanter gesagt: Hat die langzeitliche Verankerung der Fürsorge im kommunalen Kontext andere Verhaltensweisen ausgelöst, weil das Angebot an Hilfsmaßnahmen in Form von Spitälern, Armenhäusern und privaten Stiftungen relativ breit angelegt war, während in den Dörfern die Selbsthilfe bei gleichzeitig schärferer Sozialkontrolle eine größere Rolle spielte? Sind differente ›Ökonomien des Notbehelfs‹ und unterschiedliche Argumentationsstrategien der Hilfesuchenden festzustellen? Stellen sich ferner Fragen danach, inwieweit Kategorien der Frühen Neuzeit in die spätere Zeit weiterwirken und welche neuartigen Formen sichtbar werden? Schließlich: Wie wirkte sich Armut und Bedürftigkeit auf die Betroffenen aus, wie empfanden sie, welche Wege suchten sie, ihnen zu entkommen, und sind Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien erkennbar, die eine Form einer ›Armenkultur‹ generierten?

Diese Fragenkomplexe können ohne generelle Entwicklungslinien und grundsätzliche Überlegungen, die die Vergleichshorizonte liefern, kaum beantwortet werden bzw. erst diese Rahmenbedingungen ermöglichen die Verortung von Detailkenntnissen. Fundamentale Voraussetzung dafür sind wiederum Definitionen und Deutungen der verwendeten Begrifflichkeiten und Begriffsinhalte, wie sie Georg Seiderer in seinem Beitrag »Bettel und Armut im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert« aus zeitgenössischen Quellen erarbeitet. Anhand der schon seit der Wende zur Frühen Neuzeit einsetzenden Begriffsdifferenzierung in ›wahre Arme‹ und ›Scheinarme‹ entfaltet er den sich wandelnden Umgang mit Bedürftigen und die Pädagogisierung der Armen seit der Spätaufklärung. Dabei kann er mit Bezug auf die enorm zunehmende Publikationsflut frühneuzeitlicher Deutungsschemata von Armen und Armut feststellen, dass noch immer unterschieden wurde in ›würdige‹ und ›unwürdige‹ Arme, eng verknüpft mit der Arbeitsunfähigkeit bzw. Arbeitsunwilligkeit. Während die erste Gruppe durch Alter, Krankheit oder Invalidität charakterisiert war, der durch Reformen der bestehenden Institutionen geholfen werden sollte, ging man hinsichtlich der ›Scheinarmen‹ von fehlendem Arbeitswillen und Müßiggang aus, denen nur mit repressiven Methoden wie die Zuführung in Zwangsarbeitsanstalten und damit die Erziehung zu Fleiß und Arbeit beizukommen war. Diese moralische Deutung der ›Scheinarmut‹ und Bettelei hielt bis ins 19. Jahrhundert an und wurde erst durch den Pauperismus seit den 1830er Jahren abgelöst, dessen Ursachen zu grundsätzlichen Neuansätzen in der Armutsbekämpfung führten.

Mit der ›Sprache der Armut‹ befasst sich auch Andreas Gestrich, nun aber nicht mit Fremdzuschreibungen und Klassifizierungen der Armen, sondern im Hinblick auf die Authentizität der Bittbriefe der Bedürftigen. Aus der Typologisierung von Antragsprotokollen, Bittbriefen und Suppliken extrahiert Gestrich mit kritischem Blick das Leben der Armen, indem er zunächst den Verfasser der Schriftstücke ermittelt. Die Variationsbreite ist groß, denn sie reicht vom protokollierenden Armenpfleger, der eine mündlich vorgetragene Bitte verschriftlicht hat, über professionelle Schreiber bis hin zu den Bedürftigen selbst, wenn sie denn des Schreibens mächtig waren. Erst unter Berücksichtigung der jeweiligen Verfasser, des Sprachduktus, der äußeren Formalien, der Zielrichtungen der Gesuche usw. lassen sich Erkenntnisse sowohl für die sozialhistorische als auch für die soziolinguistische Forschung gewinnen. Gestrich aber geht in seiner Analyse der Ego-Dokumente Bedürftiger noch weiter: Vor dem Hintergrund, dass die Bedürftigen nicht nur ein Fundamentalrecht zu supplizieren hatten, sondern auch Einspruch gegen etwaige Ablehnungen einlegen konnten, filtert der Historiker die ›Interaktionsmöglichkeiten gesellschaftlicher Unterschichten mit den Behörden‹ heraus, die gleichfalls ein Licht auf die ›agency‹ – die erstaunlich vielfältigen Handlungsmöglichkeiten – der Armen werfen können.

Anke Sczesny greift diesen Faden auf, jedoch anhand ganz spezifischer Überlieferungsstränge – Anzeigen und Verhörprotokollen – und in einem ganz spezifischen Raum – der Fuggerei in Augsburg, womit im Hinblick auf Armut und Armenfürsorge die Stadt betreten wird. Die Aufnahme in die Fuggerei kam einer besonderen Auszeichnung für die Notleidenden gleich, weil sie vielfältige Bedingungen erfüllen mussten und weil die Wartezeiten wegen der nur geringen Wohnungsanzahl je nach Andrang erheblich sein konnten. Auch erforderte das Zusammenleben in dieser vom städtischen Raum relativ separierten Siedlung gewisse Regeln für ein ›friedliches‹ Miteinander, deren Verletzungen beim Administrator anzuzeigen waren, was bis zu Denunziationen vermeintlich missfälliger Fuggerei-Mitbewohner führen konnte. Dieses Anzeigeverhalten diente nicht allein der Alltagsbewältigung und etwaigen Konfliktlösungen, sondern Denunziationen, Gerüchte und Anzeigen wurden funktional sowohl von den Bewohnern eingesetzt als auch von der Stiftungsverwaltung genutzt. Die Administration und das Familienseniorat bedurften zur Stabilisierung ihrer Sozial- und Kontrollpolitik innerhalb der Fuggerei der Informationen durch Denunzianten, so dass diese Mitteilungen als legitim galten und nicht moralisch zu werten waren. Aus der Perspektive der Bewohner dagegen wurden Anzeigen nur dann akzeptiert, wenn sie beide Konfliktparteien, also die Anzeigenden wie auch die Angezeigten direkt und unmittelbar betrafen. Wurden Anzeigen jedoch für eigene Zwecke instrumentalisiert oder versuchte ein Denunziant durch seine Anzeige trotz besseren Wissens einer eigenen Denunziation zu entgehen, wurde eine Anzeige als moralisch verwerflich eingestuft.

Welche Spezifika solche Kleinräumigkeiten in der städtischen Armenfürsorge hervorriefen, nimmt auch Elke Schlenkrich in ihrem Beitrag zu den »Lebenswelten in geschlossenen Einrichtungen« in Leipzig in den Blick. Dazu untersucht sie zunächst die institutionellen Funktionen des Hospitals St. Georg nebst inkorporiertem Zucht- und Waisenhaus, des Johannis- und des Jacobshospitals, und zwar als Orte der Fürsorge, der Religiosität und des Gebetes, der Arbeit sowie als stationäre medizinische Versorgungslandschaften. Ferner geht ihr Beitrag prozessualen Entwicklungen und spezialisierten Transformationen nicht nur der Häuser nach, sondern auch den sich damit wandelnden Inklusions- und Exklusionsformen von Hausinsassen, die sich in diesen Einrichtungen bis zum 19. Jahrhundert vollzogen. So hatte sich das Johannishospital zur Pfründneranstalt und das ehemalige Lazarett Jacobshospital zum Krankenhaus gewandelt, das nun in erster Linie für die Behandlung von Patienten mit Prognose auf Heilung zuständig war und damit unheilbar bzw. chronisch Kranken den Zutritt verwehrte. Ähnliches geschah im Georgenhaus, hier vornehmlich aus dem Grund, weil die Insassen keinen Beitrag mehr zu ihrem Unterhalt leisten konnten. Neben den in allen drei Häusern den Tagesablauf durchziehenden religiösen Verpflichtungen waren die Hausbewohner, unter Berücksichtigung ihrer körperlichen Fähigkeiten, zur Arbeit verpflichtet, nicht zuletzt zur Vermeidung des ›Müßiggangs‹. Gerade aber diese Arbeitspflicht führte wiederum zu einer begrenzten ›Binnenwanderung‹ in den Häusern und zu Kontakten von männlichen und weiblichen Insassen, die nicht immer ohne Folgen blieben.

Fokussieren Sczesny und Schlenkrich private bzw. kommunale städtische Fürsorgeeinrichtungen und die dort lebenden Bewohner, so nimmt Daniela Heinisch speziell notleidende Frauen in Frankfurt am Main ins Visier. Ihre Analyse der Unterstützungs- und Bittgesuche sowie von Zeugnissen und Stellungnahmen von Pfarrern und Ärzten zu den Bittsuchenden im Zeitraum zwischen 1770 und 1809 fördert nicht nur die Ursachen weiblicher Armut zu Tage, die vom Tod des Familienernährers, von Krankheit und Gebrechen eines der Ehepartner und vom Alter dominiert waren. Vielmehr belegen die Quellen auch, wie sehr ledige Frauen und Witwen der allgemein üblichen Geschlechtsvormundschaft unterstanden, die sowohl das bürgerlich-polarisierende Bild der weiblich-passiven Unselbständigkeit gegenüber den vermeintlichen männlichen Stärken wie auch den Topos von der armen und hilflosen Witwe zementierte. Dieses Konstrukt forderte nicht nur die Ausübung der ›väterlichen‹ Pflichten und des Schutzes für diese Frauen durch den Frankfurter Rat, sondern umgekehrt suchten die Frauen diesen ›Schutz und Schirm‹ nicht zuletzt im St. Katharinen- und Weißfrauenstift. Der Gang in ein Kloster am Ende des Alten Reiches ist als ein durchaus überraschendes Ergebnis festzuhalten.

Peter Hintzen untersucht anhand von Bittbriefen bedürftiger Einwohner aus Deutz, einem heutigen Stadtteil Kölns, konkrete Notsituationen, in die die Betroffenen geraten waren. Er erläutert in einem ersten Schritt die sprachanalytischen Veränderungsprozesse hin zu einer Standardsprache als einer überregionalen Verkehrs- und Bildungssprache, wie sie sich im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert herausbildete, um im Vergleich zu englischen Armenbriefen die nicht unwesentlichen Unterschiede zwischen beiden Räumen herauskristallisieren zu können. Obwohl die Deutzer Armenbriefe relativ standardisiert sind, kann Hintzen ihnen individuelle und unterschiedliche Armutsursachen entnehmen, wobei er, wie Daniela Heinisch, zu dem Ergebnis kommt, dass Frauen zu der am meisten gefährdeten Risikogruppe zählten. Neben weiteren Notlagen wie Altersarmut, Krankheit und Arbeitslosigkeit steht die ›vorsichtige Systemkritik‹, die sich in Beschwerden bei höheren Instanzen bis hin zum Staat widerspiegeln, im Fokus seiner Analyse. Obwohl kein Recht auf Unterstützung von den Bedürftigen eingefordert werden konnte, so sahen diese dennoch Staat und Gemeinde insofern verpflichtet, als auch die Armen selbst ihre Schuldigkeit gegenüber den obrigkeitlichen Instanzen geleistet hatten.

Nach diesen Blicken auf städtische Bedürftigkeit, kommunale und private Wohlfahrt sowie die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Alltagsbewältigungen steht anschließend Armut und Armenfürsorge auf dem Land im Zentrum der Beiträge. Claudia Ried widmet sich den ganz spezifischen Fürsorgeformen in schwäbischen Landjudengemeinden während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie knüpft damit an langjährige Frühneuzeitforschungen in der Augsburger Wissenschaftslandschaft von Rolf Kießling an, verlängert die Perspektiven jedoch in die Moderne. Schritt für Schritt entfaltet sie mit einer komparatistischen Vorgehensweise zunächst die nicht unproblematische Quellenlage in einerseits eher armen und andererseits eher wohlhabenden Judengemeinden, um anschließend auf der Folie des Judenedikts des Jahres 1813 die politisch-rechtlichen Veränderungen und Auswirkungen auf die Gemeinden zu erläutern. Sie analysiert die von der christlichen Armenpflege getrennte Eigenfinanzierung der jüdischen Armenfürsorge ebenso wie die die Armut verursachenden Hauptfaktoren Kinderreichtum, Krankheit und Alter. Sie unterstreicht in diesem Zusammenhang den deutlich präventiven Charakter der jüdischen Armenpflege, da in vielen Bereichen die Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund stand, beispielsweise finanzielle Unterstützungen bei Auswanderungsvorhaben oder konkrete Beihilfen mit Naturalien. Zuständig war dabei der ehrenamtlich fungierende Armenpflegschaftsrat, der auch die Armenkasse verwaltete, die sich aus Spenden, Fleischaufschlägen, Stiftungen und verwandtschaftlichen und mithin überregionalen Zuwendungen speiste.

Armut im ländlichen Moselgebiet, im Hunsrück und in der Eifel unter dem Aspekt der ›Ökonomie des Notbehelfs‹ ist Dreh- und Angelpunkt im Beitrag von Katrin Marx-Jaskulski. Über das klassische Armutsklientel wie arbeitsunfähige und alte Menschen, Kranke und Kinder hinaus nimmt sie besonders das ›Patchwork‹ der Einkommensmöglichkeiten, wie es die Autorin nennt, in jungen Familien und bei arbeitsfähigen jungen Menschen in den Blick. Zwar bildeten meist die Erträge aus einer kleinen Landwirtschaft in Kombination mit Erwerb aus Handwerk, Handel oder Tagelohn die Basis des Familieneinkommens, doch musste in unvorhergesehenen Notsituationen auf Kredite, Spenden oder Bettelei zurückgegriffen werden, falls nicht schon vorher das familiäre soziale Netz die Bedürftigen auffing. Waren diese Unterstützungsmöglichkeiten jedoch ausgeschöpft und musste der Bedürftige sich an die öffentliche Fürsorge wenden, war ein freilich recht unscharf definiertes Kriterium die ›Würdigkeit‹, die über mögliche Beilhilfen entschied, wobei zusätzlich noch die soziale Kontrolle des Dorfes zumindest indirekt über die Hilfen mit urteilte.

III.

Mit den hier versammelten Beiträgen zum Prekariat in Stadt und Land im Industrialisierungsjahrhundert werden Armut und Armenfürsorge vor allem aus der Betroffenensicht breit aufgefächert. Es werden die wahrgenommenen Realitäten der Armen in ihrer Alltagsbewältigung erkennbar, und zwar aus ganz spezifischen Perspektiven und für spezifische Räume, seien es die Preisfragen des Bischofs Franz Ludwig von Erthal, der damit das ländliche Armenwesen neu organisieren wollte, sei es eine wie immer geartete Kritik am Fürsorgesystem. Wieder anders gerierten sich die jüdischen Landgemeinden, die durch ganz unterschiedliche Hilfen zur Selbsthilfe ihre Armen unterstützten oder die jungen Familien, die sich ihr Einkommen durch ein Patchwork von Tätigkeiten zu sichern suchten. Frauen in der Stadt waren dagegen nicht nur durch die spezifisch-bürgerlichen Gendervorstellungen geprägt, sie nutzten sie auch. Schließlich führte Armut zu eigenen kulturellen Formen – so erscheint es zumindest für die Sozialsiedlung Fuggerei wie für die Leipziger geschlossenen Einrichtungen – und nicht zuletzt muss der Sprache der Armen, den dahinter steckenden Absichten und Umformungen Rechnung getragen werden, um die Handlungsvielfalt von armen Menschen adäquat darstellen zu können. Nicht darum sollte es gehen, wie viele Arme es gab und wie arm diese Menschen waren, sondern wie sie mit ihrer Not umgingen und wie sie sie bewältigten oder empfanden. Dies alles harrt weiterer Vertiefung, wozu dieser Tagungsband einen Anstoß geben kann und will.

1 A New Global Partnership: Eradicate Poverty and Transform Economies through Sustainable Development, United Nations 2013, http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=45044#.Udwp31_wCUk, [09.07.2013]).

2 http://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/a334-4-armuts-reichtumsbericht-2013 [06.06.2013], Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. XXXI.

3 Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (wie Anm. 2), S. II.

4 Vgl. zur neuesten Literatur Johannes BURKHARDT (Hg.), Die Fugger und das Reich: Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Veröff. der SFG 4/32, Studien zur Fuggergeschichte 41), Augsburg 2008.

5 Peter KRIEDTE, Hans MEDICK, Jürgen SCHLUMBOHM, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus (Veröff. d. MPIG 53), Göttingen 1977.

6 Vgl. zur Diskussion zuletzt Rolf KIEßLING, Anke SCZESNY, Ländliche Gewerbestruktur und ›Proto-Industrialisierung‹ im Umfeld der Großbauten des schwäbischen Barock, in: Markwart HERZOG, Rolf KIEßLING, Bernd ROECK (Hg.), Himmel auf Erden oder Teufelsbauwurm? Wirtschaftliche und soziale Bedingungen des süddeutschen Klosterbarock (Irseer Schriften. Studien zur Schwäbischen Kulturgeschichte 1), Konstanz 2002, S. 59–80.

7 Wilhelm ABEL, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972.

8 Lutz RAPHAEL, Armut zwischen Ausschluss und Solidarität. Europäische Traditionen und Tendenzen seit der Spätantike, in: Herbert UERLINGS, Nina TRAUTH, Lukas CLEMENS (Hg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Eine Ausstellung des Sonderforschungsbereichs 600 »Fremdheit und Armut«, Universität Trier in Kooperation mit dem Stadtmuseum Simeonstift Trier und dem Rheinischen Landesmuseum Trier, 10. April 2011–31. Juli 2011, Darmstadt 2011, S. 23–31, hier S. 27.

9 Susanne F. ESER, Verwaltet und verwahrt. Armenpolitik und Arme in Augsburg. Vom Ende der reichsstädtischen Zeit bis zum Ersten Weltkrieg (Historische Forschungen 20), Sigmaringen 1996, S. 16.

10 Olwen H. HUFTON, The Poor of Eighteenth-Century France 1750–1789, Oxford 1974; Rainer BECK, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993.

11 Anke SCZESNY, Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 7), Tübingen 2002; DIES., Massenverelendung auf dem Land im 19. Jahrhundert? Ländliche Armut und Armenfürsorge in einer Gewerberegion, in: JbRG 31 (2013), im Druck; Katrin MARX-JASKULSKI, Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts XVI), Göttingen 2008.

12 Martin DINGES, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: GG 17 (1991), S. 5–29, hier S. 20 u. 26.

13 Thomas Max SAFLEY, Kinder, Karitas und Kapital. Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des frühmodernen Augsburg. Bd. 1: Die Waisenhäuser; Bd. 2: Die Waisenkinder (Veröff. der SFG 39/1, 2), Augsburg 2009, 2010.

I. Zur Problemstellung und Methodik

Georg Seiderer

Von ›wahren Armen‹ und ›Scheinarmen‹. Bettel und Armut im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert

1. Armut: Begriff und Begriffe

Armut ist ein vieldeutiger Begriff. Wir haben es in der politischen Theorie und Praxis mit den verschiedensten Armutsbegriffen zu tun, unterscheiden zwischen absoluter Armut, die sich an den postulierten elementaren Lebensbedürfnissen orientiert, und relativer Armut, die sich auf das durchschnittliche Einkommen einer bestimmten Gesellschaft bezieht und die damit per definitionem nicht nur in jeder Gesellschaft vorkommt, sondern überhaupt nicht zu überwinden ist – es sei denn in einer materiell strikt egalitären Gesellschaft. Wir beziehen in den Begriff der Armut nicht nur den Mangel an materiellen Gütern ein, sondern auch den an immateriellen Ressourcen, ob es sich dabei um den Zugang zu Bildung handelt, zu kulturellen Gütern oder zu Freizeitangeboten. Wir unterscheiden zwischen transitorischer und struktureller Armut und haben dabei nicht völlig vergessen, dass es auch den Stand der freiwilligen Armut gibt, die die Bedürfnislosigkeit, oder besser: eine weitgehende Reduktion materieller und anderer Bedürfnisse zum moralisch oder religiös geforderten Ideal erhebt. Wir haben ein breites und ausgesprochen kostenträchtiges sozialpolitisches Instrumentarium entwickelt, um Armut zu verhindern, zu lindern oder zu überwinden: Als ›Sozialstaat‹ haben wir die Verpflichtung zur solidarischen Hilfe grundlegend in unser Selbstverständnis als politische Gemeinschaft aufgenommen, was nicht verhindert, sondern geradezu danach zu fordern scheint, dass wir unsere Vorstellungen von Bedürftigkeit und Armut sowie die sich aus ihnen ergebenden Forderungen politisch und gesellschaftlich stets neu verhandeln – davon zeugt nicht nur die jüngste Debatte über ›Altersarmut‹. Über die Definition von Armut und die sich aus ihr ergebenden Ansprüche an den Staat wird in politischen Prozessen entschieden; zugleich sind sie an gesellschaftliche Werte, Normen und Ordnungsvorstellungen gebunden. Und sie sind, selbstverständlich, perspektivenabhängig: Aus der Sicht eines Betroffenen bedeutet ›Armut‹ etwas anderes als aus der von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, Sozialpolitikern und Soziologen.14

Als Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaft erlebt ›Armut‹ seit einigen Jahren eine neue Konjunktur, wie zahlreiche Projekte und Einzelforschungen deutlich machen.15 Im Folgenden soll versucht werden, auf die Begriffe von ›wahrer‹ und ›falscher‹ Armut einzugehen, die in der Neuzeit einen grundlegenden Klassifizierungsrahmen abgaben, um die Unterstützungswürdigkeit von Menschen in prekären Lebensverhältnissen einzustufen. Ein Schwerpunkt wird dabei auf der Armendebatte der Spätaufklärung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert liegen: Auch mit Blick auf den Begriff der ›Armut‹ können die Jahrzehnte zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an Reinhart Koselleck als begriffsgeschichtliche Sattelzeit betrachtet werden, in der sich unterschiedliche Begriffsinhalte zunächst überlagerten und schließlich einander ablösten.16

2. Armut und Bettel in der Spätaufklärung

Am 17. Oktober 1787 stellte der Bischof von Bamberg und Würzburg Franz Ludwig von Erthal zwei mehrteilige Preisfragen an seine Untertanen in beiden Hochstiftern, in denen es um die künftige Einrichtung des Armenwesens auf dem Lande, also außerhalb der Residenzstadt, ging. Die eine richtete sich an die Geistlichkeit und betraf eine zweckmäßige Erweiterung der seelsorgerlichen Aufgaben; die andere war für seine weltliche, so wohl bedienstete als unbedienstete Landeskinder gedacht und hatte die Organisation des Armenwesens zum Gegenstand.17

Die Formulierung der Fragenkataloge war nicht sehr geeignet, den Geistlichen und Beamten – und den eher pro forma mitangesprochenen unbedienstete[n] Landeskinder[n] – ein eigenständiges Urteil abzuverlangen. Die meisten Fragen sind als Suggestivfragen zu bezeichnen, bei denen es darauf ankam, die ›richtige‹ Antwort zu geben und möglichst gut zu begründen: So begann der Fragenkatalog für die weltlichen Untertanen mit den Fragen, ob es (erstens) einen Unterschied zwischen wahren Armen und Scheinarmen gebe und worin er bestehe, ob es (zweitens) richtig sei, die Ersteren sich selbst zu überlassen und den Letzteren das Betteln zu gestatten, und warum (drittens) beides höchst schädlich sei. Lediglich bei der letzten Frage, wodurch die wahren Armen gebührend verpflegt, die anderen zweckmäßig behandelt, der Stand der Armuth nach und nach vermindert und die Industrie erhöhet würde?, besaßen die Teilnehmer die Freiheit zur Entwicklung ihrer eigenen Konzepte.18

Als ›wahre Arme‹ galten demnach die, die aus eigenen Kräften nicht in der Lage waren, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen: Alte, Gebrechliche, Kranke. Für sie, jedenfalls für die Inländer unter ihnen, hatte der Staat zu sorgen, indem er ihnen ausreichende, doch nicht zu reichlich bemessene Mittel bereitstellte und deren Verteilung so organisierte, dass jeder, der dessen bedurfte, das Nötige auch wirklich erhielt. Die Armut des Arbeitsfähigen – worunter wenigstens größere Kinder inbegriffen waren – galt demgegenüber als ›Scheinarmut‹: Korrektur, Besserung, Abschreckung und Erziehung zur ›Industrie‹19 waren die wesentlichen geeigneten Mittel, um ihr vorzubeugen oder entgegenzuwirken; in hartnäckigen Fällen hatte der Staat das Recht, die ›Scheinarmen‹ mit Zwang zur Arbeit anzuhalten.

Die Preisfragen standen im Zusammenhang mit einer Reform des Armenwesens, die seit 1785/86 zunächst in den beiden Residenzstädten durchgeführt worden war, um nun durch eine Neuorganisation der Armenversorgung auf dem Land erweitert zu werden.20 Mit den Preisfragen sollte einerseits auf die Erfahrungen der ›vor Ort‹ eingesetzten Staatsdiener zurückgegriffen werden. Dabei wurde die Übereinstimmung der Autoren mit den vorher festgelegten Prinzipien der Armenpolitik erwartet: Die Preisfragen machten die Beamtenschaft und die Geistlichkeit auf dem Lande mit ihnen bekannt und suchten sie auf einen bestimmten Armutsbegriff einzuschwören.21 Zugleich trugen sie dazu bei, dass sich Beamte und Geistliche in beiden Hochstiftern an der öffentlich geführten Debatte über Reformen des Armenwesens beteiligten: Der Druck der besten Preisschriften in beiden Fürstentümern war geplant; er erfolgte allerdings nicht ohne umfangreiche Korrekturanweisungen der für die Bewertung eingesetzten Censurkommission[en].22 Schließlich waren die Preisfragen und die Publikation der besten Preisschriften wohl auch ein Mittel, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Deutschland auf die in Würzburg und Bamberg durchgeführten und geplanten Reformen zu richten, mithin ein Akt der Selbstdarstellung des Fürsten, der sich publikumswirksam als aufgeklärter Herrscher präsentierte.

Die Preisfragen und die Reformen des Armenwesens in Würzburg und Bamberg waren Teil der in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in ganz Deutschland intensivierten Bemühungen um eine Lösung des Armenproblems. In zahlreichen deutschen Staaten und Städten wurde die Armenversorgung neu organisiert, so in Göttingen und in Hamburg, um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen;23 auch in Augsburg kam es 1781 zur Errichtung einer neuen Armenanstalt.24 Als Initiatoren und Träger beteiligten sich daran Fürsten und territorialstaatliche Verwaltungen, städtische Magistrate und private Initiativen, die nicht selten von den im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gegründeten patriotischen bzw. ökonomisch-gemeinnützigen Gesellschaften ausgingen.25 Zugleich wurden Bettel und Armut zum Gegenstand einer zwar keineswegs neuartigen, aber immens anschwellenden Literatur, von Zeitschriftenaufsätzen, Büchern und kleinen Schriften;26 manche Zeitschriften waren ausschließlich diesem Gegenstand gewidmet, so etwa die Schwäbischen Provinzial-Blätter über Armenversorgung und Armenerziehung, die von 1796 bis 1798 in Stuttgart erschienen und der wechselseitigen Information über die Armeneinrichtungen in den schwäbischen Kreisständen gewidmet waren.27

Natürlich waren die Positionen in der in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern ungemein breit geführten spätaufklärerischen Diskussion um die Versorgung der Armen, die Abstellung des Bettels, die Bewältigung des Armenproblems und die Reform des Armenwesens keineswegs einheitlich. Dennoch waren für sie einige verbreitete Topoi charakteristisch, die den Armendiskurs im späten 18. Jahrhundert und darüber hinaus prägten und die auch den suggestiven Vorgaben der Fragenkataloge in Würzburg und Bamberg zugrunde lagen.

Zu den zentralen Elementen dieses Diskurses zählte die Unterscheidung zwischen ›wahren Armen‹ und ›Scheinarmen‹ oder auch ›falschen Armen‹. ›Wahre Armut‹ war, wie erwähnt, die Bedürftigkeit derer, die infolge von Krankheit, Invalidität, Alter oder Gebrechlichkeit unfähig waren, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Armut derer, die in der Lage waren, zu arbeiten, aber – so die verbreitete Interpretation – dies nicht tun wollten, war dagegen keine ›wahre Armut‹.28

Die Vorschläge zur Überwindung der ›Scheinarmut‹ der Arbeitsfähigen schlossen vielfältige repressive Mittel ein, die grundsätzlich im Einklang mit der Verordnungspraxis der Territorialstaaten standen. Dazu gehörten Bettelverbote ebenso wie das Verbot des Almosengebens, dazu zählte schließlich nicht zuletzt die Einrichtung und Unterhaltung von Armen- und Arbeitshäusern, in denen arbeitsfähige Bettler zwangsweise zur Arbeit angehalten wurden. Zwar war die Einrichtung des Arbeitshauses in der Spätaufklärung keineswegs mehr unumstritten; John Macfarlands Untersuchungen über die Armuth mit ihrer grundsätzlichen Kritik an Arbeitshäusern wurde 1785 von Christian Garve ins Deutsche übersetzt und in der deutschen Debatte über das Armenproblem rezipiert.29 Im Allgemeinen aber galten Armen- und Arbeitshäuser als ein notwendiges Mittel der Bettelbekämpfung; die am Ende des 18. Jahrhunderts im Namen der Humanität vielfach geübte Kritik an menschenunwürdigen Zuständen in bestehenden Arbeitshäusern richtete sich in der Regel nicht gegen die Einrichtung als solche, sondern zielte auf ihre Reform – so etwa, als in Nürnberg der Kaufmann Paul Wolfgang Merkel und der Pfarrer Paul Sigmund Seyfried 1798 die Arbeitsbedingungen im städtischen Zucht- und Arbeitshaus anprangerten, für dessen Insassen das trockene Schleifen von Brillengläsern geradezu einer Verurteilung zu einem frühen Tode gleichkam; die gemeinschaftliche Kritik hatte wenigstens den Erfolg, dass um 1800 das Nassschleifen eingeführt wurde.30

Neben Repressivmaßnahmen galt als ein zentrales Mittel zur Überwindung der Scheinarmut der Arbeitsfähigen die Erziehung zur Arbeitsamkeit, zur ›Industrie‹. Der Leitgedanke der Erziehung zur ›Industrie‹ war für die Diskussion um das Armenproblem in der späten Aufklärung charakteristisch und bedingte einen ausgeprägt pädagogischen Grundzug der Reformansätze zur Überwindung von Bettel und Armut: Ein prominentes Beispiel mit weitreichender Wirkung ist Joachim Heinrich Campe, der 1786 eine gezielte Mentalitätsänderung des Volkes in den Mittelpunkt seiner Vorschläge zur Bekämpfung der Armut und zur Steigerung des allgemeinen Wohlstandes stellte.31

Für die ›wahren Armen‹ war dagegen nach verbreiteter Auffassung eine grundlegende Reform der bisherigen Einrichtungen nötig, die das zufällige Almosen überflüssig machen und den wahrhaft Bedürftigen das ihnen zustehende Auskommen sichern sollte. An dieser Stelle kann nicht im Einzelnen auf die verschiedenen Pläne zur Neuorganisation der Armenversorgung eingegangen werden, die am Ende des 18. Jahrhunderts entworfen und zum Teil umgesetzt wurden. Wegweisende Neuansätze verfolgte vor allem die 1788 gegründete Allgemeine Armenanstalt in Hamburg, die sich einer Initiative der Patriotischen Gesellschaft verdankte.32 Das Prinzip der Pflicht zur Arbeit, das die Armen- und Bettelordnungen der frühen Neuzeit bestimmt hatten, blieb erhalten; neben der Versorgung arbeitsunfähiger Armer stand die Zuweisung von Arbeit an arbeitsfähige Arme im Mittelpunkt der Tätigkeit der Armenanstalt, wobei es sich – auch dies ein neues Element – nicht um die Einweisung in Arbeitshäuser, sondern um die Beschaffung häuslicher Arbeiten handelte.33 Zugleich wurde die Betreuung der Armen durch ehrenamtliche Armenpfleger übernommen. Die Reform wies damit in vielen Zügen auf das 1853 eingeführte ›Elberfelder System‹ voraus, das seit den 1860er Jahren von zahlreichen weiteren Städten in Deutschland wenigstens teilweise adaptiert wurde.34 Auch wenn andere Reformen des Armenwesens keine so weitreichende Vorbildwirkung entfalteten: Wesentlich ist an den Reformplänen der Spätaufklärung, dass sie, sei es auf der Ebene der Kommune oder auf der des Staates, dem Anspruch nach einen umfassenden Ansatz zur Neuorganisation des Armenwesens verfolgten.

3. Armut: Mittelalter und Frühe Neuzeit

In der Bewertung der spätaufklärerischen Diskussion über Armut und Bettel sind zwei sehr unterschiedliche Perspektiven möglich. Man kann das Zukunftsweisende an ihr betonen, so sehr es begrenzt gewesen sein mochte und so unzureichend die Konzepte und Rezepte auch waren. Man kann sie, zum anderen, in der Tradition der frühneuzeitlichen Armenpflege verorten.

Tatsächlich war die spätaufklärerische Diskussion um Armut und Bettel in hohem Maße den Bewertungsmaßstäben und Lösungsansätzen verpflichtet, die für das Armenwesen seit dem ausgehenden Mittelalter charakteristisch gewesen waren. Wie Ernst Schubert in grundlegenden jüngeren Untersuchungen gezeigt hat, taucht der Begriff des ›Hausarmen‹ zur Bezeichnung jener in einer Stadt ansässigen Bedürftigen, die etwa als Handwerksmeister wegen ihres Alters oder infolge einer Krankheit der Unterstützung bedurften, in den Jahrzehnten um 1400 auf; Stiftungen wie die 1388 errichtete Mendelsche Zwölfbrüderstiftung in Nürnberg, aber auch die 1521 gestiftete Fuggerei in Augsburg waren ganz auf die Unterstützung von Handwerkern zugeschnitten, die bedürftig geworden waren, aber nicht gebettelt hatten.35 In abgewandelter Form blieb der Begriff des Hausarmen auch in der spätaufklärerischen Debatte von Bedeutung; die ›verschämten‹ Armen, nicht zuletzt bedürftige Witwen, wurden zu den ›wahren Armen‹ gezählt. Der Begriff des ›starken Bettlers‹ – der in England bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert aufkam3637383940