Über das Buch:
Die erfolgreiche Restaurantbesitzerin Whitney steht völlig unerwartet vor dem Ruin. Da kommt es ihr gerade recht, dass sie von ihrer Mutter ein altes Hotel am Atlantik gererbt hat. Vielleicht lässt es sich ja noch zu Geld machen? Doch ihre Sondierungsreise nach Roanoke Island stellt Whitney vor ungeahnte Schwierigkeiten: Sie muss sich nicht nur mit ihrem Stiefvater auseinandersetzen, der für sie lange ein Fremder war, sondern auch noch mit Mark, der in dem historischen Gebäude einen Surfshop betreibt und von ihren Plänen alles andere als begeistert ist. Außerdem hält das alte Gemäuer für Whitney die eine oder andere rätselhafte Entdeckung bereit.
Während sie die Schätze sichtet, die das Hotel birgt, beginnt für sie eine Reise zu ungeahnten Familiengeheimnissen …

Über die Autorin:
Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.

Kapitel 8

Oben erwartete mich ein besonders schlecht gelaunter Clyde. Selbst Ruby spürte das, als sie ins Wohnzimmer trottete, denn sie zog sich schnell in die Küche zurück. Dort war sie in Sicherheit.

„Wo bleibt das Abendessen?“, durchschnitt Clydes Stimme die friedliche Nachmittagsluft mit der Schärfe einer unsichtbaren Messerklinge.

Deshalb hatte er mich nach oben gepfiffen? Ich hatte ihm ein Schinkenbrot hingestellt, bevor ich eine Etage tiefer gegangen war. Der Teller war jetzt leer und stand auf dem Zeitungsstapel neben seinem Sessel. „Es ist erst halb sechs, Clyde. Und es sieht so aus, als hättest du dein Brot gegessen.“

„Mir knurrt der Magen. Wo sind meine Brezeln? Wenn du schon so tust, als wärst du hier, um dich um mich zu kümmern, kannst du mir wenigstens etwas zu essen geben. Ich rufe die Sozialarbeiterin an und sage ihr, dass du dir alles unter den Nagel reißt, was dir in die Hände kommt. Und dass du mir mein ganzes Essen wegisst.“

Nicht reagieren! Gib ihm diese Genugtuung nicht!

Ich holte das Handy aus meiner Hosentasche. „Das trifft sich gut, denn ich habe mit dem Jungen gesprochen, der unten im Rip Shack arbeitet. Seine Freundin, Kayla, ist die Sozialarbeiterin, die versucht hat, dir im Krankenhaus zu helfen. Kayla freut sich, wenn sie ein wenig mit dir plaudern kann. Du hast recht: Wir sollten sie anrufen. Ich lasse mir nur schnell ihre Nummer geben. Vielleicht kannst du ihr dann auch erzählen, was mit dem Schinkenbrot passiert ist, das ich dir hiergelassen habe, und mit der Banane, die heute Morgen in der Obstschüssel lag, und mit den Kartoffelchips, die in der Tüte waren, die der Hund sich gerade geschnappt hat. War jemand hier, der diese Sachen alle gegessen hat?“

Clyde rümpfte die Nase, so als stinke es plötzlich furchtbar im Raum. „Mach die Tür zu! Durch die Mückengittertür zieht der Wind herein. Das treibt meine Stromrechnung unnötig in die Höhe. Willst du, dass ich sie bald nicht mehr zahlen kann? Ist das dein Plan?“

Atme, atme, atme. Schieße nicht zurück. Denn genau das will er erreichen. Wie hatte es meine Mutter mit diesem unerträglichen Kerl nur ausgehalten? Warum hatte sie sich das angetan? Was hatte sie je in ihm gesehen? Hatte sie so verzweifelt jemanden gesucht, um den sie sich kümmern konnte, nachdem sie nicht mehr als Lehrerin gearbeitet hatte? „Ach, Clyde, ich glaube, du hast genügend Einnahmen durch die Mieter meiner Mutter im Erdgeschoss. Ehrlich gesagt überrascht es mich ein wenig, dass das Gebäude in einem so schlechten Zustand ist. Eichhörnchen kommen ins Haus. Die Ladenbesitzer müssen Fallen aufstellen, um ihrer Herr zu werden.“

„Warum, glaubst du, habe ich den Hund mitgebracht? Er ist ein halber Jagdhund. Er hatte eine tote Schlange im Maul, als ich ihn sah.“

Mein Magen zog sich zusammen. Dieses Bild würde ich so schnell nicht wieder loswerden. Na toll! „Das ist eklig.“

Er schnaubte. „Wenn du aufhörst, ihm Hundefutter zu geben, geht er auf die Jagd. Ratten, Eichhörnchen, Schlangen. Er rottet alles aus, was ins Haus kommt.“

Hier oben, meinst du? Im zweiten Stock?“ Ich konnte nichts anderes mehr denken als: Ratten, Eichhörnchen, Schlangen. Ratten, Eichhörnchen, Schlangen. Ratten …

„Stinkende Bisamratten. Überall. So groß, dass nicht einmal die Katzen sie töten können. Sie kommen durch die Kanalisation herauf. Einige haben zehn Pfund.“

Mir schoss sofort durch den Kopf, was ich unten erlebt hatte. Ich hatte Mäusespuren gesehen, ich hatte immer wieder ein Rascheln in den Wänden gehört. Lauerten noch größere Tiere im Excelsior? Dann hätte ich doch bestimmt Spuren von ihnen gesehen, oder? „Clyde, du weißt, dass das nicht stimmt.“ Es stimmt doch nicht, oder? Sag mir, dass ich recht habe. Aber wenn ein Eichhörnchen ins Haus kommen kann …

„Ein Tourist ist ins Wasser gesprungen und hinausgeschwommen, um das Tier zu retten. Er dachte, es wäre ein Hund, der abgetrieben worden war. Aber es war eine Bisamratte! Sie hat ihn gebissen und er musste sich gegen Tollwut impfen lassen. Stand in der Zeitung.“

Die Machtverteilung in diesem Kleinkrieg kippte langsam und Clyde schien das zu spüren. Mit Schlangen und zehn Pfund schweren, mutierten Bisamratten konnte ich es nicht aufnehmen.

„Wann stand das in der Zeitung?“

„Vor zwei Wochen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja nachsehen. Die Ratten sind so groß, dass die Katzen vor ihnen davonlaufen.“

„Weißt du was, Clyde? Ich habe für so etwas keine Zeit. Und ich kann nicht jedes Mal angelaufen kommen, nur weil du dir irgendetwas einbildest. Hör auf, auf den Boden zu klopfen! Du vergeudest nur deine Zeit. Du wirst mich nicht los!“ So! Nun hatte ich es ihm aber gezeigt!

Trotzdem hatte ich vor, die Männer im Rip Shack nach den Bisamratten zu fragen, wenn ich sie wiedersah.

„Weil du damit beschäftigt bist, alles zu stehlen, was du in die Finger bekommst!“

Das hatten wir alles schon durchgekaut. „Was einem gehört, kann man nicht stehlen.“ Kein Wunder, dass Clydes Söhne nichts mit ihm zu tun haben wollten. Warum sollten sie sich das antun, wenn er ihnen gegenüber auch so ein Widerling war?

„Du hast ihre Kette genommen! Das Goldkreuz mit der Perle darin. Leg es wieder auf ihre Kommode zurück, Fräulein! Ich habe dir gesagt, dass du hier oben nichts anrühren sollst. Solange ich lebe, lässt du die Finger von ihren Sachen!“

Mein Kopf flog zurück, als hätte er mich geschlagen, obwohl er nur mit einem anklagenden Finger auf mich deutete. Wusste er es wirklich? Erinnerte er sich tatsächlich oder warf er mir das nur vor, um mich zu verletzen?

Ich konnte mir meine Mutter ohne dieses winzige Goldkreuz um den Hals nicht vorstellen. In meinen frühesten Kindheitserinnerungen saß ich in der Kirche auf ihrem Schoß, lehnte den Kopf an ihre Schulter, spielte mit dem Kreuz und verglich es mit dem Kreuz auf einem der bunten Kirchenfenster. An der Stelle des strahlenden Dornenkranzes, der um das Kreuz auf dem Buntglasfenster gewunden war, hatte die Kette um den Hals meiner Mutter eine kleine, schimmernde Perle gehabt.

Jeden Abend hatte sie das kleine Kreuz neben ihr Bett auf den Nachttisch gelegt. An jedem Morgen hatte sie die Kette wieder angelegt. Als eines meiner ersten Muttertagsgeschenke hatte ich ihr eine dünne Goldkette gekauft, weil ihre alte an vielen Stellen abgeknickt und schäbig geworden war.

Sie hatte mich so herzlich umarmt, dass ich fast keine Luft mehr bekommen hatte, dann hatte sie mich auf den Kopf geküsst und gesagt, dass ich mein durch Himbeerpflücken schwer verdientes Geld nicht für sie hätte ausgeben sollen.

Tränen schossen mir unerwartet in die Augen und machten mich fast blind. „Sie wurde mit dieser Kette beerdigt, Clyde. Das weißt du.“ Meine Stimme zitterte und ich hasste diese Schwäche. Ich hasste es, dass mir das vor den Augen des Feindes passierte. Ich hasste ihn, weil er mich dazu brachte.

Ruby schlich winselnd an mir vorbei, schob die Schnauze auf die Armlehne von Clydes Sessel und legte ihren Kopf so vorsichtig auf, dass sie nicht einmal den Möbelschoner berührte, den meine Mutter aus einer flauschigen braunen Wolle gewebt hatte.

„Ich habe sie ihr aus Vietnam geschickt“, murmelte Clyde, dessen Körper in den Kissen versank und fast verschwand, während er den Blick abwandte. Geistesabwesend legte er dem Hund eine Hand auf den Kopf. „Ich habe sie damals im Army-Laden gekauft. War nicht teuer.“

Mir wurde übel. Meine Mutter trug dieses Kreuz auf ihrem Hochzeitsfoto! Sie hatte es an dem Tag getragen, an dem sie meinen Vater in einer Kapelle in der Nähe ihres Collegecampus geheiratet hatte. Bei der Trauung waren nur er und sie, der Pfarrer und zwei ihrer Freundinnen als Trauzeugen zugegen gewesen. Sie hatten nicht gewollt, dass sich ihre Familien einmischen würden, was zweifellos passiert wäre. Die Eltern meiner Mutter waren der Ansicht gewesen, dass eine viermonatige, stürmische Beziehung zu kurz sei, um zu prüfen, ob man zusammenpasste, besonders bei einem Altersunterschied von vierzehn Jahren. Und die Mutter meines Vaters hätte natürlich jemanden wie meine Mutter unter allen Umständen von vornherein abgelehnt.

Meine Mutter hatte an dem Tag, an dem sie meinem Vater das Jawort gegeben hatte, Clydes Kette getragen? Wie hatte sie das tun können? Warum hatte sie das gemacht?

Mein Vater war die Liebe ihres Lebens gewesen. Mein Vater! Sie hatte sich auf Anhieb in ihn verliebt, bei seinem Konzert in der Aula. Zwischen den einzelnen Musikstücken hatte ein Theaterstudent ein Gedicht von Lord Byron rezitiert und meine Eltern hatten sich dabei angesehen:

Ich habe immer nur dich gesucht, und schließlich fand ich dich;
Ihr Blick war wie die Strahlen der Sonne, die leuchten ewiglich;
Mit ihrem Glanz beschien und erhellte sie mein ganzes Leben;
Ich wusste, es ist Liebe, etwas Schöneres kann es nicht geben.

Nach der Aufführung und dem anschließenden Seminar hatte sie absichtlich noch herumgestanden und er hatte sich absichtlich von seinen Bewunderern losgerissen, um sie anzusprechen. Sie waren miteinander essen gegangen, waren danach noch geblieben und hatten sich erst voneinander verabschiedet, als sie in ihr Wohnheim zurückgemusst hatte, bevor abgesperrt wurde.

Während dieser ganzen Zeit hatte sie Clydes Kette getragen? Wer war meine Mutter? Hatte ich sie jemals wirklich gekannt?

Die Gefühle überrollten mich und ich konnte nichts anderes tun, als mich umzudrehen, durch den Flur zu eilen und erst stehen zu bleiben, als ich zur Tür hinaus ins Treppenhaus und zwei Stockwerke tiefer gelaufen war, bis ich auf der Straße von Manteo stand und die kühle, salzige Luft keuchend einatmete.

Schließlich sank ich auf eine Parkbank und schaute durch meinen Tränenschleier aufs Meer hinaus. Boote liefen in den Hafen ein, andere liefen aus. In der Bucht spielte eine Gruppe von Delfinen, ein Vogel wagte sich aus seinem Versteck, um nachzusehen, ob die Menschen schon alle fort waren.

Möwen kreischten. Virginia-Eichen raschelten. Ein Ochsenfrosch quakte irgendwo in der Nähe ein träges Lied. Vertraute Geräusche. Es war die Musik der Sommermonate hier mit meiner Mutter, die mir jetzt wie eine Fremde erschien, als hätte sie durch ihre Geheimnisse das Leben, das ich mit ihr gekannt hatte, verleugnet und es wertlos gemacht. Hatte sie in diesen ganzen Jahren von Clyde Franczyk geträumt? Und gewünscht, er käme zurück? Hatte sie gewünscht, sie hätte meinen Vater nie kennengelernt, sondern lieber darauf gewartet, dass Clyde aus Vietnam zurückkäme?

Ich wollte diesen Gedanken vertreiben. Ihn zwingen zu verschwinden. Aber auch durch noch so viele Tränen konnte ich seine Macht nicht wegwaschen. Er brannte wie eine Säure, während meine Protesttränen meinen Blick aufs Wasser trübten. Nicht weit vom Ufer entfernt paddelte ein Mann in einem roten Kajak nahe an die Delfine heran, die im Wasser tollten, und fotografierte sie. Ich wollte in einem Boot sitzen. Ich wollte rudern und rudern und rudern, bis ich weit draußen auf dem Meer wäre, wo niemand fragte, was richtig und was falsch war, wo es keine versteckten Geheimnisse gab.

Der Kajakfahrer drehte ab und bewegte sich geschickt aufs Ufer zu, wobei er wie spielerisch durch die Wellen glitt. Ich schloss die Augen, versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, den Schmerz hinunterzuschlucken und ihn nicht mehr hochsteigen zu lassen.

Ein Stechen an meinem Arm holte den Schmerz wieder an die Oberfläche. Ich schlug schnell auf meinen Arm und fühlte warmes Blut. Die Moskitos kamen. Ich konnte nicht hierbleiben. Ich ließ den Kopf in die Hände sinken, wischte mir die Tränen aus den Augen und versuchte erneut, wieder klar zu denken, mich darauf vorzubereiten … irgendwohin zu gehen. Ich war nicht einmal sicher, wohin ich wollte. Ich konnte es nicht ertragen, ins Excelsior und zu meinem Stiefvater zurückzukehren.

Vielleicht sollte ich es wie Clyde machen und mich für ein paar Tage in einem Hotel in Nags Head verkriechen. Weglaufen.

Aber wenn ich ehrlich war, konnte ich mir das finanziell und zeitlich nicht leisten. Abgesehen davon schien Nags Head jetzt auch besudelt zu sein. Woher sollte ich wissen, ob die Geschichte meiner Mutter von ihrem idyllischen Tag dort mit meinem Vater überhaupt wahr war? Vielleicht war sie nur Teil der Lüge. Ein Teil der Verschleierung, die meine Mutter wie ihre Wandteppiche gewebt hatte. Da sie nicht mehr hier war, um mir zu helfen, die Fäden zu entwirren, würde ich nie erfahren, was gefälscht und was wahr war, welche Farben künstlich eingefärbt und welche Farben echt waren.

Etwas summte an meinem Ohr. Ich schlug danach und zischte: „Lass mich in Ruhe!“

„Sie sehen aus, als könnten Sie ein Mückenspray vertragen.“ Der Kajakfahrer war an Land gekommen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Er stand auf dem Steg und lächelte gut gelaunt. Dann holte er eine kleine Flasche Mückenspray aus seinem Rucksack.

„Nein danke. Ich brauche nichts.“ Ich war nicht in der Stimmung für Gesellschaft, auch nicht für nette Gesellschaft. Ich brauchte Zeit allein, um meine Wunden zu lecken und zu entscheiden, was ich als Nächstes tun wollte. Ich wollte mich ins Auto setzen und nach Michigan zurückfahren, aber was würde mich zu Hause erwarten? Der Tod des Bella Tazza 2 und der schwere Kampf, das erste Restaurant trotz überfälliger Rechnungen zu retten? Die Kapitulation vor Tagg Harper? Denise, die mit der Frage rang, ob sie es sich leisten konnte, Matties Atemprobleme behandeln zu lassen, oder ob sie dieses Mal nicht mit ihr zum Arzt gehen sollte, um Geld zu sparen?

Das konnte ich nicht.

„Einen schlechten Tag gehabt?“, fragte der Kajakfahrer. Er stand immer noch mit dem Mückenspray da und bot es mir an.

Ich wischte die Tränen und die verlaufene Wimperntusche aus meinem Gesicht und nickte schniefend. Dann legte ich die Hände schützend über meine abgeschnittenen Sweatshirtärmel, atmete tief ein und langsam wieder aus. „Es war nicht gerade der beste Tag.“

„Hier draußen wird es ein wenig kühl.“

Ich merkte, dass ich die Ellenbogen an mich drückte und mit den Händen über meine Arme rieb. „Ich sollte hineingehen.“ Wohin? Wohin wollte ich hineingehen?

„Hunger?“

Jetzt drehte ich mich um und betrachtete ihn genauer. Ich ließ meinen Blick langsam an einer gut sitzenden grauen Goretex-Schwimmhose, einem Funktionshemd mit einem farblich abgesetzten Streifen am Saum und dem strahlenden Sonnenschein über einer breiten Brust wandern. Ein Goldkreuz lag darauf, zusammen mit einer teuer aussehenden Kamera mit Weitwinkelobjektiv und einer Markensonnenbrille. Seine Baseballkappe hatte er zurückgeschoben, damit ich im Licht der untergehenden Sonne und der Sicherheitslampen sein Gesicht sehen konnte.

Blond, blaue Augen, sauber rasiert, die Haare über den Ohren kurz geschnitten. Er würde auf ein Poster für Outdoorabenteuer auf den Outer Banks passen. Er kam mir vage bekannt vor. Vielleicht war ich ihm schon in einem Restaurant in Manteo über den Weg gelaufen?

Hunger? Was genau meinte er damit? Wollte er mich einladen? Seit ich das erste Bella Tazza zu managen begonnen hatte, das Tazza 2 eröffnet und einen ständigen Kampf mit Tagg Harper auszufechten hatte, war ich in Bezug auf Männer völlig aus der Übung gekommen und konnte sie nicht mehr einschätzen. Ich war seit Ewigkeiten von keinem Mann mehr eingeladen worden.

Zu der Zeit allerdings, als ich noch in Touristenmekkas und Urlaubsorten Restaurants eröffnet und gemanagt hatte, war so etwas an der Tagesordnung gewesen. Gäste und Mitarbeiter waren häufig auf der Suche nach Liebe. Wenn man jung und weiblich war, lernte man, fast reflexartig darauf zu reagieren – die, die einem nicht gefielen, abzuweisen und mit den Netteren hin und wieder auszugehen. Und beide Parteien in diesem Spiel hatten gewusst, dass alles saisonbedingt war: Man kam und ging und so wollte es jeder. Man war sich, ohne dass es laut gesagt werden musste, einig, dass es keine langfristigen Verpflichtungen, keine schmerzhaften Abschiede gäbe. Wenn eine Beziehung anfing, war das Ende schon vorprogrammiert.

Ein alter Teil von mir, der Teil, der früher ein trügerisches Gefühl von Bestätigung und Selbstverwirklichung in solchen Beziehungen gefunden hatte, erwachte und flüsterte: Warum nicht? Wenigstens gibt es jemanden, der dich will.

Ich brauchte Trost. Eine Ablenkung.

„Ein wenig.“ Ich sondierte das Terrain.

Der Mann lächelte langsam, was den Werbeplakat-Eindruck noch verstärkte. Es war jedoch kein künstliches Lächeln. Er schien wirklich ganz nett zu sein.

Das goldene Kreuz rutschte unter seinem Kamerariemen heraus, als wollte es mir versichern, dass ich ihm vertrauen könne. Leider erinnerte es mich an die Kette meiner Mutter und an den Streit mit Clyde. Mein Magen zog sich zu einer harten, drückenden Kugel zusammen. Vielleicht war es doch kein Versuch, mich anzubaggern, sondern eher eine Mitleidsaktion. Vielleicht war er ans Ufer gepaddelt, da er geahnt hatte, dass bei mir gerade eine riesige Kernschmelze im Gang war. Vielleicht war die Essenseinladung ein Versuch, mich moralisch aufzubauen? Das hatte mir gerade noch gefehlt! Ich hatte im Moment absolut keinen Nerv für gut gemeinte Ratschläge.

„Ich hole nur kurz das Kajak an Land.“ Er schob den Kamerariemen über seinen Kopf und legte die Kamera zusammen mit dem Insektenspray neben mich. „Passen Sie bitte kurz darauf auf.“

Ich stand auf und stellte fest, dass ich sonderbarerweise Gleichgewichtsprobleme hatte. „Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich lieber nach Hause gehen. Ich glaube …“ Die Ausrede, mit der ich aufwarten wollte, mein Stiefvater hat sonst nichts zu essen, weigerte sich, mir über die Lippen zu kommen. Im Kühlschrank war etwas zu essen. Clyde würde nicht verhungern.

Aber sollte ich eine Essenseinladung von jemandem annehmen, der gerade aus dem Nirgendwo angepaddelt gekommen war? Wahrscheinlich war das keine so gute Idee, und in meiner gegenwärtigen Verfassung schon gar nicht. Vielleicht sollte ich einfach ins Excelsior gehen, den ganzen Abend in der ersten Etage verbringen und Alices Briefe zusammenpuzzeln und weitere Hinweise suchen … im schwachen Licht der wenigen Glühbirnen, die noch funktionierten … umgeben von dunklen Schatten und Geräuschen … und den Eichhörnchen … und den Bisamratten …

„Ich bin gleich wieder da“, bot mein Outdoorretter, meine willkommene Ablenkung, freundlich an. „Überlegen Sie schon einmal, worauf Sie Appetit haben. Wir können in die Innenstadt gehen, wenn Sie möchten, oder mit dem Auto nach Kitty Hawk hinüberfahren. Vielleicht ins Black Pelican. Oder irgendetwas anderes, wozu Sie Lust haben. Keine Verpflichtung. Nur ein Abendessen. Versprochen.“

Nur ein Abendessen … Ich musste etwas essen. Und ich brauchte jemanden, mit dem ich reden konnte. „Also gut.“ Vielleicht in die Innenstadt, denn ich würde auf keinen Fall in sein Auto steigen. Ich war zwar gerade ein emotionales Wrack, aber ich war nicht verblödet.

Er lief zu seinem Kajak, blieb dann stehen, drehte sich noch einmal zu mir um und reichte mir freundlich mit einem weiteren gewinnenden Lächeln die Hand. „Entschuldigung. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Casey Turner.“

Bei dieser überraschenden Aufklärung verschlug es mir für einen Moment die Sprache, aber ich versuchte, keine Miene zu verziehen, da er mir nicht ansehen sollte, dass er mich überrumpelt hatte. Deshalb kam er mir so bekannt vor. Er war das Gesicht auf der Visitenkarte, die ich an meinem ersten Tag an der Tür gefunden hatte.

Sag ihm nicht deinen Namen. Nenne ihm einen falschen Namen. Dieser Gedanke war gleichzeitig lächerlich und verlockend.

Halten Sie sich von Casey Turner fern. Dieser Mann ist ein Blutsauger, schoss mir Marks Warnung durch den Kopf.

„Whitney Monroe“, stellte ich mich vor, aber Casey wirkte nicht überrascht. Ich hatte das Gefühl, dass er das die ganze Zeit schon gewusst hatte. Vielleicht war er deshalb so fest entschlossen gewesen, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Vielleicht war das weder ein Versuch, mich anzubaggern, noch eine Mitleidsaktion, sondern ein Geschäftsessen?

Während er wegging, ertappte ich mich dabei, dass ich mich vorsichtig umschaute, ob mich jemand beobachtete. Hier im Park waren wir für jeden gut sichtbar. Wenn sich bis zum Rip Shack herumspräche, dass ich Kontakt zu Casey Turner hatte, würde Mark ausrasten.

Andererseits konnte mir das egal sein. Ich hatte das Recht, essen zu gehen, mit wem ich wollte. Wenn ich beschließen sollte, Vorgespräche für einen Verkauf meines Gebäudes zu führen, konnte ich das auch machen. Vielleicht war Casey Turners Interesse so groß, dass er eine Art Vorvertrag mit mir abschließen und eine Vorauszahlung leisten würde, obwohl er wusste, dass er das Gebäude erst haben könnte, wenn Clyde endlich ausgezogen wäre.

Ich hatte Mark nur versprochen, dass ich ihm einen Monat, bevor ich verkaufte, Bescheid gäbe. Falls Caseys Interesse an der Immobilie groß genug sein sollte, könnten wir alles durchsprechen und klären. Dieser Mann trug Designer-Outdoorkleidung, die Hunderte von Dollars gekostet hatte, nur um am Abend ein wenig Kajak zu fahren. Er hatte mir soeben seine Kameraausrüstung, die mehrere Tausend Dollar wert war, anvertraut. Wahrscheinlich konnte er sich alles leisten, was er wollte.

Ich versuchte, Joel und Mark und die Geschichte um das Küstenhaus mit seinen Jugendlichen aus meinem Denken zu verdrängen. Wenn du dich selbst nicht retten kannst, kannst du auch die Welt nicht retten, Whitney. Das war die traurige Wahrheit. Ich musste mir um die Familien Sorgen machen, die vom Bella Tazza abhängig waren.

Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren, bestärkte diese Gedanken und baute neue Barrikaden auf, während ich zuschaute, wie Casey mühelos das Kajak auf seine Schulter hievte und es zur Veranda eines Gebäudes in der Nähe trug, wo er es an die Wand lehnte, als gehöre ihm das Haus. Vielleicht gehörte es ihm ja wirklich. Woher sollte ich das wissen? Und vielleicht war er gar nicht so schlimm, wie er dargestellt wurde. Woher sollte ich das wissen? Bis jetzt hatte ich nur Mark Strahans Aussage gehört, mit der er sicher ein Ziel verfolgt hatte. Mehrere Ziele sogar.

„Also, wohin?“ Casey zog die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche, während er durch den Creef Park zu mir zurückschlenderte. „Sie entscheiden.“ Er warf einen Blick hinter sich zur Innenstadt, als erwarte er, dass ich mich entscheiden würde, in ein Restaurant in der Nähe zu gehen.

„Das Black Pelican klingt gut.“ Dieser Vorschlag schien ihn fast genauso zu überraschen wie mich selbst. „Dort war ich seit Jahren nicht mehr.“

Er nahm schwungvoll die Baseballkappe ab, schüttelte seine Haare aus und steckte die Kappe in seinen Rucksack. Ich nahm die Kamera und das Mückenspray.

„Perfekt.“ In seinen Worten lag eine Vorfreude, die mich eigentlich beunruhigen sollte, es aber aus irgendeinem Grund nicht tat. Ich war heute Abend zu fast allem bereit. Hauptsache, ich musste nicht zurück ins Excelsior mit seinen Rätseln und Schatten und seinem Labyrinth aus Fragen, auf die ich keine Antwort hatte.

Auf der anderen Seite des alten Bootshauses, in dem sich jetzt das Meeresmuseum befand, erwartete uns ein goldener Sportwagen. Ein Cabriolet. BMW. Die Farbe passte perfekt zu den Schulterstreifen auf Caseys Funktionsshirt.

„Sind die Bilder von den Delfinen gut geworden?“, fragte ich beiläufig, während er die Beifahrertür öffnete, damit ich einsteigen konnte.

Er deutete auf die Kamera auf meinem Schoß. „Schauen Sie sie an. Bilden Sie sich selbst eine Meinung.“

Ich kam seiner Aufforderung nach und betrachtete die Bilder, während wir in Richtung Nags Head und Kitty Hawk losfuhren.

„Habe ich sie gut erwischt?“ Er schaltete das Radio aus. Die Stille passte besser zu dem wilden Salzsumpf und dem Küstenwald. In der Ferne sank die Sonne langsam ins Wasser. Die Armaturenbeleuchtung im Auto schaltete sich ein und eine Vielzahl elektronischer Geräte warf ihr Licht auf die Kamera.

„Diese Fotos sind atemberaubend.“ Die Zeitrafferaufnahmen fingen die Delfine perfekt ein – ihre Körper, die sich in anmutigen, geschmeidigen Bögen bewegten, die pure Freude und Freiheit ausstrahlten, und Wassertropfen, die vor dem Licht der untergehenden Sonne eingefangen waren. „Diese Bilder passen perfekt in die Zeitschrift National Geographic. Sie können unglaublich gut fotografieren.“

„Das ist nur ein Hobby.“ Er war überraschend bescheiden. Aufgrund seiner Kleidung und des Autos und der Bemerkungen, die Mark über ihn gemacht hatte, hätte ich ihn nicht für bescheiden gehalten. „Ich mache das nur zur Entspannung. Ich spende die Fotos einer Gruppe, die ein Meeresschildkrötenreservat unterstützt. Sie benutzen sie für T-Shirts und Kalender und verkaufen sie, um ihr Projekt zu finanzieren. Das ist ein guter Nebeneffekt bei etwas, das ich sowieso tun würde.“

Meeresschildkröten. Casey Turner war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Nicht der rücksichtslose Blutsauger, der mit der Abrissbirne anrückte und Wolkenkratzer baute, wie mir Mark weiszumachen versucht hatte. Im Moment schien mir Mark der hinterhältigere von den beiden zu sein. Schließlich hatte er mich mit einer Eichhörnchenfalle erpresst.

„Das ist großartig.“ Ich schaltete die Kamera aus und legte sie weg. „Ich habe in Michigan ein Restaurant. Ein paar von meinen Angestellten sind gute Amateurfotografen. Vielleicht könnten sie sich für eine Umweltgruppe einsetzen, die sich an den Great Lakes engagiert. Ich muss meiner Geschäftspartnerin unbedingt von dieser Idee erzählen. Sie freut sich, wenn sie die Jugendlichen, die für uns arbeiten, dazu bewegen kann, sich in der Gemeinde zu engagieren.“

Er lachte und schaute mich von der Seite her an.

„Was ist?“ Ich musste auch lächeln.

„Die Jugendlichen.“ Er lachte wieder. „Das klang lustig. Sie sind selbst auch nicht viel älter.“

Ich musterte Casey aufmerksam. Auf den ersten Blick hatte ich geschätzt, dass er ungefähr in meinem Alter wäre. Aber vielleicht war er doch älter, als ich gedacht hatte. Mitte vierzig, aber gut in Form. Doch eigentlich spielte das keine Rolle. Bis jetzt genoss ich diesen zwanglosen Abend und war stark versucht, es dabei zu belassen. Ein zwangloser Abend und kein Geschäftsessen.

Casey schien auch nichts gegen eine lockere, unverbindliche Unterhaltung zu haben. Auf dem Weg nach Kitty Hawk plauderten wir über Meeresschildkröten, ihren Nestbau und wie es am Strand aussah, wenn Hunderte Junge schlüpften und eilig zum Meer krochen.

„Das habe ich noch nie gesehen“, gab ich zu, als wir auf den Parkplatz des Black Pelican fuhren, einer regelrechten Institution auf den Outer Banks, die sich in einer alten Rettungsstation der Küstenwache befand. Vor langer Zeit hatte mir meine Mutter erzählt, wie Rettungskräfte zu Schiffen geschickt worden waren, die in den tückischen Gewässern vor den Outer Banks Schiffbruch erlitten hatten.

„Noch nie?“ Casey stieg aus dem Auto und ich ertappte mich dabei, dass ich nach dem Türgriff tastete, bevor ich merkte, dass er auf meine Seite herumkam, um mir die Tür aufzumachen. Er reichte mir eine Hand, um mir aus dem tiefen Sitz zu helfen, und ich schob meine Hand in seine. „Ich dachte, Sie wären regelmäßig hier. Ich hatte den Eindruck, dass Sie hier aufgewachsen sind.“

Das war der erste Hinweis, dass er schon über mich Bescheid gewusst hatte, bevor er mich im Park ansprach. Dass er genau gewusst hatte, wen er heute Abend zum Essen einlud. Ein gewisses Unbehagen regte sich plötzlich in mir. Ich hatte die Essenseinladung angenommen, weil ich die feste Absicht gehabt hatte, mit ihm über das Gebäude zu sprechen, denn mir war klar gewesen, dass er mich nicht wegen meiner schmutzigen Kleidung, meiner zerzausten Frisur und meines tränenverschmierten Gesichts eingeladen hatte.

Warum meldeten sich dann jetzt diese Gedanken? Warum war ich plötzlich so unsicher? Normalerweise konnte ich Menschen und geschäftliche Situationen gut einschätzen und beurteilen. Doch jetzt fühlte ich mich wieder wie die unsichere Mittelstufenschülerin mit dürren Armen und Beinen und voller Selbstzweifel.

Du hast nicht einmal deine eigene Mutter gekannt, Whitney. Und wenn du dich nicht überschätzt hättest, wäre die Katastrophe mit dem Bella Tazza 2 nie passiert.

Die Stimme der Unsicherheit schlug mit lähmender Wucht zu. Ich hasste diese Stimme, die mich verfolgte, seit ich alt genug war, um zu begreifen, was mit meinem Vater passiert war. Ich hatte gelernt, dieses Flüstern mit logischen Argumenten zum Schweigen zu bringen. Der Selbstmord meines Vaters war die Folge seiner starken Stimmungsschwankungen gewesen. Wahrscheinlich hatte er unter einer bipolaren Störung gelitten – einem Ungleichgewicht in der Hirnchemie, die aber nicht behandelt worden war. Und er war zu stolz gewesen, um das zuzugeben. Ein kleines Mädchen hätte nichts tun können, was diese Störung hätte verursachen oder aufhalten können. Das kleine Mädchen hatte auch nichts verbrochen, womit es diese Situation verdient hatte.

Irgendwie weckten dieser Ort und die damit verbundenen Fragen alte Gefühle in mir. Aus Ich habe das im Griff war Es hat mich im Griff geworden.

Plötzlich wollte ich nur noch nach Hause.

„Stimmt etwas nicht?“ Casey warf mir im Foyer einen besorgten Blick zu, während eine Gruppe Freundinnen, die einen Ausflug zum Strand genossen, an einen Tisch geführt wurde.

„Nein.“ Stand mir so deutlich ins Gesicht geschrieben, was ich dachte? „Es ist alles in Ordnung.“

„Sie sehen immer wieder zur Tür.“ Seine nach oben gezogenen Mundwinkel verrieten, dass er meine Fluchtgedanken durchschaute.

Zum Glück kam die Kellnerin zurück, bevor ich ihm eine Antwort geben musste. Ich versuchte, mich zu beherrschen, während wir zu unserem Tisch geführt wurden. Das hier war ein Geschäftsessen. Geschäftsverhandlungen beherrschte ich im Schlaf. Daran änderte sich auch durch die katastrophale, nicht vorhersehbare Situation mit meinem Restaurant nichts.

Nachdem wir die Speisekarte gelesen und unser Essen bestellt hatten, sprach Casey wieder von den Meeresschildkröten und seinen Fotos für den guten Zweck. Er bereiste die ganze Welt, um Fotos zu machen. An einigen Orten, von denen er erzählte, hatte ich schon gearbeitet – Bali, Curaçao, die Goldküste. Wir hatten tatsächlich vieles gemeinsam. „Es ist wirklich schade, dass Sie die Schildkröten noch nie schlüpfen gesehen haben. Die Unechten Karettschildkröten und die Grünen Meeresschildkröten kommen in diesen Tagen auf die Outer Banks, um ihre Nester zu bauen. Wenn Sie in zwei Monaten noch hier sind, nehme ich Sie mit, damit Sie sie alle schlüpfen sehen können.“

„Alle?“

Er lachte leise. „Ja, die Jungen schlüpfen fast gleichzeitig und graben sich aus dem Sand aus.“

„Das klingt wirklich sehr interessant.“ Ich gab diesem Gedanken einen Moment Raum und malte mir ein Leben auf diesem langen, vom Meer umspülten Sandstreifen aus, mit einem Freund, der schon überall auf der Welt gewesen war, genauso wie ich. Nur dass er nicht aus beruflichen Gründen dorthin fuhr. Er kaufte sich einfach ein Flugticket. Dieses Fantasieprodukt verschwand genauso schnell wieder, wie es gekommen war, und flog davon wie ein Ballon, der sich losgerissen hat. „Aber ich denke, so lange werde ich nicht hier sein. In meinem Restaurant ist zurzeit viel los.“

„Sie könnten wiederkommen.“

„Vielleicht. Ich muss erst sehen, wie es weitergeht. Ich bin wirklich nur hier, weil es meinem Stiefvater nicht gut geht, und um mich um das Gebäude zu kümmern.“

Casey zeigte den Anflug einer unfreiwilligen Reaktion. Dieser Moment kam und verging allerdings so schnell, dass ich seine Reaktion nicht deuten konnte. Doch es war offensichtlich, dass er bezüglich unseres Gesprächs Hintergedanken hatte. Verfolgte er mit dem ganzen Gerede, dass ich Meeresschildkröten beim Schlüpfen zusehen könne, nur den Zweck, meine Absichten in Bezug auf das Gebäude auszuloten und in Erfahrung zu bringen, wie lange ich in Manteo bleiben wollte? Versuchte er, mich mit seinem Charme einzuwickeln oder romantische Gefühle in mir zu wecken? Oder beides?

„Ich habe gehört, dass Sie die erste Etage ausräumen.“ Er schwieg, während die Kellnerin den Cocktail brachte, den er bestellt hatte. Sie flirtete dabei ungeniert mit ihm. Er bemerkte das, war höflich, erwiderte aber die Aufmerksamkeit nicht so, dass es für eine Begleiterin beleidigend gewesen wäre. Das fiel mir unwillkürlich auf.

„Ich versuche, die Sachen ein wenig auszusortieren, solange ich hier bin. Und mich zu entscheiden, was ich behalten und was ich loswerden will.“

Er lehnte sich zurück, rührte in seinem Glas, zog den kleinen Papierschirm heraus und reichte ihn mir. Dabei berührten sich unsere Finger, bevor er es sich auf dem Stuhl bequem machte, die Beine übereinanderschlug und einen Arm lässig über die Rückenlehne legte. „Falls Sie etwas verkaufen wollen, hätte ich vielleicht Interesse. Ich liebe die Geschichte der Outer Banks. Ich integriere gern historische Gegenstände in meinen Häusern, um den Bewohnern und den Urlaubern ein Gefühl für unser Erbe und seine Bedeutung zu geben.“

„Das ist nett.“ Der Davenport-Schreibtisch, das Frachtverzeichnis, das Propeller-Schiffslog aus Messing, die Rubinbrosche mit der Filigraneinfassung, die Beinschnitzerei und die Kette mit den geschnitzten Perlen – wie viel waren diese Sachen wert?

Und was war mit Alices Briefen? Was war mit dem Familiengeheimnis, das ich noch nicht gelüftet hatte? Ich hatte den ersten Brief in einem Versteck zusammen mit der Rubinbrosche und der Kette mit den Knochenperlen gefunden. Waren diese Gegenstände und der Brief aus einem bestimmten Grund zusammen versteckt worden? Erzählten sie Teile derselben Geschichte? Würde ich die Geschichte als Ganzes je verstehen, wenn ich die Einzelteile trennte?

Aber hier saß ein Mann, der mir wahrscheinlich bares Geld dafür zahlen würde. Der mir einen Ausweg aus der finanziellen Misere anbot, in der Denise und ich steckten. Eine leichte Lösung.

„Ich habe noch nicht viel gefunden.“ Es war nicht direkt eine Lüge, es war aber auch nicht die Wahrheit. „Ein paar Antiquitäten, die meiner Großmutter gehörten, ein wenig Schmuck, ein paar alte Briefe, die ich zusammenzusetzen versuche. Ich glaube nicht, dass diese Sachen viel Wert haben, außer natürlich einem ideellen Wert.“

„Ich würde sie mir gerne ansehen. Und ich kann Ihnen eine Einschätzung geben. Ich habe im Laufe der Jahre ziemlich viele alte Sachen gekauft und kann ihren Wert recht gut einordnen.“ Er machte jetzt mehr Druck. Eine veränderte Geschäftstaktik.

Interessant.

„Tut mir leid“, sagte er, als habe er bemerkt, dass mir seine neue Taktik aufgefallen war. „Ich wollte Sie nicht bedrängen. Sie haben sicher noch eine starke emotionale Bindung dazu. Es ist nicht leicht, Erinnerungsstücke auszusortieren. Meine Großmutter hatte eine Farm in den Smoky Mountains, als ich ein Kind war. Für mich gab es damals keinen schöneren Ort. Bäume, auf die man klettern konnte, Bäche, durch die man waten konnte, Seen, in denen man angeln konnte. Von der Veranda aus konnte man meilenweit schauen. Ich habe dieses Tal geliebt. Das Cohler-Haus war seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Besitz unserer Familie. Früher war es eine Tabakplantage gewesen. Meine Eltern jedoch verkauften alles, um meinen Schwestern und mir das Studium zu bezahlen. Das war so ziemlich der traurigste Tag in meinem Leben. Ich fuhr später noch einmal hin, um zu sehen, ob ich es kaufen könnte, aber die Kohlegesellschaften hatten das Gelände übernommen und es war nichts mehr davon übrig. Weder das Haus noch der Stall. Nichts. Nur Schlackenberge und Kohlenstraßen und die Spuren der großen Lastwagen.“

„Wie furchtbar. Das tut mir wirklich leid.“ In mir regte sich ein leichtes Mitgefühl und ich erkannte wieder, dass Casey Turner und ich einiges gemeinsam hatten.

Wir sprachen über die Farm seiner Großeltern, bis die Kellnerin mit unserem Essen kam. Ihr Auftreten veränderte die Stimmung – ein wenig Lachen, ein unübersehbares Flirten. Ihr Verhalten war fast peinlich. Ich hatte das vage Gefühl, dass sie Casey kannte.

„Wie dem auch sei, melden Sie sich, falls ich Ihnen beim Ausräumen behilflich sein kann“, sprach er weiter, als sie wieder fort war. „Ich könnte Ihnen ein paar kräftige Leute schicken, falls Ihnen das eine Hilfe ist. Wir führen in unserer Seniorenanlage ein Programm mit Austauschstudenten durch. Sie sind ein Jahr bei uns beschäftigt, verbessern hier ihr Englisch und lernen viel über unser Land. Am Ende des Programms bekommen sie Gelegenheit zu reisen. Damit will ich nur sagen, dass wir immer genügend Leute haben, falls Sie Hilfe brauchen. Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie sich allein abschleppen.“

Ich nickte, musste aber an Marks Warnung denken, dass ich Joel nicht zu sehr einbeziehen sollte. Je mehr Leute beteiligt waren, umso wahrscheinlicher war es, dass sich herumsprach, was dort im Haus war. Die zwei oberen Stockwerke waren kaum geschützt. Es gab keine Alarmanlage. In den Geschäften im Erdgeschoss war nachts niemand. Und es gab nur klapperige Schlösser an alten Türen, die wahrscheinlich nachgeben würden, wenn sich jemand zu kräftig daran lehnte.

Casey nippte an seinem Getränk und schaute mich mit seinen meerwasserblauen Augen an. „Ich will nicht neugierig sein. Ich hatte im Park nur den Eindruck, dass Sie gerade ein wenig viel um die Ohren haben.“

Plötzlich und unerwartet hatte ich einen Kloß im Hals. Ich schluckte. „Danke. Ehrlich. Ich behalte Ihr Angebot im Hinterkopf. Mein Problem hat jedoch mehr mit meinem Stiefvater als mit irgendetwas anderem zu tun. Er ist nicht gesund genug, um weiterhin allein dort oben zu wohnen, aber bis jetzt weigert er sich, auch nur daran zu denken, dass sich etwas ändern muss. Er und ich stehen uns nicht sehr nahe. Es ist also fast unmöglich, mit ihm über Alternativen zu sprechen. Ich habe versucht, seine Söhne einzuschalten, aber sie wollen nichts mit ihm zu tun haben.“

„Bringen Sie ihn doch zu unserer Seniorenresidenz am Strand. Es ist ein großes Gelände, das betreutes Wohnen anbietet. Dort könnte es ihm gefallen. Das würde Ihr Problem lösen.“

Wenn es nur so einfach wäre! „Ich weiß nicht, wie ich ihn dazu bewegen soll. Außerdem hat er nicht das nötige Geld, das ein Apartment in einer solchen Seniorenresidenz kostet.“

Caseys Blick wich nicht von meinen Augen. In ihnen lag eine Vielzahl verborgener Bedeutungen, die ich nur erahnen konnte. „Wir finden eine Lösung.“

War das immer noch hypothetisch dahingesagt oder machte er mir gerade das Angebot, das ich mir erhoffte? Und das ich am meisten fürchtete?