TIM MOORE

MIT DEM

KLAPPRAD

IN DIE KÄLTE

Abenteuer auf dem Iron Curtain Trail

Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper

Mein besonderer Dank gilt: der wundervollen Raija Ruusunen, Ed Lancaster und dem ECF, Stephen Hilton, den diversen Samaritern aus Hossa, Peter Meyer und allen anderen bei MIFA, Matt, Fran und Nick von Yellow Jersey, Peter Milligan, meiner gesamten Familie, Genosse Timoteja und Oberstleutnant Stanislaw Petrow.

Tim Moore ist Britanniens unermüdlicher Jedermann-Abenteurer: Er ist bereits mit einem störrischen Vierbeiner durch Spanien gewandert (»Zwei Esel auf dem Jakobsweg«) und einmal quer durch Europa gereist, um alle Eurovision-Song-Contest-Teilnehmer zu treffen, denen die ultimative Schmach widerfuhr (»Null Punkte«), er hat fast eine richtige Tour de France gemeistert (»Alpenpässe und Anchovis«) und ist, gehandicapt durch ein hundert Jahre altes Fahrrad mit Holzfelgen, die Strecke des berüchtigten Giro d’Italia 1914 abgeradelt (»Gironimo!«). Für dieses Buch begab er sich nun, unter fahrlässiger Missachtung des natürlichen Alterungsprozesses und des letzten Funkens an gesundem Menschenverstand, auf eine Odyssee, die noch ambitionierter – und wesentlich dümmer – war als all diese Trips zusammen. Irgendwie lebt er noch immer in London.

INHALT

1.  Auf nach Norden

2.  Finnisch-Lappland

3.  Der Winterkrieg

4.  Nordösterbotten

5.  Zentral- und Südfinnland

6.  Russland

7.  Estland und Lettland

8.  Litauen und Kaliningrad

9.  Polen

10.  Deutsche Ostseeküste

11.  Innerdeutsche Grenze

12.  Tschechische Republik, Deutschland und Österreich

13.  Ungarn, Slowenien und Kroatien

14.  Serbien

15.  Rumänien

16.  Serbien (2)

17.  Bulgarien und Mazedonien

18.  Bulgarien (2)

19.  Griechenland, Türkei und Bulgarien

1.  AUF NACH NORDEN

»Sie verstehen, wie es hier ist, das Wetter?«

Der betagte Norweger mit der Charlie-Brown-Ohrenklappenmütze war der erste Fußgänger, dem ich begegnete, seit ich in Kirkenes aufgebrochen war, einer kleinen Hafenstadt, die sich tapfer in die nordöstlichste Ecke Europas kauerte. Mit seinem dritten und lautesten Versuch war es ihm endlich gelungen, sich durch einen heulenden Blizzard und die vielen wärmenden Schichten, die um meinen Kopf gewickelt waren, verständlich zu machen.

Es war eine ernüchternde Replik auf meine vorausgegangene Erkundigung, wie weit es bis zum jenseits der finnischen Grenze gelegenen Näätämö wäre, der nördlichsten Ansiedlung der Europäischen Union und weit und breit dem einzigen Ort, der mir eine Unterkunft für die Nacht und damit eine Alternative zu einem einsamen Tod in polarer Finsternis in Aussicht stellte. Mein Verständnis dessen, wie es hier war, das Wetter, war nach meinem Dafürhalten recht solide für einen Absolventen der Klugscheißer-Akademie für Klimaforschung: Unsere Unterhaltung trug sich 400 Kilometer nördlich des Polarkreises zu, und das im Winter. Gleichwohl hatten sich meine Kenntnisse im Laufe der vergangenen 18 Stunden noch erheblich erweitert, und zwar auf eine Weise, die auf den entblößten Partien meines Gesichts gefrorene Tränen aus Schmerz und Schrecken hinterlassen hatte. Ich nickte kraftlos, dabei acht Prozent meiner körperlichen Reserven aufbrauchend.

»Warum sind Sie dann MIT FAHRRAD unterwegs?«

Der Weg zur einsamen Unterkühlung hatte unter grausam anderen Umständen seinen Anfang genommen. Im August zuvor saß ich vor einem Café in Florenz und ließ einen weiteren Tag an vorderster Front des abseitigen Reisejournalismus ausklingen. In diesem Fall war ich daran gescheitert, unter einer innerstädtischen Brücke und unter den wachsamen Blicken einer Hundertschaft ortsansässiger Zuschauer Riesenwelse zu fangen. Mein Handy klingelte: Es war der Deutschland-Korrespondent des Guardian, und er bat mich um meine Meinung über etwas, von dem ich, statt mir wie sonst nur zu wünschen, dass es so wäre, tatsächlich noch nie gehört hatte. Entsprechend kurz fiel unsere Unterhaltung aus, gerade lang genug, um meinem Gesprächspartner eine griffige Schlagzeile zu liefern: »Teilzeitradler weiß nichts über den neuen Iron Curtain Trail.«

Am nächsten Tag machte ich mich auf den Heimweg. Den üblichen Billigflieger hatte ich für diese Reise gegen die vierrädrige Frucht einer Geizkragen-Midlife-Crisis eingetauscht: einen zweitürigen, nicht ganz schrottreifen 18 Jahre alten BMW, den ich unlängst günstig erworben hatte. Es war eine nachdenkliche Fahrt, teils aufgrund meiner nachlässig gewählten Route, teils weil sich der Kühlerschlauch löste, wann immer ich Gas gab. In Norditalien fand ich mich auf weiten, gewundenen Abschnitten der Straßen wieder, auf denen ich zwei Jahre zuvor gefahren war, als ich auf einem 99 Jahre alten Fahrrad mit hölzernen Felgen auf den Spuren des Giro d’Italia von 1914 gewandelt war. In Frankreich begegnete ich einigen der alpinen Anstiege wieder, derer ich mich noch, weitaus vager, von meiner Rundreise auf der Strecke der Tour de France 2000 erinnerte. Und die ganze Zeit geisterte mir die Idee im Kopf herum, den besagten Iron Curtain Trail, einen Radwanderweg entlang des früheren Eisernen Vorhangs, in Angriff zu nehmen.

Welch herrlich kühles und belebendes Gegenmittel wäre eine solche Reise doch zu diesem sonnenverdörrten südeuropäischen Sommer, dem ich aktuell ausgesetzt war und der noch dazu durch regelmäßige Gesichtsduschen aus Frostschutzmittel verschönert wurde, die ich jedes Mal verpasst bekam, sobald ich in einer Parkbucht die Motorhaube öffnete. Dazu gesellten sich nostalgische Erinnerungen an eine dreimonatige Reise quer durch Skandinavien und weite Teile des Ostblocks, die ich 1990, nur wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, mit meiner Frau unternommen hatte. Dieses ebenso überambitionierte wie unterbudgetierte Abenteuer hatte, wie mir nun klar wurde, die Vorlage für sämtliche meiner anschließenden Reisen geliefert. Wir schlugen uns mit gestohlenem Speck durch und wechselten uns ab am Steuer eines – hmmm – zweitürigen, 18 Jahren alten Saab.

Auf die damalige Reise zurückblickend, zogen vor meinem geistigen Auge wiederkehrende Bilder ausgedehnter, durch eine versiffte Windschutzscheibe betrachteter Ebenen vorüber. Die Aussicht, unbeschwert durch eine so wundervoll flache Gegend zu radeln, übte ungemeinen Reiz aus auf einen Mann, der nun durch eine andere versiffte Windschutzscheibe auf einige der grausamsten Steigungen unseres Kontinents blickte: Steigungen, die er sich mit einem Rad hinaufgequält hatte, als er entweder schon ein wenig zu alt für ein solches Unterfangen gewesen war oder aber viel zu alt. Andererseits war dieser Mann inzwischen zwei Jahre älter als viel zu alt, und 6.700 Kilometer, die Gesamtdistanz des Iron Curtain Trail, wie der Korrespondent des Guardian der vorliegenden Pressemitteilung entnommen hatte, waren das Doppelte dessen, was er jemals zuvor am Stück geschafft hatte.

Ich kehrte heim mit einer neuen Obsession und der Befähigung, in einer Auswahl von fünf kontinentalen Sprachen um demineralisiertes Wasser zu bitten. Als ein Kind des Kalten Krieges – den ich zudem viele Jahre als richtiger Erwachsener erlebt hatte – konnte ich noch immer nicht fassen, dass man heute unbesorgt kreuz und quer entlang des Todesstreifens herumreisen konnte. Meinem jüngeren Ich wäre das völlig undenkbar erschienen. Mit zwölf hatte ich ein holzverkleidetes Kurzwellenradio aus russischer Fabrikation erstanden und endlose Stunden damit verbracht, den geisterhaften Pausenzeichen von Propagandasendern aus sowjetischen Satellitenstaaten zu lauschen, Endlosschleifen zehntöniger Trompetenfanfaren, unterbrochen von der schmeichlerischen Stimme eines Überläufers, die verkündete: »Hier ist Radio Prag, Tschechoslowakei.« Ich war davon gleichermaßen fasziniert wie verängstigt. Damals wäre man kurzerhand dafür ins Gulag geschickt worden, Wrigley’s Juicy Fruit hinter den Eisernen Vorhang zu schmuggeln, oder aber man wäre erschossen worden bei dem Versuch, darüber hinwegzuklettern. Heute konnte ich den einstigen Todesstreifen mit dem Rad passieren, wie es mir gefiel.

Darüber hinaus verlief dieser Iron Curtain Trail entlang der gesamten Länge des, wie Sie mir sicher zustimmen werden, herrlichsten Kontinents unseres Planeten, dessen Vielfalt an Kultur, Geschichte, Klima und Geografie seinesgleichen sucht – das alles in einem handlichen Paket! Schon jetzt dermaßen Feuer und Flamme, dass es keinen Weg mehr zurück gab, kontaktierte ich die European Cycling Federation, die bürokratischen Overlords dieses und eines Dutzend weiterer »EuroVelo«-Langstreckenradwege, die unseren schönen Kontinent durchziehen. Der Iron Curtain Trail firmierte, wie ich bald erfuhr, unter dem offiziellen Namen EuroVelo-Route 13 und verlief durch nicht weniger als 20 Länder zwischen Kirkenes in Norwegen und dem Endpunkt Zarewo an der bulgarischen Schwarzmeerküste.

Nachforschungen im Netz förderten ein paar anregende Fakten über die Route zutage, die zu absolvieren ich mich mittlerweile emotional verpflichtet fühlte. Lange Passagen der 6.700 Kilometer, die der EV13 umfasste, waren bislang noch nicht ausgeschildert worden, angefangen mit den kompletten 1.700 Kilometern durch Finnland. Andere Abschnitte waren nur vage durch gepunktete Linien verzeichnet, insbesondere in Russland, wo die Route sich eine Zeitlang einen Weg durch das Landesinnere bahnte, um einen langen Streifen entlang der Ostseeküste zu meiden, der wegen einer Vielzahl an atomaren und militärischen Einrichtungen für Ausländer gesperrt war. Nicht minder aufregend war die Entdeckung, dass bisher noch niemand den EV13 in seiner ganzen Länge bewältigt hatte – sofern man bereit war, von einem gesponserten Team großzügig ausgestatteter E-Bike-Fahrer abzusehen (was ich ohne weiteres war) und mitleidlos einen Deutschen mittleren Alters dafür zu missachten, nicht ganz am richtigen Ort gestartet zu sein (was mir nicht schwerfiel).

Ich überzeugte den Lektor meines Verlags und bereinigte meinen Terminkalender. Dann schickte ich der ECF eine E-Mail, um sie mit meinem bahnbrechenden Vorhaben zu beeindrucken und um mich zu erkundigen, ob einige der fehlenden Teile des EV13 inzwischen ergänzt worden wären. In den Wochen darauf beschämte mich Ed Lancaster von der ECF mit seiner freundlichen und unschätzbaren Hilfe, allerdings hatte mich seine allererste Reaktion auf mein Ersuchen mit Regungen ganz anderer Art erfüllt: »Ich halte es an dieser Stelle für geboten, darauf hinzuweisen, dass wir die Gesamtdistanz inzwischen mit 10.000 Kilometern veranschlagen«, las ich, den Kiefer auf maximales Klaffen ausgehängt, »also vielleicht ein bisschen mehr, als Sie sich ausgerechnet hatten.« Ein bisschen mehr. Also ziemlich genau 50 Prozent mehr. Demnach nicht das Doppelte dessen, was ich bisher maximal am Stück gefahren war, sondern das Dreifache. Ich hatte seit einem Jahr kaum ein Pedal bewegt und in nur wenigen Monaten stand mein, hüstel, elfundvierzigster Geburtstag an.

Meine Frau hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mein bevorstehendes Abenteuer Freunden und Bekannten gegenüber fröhlich als »Fahrt ohne Wiederkehr« anzukündigen. Das sanft nagende Tröpfeln dieser Prognose schwoll nun jäh zu einem Strom ätzenden Konzentrats, das ein zerklüftetes, dampfendes Loch in meine Moral fraß. Zehntausend Kilometer bedeuteten nicht nur eine Fahrt ohne Wiederkehr, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit direkt ins Grab. Aber es war nichts mehr zu machen: Meine Verpflichtung war seit kurzem nicht mehr nur emotionaler Natur, sondern auch vertraglich festgehalten. Nicht nur das, ich hatte auch schon ein Rad gekauft. Und was für eins.

Die MIFA-900-Serie wurde 1967 bei der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt, begleitet von dem, was in der Deutschen Demokratischen Republik als großer Werberummel durchging – ich stelle mir dabei eine Schar bebrillter Herren in grauen Anzügen vor, die ausdruckslos applaudieren, während ein mehr schlecht als recht als Hostess getarnter Stasi-Offizier sorgfältig Intensität und Kadenz des Beifalls jedes einzelnen Individuums notiert. Oberflächlich gesehen stand das 20-Zoll-Rad mit faltbarem Rahmen und tiefem Einstieg der neuen Generation kompakter Stadtfahrräder, die damals im Westen lanciert wurde, in nichts nach – erst zwei Jahre zuvor war mit dem Dawes Kingpin das Genre der Klappräder geboren worden und das MIFA 900 ging sogar 18 Monate früher in Produktion als das berühmte Raleigh Twenty.

Doch hob man das erste MIFA 900 – genau genommen ein 901 – von der ruckelnd rotierenden Drehbühne, kam man nicht umhin, die eine oder andere Unzulänglichkeit zu bemerken. Zum einen hatte das Rad keine Gangschaltung. Ihm fehlten die Verstrebungen, welche die anfälligen offenen Rahmen seiner westlichen Pendants verstärkten, und es war zudem mit einem sichtlich unzureichenden Klappscharnier ausgestattet. Besonders hervorstechend war der einzelne Bremshebel, der einen Metallstab betätigte, mit Hilfe dessen ein stabiler Gummiklotz durch ein Loch im Schutzblech gegen das Vorderrad gedrückt wurde. Diese erschreckend lausige »Stempelbremse« war ein Rückschritt in die Zeit der Hochräder – eine Zeit, als Bremsprobleme die Hauptursache für 3.000 radbedingte Todesfälle im Jahr waren und etwa 3.012 Menschen ein Rad besaßen.

Die Mitteldeutschen Fahrradwerke, deren Akronym dem MIFA seinen Namen gab, stellte die 900er-Serie bis zum Fall der Mauer her. Die Entwicklung des Modells im Verlauf dieser 22 Jahre zeigt auf anschauliche Weise, wie es um den Staatssozialismus sowjetischer Prägung bestellt war: Es gab keine Entwicklung. Wobei, das stimmt nicht ganz. Ab 1973 wurden die Zierstreifen auf den Schutzblechen, die bis dahin in der gleichen Farbe wie der Rahmen gehalten waren, einheitlich in einem ökonomischeren Genossenrot lackiert. Ab 1986 wechselte man zum weniger genossenschaftlichen, dafür noch ökonomischeren Schwarz. 1977 wurde außerdem mit dem 904 ein echtes Aushängeschild vorgestellt, mit Gepäckträger vorne und hinten, durchschlagskräftigem 29-Millimeter-Geschütz und einer herkömmlichen, nichtantiquierten Vorderrad-Felgenbremse. Aber die große Mehrheit der 900er war weiterhin mit Stempelbremse ausgestattet, und keines bot eine Gangschaltung oder einen Rahmen, der nicht sofort nachgab, wenn man gut im Futter war.

Auf den ersten Blick hätte solch archaische Schäbigkeit unweigerlich zum kommerziellen Scheitern führen müssen – insbesondere, da ich mir das Geschütz nur ausgedacht habe. Aber in der DDR war Kommerz kein Faktor. Frei nach Henry Ford: Die DDR-Bürger konnten jedes Fahrrad haben, das sie haben wollten, solange es das MIFA 900 war. Und nicht nur die DDR-Bürger – das 900 wurde den Genossen im gesamten Ostblock untergejubelt und zum konkurrenzlosen Standard pedalgetriebener Flitzer von Vietnam bis Kuba. Die Folgen dieses internationalen Monopols waren durchaus frappierend. 1977 wurden 150.000 Raleigh Twentys hergestellt – das annus mirabilis dieses letzten großen globalen Wurfs der britischen Fahrradindustrie, von dem letztlich insgesamt etwas mehr als eine Million Stück verkauft wurden. Von der 900er-Serie aber waren es laut www.foldingcycling.com allein im Jahr 1978 mehr als 1,5 Millionen, die das MIFA-Werk in Sangerhausen verließen. Als 1990 das letzte vom Band rollte, waren mehr als drei Millionen gebaut worden. Lässt man China mal außen vor, wird man es schwer haben, eine Maschine in der Geschichte der Radherstellung zu finden, die diese Zahl übertrifft. Ich habe es versucht und bin gescheitert.

Und nachdem ich gescheitert war, wollte ich eins haben. Genauso war es mir auf jener Reise 1990 ergangen, als ich eine tiefe mütterliche Zuneigung zu den vielen Trabants entwickelte, die verwaist auf sämtlichen osteuropäischen Straßen standen, mit zerbrochenen Scheinwerfern und offen stehenden Bakelit-Türen, mitleidig belächelt von den VWs und Audis, die sie abgelöst hatten und nun geschmeidig vorbeisausten. Auch vom Trabbi wurden drei Millionen gefertigt, auch er war ein allgegenwärtiges, aber ungeliebtes hässliches Entlein, ein weiterer semi-funktionstüchtiger, billig zusammengeschusterter Anachronismus. Und jeder einzelne ein kleines Stück großer Geschichte, ein Symbol des gleichmacherischen sowjetischen Experiments, das auf seinem Höhepunkt ein Drittel der Erdbevölkerung einbezog. Ich war so aufgewachsen, Osteuropäer entweder mit Furcht oder Mitleid zu betrachten, je nachdem, ob sie vor einer endlosen Parade von Raketenwerfern salutierten oder aber dafür vermöbelt wurden, Levi’s-Jeans zu tragen. Doch wie affektiert erschienen mir meine jugendlichen Regungen nun, als wir an all den Plastebombern vorbeifuhren. Dieses dämliche Kühlergrill-Grinsen war das wahre Gesicht des sogenannten Reich des Bösen. So einen albernen, plumpen kleinen Schrotthaufen musste man einfach ins Herz schließen, es sei denn natürlich, man hatte mal einen besessen. Wie auch immer, einigen wir uns einfach darauf, dass das MIFA 900 ein Art Trabbi auf zwei Rädern war, und das war der Grund, warum ich eines schönen Tages ein schwarz abgesetztes Schutzblech durch den verschneiten Eingang des nördlichsten Hotels in Europa schob.

Ich hatte das Hotel mit der Absicht, dort zu übernachten, lange im Voraus gebucht, aber ganz Kirkenes war gerade dick eingemummelt auf dem Weg zur Arbeit, als ich mein in Plastikfolie eingeschlagenes Rad an vereisten Bürogebäuden und Lagerhäusern vorbeischleppte. Der nächtliche Schneesturm hatte sich gelegt, doch seine Auswirkungen lagen tief und frisch und gleichmäßig auf dem Startort meiner Reise, einer archetypisch skandinavischen Studie freudlosen und öden Wohlstands. Meine schweren Arctic-Stiefel rangen um Halt: Wenn ich schon Schwierigkeiten hatte, hundert Meter in diesen robusten Tretern zu laufen, wie sollte ich da auch nur hundert Kilometer auf den daumengroßen Gummiklötzchen zweier Klappradreifen durchstehen?

Mein Körper, der auf der Busfahrt durch die Nacht von den panischen Manövern des im Schneetreiben um Kontrolle ringenden Fahrers mehrfach aus dem Schlaf gerissen worden war, sehnte sich nach Ruhe. Doch in dem Moment, als ich endlich auf das Hotelbett sank, um eine Mütze voll Schlaf zu nehmen, schaltete sich mein Gehirn ein: Missionsmodus aktiviert! Mechanisch raffte ich mich auf und ergab mich dem Klemmbrett schwingenden inneren Herrn meines Schicksals und seiner zackig vorgetragenen Checkliste. Duschen! Jawohl, Sir. Schichtweise Kleidung anlegen! Jawohl, Sir. Geräuschvoll zum Frühstück rascheln, Büfett verheeren, Rad auspacken und montieren, Gepäcktaschen anbringen, Mütze auf, australische Nordlichtbeobachter verstören, Arktis erobern! Wie üblich machte sich dieser dubiose Sir aus dem Staub, sobald ich das Rad nach draußen und die Hoteltreppe hinunter getragen hatte, und überließ mich bar jeder Lebenskraft und Disziplin meinem Schicksal.

Der Hotelier steckte den Kopf zur Tür hinaus und blies angesichts der äußeren Bedingungen die Backen auf, dann charakterisierte er mit vorbildlicher Effizienz meinen Reisegefährten: »Kleines Fahrrad.«

Auch den vordringlichen Mangel meiner Reiseplanung brachte er mit ähnlicher Bündigkeit auf den Punkt: »Sommer ist gut für Fahrrad. Jetzt ist nicht gut.«

Ich wusste, dass der erste Wegpunkt der Route die Straße vorbei am Flughafen war, und bat ihn, mir den Weg zu beschreiben. Er tat dies mit spürbarem Widerwillen, dann verfiel er in einen nachdrücklichen, inständigen Tonfall: »Zu kalt. Nehmen Sie bitte Taxi, zum Flughafen ist nur wenige Kilometer!«

Er zog sich kopfschüttelnd zurück, dann wandte ich meine wächserne, verzagte Miene den jungen, pudelbemützten Schneepflugfahrern zu, die auf dem Parkplatz gegenüber den Schnee zu riesigen Haufen zusammenschoben. Irgendwo unter meiner Sturmhaube versuchte ich, mir ein Lächeln abzuringen.

Das erste Straßenschild, an dem ich direkt hinter Kirkenes vorbeigekommen war, war ein Wegweiser, der nach Süden wies. Ich hatte eine Weile gebraucht, ihn zu entschlüsseln. Die Buchstaben waren kyrillisch und die festgezurrten Zugbänder meiner Kapuze hatten die Außenwelt zu einem winzigen, fleeceumrahmten Schlitz verengt. Murmansk. Ich wusste nicht viel über diesen Ort, aber er hatte einen angemessen eisigen, an John Le Carré gemahnenden Klang an sich. Welch sinnfälliges Stichwort für tiefgründige Grübeleien zum Auftakt meiner Reise: die zerronnenen Träume einer sozialistischen Utopie und der Abermillionen, die als Folge davon gelitten hatten; die allgegenwärtige Gefahr nuklearer Auslöschung, welche die erste Hälfte meines Lebens begleitet hatte; die grundlegende Stimmung hier oben an den zuckenden Ohren des russischen Bären in einer Zeit von Spannungen zwischen Ost und West, wie es sie seit den Tagen des Eisernen Vorhangs nicht mehr gegeben hatte. Inzwischen hatte es nicht mal mehr geschneit, aber dennoch – und obwohl ich erst zwei Kilometer und eine einzige Erhebung hinter mich gebracht hatte – war ich bereits zu erschlagen und erschüttert gewesen für derlei komplexe Betrachtungen. Nun, da sich die Dämmerung über die einsame Winterlandschaft legte, schaltete mein Verstand gänzlich ab und wurde überbrückt von einem primitiven, benommenen Überlebensinstinkt.

Mühsam schlich und schlitterte ich voran, blinzelte durch eisige Sturmböen auf die grimmige, graue Barentssee, die kümmerlichen Skelette eingeschneiter Birken und mein Garmin-GPS, dessen schreckliche Daten kaum lesbar waren angesichts der verschmierten Schlieren, die ich bei meinen Bemühungen hinterließ, das Display mit matter, dreifach behandschuhter Hand sauber zu wischen. In fünf grauenvollen Stunden hatte ich 36 Kilometer zurückgelegt; dem alten Herrn zufolge lag Näätämö noch mindestens 20 weitere entfernt.

Im Hotel in Kirkenes hatte ich zwei Liter kochendes Wasser mit Energydrink in Pulverform gemixt und in meinen CamelBak-Trinksack gefüllt; ich nahm einen matten Zug aus dem Mundstück und fand es von Eis verstopft vor. Ich senkte den rechten Arm zurück Richtung Lenkerhandschuh und begegnete einer seltsamen Steifheit im Ellenbogen. Benommen begriff ich, dass vereister Schweiß die Ärmel meines Anoraks im rechten Winkel schockgefroren hatte. Nun denn, Scheiß auf die soziale und geopolitische Geschichte aus der Zeit des Eisernen Vorhangs. Ich hatte hier meinen eigenen Kalten Krieg zu führen.