image
image
image

image

Über dieses Buch

Tom traut seinen Augen kaum. Auf der Papierseite in seinen Händen erscheinen wie von Zauberhand Worte. Worte, die von ihm erzählen. Worte, die ihn warnen: Denn Tom steckt schon bis zum Hals im Abenteuer. Und die Hilfe der geheimnisvollen Seite kann er gut gebrauchen, als plötzlich Statuen lebendig werden und eine goldene Feder eine Jagd um die halbe Welt auslöst …

»Innerhalb weniger Jahre ist Akram El-Bahay zu einer wichtigen Stimme der deutschen Phantastik geworden.« Kai Meyer

INHALT

Prolog

Die schlimmsten Ferien

Entführt

Joséphine

Die Lesenden und die Schreiber

London

Der Rat der Lesenden

Eine Jagd wird eingeläutet

Eine Spur

Napoleons Heitere

Königin der alten Welt

Der Franzose

Tödliche Rätselstellerin

Toms Wort

Lug und Tinte

In der Klemme

Könige der neuen Welt

Wie gewonnen, so zerronnen

Wortmagie

Ein neuer Anfang

Epilog

Anhang

PROLOG

Wie von selbst erschienen die Worte auf der Buchseite. Nachtblaue Tinte floss aus dem Nichts auf das Papier und verschwand nach wenigen Sekunden wieder. Keiner las die Sätze. Noch nicht.

Tom sah missmutig auf das Haus, das sich vor ihm im Regen erhob.

Unablässig liefen ihm die Tropfen in den Kragen seiner Jacke und rannen ihm unter die Kleidung.

So hatte er sich seinen ersten Ferientag nicht vorgestellt.

Tom konnte nicht sehen, wie Will ihn nachdenklich musterte.

Vielleicht machte sich Will Sorgen, ob Tom eines der Geheimnisse lüften würde, die in dem alten Haus verborgen waren.

Ob er über eines von ihnen stolpern und herausfinden könnte, dass hier etwas auf ihn wartete.

Seit dem Tag seiner Geburt.

Tom wischte sich den Regen von der Stirn.

Er war sich dessen nicht bewusst, dennoch hörte er die Buchstaben, die sich nur für ihn zu Worten zusammenfügten, um dann gleich wieder zu verblassen.

Für ihn war es nicht mehr als ein Summen.

Noch nicht.

DIE SCHLIMMSTEN FERIEN

Der Regen schien kein Ende nehmen zu wollen. Er lief ihm in den Kragen und in die Schuhe, während Tom missmutig auf das Haus starrte, in dem er seine Sommerferien verbringen sollte. Das Wasser rann ihm sogar in die Ohren, in denen es mittlerweile summte, als hätte sich ein Schwarm Bienen in seinen Kopf verirrt. Tom steckte sich einen Finger ins Ohr und hoffte, dass das Geräusch aufhören würde. Doch das Summen verstummte nicht und Tom seufzte. Eigentlich hatte das alles gar nicht so schlecht geklungen. Er würde die kommenden sechs Wochen in England verbringen, bei seinem Onkel David. Toms Eltern wollten, zwölf Jahre nach ihrer Hochzeit, endlich ihre Hochzeitsreise nach Paris nachholen. Denn damals, bei ihrer Trauung, war Toms Mutter bereits mit ihm schwanger gewesen und so hatten ihre Flitterwochen ausfallen müssen.

Wie David wohl sein würde? Im Gegensatz zu Toms Mutter, die seit vielen Jahren in Hamburg lebte, hatte ihr Bruder David England nie verlassen. Er wohnte in dem riesigen Landhaus ihrer Familie, inmitten hoher grasbewachsener Hügel. Hier hatte man weder einen Internetempfang, noch schien es ein Funknetz zu geben, wie Tom nach vielen vergeblichen Blicken auf sein Smartphone verärgert festgestellt hatte.

Tom war erst seit wenigen Stunden in England, doch schon jetzt bereute er es, hergekommen zu sein. So abgelegen hatte er sich den Geburtsort seiner Mutter nicht vorgestellt. Selbstverständlich war er schon in England gewesen. Sogar viele Male. Nur hatten seine Eltern und er immer London besucht, wo ein weiterer Onkel von Tom wohnte. George. Allzu gerne hätte Tom seine Ferien bei ihm verbracht. George war cool, er arbeitete als Musikjournalist und hätte mit Tom sicher einige Konzerte besucht. Er fuhr Motorrad und brachte Tom so dreckige Witze bei, dass seine Mutter mehr als einmal entsetzt gewesen war. Außerdem bestand George darauf, dass Tom ihn niemals Onkel nannte. Leider war George derzeit beruflich unterwegs und so hatte es Tom an diesen Ort hier verschlagen, der offensichtlich am Ende der Welt lag. David hatte Tom bisher nicht kennengelernt. Seine Mutter hatte nie unfreundlich von ihm gesprochen, doch irgendwie hatten sie sich ein wenig aus den Augen verloren. Erst in den vergangenen zwei Jahren war der Kontakt wieder enger geworden.

»Es wird dir in Stratford-upon-Avon gefallen«, hatte Toms Mutter gesagt. »Außerdem lernst du so auch das Haus kennen, in dem so viele berühmte Mitglieder unserer Familie aufgewachsen sind.«

Die Familie. Seine Mutter sprach immer mit so viel Stolz in der Stimme davon, dass sie angeblich direkt von dem berühmten Schriftsteller William Shakespeare abstammten. Für Tom war das nur ein Name, doch seine Mutter behauptete, dass er der berühmteste Schriftsteller Englands gewesen sei – wenn nicht sogar der ganzen Welt.

Wie auch immer. Das Einzige, was für Tom zählte, war die Hoffnung, dass David es mit George aufnehmen konnte. Dann würden das schließlich doch noch wundervolle Ferien werden. Auch wenn der Name dieses Ortes mehr als seltsam klang. Stratford-upon-Avon. Wer dachte sich denn solche Namen aus?

Hinter ihm schlug die Tür des altmodischen Wagens zu, in dem er hergekommen war. Tom wandte sich zu dem Mann an der Fahrerseite um. Toms Onkel hatte einen Diener, so wie in den langweiligen Schwarz-Weiß-Filmen, die Toms Eltern gerne sahen. Will, so hieß der Mann, hatte Tom am Flughafen in London in Empfang genommen und hergefahren. Er war etwas klein und schmächtig. Der dunkle Anzug schien ihm nicht recht passen zu wollen und sein Hut rutschte ihm immer wieder in die Stirn, als fände er auf seinem Kopf keinen Halt. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen. Will trug einen Schal, den er bis unter die Nase gezogen hatte, und seine Augen bedeckte eine riesige Sonnenbrille, die ihn beinahe wie eine Fliege aussehen ließ. Vielleicht war er gegen Sonnenlicht allergisch, mutmaßte Tom.

»Können wir hineingehen?«, fragte er ein wenig schroff, nachdem Will keine Anstalten machte, sich zu rühren. »Es regnet«, fügte er hinzu, als sei dies nicht völlig offensichtlich.

»Aber natürlich, gnädiger Herr.« Ungelenk griff der Diener nach Toms riesigem Koffer, den der Junge im Flughafen nur mit großer Mühe auf einen Gepäckwagen gewuchtet hatte. Überrascht sah Tom, dass Will den Koffer wie beiläufig trug, während er steifbeinig auf das Haus zuschritt. Er schien sein Gewicht kaum zu bemerken. Dabei hatte Toms Mutter ihn so vollgestopft, dass man glauben konnte, Tom plane, von zu Hause auszuziehen.

Der Diener stieg geräuschvoll die steinernen Stufen hinauf, die zu einem großen, dunklen Portal führten, und zog einen Schlüssel aus der Anzugtasche. Er steckte ihn ins Schloss und drehte ihn. Die Tür öffnete sich quietschend, als wollte sie laut gegen die Störung protestieren.

Gnädiger Herr? Tom runzelte die Stirn, während er dem Diener die Treppe hinauffolgte und das Haus betrat. So war er noch nie genannt worden.

Das trübe Licht des verregneten Tages schien kaum mehr als ein paar Meter in den Hausflur hinein. Es floss über gemusterte Fliesen, strich hohe Wände mit Portraits und Landschaftsbildern hinauf und verlor sich schnell zwischen zahllosen Bücherregalen an den Wänden.

Will stellte den Koffer neben der Eingangstür ab. Dann schloss der Diener die Tür und betätigte einen Lichtschalter. Ein großer Kristallleuchter erstrahlte an der Decke, der mindestens ebenso viel Licht wie Schatten in die Eingangshalle zauberte. Will trat auf Tom zu und half ihm aus der nassen Jacke. Seine Schritte klangen ungewöhnlich laut auf dem Fliesenboden wider und vermischten sich in Toms Ohren mit dem Summen, das ihm immer noch im Kopf hing. Tom warf einen Blick auf sein Handy, um zu prüfen, ob er wenigstens im Haus Empfang hatte.

»Wir befinden uns hier in der glücklichen Lage, weder von einem Funknetz noch von diesem Internet belästigt zu werden, gnädiger Herr«, sagte Will.

Tom stöhnte innerlich. »Wo ist Onkel David?«, fragte er und sah sich um.

Er konnte nun einen genaueren Blick in die Halle werfen. An ihrem Ende erkannte er eine große Treppe, die in einem geschwungenen Bogen hinaufführte. Ehe Will antworten konnte, schritt jemand in einem grünen Anzug die Stufen herab. Das musste sein Onkel sein. Tom konnte die Ähnlichkeit zu seiner Mutter deutlich erkennen.

»Führt ein die Herren von Frankreich und Burgund, Gloster!«, rief der Mann in dem grünen Anzug. In diesem Moment verflog Toms letzte Hoffnung darauf, dass David ebenso cool wie George sein könnte. Sein Onkel, der freudestrahlend auf ihn zukam, mochte nicht besonders alt sein. Allerhöchstens vierzig. Doch mit George hatte er sicher nichts gemeinsam außer dem Nachnamen.

»Sehr wohl, mein König!«, hörte Tom Will in gesetztem Tonfall antworten.

Oh verdammt, dachte Tom bei sich. Sie sind wahnsinnig. Alle beide.

»Das war natürlich aus König Lear«, sagte David Pearce lachend, während er auf Tom zuschritt und dabei die dicke, runde Hornbrille von der Nase nahm. »Eine Tragödie von Shakespeare«, ergänzte er, als Tom ihn verständnislos ansah. Im Gesicht des Mannes zeichnete sich eine leise Unsicherheit ab. »Du kennst doch seine Tragödien, oder?« Er wechselte einen Blick mit Will.

»Oh, ja natürlich«, log Tom, ohne nachzudenken. Die wahre Tragödie, fürchtete er, würde wohl eher von ihm selbst und seinen Sommerferien handeln.

»Sehr schön.« Onkel David schien zufrieden mit der Antwort. »So, du bist also der kleine Tom«, sagte er dann, als könnte es da irgendeinen Zweifel geben. »Ich wusste gar nicht, dass Olivias Sohn schon so groß ist! Du wurdest doch erst vor ein paar Jahren geboren.«

»Der Junge ist zwölf, wenn ich richtig zurückrechne, gnädiger Herr«, ließ sich Will vernehmen.

Onkel David warf Tom einen irritierten Blick zu, als hätte der sich gerade vor seinen Augen verwandelt. »Zwölf!« Er strich sich das braune Haar aus der hohen Stirn und lachte nervös. »Sieh mal einer an. Wie die Zeit vergeht.«

Die Falten um Onkel Davids Augen zeigten, dass er oft lachte. Er wirkte sehr freundlich, doch er konnte nicht verbergen, dass er nicht recht wusste, wie er mit Tom umgehen sollte.

»Es … es wird dir hier gefallen«, fuhr er fort. Es schien beinahe, dass er nicht nur Tom, sondern auch sich selbst davon überzeugen musste.

Tom nickte langsam. Bestimmt gab es irgendwo einen Fernseher. Und einen Computer. Er würde schon eine Möglichkeit finden, sich die Zeit zu vertreiben. »Das ist ein schönes Haus«, meinte er höflich.

Ein Strahlen lief über Onkel Davids Gesicht. »Ja. Kein Wunder, dass du das sofort erkannt hast. Unsere Familie stammt schließlich von hier. Weißt du was? Ich werde dir alles zeigen. Die vier Wochen, die du hier sein wirst, werden dir am Ende kaum ausreichen.«

»Sechs Wochen«, warf Will ungerührt ein.

Onkel Davids Blick zeigte wieder Verwirrung. »Ach, wirklich? Sechs Wochen? Herrje, das ist lang. Ich meine natürlich, das ist überhaupt nicht lang. Also … genau die richtige Zeit.« Er zwang hastig ein Lächeln auf sein Gesicht. »Du wirst das Haus lieben. Hier gibt es noch immer alles, wofür schon ich als Kind geschwärmt habe.«

»Du?« Tom runzelte die Stirn. Hatte es vor dreißig Jahren schon das Internet gegeben? Oder eine Spielkonsole?

»Die wichtigen Bücher«, sagte Onkel David und zwinkerte Tom verschwörerisch zu, als hätte er ihm gerade eine VIP-Dauerkarte für die Spiele des FC Chelsea in die Hand gedrückt. »Die alten Meister sind alle hier. Sie warten nur darauf, von dir entdeckt zu werden. Tja, ich weiß noch, wie ich einmal meinen Onkel oben in Schottland besucht habe. Ein strenger Kerl. Musste ihn immer Sir nennen. Ich bin da ziemlich locker. Für dich bin ich einfach Onkel David.«

image

Tom folgte seinem Onkel und Will die breite Treppe hinauf in den ersten Stock. Das Haus bestand vor allem aus dunklem Holz und alten Gemälden. Die Stille, die in dem Flur am Ende der Treppe nistete, war so dicht, dass jeder ihrer Schritte unnatürlich laut zwischen den Wänden klang. Tom versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie seine Mutter und George als Kinder die Treppe hinaufgelaufen waren. Kinder passten irgendwie nicht hierher. Es schien, als könnten nur Erwachsene in ein so altes Haus gehören. Wie Onkel David. In seinem Anzug verschmolz er beinahe mit den grünen Wänden wie ein Chamäleon mit einer Pflanze. Vermutlich war er schon als Kind vierzig Jahre alt gewesen.

Während Onkel David vorausging, deutete er mal nach links und mal nach rechts auf eines der vielen Portraits, die an den Wänden hingen, und erzählte dabei von Toms Vorfahren. Strenge Gesichter musterten Tom. Das von William Shakespeare, der mit seinem dichten Bart um den Mund aussah, als hätte er nie in seinem Leben gelacht, starrte besonders übellaunig auf ihn herab.

»Mein altes Zimmer«, sagte Onkel David stolz und holte Tom damit aus seinen Gedanken. Sie hatten das Ende eines langen Flures erreicht. Onkel David öffnete die Tür so schwungvoll, dass er mitgerissen wurde und in den Raum hineinstolperte.

Tom spähte an ihm vorbei. Im ersten Moment sah er nur die furchtbare Tapete. Sie zeigte immer und immer wieder eine Gruppe bewaffneter Männer, die Hirsche durch einen Wald jagte. Neben einem großen Bett und einer Kommode gab es noch einen Schreibtisch, einen Kleiderschrank und einen Kamin.

»Gemütlich, oder?« Onkel David hatte das Gleichgewicht wiedergefunden und trat an das Fenster, das hinaus in den Garten ging. Mit einiger Mühe gelang es ihm, die beiden Flügel zu öffnen. »Hier habe ich viele Stunden verbracht, bin Jim Hawkins auf die Schatzinsel gefolgt oder habe mit Robinson Crusoe einsame Tage ausgeharrt. Natürlich habe ich auch die Bücher von unserem berühmten Vorfahren studiert. Eine wunderschöne Zeit. Was liest du so?«

Tom zuckte mit den Schultern. Eigentlich las er gar nicht. Zumindest keine Bücher. »Meistens Sportzeitungen«, sagte er, um irgendetwas zu antworten. Doch eigentlich las er nur die Posts seiner Freunde im Internet.

»Oh«, entfuhr es Onkel David offensichtlich enttäuscht und er sah verwirrt zu Will, der stumm eingetreten war. »Haben wir Sportzeitungen im Haus?«

»Ich befürchte nicht, gnädiger Herr«, erwiderte der Diener, während er Toms Koffer neben das Bett stellte. »Ihr Interesse an dieser Art … gedruckter Informationen ist nicht sehr ausgeprägt. Aber ich bin sicher, in der Times einmal einen Sportteil gesehen zu haben.«

»Wunderbar!«, rief Onkel David und strahlte Tom an. »Dann ist ja alles in bester Ordnung. Pack erst mal aus und sieh dich um. Ich muss noch etwas arbeiten, aber Will wird dir nachher das Telefon zeigen, damit du zu Hause anrufen kannst. Gegessen wird bei uns übrigens immer um drei viertel sieben. Du wirst sehen, die vier Wochen vergehen wie im Flug.« Lächelnd verließ er das Zimmer.

»Es sind sechs Wochen«, berichtigte Will, während er seinem Herrn hinaus in den Flur folgte.

»Wirklich?«, hörte Tom den Onkel noch fragen. »Herrje, das ist aber gar nicht gut. Gerade in dieser Zeit …«

Tom setzte sich auf das Bett und kratzte sich mit dem Finger im Ohr, um endlich das Summen daraus zu vertreiben. Sechs Wochen. Kein Internetempfang. Kein Handynetz. Er konnte mit niemandem Kontakt halten. Wenigstens den Fernseher musste er finden. Er musste. Sonst war er verloren.

image

»Es wird dir gefallen«, sagte Toms Mutter durch den Hörer, als er später mit ihr telefonierte. Tom hatte noch nie ein Telefon wie dieses in den Fingern gehalten. Der Apparat in der Bibliothek, zu dem Will ihn geführt hatte, besaß tatsächlich noch eine Wählscheibe und einen richtigen Hörer, der über ein Kabel mit dem Rest des klobigen, schwarzen Kastens verbunden war. Tom kannte diese Dinger nur als Kinderspielzeug. Oder aus Filmen. Ziemlich alten Filmen.

»Hier gibt es gar nichts«, flüsterte Tom, so laut er es sich traute. »Ich glaube, Onkel David ist ein bisschen verrückt. Ist der echt mit dir verwandt?«

»Was?«, rief seine Mutter. »Du bist so leise.«

Tom verdrehte die Augen. Die Türen an der anderen Seite der Bibliothek standen weit geöffnet und draußen hörte er Will geschäftig hin und her laufen.

»Ach, nichts«, seufzte Tom und sprach wieder lauter. »Wann fahrt ihr los?«

»Gleich morgen früh«, flötete seine Mutter aufgedreht. »Wir wollen keine Sekunde von Paris verpassen. Wir lieben dich.«

»Ja, ich wünsche euch schöne Flitterwochen«, seufzte Tom und legte auf.

Als er hinaus auf den Flur trat, war Will fort. Also begann Tom sich umzusehen. Mit etwas Glück würde er den Fernseher schon selbst finden.

Er durchstöberte das ganze Haus, doch in keinem der Zimmer fand er etwas anderes als Bücher. Es waren so viele. Die konnte doch keiner alle lesen!, dachte Tom verärgert. Zuletzt stieg er die Treppe in den Keller hinab. Er glaubte nicht, dass er da unten einen Fernseher finden würde. Doch da er schon mal dabei war, das Haus auf den Kopf zu stellen, konnte es nicht schaden, sich auch unten einmal umzusehen.

Ein düsterer Flur führte vom Ende der Treppe geradewegs auf ein Kellergewölbe zu. Neben dem Durchgang hing eine große Taschenlampe an der Ziegelsteinwand. Ein dickes Rohr lief über weitere Bücherregale hinweg. Die Kellerdecke wurde von steinernen Säulen getragen und zahllose elektrische Lampen an den Wänden tauchten das Gewölbe in ein schummriges Licht.

Tom ging ein paar Schritte in den Keller hinein und entdeckte in einiger Entfernung zwischen zwei Regalen eine Stahltür, die einen Spalt offen stand. Im Gegensatz zum Rest des Kellers glänzte die Tür wie neu.

Tom stockte, als er Stimmen hinter der Tür hörte. Da also waren sein Onkel und dieser Will, dachte er. Unwillkürlich verfiel er in ein lautloses Schleichen. Tom hatte diesen Gang perfektioniert, um ungehört an seinen Eltern vorbeizukommen.

»… aufpassen, dass man sie nicht findet?« Das war Onkel David gewesen.

»Wir sollten sie …« Wills Worte waren undeutlicher und schwerer zu verstehen als die von Onkel David.

Tom schlich näher. »Nein, das wird nicht nötig sein«, hörte er seinen Onkel erwidern. »Sie wurden seit fast siebzig Jahren nicht mehr gesehen.«

»Und wenn sie kommen?«, hörte Tom Will fragen. Sein Tonfall klang gepresst vor Anspannung.

»Das … nein, das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Onkel David, aber er klang nun ein wenig verunsichert.

»Sie haben es doch selbst gesagt. Die Seiten deuten eindeutig auf eine Umformulierung hin.« Wills Stimme. Jemand raschelte mit Papier.

»Vielleicht … vielleicht habe ich mich getäuscht. Ich habe zu Lebzeiten keine Umformulierung erlebt, Will.«

»Möglicherweise fehlen bereits einige Lebensseiten«, sagte der Diener. »Wir müssen das überprüfen. Am besten, wir bringen sie alle hierher.«

»Alle?« Onkel David klang wenig erfreut über den Vorschlag. »Das sind ziemlich viele.«

»Es ist sicherer«, drängte Will. »Und ich habe bereits damit begonnen, sie herzuschaffen.«

»Na gut«, meinte Onkel David widerwillig. »Wenn es dich beruhigt, alter Knabe. Dann …« Onkel David verstummte so plötzlich, als hätte ihm jemand die Worte von der Zunge geschnitten.

»Was ist?«, fragte Will misstrauisch.

Tom war mittlerweile fast an der Tür angelangt und griff nach dem Türknauf.

»Mein Neffe«, wisperte Onkel David so leise, dass Tom ihn kaum verstand.

»Hier?«, hörte Tom den Diener verblüfft fragen.

»Da steht es«, erwiderte Onkel David.

Jemand erhob sich aus einem Sessel und näherte sich der Tür. Hatten sie ihn bemerkt? Tom war sich sicher, dass er völlig lautlos gewesen war. Seine Hand lag noch auf dem Türknauf, als die Tür von innen so heftig aufgerissen wurde, dass Tom fast in den Raum hineinfiel.

»Hallo, Tom«, sagte Onkel David und setzte ein gestelltes Lächeln auf. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, erwiderte Tom unschuldig und versuchte einen Blick an Onkel David vorbei in den Raum hinter der Stahltür zu werfen. Er erkannte nicht viel. Nur einen Tisch, auf dem einige Papiere lagen. Und eine alte Lampe mit einem hässlichen Blümchenmuster.

»Wer ist denn bei dir?«, fragte Tom, während sich sein Onkel vor ihn schob und die Sicht versperrte.

»Niemand«, antwortete Onkel David, sah sich nervös um und zog Tom von der Tür fort.

»Habe ich da nicht Will gehört?«, fragte Tom.

»Will?« Onkel David sah ihn an, als wüsste er nicht, von wem Tom sprach. »Ach so. Ja, er hat noch hier zu tun. Da sind …«, er strich sich nervös die Haare aus der Stirn, »… Bücher, die sortiert werden müssen.« Er legte die Hand auf den Lichtschalter und die Beleuchtung in dem Gewölbe erlosch. »Komm, wir gehen nach oben. Bald gibt es Essen.«

Tom nickte gedankenverloren. Erst jetzt bemerkte er, wie laut das Summen in seinen Ohren geworden war.

»Hörst du das auch, Onkel David?«, fragte Tom.

»Nein, was denn?« Die Stimme seines Onkels schien wie aus weiter Ferne zu kommen.

»Das Geräusch. Es klingt fast wie eine Stimme, glaube ich.«

»Als ob tausend leise Worte die Luft erfüllen?« Onkel David klang plötzlich heiser.

»Ja«, sagte Tom überrascht.

»Nein, ich höre nichts dergleichen«, gab Onkel David leichthin zurück, doch er musterte seinen Neffen mit einem seltsam nachdenklichen Blick. Tom zuckte zusammen, als er ihm nun in einer festen Geste die Hand auf die Schulter legte. »Und du hörst auch nichts. Das ist nur die Stille des Kellers.«

Mit sanftem Druck zog er Tom zur Treppe, von deren oberem Ende das Licht des grauen Tages herabschien, und stieg hinauf. Tom lauschte noch ein wenig dem sonderbaren Summen, ehe er seinem Onkel folgte.

Tausend Worte. Ja, so klang es.

Seltsam, dachte Tom. Sehr seltsam.

ENTFÜHRT

Der Regen, der den Tag grau gefärbt hatte, war in der Nacht zu einem Gewitter geworden. Es blitzte und donnerte so heftig, dass Tom nicht schlafen konnte. Er lag in dem Jugendbett seines Onkels und drehte sich von einer Seite zur anderen. Wahrscheinlich kann ich vor lauter Langeweile nicht schlafen, dachte Tom bei sich und richtete sich auf. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal ins Bett gegangen war, ohne vorher in seinem Smartphone nachzusehen, ob er noch Nachrichten von seinen Freunden bekommen hatte. Er vermisste sie schon jetzt. Wie sollte er da sechs Wochen hier aushalten?

In diesem Haus schien es nur um Bücher zu gehen. Um nichts anderes. Beim Essen hatte sein Onkel die meiste Zeit von dem berühmten Vorfahren William Shakespeare gesprochen: »Ein einfacher Mann aus dem Volk, der einige der bedeutendsten Werke der Menschheit geschrieben hat«, hatte Onkel David nach einem beinahe zwanzigminütigen Monolog über den Schriftsteller geschlossen. »Vierhundertfünfzig Jahre ist er neulich alt geworden. Das war eine Party, was, Will?«

Der Diener hatte gerade die Teller abgeräumt und nichts erwidert. Doch der warnende Blick, den er Toms Onkel zugeworfen hatte, war kaum zu übersehen gewesen. Tom hatte ihn genau beobachtet. Der Kopf, der am Tag unter Hut, Brille und Schal verborgen gewesen war, kam Tom bei genauem Hinsehen wie ein Ei vor. Während Will die Haare auf seinem Haupt weitestgehend ausgegangen waren, ließ er sie an den Seiten dafür umso länger wachsen. Sie waren braun und glänzten ebenso wie der Bart, den er über seiner Oberlippe und um sein Kinn herum trug. Irgendwie sah beides so unecht aus wie eine Karnevalsperücke.

Beim nächsten Donnerschlag gab Tom den Versuch einzuschlafen auf und stieg stattdessen aus dem Bett. Er trat ans Fenster, schob die Vorhänge zur Seite und sah hinaus. Genau in diesem Moment blitzte es auf und die Nacht wurde für einen Augenblick taghell. Der Rasen vor dem Haus erschien wie mit Silber überzogen und die Bäume, die den Garten zur Straße hin abtrennten, warfen wilde Schatten auf das Gras.

Tom blinzelte. Hatte er nicht gerade jemanden gesehen? Eine Gestalt, die dort auf dem Rasen gestanden hatte? Er kniff die Augen zusammen und stierte in die Dunkelheit. Nur wenig später blitzte es wieder auf. Abermals erschien der Rasen wie in Silber getaucht, doch von der Gestalt war nichts mehr zu sehen. Tom hatte sie sich wohl nur eingebildet.

Er fuhr sich über das Gesicht und beschloss, in die Bibliothek hinunterzugehen. Vielleicht fand er in den Zeitungen, die dort lagen, wirklich einen Sportteil und womöglich machte ihn das Lesen müde genug, um trotz des Gewitters einzuschlafen.

Auf dem Flur tastete er nach einem Lichtschalter, doch als er ihn schließlich fand und betätigte, geschah nichts. Tom versuchte es noch einmal, ohne dass es hell wurde. Stromausfall. Na wunderbar. Tom verzog verärgert das Gesicht. Ohne Licht würde er nicht lesen können. Er wusste nicht, wo es hier Streichhölzer und Kerzen gab. Und er konnte seinen Onkel oder den Diener kaum wecken und danach fragen. Gerade wollte er sich wieder umdrehen, um zurückzugehen, als er etwas hörte.

Es war weder das Krachen eines Blitzes noch der nachfolgende Donner gewesen, sondern ein Klirren. Und es schien von unten zu kommen. Tom stockte und lauschte. Jemand war dort. Vielleicht Will? Tom tastete sich durch den finsteren Flur. Es war so dunkel, dass er kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

Mit einiger Mühe fand er den Beginn der Treppe und stieg dann vorsichtig Stufe um Stufe hinab. Als er in der Eingangshalle angekommen war, blitzte es erneut. In dem kurzen Lichtschein erkannte Tom, dass die Scheibe eines der Fenster zersplittert war. Der Blitz riss eine dunkle Gestalt daneben aus der Dunkelheit. Einbrecher!, schoss es ihm durch den Kopf. Also hatte er sich doch nicht getäuscht. Es wurde wieder dunkel in der Halle und Toms Herz schlug mit einem Mal so fest in seiner Brust, dass er fürchtete, die Gestalt könnte es hören. Er spürte ein Prickeln auf der Haut. Beim nächsten Blitz glaubte Tom seinen Augen nicht zu trauen: Das Fenster war wieder ganz. Und von der Gestalt fehlte jede Spur.

Verblüfft starrte er auf das Fenster, sogar als es schon längst wieder dunkel war. Er wartete ein wenig, ehe er sich traute, zu dem Fenster hinüberzugehen. Mit den Fingern strich er vorsichtig über das Glas. Es war unversehrt.

Erleichtert atmete Tom die Luft aus, die er vor Aufregung angehalten hatte. Er hatte sich das alles nur eingebildet. Für einen Moment überlegte er, wieder hinaufzugehen, doch dann fiel ihm ein, dass er vorhin neben dem Durchgang zum Kellergewölbe eine Taschenlampe gesehen hatte. Er beschloss, sie sich zu holen.

Tom tastete sich zur Treppe vor und trat ins Leere, ehe seine Finger das Geländer fanden. Er unterdrückte einen Fluch und folgte der Stiege vorsichtig hinab.

Kaum hatte er den Fuß auf die oberste Stufe gesetzt, war das Summen in seinen Ohren zurück. Tausend leise Worte. Tom verscheuchte den Gedanken an das Gespräch mit Onkel David.

Er stieg die Treppe vorsichtig ganz hinunter und wollte sich gerade auf die Suche nach der Taschenlampe machen, als er stutzte. Ein Lichtschein durchschnitt die Dunkelheit vor ihm. Er kam aus dem Kellergewölbe und schien seinen Ursprung in dem Raum hinter der Stahltür zu haben. Gab es dort etwa Strom? Tom runzelte die Stirn. Nein, vermutlich hatte wohl eher jemand eine Kerze entzündet. Oder mehrere, so hell, wie das Licht war. Sicher war Will dort.

Tom würde wohl keine Taschenlampe mehr brauchen. Er tastete sich durch den Keller auf den Lichtschein zu und presste seine Finger gegen den Stahl der Tür. Vorsichtig drückte er sie etwas weiter auf und sah in den Raum hinein.

Tom erkannte den kleinen Tisch mit einem thronartigen Sessel davor und einem hohen Regal an der Seite. Darin standen – wie hätte es auch anders sein sollen? – Bücher. Es waren ziemlich wenige und die meisten Bretter des Regals waren leer. Das Licht aber, das den Raum erhellte, stammte keineswegs von Kerzen. Auf dem Tisch stand die elektrische Lampe mit dem hässlichen Muster, die trotz des Stromausfalls ihren Lichtkegel auf die Tischplatte warf und einige lose Seiten beschien. Tom wunderte sich darüber. Wieso gab es hier unten Strom? Er betätigte einen Schalter an der Wand, doch das Deckenlicht blieb dunkel. Seltsam.

Als Tom einen Schritt in den Raum hinein machte, trat er versehentlich den Stecker der Lampe aus der Dose. Das Licht brannte dennoch weiter. Tom rieb sich die Augen. Das war unmöglich. Er schaltete die Lampe aus, doch sie leuchtete unverdrossen weiter. Das war unmöglich! Vielleicht träumte er? Tom stolperte zurück, als hätte er sich an der Lampe einen elektrischen Schlag geholt, und sein Blick fiel auf die losen Seiten, die auf dem Tisch lagen. Das Summen wurde lauter.

Tom sah sich verwundert um. Es gab nichts in dem Raum, das dieses Geräusch hätte verursachen können. Nicht einmal die seltsame Lampe konnte so laut summen. Vielleicht lag etwas unter den Papieren? Tom schob die Seiten fort, doch unter ihnen war nichts. Er nahm eine der Seiten zur Hand. Und ließ sie erschrocken wieder fallen.

Auf der Seite waren wie von selbst Worte entstanden und wieder verschwunden. Ganz von alleine. Als hätte ein Unsichtbarer sie mit blauer Tinte darauf geschrieben.

Tom fuhr sich über die Augen. Vorsichtig hob er die Seite wieder hoch. Diesmal ließ er sie nicht fallen. Doch was er sah, konnte er dennoch nicht glauben. Worte flossen wie von Zauberhand auf das Papier. Toms Mund klappte auf, doch kein Wort kam über seine Lippen, während er las.

Boris träumte wieder von der Straße, deren Boden anfing, weich zu werden.

Es war derselbe Traum, den er schon viele Male gehabt hatte.

Jedes Mal, wenn er glaubte, mit einem Problem nicht fertigzuwerden.

Er begann über das Pflaster zu laufen, das nachgiebig wie nasser Sand wurde.

Vorwärts kam er kaum.

Seit Boris Premierminister geworden war, durchlebte er diesen Traum immer wieder.

Tom ließ die Seite stirnrunzelnd sinken. Premierminister? Es gab tatsächlich einen Premierminister, der Boris mit Vornamen hieß. Hier in England. Toms Eltern hatten sich geärgert, als er vor wenigen Monaten die Wahl gewonnen hatte. Wieso stand jetzt etwas von seinen Träumen auf der Seite? War das irgendein ultramoderner E-Book-Reader?

Tom nahm zur Probe eine der anderen Seiten zur Hand. Er bog sie und strich mit den Fingern über sie. Sie war aus Papier. Ganz sicher. Und auch auf ihr erschienen Worte wie aus dem Nichts. Verblüfft starrte Tom die Seite an.

David hatte ein Geräusch gehört.

Er war noch nicht ganz wach, doch in seinem verschlafenen Kopf reihten sich bereits Gedanken aneinander.

Sie waren da.

Nach all der Zeit.

David wusste es, ohne auch nur einen von ihnen gesehen zu haben.

Will hatte recht gehabt.

Und er hatte die Seiten unten liegen lassen.

Verflixt, dachte er.

Er musste sie holen.

Sofort.

Hoffentlich bekam Tom nichts mit.

Tom kniff sich, so fest er konnte, in den Arm. »Au«, zischte er in den verlassenen Raum. Er konnte den Abdruck sehen, den seine Finger auf seiner Haut hinterlassen hatten. Doch er war nicht aufgewacht.

Das hier war kein Traum, dachte er bei sich. Das war echt. Wirklich echt. Obwohl Tom nicht wusste, wie das möglich sein sollte.

Das dort waren Worte über seinen Onkel David gewesen. Aber wie kamen die da hin? Und wohin verschwanden sie? Längst hatten neue ihren Platz eingenommen. Tom las, wie David eine Hose suchte und hinfiel, während er schlaftrunken versuchte, sie sich anzuziehen. Von irgendwoher hörte Tom in diesem Moment ein dumpfes Poltern.

Hastig warf er die Seite auf den Tisch, als hätte sie ihm die Hand verbrannt. Das war nicht normal. Nein, das war total verrückt.

Tom wäre am liebsten aus dem Raum hinausgestürmt und zu seinem Onkel gelaufen, um ihn zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Doch irgendetwas hielt ihn zurück. Eine der Seiten lag direkt im Licht der Lampe. Das Summen schien von ihr auszugehen. Plötzlich nahm Tom nichts anderes mehr wahr. Tausend leise Worte. Und dann hörte er nur noch seinen Namen. Als würde ihn die Seite zu sich rufen. Tom vermochte seinen Blick nicht mehr von dem Papier zu lösen. Es schien wichtig zu sein. Wichtig für ihn.

Toms Finger zitterten, als er nach der Seite griff. Weshalb war er so aufgeregt? Es war nur Papier. Aber das waren die anderen Seiten auch gewesen. Tom erkannte erneut Buchstaben, die ein Unsichtbarer zu schreiben schien. Seine Augen weiteten sich, während er sie las.

Tom blickte auf die Seite.

Er konnte nicht glauben, was er sah.

Was er las.

Wie auch?

Es war kaum zu glauben.

Er stand vor dem Tisch, das Licht der Lampe, die nicht leuchten konnte, fiel auf die Seite und beschien die Buchstaben, die ganz ohne Tinte auf ihr erschienen.

»Unglaublich!«

»Unglaublich!«, entfuhr es Tom und sein Mund klappte erneut auf, wodurch er ziemlich dümmlich aussah.

Tom zwang sich, den Blick von der Seite zu lösen, und sah sich um. Er war allein. Das konnte es doch nicht wirklich geben, dachte er, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er hatte kaum verstanden, wie die Worte auf den anderen Seiten erschienen waren. Aber das hier war noch verrückter als alles andere zuvor, sofern das überhaupt möglich war.

Wer oder was auch immer dafür sorgte, dass sich die Buchstaben auf dem Papier aneinanderreihten, wusste genau, was Tom tat. Und was er dachte. Doch hier war niemand. Oder gab es eine Kamera, durch die Tom beobachtet wurde? Aber wie hätten seine Gedanken auf der Seite erscheinen können?

In Toms Kopf begann sich alles zu drehen. Wenigstens war das Summen fort. Es war verschwunden, seitdem er das Papier berührt hatte. Stattdessen schien es ihm, als könne er die Worte, die auf der Seite auftauchten, beinahe hören. So als müsste er sie nicht lesen, um sie zu begreifen.

Tom wollte fortlaufen. Weg von diesem Ding, das er nicht verstand. Doch sein Körper gehorchte ihm vor lauter Aufregung nicht und die Worte auf der Seite veränderten sich erneut.

Tom war noch immer wie erstarrt und so aufgeregt, dass er die Schritte nicht hörte.

Jemand war die Treppe hinabgestiegen.

Jemand kam.

Jemand kam? Hatte die Seite recht? Vielleicht war es Onkel David!

Vielleicht war es Onkel David!, dachte Tom und der Gedanke erleichterte ihn.

Doch die Schritte schienen nicht zu dem ziemlich tollpatschigen Mann zu gehören.

Sie waren schwer und bestimmt.

Wer immer da auch kam, ging mit einer bemerkenswerten Selbstsicherheit durchs Leben.

Tom überlegte fieberhaft.

Was sollte er tun?

Bleiben?

Oder gehen?

Zu spät.

Die Gestalt war an der Tür zum Kellergewölbe angelangt.

Nun hörte Tom die Schritte über sein laut klopfendes Herz hinweg. Sie näherten sich langsam und unaufhörlich. Tom sah wieder auf die Seite.

Er musste sich beeilen, wenn er der Entdeckung durch den Mann entgehen wollte.

Die weisen Worte auf der Seite rieten Tom, sich hinter der Tür zu verstecken, ehe der Mann in den Raum treten würde.

Die Schritte kamen näher, und Toms Herz schlug nun so fest, als wollte es sie mit Gewalt übertönen. Er sah wieder auf die Seite.

Tom sollte sich wirklich beeilen.

Das war Irrsinn, dachte Tom. Er konnte doch nicht tun, was auf einem Stück Papier stand, ganz egal, wie unglaublich es sich anhörte.

Wenn er sich jetzt nicht bewegte, würde er es bereuen.

Verdammt, konnte er nicht mehr lesen?

Es war doch wohl nicht so schwer zu verstehen.

BEWEG DICH, TOM.

JETZT!

Im selben Moment, in dem die Tür ein Stück weiter nach innen gedrückt wurde, schlüpfte Tom hinter sie, sodass sie ihn verdeckte. Er presste sich so eng an die Wand, wie er konnte, und lugte auf die Seite in seiner Hand. Er wagte nicht, sie höher zu halten, aus Angst, das Rascheln könnte ihn verraten. Tom konnte nicht alle Worte genau erkennen. Er drehte den Kopf, um besser lesen zu können, doch viele der Worte verschwanden, ehe Tom sie entziffern konnte.

Der Unbekannte stand … dem Tisch.

Toms Lippen bewegten sich lautlos, als könnte er die Worte so zum Bleiben überreden.

Endlich … Ziel, dachte er.

… Lebensseiten.

… wirklich eine besondere Nacht.

Plötzlich erklangen Geräusche aus dem Gewölbe. Jemand ging mit schnellen Schritten auf die Tür zu.

Tom ließ die Seite sinken und lauschte aufgeregt. Jemand betrat den Raum.

»Ich habe die Lampe umformuliert, damit Ihr die Seiten begutachten könnt«, hörte Tom eine tiefe Stimme sagen. Der Mann, zu dem sie gehörte, atmete schwer vor Aufregung. »Sind sie das?«

»Ja«, erwiderte eine zweite. Sie klang ruhig und erstaunlich freundlich. »Es ist doch erstaunlich, wie sehr sie sich unterscheiden, wenn man weiß, worauf man achten muss. Jede so einzigartig wie der Mensch, zu dem sie gehört. Lass sie uns fortbringen. Oben sollten die letzten sein.«

»Ja, Autorius.«

Tom hörte ein Kratzen. Es schien, als ob jemand etwas mit einem Füller schrieb. Einen Moment später prickelte seine Haut, als würde warme Luft darüberstreichen. Wenige Augenblicke darauf erklang nur noch das schwere Atmen, dann Schritte, die sich näherten. Ein dritter Mann kam. Tom wagte nicht, sich zu rühren. Der, der da kam, war in Eile. Die Person, die mit Tom im Raum war, schien ihn ebenfalls gehört zu haben. Tom konnte nicht sehen, was sie tat, doch auf der Seite las er es.

Würde … Überraschung bereiten.

Was für eine Überraschung? Ehe Tom darüber nachdenken konnte, erschienen wieder Worte auf dem Papier. Diesmal waren es nur zwei und Tom konnte sie beide deutlich erkennen:

David kam.

Onkel David? Tom wollte ihn warnen, doch die Angst vor dem Unbekannten schnürte ihm die Kehle zu und schnitt ihm alle Worte von den Lippen.

»Was …?«, hörte Tom seinen Onkel fragen. Ein dumpfer Schlag und die Stimme seines Onkels erstarb mitten im Satz. Jemand fiel zu Boden. Tom war wie erstarrt. Die Angst stieg in ihm empor wie Wasser in einem Brunnen. Er ertrank beinahe in ihr. War Onkel David gerade gestorben? Nein, dachte er bei sich, während er panisch lauschte. Er hörte zwei Menschen in seiner Nähe atmen. Die Angst blieb dennoch. Seine Hände zitterten, als er auf der Seite weiterlas.

Geschafft, dachte der Unbekannte.

Der Lectorius war …

und alle Lebensseiten …

Ein leises Kratzen unterbrach die angespannte Stille. Tom lauschte angestrengt in das Zwielicht. Das Kratzen endete abrupt. Toms Nackenhaare stellten sich auf und es wurde ebenso dunkel wie still. Kein fremdes Atmen mehr. Nur das Schlagen seines eigenen Herzens. Tom blieb noch einige Minuten hinter der Tür stehen. Oder waren es Stunden?

Als er sich sicher war, wirklich alleine zu sein, traute sich Tom aus seinem Versteck. Er tastete umher, fand die Tür und irrte durch die Finsternis, bis er den Durchgang zur Treppe fand. Dort suchte er die Taschenlampe. Als ihr Strahl endlich die Dunkelheit zerschnitt, fühlte sich Tom ein klein bisschen weniger elend. Vorsichtig ging er zurück in den Raum hinter der Stahltür. Er hatte insgeheim gehofft, seinen Onkel auf dem Boden liegen zu sehen. Doch da war niemand. Sein Onkel war ebenso verschwunden wie die Bücher in dem Regal. Und auch die Seiten auf der Tischplatte waren fort.

Ganz ruhig, sagte sich Tom. Der Unbekannte musste Onkel David niedergeschlagen und fortgetragen haben. Sicher war er bewusstlos. Also musste ihn der Mann, vor dem Tom sich verborgen hatte, getragen haben. Und der andere, dieser Autorius, hatte vermutlich die Bücher und die Seiten. Ganz egal, was hier los war, Tom musste Hilfe holen.

Mit der Lampe leuchtete er sich den Weg zur Treppe, dann wartete er mit klopfendem Herzen und lauschte. Wer konnte sagen, wer noch hier herumlief? Doch alles blieb still. Tom zögerte, die Treppe hinaufzugehen. Obwohl er sich wie ein Verrückter dabei fühlte, sah er auf die Seite in seiner Hand und folgte den Buchstaben, die auf ihr erschienen. Im Licht der Lampe waren sie deutlich zu erkennen.

Tom war aufgeregt.

Es war knapp gewesen.

Gut, dass er dem Rat der Seite gefolgt war.

Womöglich war er ja doch nicht so dumm, wie er aussah.

Besonders, wenn ihm der Mund offen stand.

»Hey!«, zischte Tom ungeachtet aller Gefahren.

Er war nun allein.

Nur die Auswirkungen der Umformulierung waren noch vage zu spüren.

Ein Prickeln in der Luft.

So, als ob sich ein Sommergewitter anbahnte.

Ja, da war tatsächlich etwas. Tom konnte es fühlen. Seine Nackenhaare hatten sich aufgerichtet. Er starrte auf die Seite und hoffte darauf, dass sie ihm erklärte, was geschehen war.

Tom war, wie bereits erwähnt, allein.

Er sah auf die Seite, doch nichts geschah.

Tom wartete vorsichtshalber ab, aber die Worte wiederholten sich nur noch. Vielleicht stimmte es. War er wirklich allein? Doch wo waren die Männer hin, die mit ihm in dem Raum gewesen waren? Was war die Umformulierung, von der Tom auf der Seite gelesen hatte? Und weshalb, um Himmels willen, sollte er an das glauben, was hier stand?

Tom schüttelte den Kopf, als könnte er die Welt so wieder zurechtrücken. Egal, was geschehen war: Sicher war, dass Onkel David verletzt worden war. Vielleicht sogar entführt. Tom musste Hilfe holen.

Er schaltete die Taschenlampe aus. Sofort ertrank die Welt um ihn herum wieder in Dunkelheit. Dann rollte Tom die Seite zusammen und schlich leise ins Erdgeschoss. Am Fuß der Treppe horchte er abermals. Der Regen war nicht mehr zu hören. Das Gewitter musste vorbei sein. Kein Blitz erhellte die Dunkelheit. Stattdessen warf nun der Mond sein kaltes Licht herab und mischte fahles Silber in die Nacht. Ein Fenster musste geöffnet worden sein, denn das Zirpen von Grillen verdrängte die Stille und irgendwo bellte ein Hund. Tom warf einen Blick auf die Seite. Zu seiner Überraschung schimmerten die Buchstaben, als finge sich das Licht des Mondes in ihnen. Sie wuchsen auf dem Papier wie die Ranken einer verzauberten Pflanze. Doch sie erzählten ihm in diesem Moment nichts über Eindringlinge oder seinen entführten Onkel. Er überlegte, die Lampe einzuschalten, doch dann verwarf er den Gedanken. Genauso gut hätte er laut rufen können.

Tom versuchte, sich zu orientieren. Die Bibliothek musste nur ein paar Meter entfernt sein. Mit dem Telefon würde er Hilfe rufen können. Auf den Gedanken, dass auch dieses Gerät ohne Strom nicht funktionierte, kam er erst, als er den tonlosen Hörer an sein Ohr hob. Doch schon einen Moment später hörte er das Freizeichen. Versuchsweise betätigte Tom den Lichtschalter neben dem Telefon an der Wand und das Licht in der Bibliothek flammte auf. In diesem Moment prickelte Toms Haut erneut.

Er fühlte Angstschweiß auf seiner Haut und wirbelte mit klopfendem Herzen herum.

Tom vergaß zu atmen. Vor ihm stand plötzlich ein Mann und wandte ihm den Rücken zu. Tom starrte ihn an, unfähig, sich zu rühren. Der Mann war groß, breitschultrig und trug kein Haar auf dem runden Kopf. Er steckte sich einige Bücher in den dunklen Mantel, dann keuchte er überrascht auf, drehte sich zu Tom um und blickte ihn verblüfft an. Nichts regte sich in dem vernarbten Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, zog der Mann eine Seite und eine Feder aus seinem Mantel. Sie kratzte über das Papier, und einen Moment später hatte Tom das Gefühl, dass unsichtbare Finger nach ihm griffen. Er spürte sie auf der Haut, doch sie rutschten ab, als könnten sie ihn nicht packen. Stattdessen sah er, wie der Unbekannte vor ihm von den Füßen gerissen wurde und hart auf dem Boden aufschlug.

»Was bist du?«, zischte der Mann entgeistert, während er mühsam wieder auf die Beine kam. Tom erkannte die tiefe Stimme. Er hatte sie unten im Keller gehört. Bevor Tom ein Wort herausbrachte, setzte der Mann die Feder erneut an. Wieder hörte Tom das Kratzen. Der Mann wurde unscharf und verschwommen. Er schien sich aufzulösen, als sei er aus Nebel gemacht, und war mit einem Mal verschwunden.

Toms Mund klappte auf und seine Nackenhaare richteten sich abermals auf. Ruckartig riss er sich die Seite vor die Augen und las.

Tom sah, das wurde bereits erwähnt, ziemlich dümmlich aus, als er mit aufgeklapptem Mund auf die geheimnisvolle Seite starrte.

Die Umformulierung war deutlich zu spüren.

Doch es war nicht möglich, auf diese Weise aus dem Haus zu entkommen.

Der Schreiber hatte nur den Garten erreicht.

Und der Bibliothekar war ihm auf den Fersen.

Der Bibliothekar? Wer war das denn nun wieder? Egal. Ohne nachzudenken, stürzte Tom an ein Fenster, das zum Garten wies. Tatsächlich! Dort erkannte er die Gestalt mit dem dunklen Mantel. Sie rannte auf die Reihe schwerer Pappeln zu, die den Garten eingrenzten. Hinter ihr erschien plötzlich eine weitere Gestalt. Es war zu dunkel, als dass Tom sich hätte sicher sein können, doch er glaubte, Will zu erkennen.

Der Flüchtende bewegte die Arme. Einen Moment darauf stellten sich Toms Nackenhaare abermals auf und eine der hohen Pappeln stürzte um. Toms Schrei vermischte sich mit dem Krachen, als der Baum genau auf den Mann fiel, den er für Will hielt. Doch zu seinem Erstaunen gelang es dem Verfolger, den fallenden Baum zur Seite abzuwehren. Tom rieb sich die Augen. Wer immer das da unten auch war, musste Superkräfte haben. Der Baum war viele Meter hoch gewesen. Und der vermeintliche Will hatte ihn so mühelos fortgeworfen, als sei er nur ein dürrer Ast! Er holte auf. Ehe er jedoch zu dem Flüchtenden aufschließen konnte, hatte der das Ende des Grundstücks erreicht. Abermals flimmerte die Gestalt und der Mann verschwand. Nichts blieb von ihm übrig. Der Verfolger hielt bei den Pappeln an. Ein zorniger Schrei erfüllte die Luft. Die Gestalt schlug gegen einen Baum, der mit einem lauten Ächzen zu Boden fiel. Dann senkte sich erneut Stille über die Welt.

Nie war sie Tom bedrohlicher vorgekommen.

JOSÉPHINE

Tom saß den Rest der Nacht mit angezogenen Beinen in der hintersten Ecke seines Bettes, die seltsame Seite auf dem Schoß und die Taschenlampe wie einen Schlagstock in der Hand. Die Kommode hatte er vor die Zimmertür gezogen und es war ihm gelungen, den Schrank vor das Fenster zu schieben. Tom war viel zu aufgewühlt, um auch nur an Schlaf zu denken. Sein Blick wanderte zwischen der Tür und der seltsamen Buchseite hin und her. Sollte einer der Männer zurückkehren, würden ihm die Worte auf der Seite dies hoffentlich rechtzeitig ankündigen. In der drückenden Stille glaubte er, das Papier wispern zu hören.

Tom war müde und verwirrt.

Er begriff nicht, in was für eine Sache er da gestolpert war.

Klugerweise vertraute er dem schlauesten Geschöpf in seiner Nähe: der Seite.

Ihre weisen Worte gaben ihm Halt in dieser furchtbaren Nacht.

Sie waren ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.

Unfehlbar und …

»Hey«, zischte Tom, dem die Selbstverliebtheit der Seite auf die Nerven ging. »Ich will wissen, ob da jemand kommt.«

Tom war, wie gesagt, verwirrt, sonst hätte er sich der weisen Seite gegenüber nicht so unhöflich verhalten.

Und nein, niemand kam.

Keiner der Angreifer war mehr da. Sie alle hatten das Haus und den Garten verlassen.

Tom aber war gerettet, alleine, weil er der Seite vertraut hatte.

Tom seufzte erleichtert. Dennoch ließ er das Papier nicht los und kauerte wachsam auf dem Bett, bis irgendwann die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg am Schrank vorbei ins Zimmer fanden. Jetzt erst wagte er es, das Bett zu verlassen. Als ob sich die Männer der vergangenen Nacht nicht am Tag hertrauen würden. Er schlüpfte in frische Sachen, schob die Kommode fort und öffnete vorsichtig die Tür. Der Flur lag schläfrig vor ihm. Niemand war zu sehen. Aus dem Erdgeschoss aber hörte er emsiges Klappern.

Die Taschenlampe erhoben, schlich Tom die Treppe hinab. Bei fast jedem Schritt hielt er inne und sah auf die Seite.

In dem großen Haus befanden sich nur noch Tom und der Diener.

Will bereitete in der Küche das Frühstück zu und tat, als sei nichts gewesen.

Das Misstrauen, das Tom in sich aufsteigen fühlte wie Wasser in einem Brunnen, war mehr als gerechtfertigt.

Tom hatte das Ende der Treppe erreicht und folgte dem Klappern bis zur Küche. Vorsichtig lugte er durch die geöffnete Tür. Das Licht der Morgensonne fiel durch das Blätterdach der Bäume in den Raum und malte ein geschecktes Muster auf die schwarz-weißen Fliesen. Will stand mit einer geblümten Schürze bekleidet am Herd und ließ gerade Rührei aus der Pfanne auf einen Teller gleiten. Es duftete herrlich. Als er Tom in der Tür bemerkte, wandte er sich überrascht um. Sein Gesicht glänzte wie mit Schminke gefärbt. Und zwar mit dem falschen Farbton. Es schien, als säße ihm eine Orange auf dem Kopf. Rasch ließ Tom die Seite hinter seinem Rücken verschwinden.

»Ich denke, gnädiger Herr, du brauchst die Lampe zu dieser Stunde nicht mehr.«