Über Esther Gerritsen

Esther Gerritsen, geboren 1972, zählt zu den bedeutendsten Autoren der Niederlande, sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, und ihre letzten Romane standen jeweils auf der Shortlist des Libris Literature Prize. Gerritsen arbeitet außerdem als Dramatikerin und Kolumnistin. Auf Deutsch erschien bisher der Roman »Mutters letzte Worte«. In den Niederlanden erreichte »Der große Bruder« eine Auflage von 700 000 Exemplaren.

Gregor Hens, geboren 1965 in Köln, lehrte an verschiedenen Amerikanischen Universitäten, zuletzt an der Ohio State University. Seit 2013 lebt er als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Er hat zahlreiche Romane übersetzt, u.a. von Leonard Cohen und Will Self.

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Auf einem Bein kann man nicht stehen

Als Olivias großer Bruder Marcus sich nach Jahren wieder meldet, sind es nur noch fünf Minuten bis zu ihrem Gesellschaftermeeting. Er ist auf dem Weg in den Operationssaal, wo ihm das Bein amputiert werden soll. Bisher hatte Olivia alles unter Kontrolle. Eigentlich hatte sie immer die Rolle der großen Schwester gespielt. Doch nun muss sie das Meeting abbrechen, weil ihr die Sprache versagt. Kurz darauf zieht Marcus bei ihrer Familie ein und bringt alles durcheinander. Am Ende weiß sie nicht mehr, wer der Fremdkörper ist, wessen Leben gerade auf der Kippe steht, seines oder ihres.

Präzise und mit viel Humor erzählt Ester Gerritsen von den Geheimnissen und Missverständnissen, die eine Familie verkraften muss, und der Liebe, die trotzdem alles zusammenhält.

»Mit ›Der große Bruder‹ beweist Esther Gerritsen ihr besonderes Gespür für Sätze, die ins Schwarze treffen, und Dialoge, die gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Alltäglichkeit und Absurdität balancieren.« de Volkskrant

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Esther Gerritsen

Der große Bruder

Roman

Aus dem Niederländischen von Gregor Hens

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Impressum

Ihr Bruder rief sie an, kurz bevor er sein Bein verlieren sollte. Sie hatte ihn in diesem Jahr noch gar nicht gesprochen.

»Ich bin im Krankenhaus«, sagte er und weinte. Er war wegen seiner Zuckerkrankheit öfter im Krankenhaus, deshalb war sie nicht gleich alarmiert. Auch seine Tränen waren ihr nicht fremd. Sie saß im Büro und hatte gerade ihren Computer heruntergefahren. Sie hatte noch zehn Minuten Zeit bis zur Gesellschafterversammlung. Olivia lehnte sich zurück und hörte ihrem weinenden Bruder zu.

Marcus war ein lausiger Zuckerpatient, der seine Ärzte in den Wahnsinn trieb.

»Ich weigere mich, mein Leben davon bestimmen zu lassen!«, rief er immer wieder. Er aß und trank, worauf er Lust hatte, vergaß, rechtzeitig zu spritzen, ließ Kontrollen aus, wurde todkrank und fragte sich dann erschrocken, wie es dazu hatte kommen können. Sie war daran gewöhnt, und auch daran, dass am Ende alles wieder gut werden würde.

Marcus weinte schluchzend, und Olivia wartete, bis er sprechen konnte.

Als er sich etwas beruhigt hatte, sagte er: »Ich werde jetzt gleich operiert.«

»Operiert?«

»Sie wollen sehen, ob sie mein Bein … Sie gucken sich mein Bein an.«

»Eine Endoskopie?«

»Nein, sie wollen schauen, ob sie es retten können.«

»Retten?«

Ihr Bruder kämpfte wieder mit den Tränen.

»Wovon sprichst du?«, fragte sie.

»Es ist ganz schwarz.«

»Was?«

»Das Bein«, rief er wütend. »Das habe ich doch gesagt!«

»Nein, das hast du überhaupt nicht gesagt!«

»Hör mir doch mal zu!«

»Ich hör ja zu!«

Es musste mindestens vierzig Jahre her sein, dass sie sich zuletzt gegenseitig angeschrien hatten. Zum ersten Mal nach so langer Zeit hatte er seine Stimme wieder gegen sie erhoben, und sie hatte sofort dagegengehalten. Das ärgerte sie.

»Ich muss auflegen, es kann jeden Moment losgehen.«

Olivia wurde plötzlich mulmig zumute. »Und dann?«

»Sie wollen sehen, ob sie es retten können.«

»Sie können es also retten, ja?« Natürlich, er war schließlich ihr Bruder. Er übertrieb.

»Nein«, sagte er. »Ich muss mich darauf einstellen, dass es nicht klappt. Ich werde jetzt hier rausgefahren.«

»Warte, in welchem Krankenhaus?«

»Ich muss auflegen.«

Marcus hatte eine Zeit lang in Deutschland gelebt. Sie hatte ihn damals noch seltener gesehen als vorher und auch kaum an ihn gedacht. Einmal hatte er angekündigt, nach Neuseeland auswandern zu wollen. Sie hatte ihm viel Glück gewünscht und der Sache weiter keine Beachtung geschenkt. Dass er sich die Namen ihrer Kinder nicht merken konnte, störte sie nicht, und dass er von ihrem Mann nur als »dem Zahnarzt« sprach, statt ihn beim Namen zu nennen, machte ihr wenig aus. Sie selbst vergaß auch ständig, was er in seinem Beratungsbüro anstellte. Oder bezeichnete er sich derzeit als Wandercoach? Oder war das auch schon wieder vorbei? Er hatte vor einigen Jahren einen ziemlich harmlosen Typ von Prostatakrebs gehabt, und wenn sie der Name der Krankheit auch kurz aufgeschreckt hatte, war die Gefahr, die ihrem Bruder gedroht hatte, doch unbestimmt geblieben, und sie hatte deswegen nicht eine Nacht wach gelegen. Von seinen Freundinnen hatte sie allenfalls die Hälfte je kennengelernt. Gab es jetzt eine Frau in seinem Leben? Sie wusste es nicht. Olivia und Marcus waren einander nicht wichtig, darin waren sie sich einig.

Was Olivia bei der Vorstellung empfand, dass sie ihm sein Bein abnehmen würden, überfiel sie deshalb wie ein Dieb in der Nacht.

Sie sah vor sich durch die Glaswand ihres Büros. Kam jemand auf dem Flur vorbei, konnte er sie zwar sehen, nicht aber hören, dazu war das Glas zu dick. Sie drehte sich in ihrem Schreibtischstuhl herum, das Gesicht zur Wand.

Das Bein.

Im Leben ihres Bruders geschah gerade etwas Unwiderrufliches. Olivia schlug mit der Faust auf die Armlehne ihres Stuhls. Sie schüttelte den Kopf, schlug wieder mit der Faust, dann noch einmal.

»Nein«, sagte sie. Sie beugte sich vor und weinte. Es brach plötzlich laut aus ihr heraus, gleich darauf fasste sie sich wieder. Sie richtete sich auf und dachte: Das ist doch lächerlich.

Sie stand auf, ging zum Spiegel neben der Tür und brachte ihr Make-up in Ordnung.

Olivia rief ihren Mann an.

»Ich habe zehn Minuten«, sagte Gerard, »dann habe ich einen Patienten.«

»Das macht nichts«, sagte Olivia. »Ich habe vier Minuten. Aber was mir gerade passiert ist … Ich musste weinen.«

»Was hast du denn, Schatz?«

»Marcus’ Bein …« Sie stockte.

»Was?«

»Marcus wird operiert.«

»Dein Bruder?«

»Ja, sein Bein ist …« Sie konnte es nicht sagen.

»Was?«

Olivia sagte nichts.

»Olivia?«

Sie schwieg.

»Olivia?«

»Ja, warte mal … Einen Moment.«

Sie wusste, was sie sagen sollte, aber es gelang ihr nicht.

Dann wiederholte sie widerstrebend die Worte ihres Bruders: »Sie schauen, ob sie es retten können.«

»O Mann.«

»Der Trottel ruft mich kurz vor seiner Operation an …«

»Macht es dir was aus, wenn wir das heute Abend besprechen?«

***

Die Gesellschafter saßen schon, als Olivia hereinkam. Sie waren von Bart, dem Geschäftsführer, empfangen worden, der im informellen Teil besser war. Olivia kam gern genau pünktlich, niemals zu früh, um die Unordnung am Anfang nicht mit höflichen Floskeln füllen zu müssen.

Es war das dritte Mal, dass sie die Gesellschafter sah, fünfzehn Familienmitglieder des Firmengründers, drei Generationen. Sie hatte sie auf einer kleinen Feier kennengelernt, kurz nachdem sie ihre Stelle angetreten hatte, und bei ihrer ersten Gesellschafterversammlung, die vor allem dazu gedacht gewesen war, die neue Leiterin Finanzen vorzustellen. Ein schwieriges Treffen, da sie zwar eine Analyse, aber noch keine konkreten Erfolge hatte präsentieren können. Das Verhältnis zwischen ihr und den Gesellschaftern bestand noch einzig aus Versprechungen, ersten Eindrücken, ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen, dem vagen Bereich, in dem sie sich nicht so recht heimisch fühlte. Sie war kein Mensch, den man sofort sympathisch findet, sie musste etwas leisten, um geschätzt zu werden.

Bart hatte ihr die Eigenheiten eines jeden von ihnen gesteckt. Der alte Herr Kyvon, Sohn des Gründers, war derjenige, den man auf seiner Seite haben musste. Seine Schwester, Frau Grim-Kyvon, war nicht zufriedenzustellen, gar nicht erst versuchen. Victor, der Schwiegersohn von Herrn Kyvon, der die Firma früher selbst geleitet hatte, brauchte immer eine Menge Redezeit, um mit einem Gefühl der Befriedigung nach Hause gehen zu können. Seiner Frau genügte es zu lächeln. Der Rest dieser Generation war überwiegend desinteressiert, ihnen durfte eine Sitzung vor allem nicht zu lange dauern, und die jüngsten Sprösslinge, zwei Urenkelinnen des Gründers, waren noch schwer einzuschätzen.

Bart hieß die Familie willkommen und gab das Wort schon bald an Olivia ab, die erklärte, sie freue sich, heute die neuen Ergebnisse präsentieren zu können. Kollegen hatten ihr erzählt, dass ihre Stimme bei solchen Präsentationen tiefer wurde. Es war keine bewusste Technik, aber eine innere Ruhe senkte sich auf sie, und sie sprach zu den Gesellschaftern, als wären sie Babys, die sie einlullen musste. Wichtiger: Die Zahlen stimmten, die Zahlen stimmten immer. Olivia startete die PowerPoint-Präsentation und ließ die erste Folie, auf der die negativen Ergebnisse der Vergangenheit zu sehen waren, kurz auf die Anwesenden wirken.

Als Olivia die Stelle angenommen hatte, hatte sie von den enormen Verlusten nichts geahnt. Da Porzellan & Geschirr Kyvon im imposantesten Gebäude der Stadt untergebracht war, ließ die Bank die Schulden einfach auflaufen. Die Sicherheit, ein denkmalgeschütztes Gebäude mit zweitausendfünfhundert Quadratmetern, war mehr wert als der Laden, der sich darin befand. Die Familie hatte die Notwendigkeit erkannt einzugreifen und vor einem Jahr einen neuen Geschäftsführer eingestellt. Und vor vier Monaten hatte Olivia als Leiterin Finanzen angefangen. Auch wenn die Familie die Führung lieber bei sich belassen hätte, spürte sie, dass frisches Blut die Firma retten könnte.

Während Olivia kurz die desaströsen Zahlen der vergangenen Jahre erläuterte, klickte sie zur nächsten Folie.

»Wie Sie sehen können, haben wir hier eine aufsteigende Linie …«

Bart schob Herrn Kyvon die Schale mit Mandelteilchen hin.

»Junge«, rief der Sohn des Gründers mitten in Olivias Vortrag hinein, »die Teilchen schmecken fantastisch!« Er zog ein Schweizer Messer heraus. Die anderen lachten, er zeigte ihnen, was sich alles an seinem Taschenmesser befand: ein Korkenzieher, ein Schraubenzieher, eine Schere und eine kleine Säge. Olivia war klar, dass sie mitlachen musste, und gab ihr Bestes. Kyvon klappte die Säge wieder ein, das Messer aus und schnitt eins von den Teilchen in der Mitte durch. Der knusprige Rand zerbrach, das weiche Innere wurde wie Butter durchschnitten. Olivia konnte ein Schaudern nicht rechtzeitig unterdrücken.

»Kalt?«, fragte Kyvon und wischte das Messer mit seinem Taschentuch ab.

Olivia erinnerte sich nicht mehr an den letzten Satz, den sie gesagt hatte.

Das Bein. War es schon ab?

»Sorry«, sagte Kyvon, »machen Sie weiter.«

»Wie Sie sehen, haben wir uns etwas berappelt …«

Mit einer Säge, so machten sie das. Verdammt, er hätte doch auch gestern Abend anrufen können, dann hätte es sie heute nicht belastet.

»Wie Sie sehen, haben wir uns etwas berappelt, aber wir haben es noch nicht geschafft. Erst bei einer Steigerung von fünf Prozent sind wir zufrieden, und ich möchte Ihnen gern zeigen, wie wir das erreichen wollen.« Die Säge ging ihr nicht aus dem Sinn.

Victor sagte: »Klicken Sie mal zur letzten Folie zurück.«

Olivia tat widerwillig, was er verlangte.

»Und jetzt wieder zurück.«

Sie klickte.

»Schade«, sagte Victor, »dass wir die beiden Bilder nicht nebeneinander haben.«

Victor hatte zu früh geklagt. Olivia drückte auf eine Taste, und die beiden Grafiken erschienen zusammen auf einer Folie.

»Genau«, sagte er, »das meine ich.«

»Gut«, sagte Olivia, »hier sieht man …«

»Lassen Sie uns das kurz in aller Stille genießen«, sagte Victor, als wäre er für die Verluste gar nicht verantwortlich.

Stille konnte Olivia nicht gebrauchen. Eine Säge schnitt gerade durch das Bein ihres Bruders. Plötzlich hatte sie das Bild der kurzen Sporthosen vor Augen, die Marcus als Junge getragen hatte. Ihre Wut richtete sich auf den, der sägte. Das hätten sie doch verhindern können, es ging zu weit, es musste andere Möglichkeiten geben, wie konnten sie nur … an unserem Körper … unserem Körper, hatte sie gedacht, als wären seine Gliedmaßen Familienbesitz.

»Mach weiter«, sagte Victor.

Olivia versuchte es. Sie konnte die vorbereiteten Sätze automatisch abspulen, aber sie hörte selbst kaum noch, was sie sagte. Ihre Stimme wurde höher.

Wenn es Olivia nicht gelang sich zu konzentrieren, war das eine Warnung, dass sie etwas tat, was sie nicht tun sollte. Sie dachte an die Postkorbübung während des Assessments, bei der getestet wurde, ob man Prioritäten setzen konnte und wusste, was man delegieren sollte und was nicht. Auch wenn Olivia einen falschen Weg einschlug, blieb sie nie lange dabei. Immer wenn sie eine kleine Unruhe in ihrem Magen spürte, zerrte etwas an ihr, das wichtiger war. Man konnte sie für gefühllos halten, für kalt und distanziert, aber ihre Intuition war tadellos, sie spürte sofort, wenn etwas schiefzugehen drohte. Sie spürte es. Sie war auf der falschen Spur. Sofort umkehren. Bevor noch ein nicht wiedergutzumachender Schaden angerichtet wurde.

Olivia griff zu ihrer Tasche.

Ihre Stimme war wieder tief. »Meine Herren, meine Damen, so viel für heute. Bart übernimmt ab hier die Präsentation. Ich muss leider gehen, wegen eines familiären Notfalls.«

Jetzt war es Arbeit, jetzt konnte sie alles erzählen. »Es kann sein, dass das Bein meines Bruders amputiert werden muss, wenn ich jetzt nicht eingreife. Ich muss sofort weg. Bart …« Sie nickte dem Geschäftsführer zu, der sie mit großen Augen ansah und sich bemühte, seine Verwunderung nicht zu kommentieren.

Als sie ging, stand er auf.

Sie hörte, wie er sich räusperte und den Bericht, den sie gemeinsam vorbereitet hatten, fortführte: »Wie Olivia bereits gesagt hat …«