Über Günter Krenn

Günter Krenn, geboren 1961, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zum Film u. a. über Billy Wilder, Louise Brooks und Walter Reisch. Er lebt in Wien.

Im Aufbau Taschenbuch sind von ihm »Romy Schneider. Die Biographie« und »Romy & Alain. Eine Amour fou« lieferbar.

Informationen zum Buch

»Ohne ›Sissi‹ wäre mein ganzes Leben sicher anders verlaufen. Ich verdanke den Filmen vor allem eines: meine große Bekanntheit.«

Berühmt und von den Frauen vergöttert wurde er als Kaiser Franz in der Filmtrilogie Sissi an der Seite von Romy Schneider. In den Siebzigern entdeckte ihn Rainer Werner Fassbinder und machte ihn zu einem seiner Charakterdarsteller. Heute ist Karlheinz Böhm den meisten als Gründer der Entwicklungshilfe-Organisation Menschen für Menschen bekannt. Günter Krenns eindrückliche Biographie zeigt einen Sohn, der sich aus dem Schatten des berühmten Musikervaters befreien musste, einen facettenreichen Theater- und Filmschauspieler und einen leidenschaftlichen Entwicklungshelfer.

»Du musst dich in jeder Sekunde deines Lebens mit der notwendigen Selbstkritik zu allem bekennen, was du gemacht hast. Wenn du das tust, wirst du dich immer nach vorne entwickeln.« Rainer Werner Fassbinder zu Karlheinz Böhm

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Günter Krenn

Die Welt ist Bühne

Karlheinz Böhm

Die Biographie

Für Mathilde Gotthardt
(1944–2014)

Inhaltsübersicht

Über Günter Krenn

Informationen zum Buch

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Prolog: Schattenspiel

Erster Teil: Der Vater

Pensionopolis

Von München nach Darmstadt

Bildteil 1

Zweiter Teil: Der Sohn

Das Nomadenkind

»Mens sana in corpore sano«

Die ganze Welt ist Bühne

Warum noch leben?

Graz

Ein junger Mann geht zum Film

»Stell dich hin und schau g’scheit aus!«

Das Theater in der Josefstadt

»Schade, dass Sie kein Schauspieler sind!«

Zu gute Manieren für den Film

Lieslotte Alice Daisy Büchner

»Wir müssen in schlechten Filmen einfach schlecht sein«

»Ein nettes junges Mädchen und sonst nichts«

Kitty und die große Welt

Beatrix Gudula Blau

Im Südpazifik

Cureggia

Carl Boehm

Roll over Beethoven

Better call Paul

(K)Eine Karriere in den USA

Barbaras Männer

»Völlig ausgebucht«

Münchner Freiheit

Martha

Fassbinder

»Fließbandarbeit ist schwerer«

Ein Don Juan wird König Lear

Eva

Martin Scorsese über Peeping Tom

Der Aufstand gegen sich selbst

Bildteil 2

Dritter Teil: Vater Karl

Am Horn von Afrika

»Ich spiele mich selbst«

Abschied von der Bühne

Illubabor

Was bedeutet »helfen«?

Almaz

Die vierte Ehe

Ehrungen

Der Unfall

»Und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen …«

Bildteil 3

Epilog: Aus dem Schatten treten

»… Nil nisi bene?« — Das Karenina-Syndrom

Eine Geschichte zweier Leben

Anhang

Anmerkungen

Theatrographie

Filmographie

Auftritte in TV-Shows und Dokumentationen

Dank

Bildnachweis

Impressum

Prolog: Schattenspiel

»Jetzo erneut sich lautes Geschrei; den Verfolgenden mahnen

Alle mit günstigem Ruf; es ertönt von Jubel der Äther.

Die sind, eigene Zier und Verdienstglanz nicht zu behaupten,

Unmutsvoll, und es gilt, mit dem Leben sich Ruhm zu erwerben.

Die dort schwellt der Erfolg; man kann, weil zu können man scheinet.«

Vergil, Äneis, 5. Buch, Vers 227–231

Ein Greifvogel zeichnet mit seinen Schwingen ein Fadenkreuz in den Nachmittagshimmel über Äthiopien. Für Mensch und Tier auf dem von der Sonne narkotisierten Boden gilt hier gleichermaßen: Wer sich zu viel bewegt, hat verloren. Auf der ausgetrockneten Erde tief unter dem kreisenden Raubvogel bildet sich der Schatten einer Menschentraube. Viele Einheimische versammeln sich um einen weißen Mann, der sich auf einen Wanderstab stützt, den ihm vor Jahren ein alter äthiopischer Bauer schenkte. Der Träger dieses Schattens ist es seit Jahrzehnten gewohnt, im Zentrum zu stehen, andere zu überschatten. Meist war er dabei nicht er selbst und wurde für die Darstellung anderer, erfundener oder nachgedichteter Persönlichkeiten gelobt und verehrt. Nicht selten wurde er mit diesen angenommenen Identitäten, im Guten wie im Schlechten, verwechselt. Ob das heute anders ist, ob er nun wirklich sich oder lediglich eine neue Rolle verkörpert, mag nur er selbst wissen. Fest steht: Es war ein weiter Weg dorthin, wo er sich jetzt befindet, als ein Schatten unter vielen, und doch, wie schon so oft in der Vergangenheit, deren zentraler …

So könnte die Geschichte beginnen, die ein Leben von 86 Jahren in Worten wiedergeben will. Es könnte aber auch mit einer Münze anfangen, die in diesem Land am Horn von Afrika einmal Zahlungsmittel war und auf deren Kopfseite man das Gesicht einer gut genährten weißen Frau mit lockigen Haaren unter einem Schleier prägte. Im österreichischen Kaisertum war dieser »Maria-Theresien-Taler« von 1741 bis 1885 gesetzliche Währung, in Teilen Afrikas und Asiens sogar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Ab 1935 sorgten die Briten für dessen Verbreitung in Äthiopien und einigen Nachbarstaaten, um ihre Kolonialmacht zu stabilisieren. Wer darauf abgebildet war, wussten damals wohl die wenigsten. In einem fernen europäischen Reich wurde die Person auf dem Geldstück vor Jahrhunderten als habsburgische »Kaiserin« Maria Theresia angesprochen, obwohl sie diesen Titel als Regentin aufgrund rigider Thronfolgebestimmungen offiziell nie tragen durfte und zeitlebens »nur« Erzherzogin bleiben musste. Besagte Münze mit ihrem monarchischen Konterfei symbolisiert eine merkwürdige Verbindung mit der eingangs geschilderten Szenerie. Der oben erwähnte zentrale Schattenträger stellte als Schauspieler im 20. Jahrhundert in drei Kinofilmen Maria Theresias imperialen Ur-Urenkel dar und wurde deswegen ebenfalls sein Leben lang mit dem Titel »Kaiser« in Verbindung gebracht. Auf zahlreichen Standfotos zu den Leinwanderzeugnissen posierte er ansehnlich vor einem historischen Gemälde der Herrscherin.

Schatten oder Titel lassen nicht immer Rückschlüsse auf die Menschen zu, die sie tragen. Die beiden oben erwähnten Annäherungen an die Person Karlheinz Böhm weisen Wege zu einem Menschen, dessen Leben detailliert nachzuzeichnen sich abseits jeglicher »Denkmalpflege« oder gar Hagiographie als besonders interessant erweist. Zwar darf sich jede Biographie als einzigartig begreifen, dennoch muss die von Karlheinz Böhm in vieler Hinsicht als außergewöhnlich angesehen werden. Sein Vater war der weltberühmte Dirigent Karl Böhm, der dem Sohn lange Jahre als unerreichbares Vorbild galt. Vielleicht war es tatsächlich erst sein humanitäres Engagement in Afrika, das Karlheinz Böhm endgültig jeglichem Konkurrenzdenken enthob und es ihm ermöglichte, mit sich ins Reine zu kommen. Davor lagen Jahre größten Erfolges im Filmgeschäft, gefolgt von schmerzhaften Niederlagen auf beruflichem und privatem Gebiet sowie eine ständige Suche nach einem eigentlichen Lebenssinn, die schließlich in einer humanitären Aufgabe mündete, die Böhm zum Lebensretter von Millionen werden ließ.

Welchen Zugang man zu dem Folgenden auch immer begünstigt, es empfiehlt sich, bevor man die Kinematographie bemüht, über die Person auf der Münze zu den Monarchen der Habsburger zurückzukehren. Zu Beginn der Geschichte, im Jahr 1894, sitzt der reale Nachfahre Maria Theresias, der historische Kaiser Franz Joseph I., im 46. Jahr seiner Regentschaft auf dem Thron der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wien. Ort der Handlung ist vorerst eine Stadt, die sich etwa 200 Kilometer weiter südlich auf seinem Herrschaftsgebiet befindet.

Erster Teil: Der Vater

Pensionopolis

Auf jenem Gebiet der k. u. k. (kaiserlich und königlichen) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, das man seit dem Ausgleich mit dem Königreich Ungarn 1867 im deutschen Beamtenjargon »Cisleithanien«, also Land diesseits des die beiden Reichshälften trennenden Grenzflusses Leitha, nannte, kam der Stadt Graz eine Art Sonderstatus zu. Die Hauptstadt des heutigen Bundes- und früheren österreichischen Kernlandes Steiermark galt zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als eine Art »Pensionopolis«, da sich höhere Staatsbeamte und Offiziere aus vielen Teilen des Reiches nach Quittierung ihres Dienstes dorthin zurückzogen. Man darf sich das Graz jener Tage als ein k. u. k. Universum in der Nussschale vorstellen. Wie in der Metropole an der Donau gab es die obligaten Kaffeehäuser, in denen der politische und kulturelle Alltag zumeist in Form des damit verbundenen Tratsches besprochen werden konnte, flanierte man durch den großzügig angelegten Stadtpark, besuchte die Theater. Die Bevölkerung lebte in der schönen, ruhigen Stadt zwar 200 Kilometer abseits des politischen Zentrums der Donaumonarchie, dafür aber umso beschaulicher, da der Lebensrhythmus den Bedürfnissen der Pensionisten angepasst und der Lebensstandard nahezu ebenso hoch war wie der in Wien, bei deutlich günstigerer Preislage.

Architektonisch wies Graz das typische Gepräge repräsentativer k. u. k. Urbanität auf und war die letzte große deutschsprachige Stadt vor »Transleithanien«, den Gebieten in Ungarn, Kroatien und Slawonien. Verwaltungstechnisch waren die meisten k. u. k. Städte eine Kopie der in Wien gelebten strukturellen Ordnung, innerhalb derer man sich sicher fühlte. Von Wien aus sah man Graz, wie fast alles außer den Metropolen Budapest und Prag, als Provinzstadt an, dafür war es jedoch zu groß und geschichtsträchtig. Tatsächlich war Graz einmal die Residenzstadt von Innerösterreich gewesen, wenn auch im Zeitraum von 1564 bis 1619. In jene Zeit fällt die erste entscheidende Stadtentwicklung. Einerseits errichtete man Befestigungswälle gegen die anstürmenden osmanischen Heere und wurde so wesentlicher Teil eines Bollwerks, das sich von Wien der Reichsgrenze entlang bis hinab zur adriatischen Küste zog. Es entstanden Monumentalbauten wie das Landhaus in der Herrengasse, dessen Außenfassade oberitalienischen Vorbildern nachempfunden ist und dessen Innenseite ein prächtiger Renaissance-Arkadenhof ziert. Die Abwanderung des Hofes im Jahr 1619 zurück nach Wien verringerte zwar die politische Bedeutung des Standortes, die kunstvollen städtebaulichen Veränderungen blieben jedoch konserviert. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte beobachtete man in Graz die politischen und kulturellen Vorgänge in Wien sehr genau, allerdings aus dem Abstand einiger Reisestunden, die somit keine unüberbrückbare, wohl aber eine in vielen Dingen nicht unerwünschte Distanz bedeuteten.

In diesem »k. u. k. Pensionopolis« Graz verzeichnet das amtliche Geburtenregister, dass am 28. August 1894 dem Ehepaar Sophie und Leopold Böhm in der Schulgasse Nummer 17 ein Sohn geboren wurde, den es Karl August Leopold nannte. Zwei weitere Knaben, Leopold und Walter, werden in den Jahren darauf ebenfalls noch im elterlichen Schlafzimmer des Gebäudes zur Welt kommen. Sophie Böhm beginnt ein Tagebuch, in dem sie die Entwicklung ihres ersten Sohnes von der Geburt bis zu seinem zweiten Lebensjahr minutiös festhält. Als Erwachsener wird Karl Böhm vergeblich nach diesem kostbaren Dokument suchen, von dem ihm nur mündlich berichtet werden kann. Auch er wird später ein Diarium führen, darin jedoch nur akribisch notieren, was ihm bei seinen musikalischen Aufführungen als Dirigent gelang und was nicht. Karl Böhms Bindung zu seiner Mutter war von Anfang an sehr eng, man erzählte ihm später, dass auch kurze Abschiede von ihr meist sehr tränenreich verliefen und Sophie oft einen Leierkastenmann engagierte, der im Hof vor dem Hause spielte, um den weinenden Knaben durch das, was ihn am meisten faszinierte – den Klang von Musik –, abzulenken. Die Töne einer regelmäßig durch die Schulgasse paradierenden Militärmusikkapelle, wie man sie in den Romanen Joseph Roths literarisch verewigt findet, faszinieren ihn bereits als Kleinkind. Es sah fast so aus, übertreiben ältere Mitglieder seiner Familie später gern ein wenig, als hätte er bereits im Kindesalter dazu dirigieren wollen. Zahlreiche Impressionen aus der Kindheit und Jugend von Karl Böhm haben sich auf Fotografien erhalten, denn die Familie bedient sich des neuen Mediums, um sich regelmäßig porträtieren zu lassen, bevorzugt vom »k. u. k. österreich. & königl. Belg. Hof-Fotografen« Leopold Bude.

Die Schulgasse liegt nicht in einem der Nobelviertel, aber unweit der Grazer Innenstadt. Die Architektonik des langgezogenen, zweistöckigen, von einem Balkon gesäumten Familienhauses repräsentiert historistische Zitate des Nürnberger Stils und wirkt fast wie ein kleines Schloss mit Türmchen. Im Innenhof ist ein großer Garten angelegt, die Wohnung selbst dokumentiert gutbürgerlichen Wohlstand. Karl Böhm erinnert sich später an gediegene Möblierung unter mit Motiven der »Vier Jahreszeiten« dekorierten Stuckplafonds. Doch auch moderne Technik hält Einzug in das im altdeutschen Stil konstruierte Haus. Leopold Böhm installiert, um gelegentlich Körpergewicht verlieren zu können, ein von einem Ölofen beheiztes, für die damalige Zeit luxuriöses »Heim-Dampfbad«, eine Art Sauna, die eines Nachts in Brand gerät, der jedoch rechtzeitig gelöscht werden kann. Die Brandflecke bleiben in dem Raum sichtbar, in dem der Knabe Karl seine Schularbeiten macht.

Es existiert eine von Leopold Böhm bei einem Fotografen in Auftrag gegebene Ansichtskarte, auf der er sich 1906 auf schneebedeckter Straße vor dem Familiensitz positioniert, hinter dem man die Pfarrkirche von St. Andrä erkennt.1 Im Haus nebenan befand sich ein Bäckerladen, den sich sein Vater Nicolaus als Lebensunterhalt eingerichtet hatte. Als dieser am 16. März 1869 im 48. Lebensjahr starb, meißelte man »bürgerl. Bäckermeister und Realitätenbesitzer« auf seinen Grabstein am Steinfeldfriedhof, denn das Haus in der Schulgasse befand sich bereits in Familienbesitz. Nach seinem Tod bewohnten es neben der Familie Sophie und Leopold Böhm samt deren drei Söhnen noch seine Witwe Rosa sowie eine Köchin, ein Dienstmädchen und ein Buchhalter. Der Familienname Böhm ist als sprechend anzusehen, denn väterlicherseits entstammte man Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem tschechischen Eger eingewanderten Deutschböhmen. 1855 hatte die Familie in Graz den »Bürgerbrief«, also den Erwerb der vollen bürgerlichen Rechte, gewährt bekommen. Der mütterliche Teil, Familie Franz, hatte seine Wurzeln im Elsass, der dazugehörige Großvater war Kunstschnitzer und parlierte noch auf Französisch. Eine nicht untypische familiäre Konstellation für den Vielvölkerstaat der Donaumonarchie.

Als sein erstes Wort definiert Karl Böhm später »Min« und das steht seiner Interpretation nach für »Musik«. Alles, was Töne erzeugen kann, beeindruckt ihn bereits als Kleinkind, woraus er seinen frühen Wunsch erklärt, Musiker zu werden. Das wird ihm vom Vater jedoch zunächst versagt, der ihn stattdessen anweist, seinem Vorbild zu folgen und Jura zu studieren. Doktor Leopold Böhm ist Rechtsanwalt und Syndikus des Grazer Stadttheaters, das 1899, fünf Jahre nach Karls Geburt, errichtet wurde und sich bereits nach wenigen Jahren erste künstlerische Meriten erwarb. Die theatermusikalische Tradition der Stadt Graz reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück und beinhaltet musikbegeisterte habsburgische Kaiser wie Ferdinand III. gleichsam wie die Komponisten Johann Joseph Fux und Christoph Willibald Gluck, die hier ebenso gastierten wie die Theatergruppe von Emanuel Schikaneder, dem Librettisten von Mozarts Zauberflöte. Der bekannteste »Wiener« Volksschauspieler des frühen 20. Jahrhunderts, Alexander Girardi, stammte ebenso aus Graz wie der »Wiener« Operettenkomponist Robert Stolz.

Das Grazer Stadttheater ist einer der für die Doppelmonarchie typischen repräsentativen Theaterbauten des Wiener Architektenduos Ferdinand Fellner und Hermann Helmer. War man dort engagiert, spielte man zwar »in der Provinz«, allerdings an einem Ort, der nicht nur in Wien bald als solide Ausbildungsstätte künstlerischer Talente akzeptiert war. »Dort, in Graz«, hielt Karl Böhm stets fest, »habe ich gelernt, was ich von einem Sänger verlangen kann und was nicht«.2 Wer in Graz reüssiert, empfiehlt sich auch anderswo für höhere Aufgaben, von diesem Urteil wird auch Karl Böhm selbst profitieren.

Ein Ereignis aus der Musikhistorie wird in Thomas Manns Roman Dr. Faustus erwähnt: Richard Strauss’ als revolutionär empfundene Oper Salome erlebte 1906 in Graz ihre österreichische Erstaufführung, nachdem sie die Wiener Zensur zuvor für die von Gustav Mahler geleitete Hofoper verboten hatte. Richard Strauss selbst hatte bei der Premiere den Taktstock geführt, die Grazer Oper engagierte auch in der Folge renommierte Dirigenten wie Ernst von Schuch, Felix von Weingarten und Franz Schalk, die bald alle auch zum Bekanntenkreis von Leopold Böhm gehörten. Dieser war somit den Umgang mit Künstlern gewohnt und hatte dadurch längst jeglichen verklärten Blick auf das vom Publikum verehrte Klientel verloren. Er hatte weniger mit dessen Glanz als vielmehr mit dem dazugehörigen Elend zu tun, erlebte zu oft, dass jemand aus dem Heer mittelmäßig Begabter in finanzielle oder andere Schwierigkeiten geriet, weshalb er seinen Erstgeborenen eindringlich vor der Wahl eines künstlerischen Berufes ohne anderweitige Absicherung warnte. Nur wenige erreichten dabei ihr Ziel, wird sich auch sein Sohn später überzeugt zeigen, die Mehrzahl reiht sich in das namenlose Heer der »Mittelmäßigen« ein. Das Verdikt des Vaters wird auch das des Sohnes: »Diese Menschen verdienen nicht nur weniger Geld als die ›Erfolgreichen‹, sie sind auch ihr ganzes Leben lang hindurch todunglücklich, da sie die Schuld an ihrem Versagen nicht ihrer eigenen mangelnden Begabung, sondern den Quertreibereien ihrer Kollegen oder dem fehlenden Glück – das es in der Kunst nicht gibt – zuschreiben.«3

Karl Böhm beginnt also zunächst gehorsam ein Jura-Studium an der Grazer Universität, damit er, falls sich seine musikalischen Pläne nicht gewinnbringend verwirklichen lassen, in der väterlichen Kanzlei in der dem Familienwohnhaus nahegelegenen Annenstraße Nr. 10 Unterschlupf finden kann. Die wird später an seiner Stelle sein Bruder Leopold übernehmen.4 Karl Böhm scheint das musikalische Talent sprichwörtlich in die Wiege gelegt. Die Mutter ist eine begabte Pianistin, sein Onkel Karl Link Opernsänger. Der Vater, ein begeisterter Wagnerianer und früher Bayreuth-Besucher, verfügt über eine passable Baritonstimme, die er ausbilden ließ. Er wird beim Intonieren italienischer Opernpartien (zumeist in seine Stimmlage transponierte Tenorarien) regelmäßig vom Grazer Akademischen Gesangsverein und bald auch von seinem Sohn am Klavier begleitet. Man pflegt bei Böhms nicht nur gehobene Hausmusik, sondern organisiert auch konzertante Opernvorführungen für bis zu 150 Zuhörer, denn im Salon von Sophie und Leopold Böhm sind namhafte Sänger und Sängerinnen ebenso zu Gast wie Dirigenten und Musikgelehrte.

Durch seinen Vater hat Karl Böhm somit früh Kontakt zum Grazer Musikleben, sieht mit acht Jahren Wagners Lohengrin neben seinen Eltern in deren Opernloge, und da er als Kind zeitig Klavierunterricht erhält, macht er zunächst Pianist zu seinem ersten Berufswunsch. Während seiner Gymnasialzeit unterweist ihn der Dirigent des lokalen Gesangsvereins in Harmonie-, Kompositions- und Kontrapunktlehre, er beginnt zu komponieren, schreibt Lieder nach spätromantischen Vorbildern wie Hugo Wolf oder Joseph Marx, von denen manche auch im Druck erscheinen.5 In der Schulzeit führt eine Fleischvergiftung zu einer schmerzhaften Augenmuskellähmung, deren Spätfolgen immer wieder heftige Kopfschmerzen hervorrufen, weshalb der Junge den Unterricht öfters vorzeitig verlassen darf. Diesen Umstand nutzt der Schüler aus und kommt zum Erstaunen seines Vaters in einem Jahr auf 198 Fehlstunden. Auf genauere Nachfrage gesteht er später, statt dem Unterricht beigewohnt zu haben, zu jener Zeit lieber im Stadttheater die Proben von Richard Strauss’ Oper Der Rosenkavalier verfolgt zu haben.

Nachdem er 1913 die Schule abgeschlossen hat, finanziert ihm sein Vater nach großbürgerlichem Vorbild ein Studienjahr in Wien, wo ihm der Dirigent und spätere Direktor der Wiener Staatsoper Franz Schalk künstlerische Unterstützung angedeihen lässt. Es ist ein guter Zeitpunkt, um Wien zu besuchen. Zu dieser Zeit ist die Stadt in kultureller und politischer Hinsicht eine der interessantesten in Mitteleuropa. Man diskutiert die Schriften Sigmund Freuds, dessen Traumdeutung 1900 im Druck erschien. Karl Kraus publiziert regelmäßig seine satirische Zeitschrift Die Fackel, Egon Schiele wird 1913 vom Bund Österreichischer Künstler, deren Präsident zu jener Zeit Gustav Klimt ist, als Mitglied akzeptiert. Ein Konzert von Arnold Schönbergs revolutionärer neuer Musik im Musikvereinssaal musste im selben Jahr wegen Zuhörertumulten abgebrochen werden. Im Café Central sitzen nicht nur Literaten wie Peter Altenberg, Egon Friedell oder Anton Kuh, dort politisiert auch der später als Trotzki bekannt gewordene 34-jährige Lew Dawidowitsch Bronstein. Der um ein Jahr ältere Jossif Dschugaschwili, der seit 1912 den Kampfnamen Stalin führt und Jahrzehnte später Trotzkis Ermordung beauftragen wird, lebt ebenfalls in der Stadt, in der sich zur selben Zeit der 24-jährige Arbeitslose Adolf Hitler erfolglos als Postkartenmaler versucht.

Franz Schalk rät Karl Böhm zu einem Privatstudium, das dem talentierten jungen Künstler eine schnellere Ausbildung ermöglichen soll, als sie ihm eine Musikakademie bieten könnte. An der juristischen Fakultät in Graz ist er inskribiert, Prüfungen legt er dort auch ab, Vorlesungen jedoch besucht er vornehmlich in Wien – und alle davon im Bereich Musik. Mithilfe des Vaters hat er Stammplätze im k. u. k. Hofburgtheater und dem k. u. k. Hofoperntheater, erlebt dadurch 1913 das Gastspiel des Tenors Enrico Carusos in Wien. Auch bei der Eröffnung des Wiener Konzerthauses im Oktober 1913, die in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph I. stattfindet, ist Böhm zugegen. Im Sommer 1914 geht seine Wiener Studentenzeit abrupt zu Ende, als bekannt wird, dass der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand, der einunddreißig Jahre vor Böhm ebenfalls in Graz zur Welt gekommen war, in Sarajewo ermordet wurde. Böhm muss zurück in seine Geburtsstadt und wird bald nach der Kriegserklärung der Monarchie angemustert. Er hat jedoch Glück, wird durch familiäre Protektion – sein Onkel Rudolf Freiherr Stöger-Steiner von Steinstätten ist der letzte Kriegsminister Österreich-Ungarns – der Versorgungstruppe zugeteilt und kann neben seinem Dienst in der Nähe von Graz sein Jura-Studium weiterführen. 1916 gelingt es ihm, nach einer schweren Bronchitis wegen Tbc-Verdachts als kriegsuntauglich ausgemustert zu werden.6 Wieder in Zivil, profitiert er von den Lücken, die der Krieg in den auf reibungslosen Vollzug angewiesenen Produktionsablauf der Grazer Theaterwelt reißt. Den Berufswunsch Pianist hat er aufgegeben, wird stattdessen Korrepetitor an der Oper, muss bereits im März 1917 als Dirigent einspringen und leitet eine Vorstellung von Victor Ernst Nesslers Oper Der Trompeter von Säckingen. Die Fähigkeit, ein Orchester dirigieren zu können, die er offiziell nie erlernt hat, wird ihm Weltruhm eintragen. Er gibt später zu, anfangs nicht einmal gewusst zu haben, wie man einen Viervierteltakt korrekt schlägt, demonstriert jedoch in dieser Situation erstmals das für sein Wesen typische »zähe Arbeiten an sich in der Erkenntnis, dass man zuerst von sich selbst das Höchste fordern müsse, um es erst dann von den anderen verlangen zu dürfen«.7 Böhms Einsatz ist von Anfang an vorbildlich, bis zu zwei Kilo an Körpergewicht büßt er oft bei einer Vorstellung ein. Nachts studiert er für seine Jura-Prüfungen, tagsüber und abends arbeitet er in der Oper.

Während der junge Dirigent mit seiner Karriere beschäftigt ist, geht der für Österreich desaströse Krieg im Herbst 1918 zu Ende, zerfällt die Monarchie, in der Karl Böhm geboren wurde und vierundzwanzig Jahre gelebt hat. Der greise Monarch Franz Joseph I. stirbt bereits 1916, sein Nachfolger Kaiser Karl muss abdanken und das Land verlassen. In Wien beginnt man im Oktober 1918 nach einem eigenen Staat zu rufen, nachdem alle anderen Kronländer diesen Schritt bereits davor gesetzt haben. Die österreichischen Sozialdemokraten fordern die republikanische Staatsform, in einer Proklamation ruft ein Staatsrat aller Parteien den deutsch-österreichischen Staat aus. In Graz regiert man zu diesem Zeitpunkt bereits autonom. Ein Wohlfahrtsausschuss kümmert sich um die Versorgung der hungernden Bevölkerung und damit auch um den sozialen Frieden. Am 6. November 1918 beschließt die Provisorische Landesversammlung im Landhaus, dass sich das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen Kronlandes Herzogtum Steiermark nunmehr als »Land Steiermark« zur eigenberechtigten Provinz erklärt und dessen Beitritt zum Staat Deutschösterreich, der am 12. November vor dem Parlament in Wien feierlich verkündet wurde. Am selben Tag pilgern an die 20 000 Menschen auf den Franzensplatz vor dem Grazer Schauspielhaus, von dessen Balkon die Proklamation verkündet wird. Der Platz wird aus diesem Anlass später in »Freiheitsplatz« umbenannt. Im Gegensatz zu Wien verläuft die Geburt der »Ersten Republik« in Graz gewaltfrei, auch wenn das neue Bundesland wie der Rest Österreichs noch lange an den Folgen des verlorenen Krieges zu zehren hat. Das geruhsame »Pensionopolis« ist Geschichte. Statt schwadronierender Militärpensionisten prägen nun heimkehrende Soldaten, die meisten davon verwundet, verstümmelt und vom Grauen der Ereignisse gezeichnet, das Stadtbild, in dem viele Menschen um ihre tägliche Essensration kämpfen müssen.

Die Grazer Oper spielt an jenem geschichtsträchtigen Tag Richard Wagners Das Rheingold, Karl Böhm steht jedoch nicht am Pult. Während viele einer ungewissen Zukunft entgegensehen, verläuft seine berufliche Laufbahn ganz nach Plan. Am 4. April 1919 promoviert er an der Grazer Universität pflichtgemäß zum Dr. jur. Die väterliche Kanzlei ist freilich längst keine Option mehr für ihn, denn Böhm erarbeitet sich an der Oper Erfolg um Erfolg, dirigiert Repertoirevorstellungen ebenso wie Uraufführungen und hat die Position eines Generalmusikdirektors vor Augen, die er jedoch 1921 wegen eines anderen Angebotes ausschlägt. Er hat ein Telegramm aus Bayern erhalten, in dem ihm der renommierte Dirigent Bruno Walter die Stelle des vierten Kapellmeisters am Münchener Nationaltheater anbietet. Die Position in der bayerischen Hauptstadt scheint verglichen mit dem Grazer Angebot eine Degradierung, aber Böhm denkt strategisch, sieht die Möglichkeiten, die ihm eine Anstellung am deutschen Traditionshaus mit Weltgeltung eröffnen kann. In Graz wurde er geboren, hat er seine ersten beruflichen Schritte unternommen und wird dorthin immer wieder gern zurückkommen. Seine Karriere wird er woanders machen.

Von München nach Darmstadt

»München leuchtete«8, diese Beschreibung von Thomas Mann wird bis heute im Zusammenhang mit der bayerischen Landeshauptstadt gern zitiert, nicht selten zu Werbezwecken und meist ohne Kenntnis ihres Ursprungs. Sie entstammt Manns 1902 entstandener frühen Erzählung Gladius Dei, diese spielt Ende der Jugendstilzeit und kritisiert am Beispiel des einträglichen Handels mit dekorativer Renaissancekunst in München die Rückbesinnung auf eine Zeit künstlerischer Reproduktion, die letztlich allem Neuen Hemmnis ist. Ein nicht nur in der bayerischen Metropole bekanntes Problem. München Anfang der 1920er-Jahre hatte nur mehr wenig mit dem aus Manns Novelle gemein. Von der Anfangsbeschreibung in der Erzählung, dem amüsanten Leben in der »schönen und gemächlichen Stadt«, den festlichen Plätzen, antikisierenden Monumenten, der ethnisch bunt gemischten Bevölkerung, den Kunstzeitschriften lesenden jungen Leuten, die Wagner-Motive pfeifen und abends die Theater besuchen, mag sich allerdings noch einiges erhalten haben, als Karl Böhm 1921 seinen Dienst in dem wie ein antiker Tempel gestalteten Opernhaus am Max-Joseph-Platz antritt. Auf Straßen und Gassen öffentlich intonierte Opernmotive kennt Böhm bereits aus Graz, ebenso die Kriegsversehrten und Abfallsammler, die in beiden Städten immer noch zum Straßenbild gehören. Als Kontrast dazu wecken auf Litfaßsäulen bunte Plakate das Bedürfnis nach neuen Konsumprodukten. Firmennamen prägen sich aufdringlich ins Bewusstsein der Flanierenden ein. Die Werbeindustrie kreiert erste »corporate identities«, unverwechselbare Designs, die ein Markenbewusstsein installieren sollen. München leuchtete nun auch nachts, im Neonlicht seiner Reklameschilder.

In München lernt Karl Böhm das von ihm als überzeugter Wagnerianer bisher etwas vernachlässigte Repertoire seines Landsmannes Wolfgang Amadeus Mozart besser kennen, ein Œuvre, dessen Interpretation ihm Jahrzehnte später weltweite Anerkennung sichern wird. Als Vermittler fungiert dabei sein Mentor Bruno Walter. Der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende, 1876 als Bruno Walter Schlesinger in Berlin geborene Dirigent wurde 1894 in Hamburg Assistent des damaligen Direktors Gustav Mahler und folgte diesem 1901 an die Hofoper nach Wien, wo er zehn Jahre später die österreichische Staatsbürgerschaft annahm, seinen Familiennamen aus dem Pass tilgen ließ und fortan nur mehr unter seinem Künstlernamen Bruno Walter auftrat. 1913 nahm Walter ein Engagement in München an, wo ihn Thomas Mann 1916 gegen den antisemitischen Anwurf verteidigte, Walter sei seiner jüdischen Herkunft wegen ungeeignet, Wagner zu interpretieren.

Im Oktober 1923 dirigiert Böhm mit Ariadne auf Naxos seine erste Richard-Strauss-Oper in München und berichtet seinen Eltern schriftlich davon. Das Kuvert ist mit Briefmarken im Wert von fünf Millionen Deutscher Reichsmark frankiert, ein Dokument der Inflationszeit. Die enormen Schulden der Weimarer Republik – 155 Millionen Mark plus der Reparationsforderungen der Alliierten – können mit Steuermitteln allein längst nicht mehr bewältigt werden. Der Entschluss der Regierung, mehr Geldscheine drucken zu lassen, ist fatal, löst einen Währungsverfall aus, der im Sommer 1923 zu einer Hyperinflation führt. Unvorstellbare 500 Trillionen Mark sind im Umlauf. Der Wert der deutschen Währung fällt innerhalb eines Jahres von 49000 Mark für einen Dollar im Januar auf 4,2 Millionen im November. Lohnauszahlungen mussten in Wäschekörben abtransportiert werden, Kinder basteln Drachen aus den nahezu wertlosen Banknoten. Das Schlosspark-Theater in Berlin verlangt kein Geld, sondern Lebensmittel als Eintritt: Die billigsten Plätze erhält man für zwei Eier, der teuerste Platz ist für ein Pfund Butter zu haben. Erst mit der Einführung der »Rentenmark« im November 1923 kann die Inflation beendet werden. Diese Binnenwährung setzt den Wert einer Rentenmark mit einer Billion der alten Mark fest. Der Staat hat seine Schulden durch das Hasardspiel nun im Griff, der Preis dafür war jedoch hoch: Die Sparer haben ihre Einlagen verloren, die Wirtschaftsnot steigt.

Von all dem berichtet Karl Böhm seinen Eltern nichts, er bleibt, wie stets in seiner Karriere, auf die Musik und sein persönliches Erleben fixiert, erzählt nur von seiner erfolgreichen Ariadne. Mit deren Komponisten wird ihn später eine Freundschaft verbinden, Böhms Interesse gilt in jener Zeit jedoch auch weniger arrivierten zeitgenössischen Tonsetzern wie Maurice Ravel oder Igor Strawinsky. Die Musikgeschichte ist durch die von ihnen verkörperten neuen Strömungen im Umbruch, aber auch die Zeitgeschichte marschiert nicht weit von Böhms luxuriösem Arbeitsplatz Anfang November 1923 in eine finstere Zukunft. Der in Wien als Kunstmaler erfolglose Adolf Hitler ist mittlerweile in Deutschland ein erfolgreicher Demagoge geworden. Seine Reden geißeln die Regierung, das wirtschaftliche Elend spielt seinen Plänen zunehmend in die Hände. Seine Partei, die 1919 gegründete NSDAP, ist landesweit noch nicht sehr populär, mancherorts bereits verboten, rekrutiert in Bayern aber bereits 55000 Mitglieder. Am Abend des 8. November 1923 rufen Hitlers Schergen im Münchener Bürgerbräukeller die »nationale Revolution« aus. Zulauf aus dem Umland hat ihre Schlagkraft gespeist, sie ziehen marodierend durch die Straßen, devastieren eine SPD-Zeitungsredaktion, plündern Geschäfte und jüdische Wohnungen, nehmen deren Inhaber als Geiseln. München leuchtet nun bedrohlich, im Widerschein spiegelt sich bereits eine allzu nahe Zukunft von gespenstischem Gepräge. Nachdem die NSDAP am 9. November den Münchener Bürgermeister Eduard Schmid gefangen nimmt, schlägt die Staatsgewalt zurück und stoppt damit Hitlers angekündigten »Marsch auf Berlin«. Während Karl Böhm im Nationaltheater Strawinskys Oper Die Nachtigall probt, fallen auf dem nahegelegenen Odeonsplatz Schüsse, und Soldaten riegeln das Theater ab. Vierzehn Putschisten und vier Polizisten sind gestorben, die NSDAP wird verboten, Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aber nach wenigen Monaten auf Bewährung entlassen. Wie bei vielen Zeitgenossen differiert die Art der Schilderung der Ereignisse auch bei Böhm, betrachtet man die Version aus dem Jahr 1938 und jene aus seiner 35 Jahre später entstandenen Autobiographie. Die zeitgenössische Version findet man in H. E. Weinschenks Buch Künstler plaudern aus dem Jahr 1938. Der Tag wird darin als »Markstein in der deutschen Geschichte« gepriesen, Böhm – oder ein Autor in seinem Namen – formulierte, er sah »die vor den mörderischen Kugeln der Feinde zurückweichenden Nationalsozialisten. Unter ungeheurer Aufregung erlebten wir den Abtransport der Verwundeten, sahen Blut, das für die Idee vergossen wurde, die siegreich geworden ist«.9 Böhm bestritt später, die Sachlage so beschrieben zu haben. Die »geläuterte« Nachkriegssicht der Ereignisse findet sich in der Autobiographie: Hier berichtet Böhm, wie die Probe zu der Oper von Strawinski, »dessen Musik später als Kulturbolschewismus auf die Verbotsliste der Nazis kam«, unterbrochen wurde, als man die Schüsse vor dem Theater hörte: »Wir waren alle sehr aufgeregt, denn wir wußten ja nicht, was draußen vorgeht.«10

Während Böhm in den kommenden Jahren unter dem NS-Regime seine Karriere ausbauen kann, wird manche andere, darunter die seines Mentors Bruno Walter, jäh unterbrochen. Walter flieht 1933 vor dem Nazi-Terror nach Österreich, bis er ihn 1938 dort einholt und zur Emigration in die USA zwingt. Fast zehn Jahre sollten vergehen, bis Böhm und Walter einander wiedersehen würden.

Bruno Walter war nicht nur für Karl Böhms künstlerische Entwicklung von großer Bedeutung. Durch ihn lernt der gebürtige Grazer in München Thomas Mann kennen, »der mich menschlich und künstlerisch sehr gern hatte und dessen Tochter – ich erfuhr das erst später – ich einmal hätte heiraten sollen«.11 Erfahrung mit dem Thema Ehe hat er bereits. Karl Böhms erste Frau war die 1897 in Graz geborene Johanna Röbelen (in manchen Quellen auch Röbbelen geschrieben), eine Choristin der Grazer Oper; die im Juni 1921 in Wien geschlossene Ehe wurde in München im April 1927 geschieden. Wie aus amtlichen Dokumenten hervorgeht, nahm der römisch-katholisch getaufte Böhm in der Zeit seiner ersten Ehe auch das evangelische Glaubensbekenntnis seiner Frau an, wechselte nach der Scheidung jedoch wieder zum Katholizismus. Karl Böhms zweite Ehefrau wurde jedoch nicht Thomas Manns Tochter Erika, sondern die Sängerin Thea Linhard, einer Münchener Kaufmannsfamilie entstammend und musikalisch so begabt, dass sie bereits mit 16 ½ Jahren Schülerin der Sopranistin Maria Ivogün wurde. Karl Böhms Enkeltochter Sissy verweist im Zusammenhang mit dem Kennenlernen ihrer Großeltern auf einen wenig schmeichelhaften Satz ihres Großvaters, nachdem ihm Thea das erste Mal vorgesungen hatte: »Mein liebes Kindl. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du machst mit deinem dünnen Stimmchen nie Karriere, oder du wirst meine Frau«.12 Es mag sich dabei um ein Familienbonmot handeln, jedoch zitiert auch Karl Böhm als indirekten Beleg einen Ausspruch seines Mentors Bruno Walter: »Diese Thea Linhard hat eine süße, aber noch sehr kleine Stimme; sie ist ja auch erst siebzehn Jahre alt. Das Puccini-Orchester ist so furchtbar laut; dämpfen Sie, dämpfen Sie!«13 Ihr Sohn beschreibt Thea Böhm später als »in allen Facetten ihres Wesens und Daseins außergewöhnliche Frau«.14 Über vieles, das er mit ihr erlebt hat, wird er später nüchtern und kritisch urteilen, die auf Schallplatte konservierte Stimme seiner Mutter wird ihn jedoch bis ins hohe Alter zu Tränen rühren.

Thea Linhard beeindruckte Zeitgenossen spätestens auf den zweiten Blick und manche bereits beim ersten gesungenen Ton. Keine zarte, aber eine markante Gestalt, mit großen, dunklen, ausdrucksvollen, etwas auseinanderliegenden Augen. Die Oberlippe hielt sie oft leicht hochgezogen, so als wollte sie noch etwas sagen, zögerte aber, es auszusprechen. Als sie Karl Böhm kennenlernt, trägt sie ihr dunkles Haar im zum Stil der 1920er-Jahre passenden Pagenkopf-Schnitt. Geboren wurde sie als Theresia Anna Linhard am 13. Februar 1903 in München, als Tochter des Mehlhändlers Wilhelm Johann Linhard und seiner Frau Anna Barbara, geborene Wörner. Thea Linhard ist zum Zeitpunkt der Eheschließung mit Karl Böhm bereits Witwe, ihr erster Ehemann wurde am 20. Juli 1922 Richard Hans Heinrich David Kellerhals, ein Schauspieler der Münchener Kammerspiele, der am 25. November 1925 im Alter von nur 32 Jahren verstarb.

1920, mit 17 Jahren, debütierte Thea Linhard am Stadttheater von Bamberg, ein Jahr später sang sie an der Bayerischen Staatsoper in Giuseppe Verdis Ein Maskenball unter dem Dirigat von Bruno Walter. Im selben Jahr verkörperte sie unter der künstlerischen Leitung Karl Böhms die Rolle der Mimi in Puccinis La Bohème. Sechs Jahre später heirateten die beiden am 2. Mai 1927 auf dem Standesamt 1 in München. Als Trauzeugen fungierten die Väter der Brautleute. Die Eheurkunde vermerkt, dass der Kapellmeister und Doktor der Rechte, Karl August Leopold Böhm, »geschieden, der Persönlichkeit nach aufgrund der Aufgebotsverhandlungen anerkannt […] wohnhaft in München, Maximilianstraße 15«15, die verwitwete Opernsängerin Theresia Anna Kellerhals, geborene Linhard, wohnhaft in der Ismaninger Straße 102, zu seiner Frau nimmt. Karl Böhm hat zuvor laut der Einbürgerungsurkunde vom 6. April 1927 die Staatsangehörigkeit im Freistaat Bayern durch Einbürgerung erworben, die sich jedoch nur auf ihn und nicht auf Familienangehörige erstreckt.

Am Tag nach der Hochzeit dirigierte Böhm seine Abschiedsvorstellung in München. Dem Wunsche ihres Mannes folgend, beendet Thea Böhm nach der Hochzeit ihre berufliche Tätigkeit beziehungsweise reduziert diese auf einige wenige Konzerte. Die Ehe der beiden wird 54 Jahre halten und von den meisten Beobachtern als »glücklich« beschrieben werden, was sicher auch dem Umstand geschuldet ist, dass Thea Böhm eigene berufliche Interessen völlig der Karriere ihres Mannes unterordnet. Sie übernahm stattdessen die Funktion einer Managerin, überwachte Terminplanung und Gehaltsverhandlungen. Manche Bekannte konstatierten, Thea Böhms Dasein für den Musiker Karl Böhm würde »eine energische Kraftquelle aus List und Liebe bedeuten«.16 Erst ihr gemeinsamer Sohn wird dem Credo der »perfekten Ehe« nach dem Tod der Eltern widersprechen. Aber auch er wird bestätigen, dass sich seine Mutter primär um seinen Vater gekümmert habe und dieser sie, ihrer Sachkenntnis seinen Beruf betreffend, perfekt in seine Hingabe zur Musik habe integrieren können. Zulasten des gemeinsamen Kindes allerdings.

Man darf die sechs Jahre, die Karl Böhm in München verbringt, als durchweg erfolgreich ansehen. Dennoch blickt er bereits 1924, obwohl mittlerweile Erster Kapellmeister am Haus, begehrlich in Richtung Darmstadt, interessiert sich für eine Position am dortigen Opernhaus, will nach Differenzen mit Hans Knappertsbusch, der Bruno Walter 1922 als Leiter der Bayerischen Staatsoper nachfolgte, sein Engagement schon 1925 beenden, erfüllt aber noch seinen zwei weitere Jahre dauernden Vertrag. Aufgrund seines Münchener Repertoires, er hatte dort Wagners Der Ring des Nibelungen, Tristan und Isolde sowie alle populären Mozart-Opern dirigiert, weigert er sich, in Darmstadt vor Antritt des neuen Postens ein Probedirigat abzulegen, was man akzeptiert. Im Herbst 1927 tritt Karl Böhm schließlich den Posten als Generalmusikdirektor des Hessischen Landestheaters in Darmstadt an, ab dem 2. September ist das Ehepaar Böhm dort in der Neckarstraße Nr. 6 gemeldet. Zu jenem Zeitpunkt ist Thea bereits schwanger.

Nach dem Karriere-Aufstieg von Graz nach München mag Darmstadt wie ein künstlerischer Rückschritt wirken, tatsächlich gab es dort einen der progressivsten deutschen Theaterbetriebe jener Zeit, man sprach vielerorts sogar lobend von einem »Kultur- und Experimentiertheater«. Generalintendant war der frühere Max-Reinhardt-Schauspieler Carl Ebert, das Betriebsbüro leitete Rudolf Bing, ein gebürtiger Wiener, der 1950 Direktor der Metropolitan Opera in New York wurde. Für Opernregie zuständig war ein weiterer Österreicher, der damals erst 22-jährige Arthur Maria Rabenalt, dessen für die damalige Zeit sehr modern anmutender Regiestil nicht unumstritten war. Siegfried Wagner etwa lobte die Darmstädter Lohengrin-Produktion, was das Musikalische betraf, sah die Inszenierung jedoch als Parodie an. Die meisten Bühnenbilder schuf Wilhelm Reinking, der Rabenalt ebenso von dessen früherer Station Würzburg nach Darmstadt begleitete wie die Ballettmeisterin Claire Eckstein. Bald geisterte das Bonmot von der Erfolgsformel »Rabenkingstein AG« durch das hessische Landestheater. Dazu kam mit Karl Böhm ein erfahrener Generalmusikdirektor. Die führenden Theaterleute Darmstadts waren Anfang 30 oder jünger und gingen voller Energie an ihre neue Aufgabe. Manche ihrer Produktionen wurden als »revolutionär« oder sogar »umstürzlerisch« betrachtet, die Avantgarde wurde ein wesentlicher Teil ihres Spielplans. Karl Böhm bemüht sich neben dem klassischen Repertoire, das er bereits in München pflegte, auch darum, moderne Werke knapp nach deren Uraufführung sofort in Darmstadt aufzuführen, darunter 1930 Das Leben des Orest von Ernst Křenek und 1931 Alban Bergs Wozzeck. Letztere Opernaufführung wurde von dem Wiener Komponisten persönlich besucht und gewürdigt. Dazu kamen Werke von Ermanno Wolf-Ferrari, Arthur Honegger, Paul Hindemith und weiteren zeitgenössischen Komponisten. Neben den langen und ausführlichen Aufzählungen von Werken und Namen aus dieser Zeit findet sich in Karl Böhms Autobiographie auch ein lapidarer kurzer Satz: »Im Jahre 1928 kam am 16. März unser einziger Sohn Karlheinz in Darmstadt zur Welt.«17

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1 Karl Böhm als Soldat in Graz, 1914

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2 Künstlerpostkarte der Opernsängerin Thea Linhard, München 1926

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3 Thea und Karl Böhm, 1928

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4 Karlheinz Böhm auf dem Wickeltisch mit Vater Karl und Großvater Leopold in Kärnten, Sommer 1928

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5 Karlheinz und Karl Böhm, 1928

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6 In Darmstadt, 1929

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7 Mit der Großmutter Anna Linhard im Erzgebirge, 1935

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8 Mit der Mutter im Ferienhaus »Spatzennest«, 1935

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9 In Dresden, 1935

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10 In Waldidylle bei Dresden, 1938

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11 Familie Böhm mit Hund Rex, 1938

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12 Karlheinz Böhm mit seinem Vater und Maria Cebotari in Wien, 1944

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13 In Graz, 1946

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14 Das Ehepaar Karl und Thea Böhm mit Sohn Karlheinz in ihrer Wiener Wohnung, 1952

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15 Mit Hildegard Knef in »Alraune«, 1952

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16 In der Komödie »Der Weibertausch« an der Seite von Gertrud Kückelmann, 1952

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17 Zwischen Brigitte Bardot und seiner ersten Ehefrau Elisabeth Zonewa, 1954

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18 Dreharbeiten zu »Die Hexe« in Wien, 1954

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19 Interaktion mit Anita Björk in »Die Hexe«, 1954

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20 An den Lippen von Margit Saad in »Schwedenmädel«, 1955

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21 Drehpause bei »Sissi«, 1955

Zweiter Teil: Der Sohn

Das Nomadenkind

Als Erwachsener wird er erstaunt feststellen, dass er kaum Erinnerungen an seine Kindheit hat. Diese Zeit im Leben von Karlheinz Böhm – in den Geburtsunterlagen aus Darmstadt finden sich außerdem sowohl die Schreibweisen »Karl Heinz« als auch »Karl-Heinz« – scheint verloren. Er wird sich auch nie wirklich auf die Suche danach machen. Immerhin vermag er Bruchstücke davon auf alten Fotografien wiederzufinden, die Bildlegenden dazu kommen fast ausschließlich aus den Erzählungen anderer. Es sind Wahrheiten aus zweiter Hand, wie er sie später in seinem Beruf als Schauspieler selbst auch kreieren wird. Als prägendsten Eindruck seiner Kindheit wird er stets den Vater nennen, für seine Jugend einerseits den Zweiten Weltkrieg und andererseits ungeheure Einsamkeit.

Die erste Fotografie von ihm entsteht am Sonntag, den 18. März 1928, zwei Tage nach seiner Geburt, in der »Darmstädter Privatfrauenklinik und Entbindungsanstalt« in der Riedeselstraße 52. Sie zeigt Thea Böhm im Morgenmantel, mit scheuem Lächeln über ihr Neugeborenes gebeugt. »Ich habe meine Karriere abgebrochen, vorläufig einmal«, wird sie später über diese Zeit sagen, »und wir waren in Darmstadt, mein Mann war dort Generalmusikdirektor, es war eine wunderschöne Zeit, er hat dort herrliche Vorstellungen gemacht – und ich hab meinen Karlheinz bekommen. Unseren Sohn […], von dem ich vom ersten Tag an gewusst habe, dass er Schauspieler wird.«18

Karl Böhm, der am Tag der Geburt seines Sohnes eine Vorstellung von Der Rosenkavalier TVEin Schloß am Wörthersee