Über Kimberly Belle

Kimberly Belle hat im Marketing gearbeitet, bevor sie freie Autorin wurde. Sie lebte lange Zeit in den Niederlanden und pendelt nun zwischen Atlanta und Amsterdam.

Kathrin Bielfeldt ist Texterin und Übersetzerin und spricht fünf Sprachen. Sie hat unter anderem Romane von Elisabeth Elo, Pete Dexter und James Sallis ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Selbst eine perfekte Ehe hat ihre dunklen Seiten …

Iris führt eine harmonische Ehe – glaubt sie. Doch als ein Flugzeug abstürzt, in dem ihr Mann sitzt, obwohl er eine andere Maschine nehmen wollte, begreift sie, dass sie mit einem Lügner verheiratet war. Will hat ihr etwas vorgemacht, was seine Vergangenheit und seinen Job anging. Dann erhält Iris plötzlich Drohungen, die eigentlich nur von einem kommen können – ihrem angeblich toten Ehemann.

»Dieser fein gesponnene Thriller beginnt mit einer einfachen Frage: Was ist, wenn der eigene Ehemann ein ganz anderer ist, als er vorgibt zu sein.« Daily Mail.

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Kimberly Belle

Solange Du lügst

Thriller

Aus dem Amerikanischen
von Kathrin Bielfeldt

Inhaltsübersicht

Über Kimberly Belle

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Impressum

1

Ich erwache, als eine Hand sich um meine Taille legt und mich zu sich heranzieht, von Kopf bis Fuß an eine durch Schlaf aufgeheizte Haut. Ich seufze und mache es mir an dem vertrauten Körper meines Mannes bequem, passe meinen Rücken an seine Vorderseite an und versinke in seiner Wärme. Will ist im Schlaf wie ein heißer Ofen, und ich habe immer irgendeine kalte Stelle an mir. Heute Morgen sind es meine Füße, und ich klemme sie zwischen zwei warme Unterschenkel.

»Deine Zehen sind Eisklumpen.« Seine Stimme brummt durch das dunkle Zimmer, die Vibration des Klanges setzt sich in mir fort. Auf der anderen Seite unserer Schlafzimmervorhänge ist es noch kein Morgen, es ist dieser violett angehauchte Augenblick zwischen Nacht und Tag, immer noch eine gute halbe Stunde vor dem Klingeln des Weckers. »Hingen deine Füße über der Bettkante?«

Es ist gerade erst April, und der März hat uns noch nicht ganz aus seinen eisigen Fesseln entlassen. Während der letzten drei Tage hat ein bleierner Himmel Regen auf uns herabgeschüttet, und ein kalter Wind hat die Temperaturen weit unter den Durchschnitt sinken lassen. Die Meteorologen prophezeien noch mindestens eine weitere Woche dieses Fröstelns, und Will ist die einzige Seele in Atlanta, die die Kälte mit weit aufgerissenen Fenstern willkommen heißt. Sein inneres Thermostat steht immer auf Glühen.

»Ich friere, weil du immer darauf bestehst, in einem Iglu zu schlafen. Ich glaube, inzwischen habe ich Erfrierungen an all meinen Extremitäten.«

»Komm her.« Seine Finger gleiten an mir entlang und ziehen mich noch dichter an sich heran. »Dann wollen wir dich mal wärmen.«

Eine Weile liegen wir so da, in zufriedenes Schweigen gehüllt, sein Arm fest um meine Hüfte gelegt, das Kinn in der Mulde meiner Schulter. Will ist verschwitzt und klebrig vom Schlaf, doch dies sind die Augenblicke, die ich am meisten genieße, die Augenblicke, wenn unser Atem synchron ist und unsere Herzen im Gleichtakt schlagen. Augenblicke, so intim, wie miteinander zu schlafen.

»Du bist mir der liebste Mensch auf dieser Welt«, murmelt er in mein Ohr. Ich lächle. Diese Worte haben wir statt des üblichen Ich liebe dich gewählt. Jedes Mal, wenn sie ihm über die Lippen gleiten, sind sie für mich wie ein Versprechen. Dich mag ich am meisten, und das wird auch immer so bleiben.

»Du bist mir auch der liebste Mensch.«

Meine Freundinnen versichern mir, sie würde nicht so bleiben, diese tiefe Verbindung, die zwischen meinem Ehemann und mir besteht. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis unsere Vertrautheit mein Feuer löschen und ich plötzlich auf andere Männer aufmerksam werden würde. Ich würde meine Wangen und Lippen für namenlose Fremde schminken, mit denen ich nicht verheiratet sei, und mir vorstellen, sie würden mich an Stellen berühren, zu denen nur ein Ehemann Zugang haben sollte. Die Sieben-Jahres-Gelüste, nennen es meine Freundinnen, aber ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, denn heute – nach sieben Jahren und einem Tag – gleiten Wills Hände über meine Haut, und die einzigen Gelüste, die ich verspüre, sind nach ihm.

Meine geschlossenen Augenlider flattern; seine Berührungen wecken ein Kribbeln, was ahnen lässt, dass ich wahrscheinlich zu spät zur Arbeit kommen werde.

»Iris?«, flüstert er.

»Mhmmm?«

»Ich habe vergessen, die Filter der Klimaanlage zu wechseln.«

Ich öffne die Augen. »Was?«

»Ich sagte, ich habe vergessen, die Filter der Klimaanlage zu wechseln.«

Ich lache. »Genau das meinte ich verstanden zu haben.« Will ist ein brillanter Informatiker mit einer Tendenz zu ADS. Sein Gehirn ist so vollgestopft mit Fakten und Informationen, dass er ständig die kleinen Dinge des Lebens vergisst … Normalerweise fallen sie ihm allerdings nicht beim Sex ein. Ich schiebe es darauf, dass er zurzeit ungewöhnlich viel zu tun hat und darüber hinaus für drei Tage zu einer Konferenz nach Florida muss, wodurch seine To-do-Liste länger ist als üblich. »Du kannst es am Wochenende machen, wenn du wieder zurück bist.«

»Was, wenn es vorher schon warm wird?«

»Das wird es nicht. Und falls doch, dann können die Filter mit Sicherheit noch ein paar Tage warten.«

»Und dein Wagen braucht einen Ölwechsel. Wann hast du den letzten gemacht?«

»Keine Ahnung.«

Will und ich teilen unsere Haushaltspflichten ordentlich an der Geschlechterlinie auf. Die Autos und alle handwerklichen Tätigkeiten ums Haus fallen in seinen Bereich, ich bin für das Kochen und Saubermachen zuständig. Keinen von uns stört diese Arbeitsteilung. Am College habe ich gelernt, Feministin zu sein, die Ehe hat mich gelehrt, praktisch zu denken. Lasagne zuzubereiten macht so viel mehr Spaß, als die Regenrinnen zu säubern.

»Schau mal im Wartungsheft nach, ja? Es liegt im Handschuhfach.«

»Gut. Aber was soll das mit all den Erledigungen? Langweile ich dich bereits?«

Ich kenne Will und spüre, wie er lächelt. »Vielleicht hat es damit zu tun, was alle Schwangerschaftsbücher meinen, wenn sie von Nestbau reden.«

Bei dem Gedanken daran, was wir gerade tun – oder bereits getan haben –, flammt Freude in meiner Brust auf. Ich drehe mich zu ihm um. »Ich kann noch nicht schwanger sein. Wir versuchen es erst offiziell seit weniger als vierundzwanzig Stunden.«

Einmal gestern Abend vor dem Essen und zweimal danach. Vielleicht haben wir es bei unserem ersten offiziellen Babymachen etwas übertrieben, aber zu unserer Entschuldigung muss gesagt werden, dass es unser Hochzeitstag war und Will ein klassischer Streber ist.

Seine Augen strahlen selbstzufrieden. Wenn zwischen unseren Körpern Platz genug wäre, damit er sich auf die Brust trommeln könnte, würde er es wahrscheinlich tun. »Ich bin ziemlich sicher, dass meine Jungs gute Schwimmer sind. Wahrscheinlich bist du schon schwanger.«

»Was zu bezweifeln wäre«, sage ich, obwohl mich seine Worte ein bisschen schwindelig machen. In unserer Beziehung ist Will der Pragmatiker, derjenige, der einen kühlen Kopf behält. Ich erzähle ihm nicht, dass ich bereits nachgerechnet habe, meinen Zyklus notiert, die Tage bis zu meiner letzten Periode zurückgezählt und sie in einer App eingegeben habe. Will hat recht, ich könnte tatsächlich bereits schwanger sein. »Die meisten Menschen bekommen etwas aus Wolle oder Kupfer zu ihrem siebten Hochzeitstag. Du hast mir Sperma geschenkt.«

Er lächelt, aber auf diese nervöse Art, die er hat, wenn er etwas getan hat, was er vielleicht nicht hätte tun sollen. »Ich habe noch etwas.«

»Will …«

Letztes Jahr haben wir auf sein Drängen all unsere Ersparnisse und einen Teil unserer Monatsgehälter in das Darlehen eines Hauses gesteckt, das uns quasi zu Armenhäuslern gemacht hat. Aber, oh, in was für ein Haus! Unser Traumhaus, ein viktorianischer Bau mit drei Schlafzimmern in einer ruhigen Straßen in Inman Park, mit einer breiten Veranda und vollständig erhaltenen Original-Holzarbeiten. Wir kamen durch die Haustür, und Will musste es einfach haben, selbst wenn es bedeutete, dass die Hälfte der Räume in absehbarer Zukunft leer stehen würde. Diesmal sollte es ein geschenkefreier Hochzeitstag werden.

»Ich weiß, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte dir etwas Besonderes kaufen. Etwas, das dich immer an den Moment erinnert, als wir noch zu zweit waren.« Er dreht sich herum, schaltet die Lampe an, zieht eine kleine, rote Schachtel aus der Schublade des Nachttisches und reicht sie mir mit einem verlegenen Grinsen. »Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag.«

Selbst ich erkenne Cartier auf den ersten Blick. In diesem Geschäft gibt es keinen Staubkrümel, der nicht mehr kostet, als wir uns leisten können. Als ich keine Anstalten unternehme, die Schachtel zu öffnen, lässt Will sie mit dem Daumen aufschnappen und zieht den Deckel zurück. Zum Vorschein kommen drei ineinander verschlungene Ringe, von denen einer mit Reihen winziger Diamanten verziert ist.

»Es ist ein Trinity Ring. Roségold für die Liebe, Gelbgold für die Treue und Weißgold für die Freundschaft. Mir gefällt die Symbolik der drei – du, ich und unser zukünftiges Baby.« Ich unterdrücke blinzelnd die Tränen. Will hebt mein Kinn mit einem Finger, damit ich ihn ansehe. »Was stimmt denn nicht? Gefällt er dir nicht?«

Ich lasse einen Finger über die weiß strahlenden Steine gleiten, die vor dem roten Hintergrund funkeln. Die Wahrheit ist, dass Will keine bessere Wahl hätte treffen können. Der Ring ist schlicht, elegant und atemberaubend. Genau den hätte ich mir auch ausgesucht, wenn wir alles Geld der Welt hätten, was wir nicht haben.

Und doch wünsche ich mir diesen Ring viel mehr, als ich sollte – nicht weil er wunderschön ist oder teuer, sondern weil Will sich so viele Gedanken bei der Auswahl gemacht hat.

»Ich liebe ihn, aber …« Ich schüttele den Kopf. »Es ist zu viel. Wir können ihn uns nicht leisten.«

»Es ist nicht zu viel. Nicht für die Mutter meines zukünftigen Babys.« Er zieht den Ring aus der Schachtel und schiebt ihn auf meinen Finger. Der Ring ist kühl, schwer und passt perfekt; er umschließt die Haut unter meinem Fingergelenk, als wäre er für meine Hand gemacht. »Schenk mir ein Mädchen, das genauso aussieht wie du.«

Mein Blick gleitet über die Ebenen und Kanten des Gesichts meines Ehemannes und bleibt an all meinen Lieblingsstellen hängen. Die schmale Narbe, die sich durch seine linke Augenbraue zieht. Der Höcker auf dem Nasenrücken. Sein breites, eckiges Kinn und die vollen Lippen, die so gut küssen. Seine Augen wirken schläfrig, sein Haar ist verwuschelt und das Kinn voller kratziger Stoppeln. Unter all seinen Angewohnheiten und Launen, unter allen Seiten, die ich bisher an ihm kennengelernt habe, liebe ich es am meisten, wenn er so ist wie jetzt: süß, weichherzig und verwuschelt.

Durch meine Tränen hindurch lächle ich ihn an. »Und was, wenn es ein Junge wird?«

»Dann machen wir so lange weiter, bis ich mein Mädchen habe.« Er gibt mir einen Kuss. »Gefällt dir der Ring?«

»Ich liebe ihn.« Ich hebe meinen Arm und lege ihn um seinen Hals, die Diamanten blinzeln über seiner Schulter. »Er ist perfekt, genau wie du.«

Er grinst. »Vielleicht sollten wir noch eine Runde üben, bevor ich fahre, nur sicherheitshalber.«

»Dein Flug geht in drei Stunden.«

Doch seine Lippen gleiten bereits meinen Hals herunter, und die Hand schiebt sich tiefer und tiefer. »Na und?«

»Es regnet. Auf den Straßen wird viel los sein.«

Er rollt mich auf den Rücken und drückt meinen Körper mit seinem auf das Bett. »Dann sollten wir uns besser beeilen.«

2

Die Ausbildung an der Lake Forrest Academy, die exklusiven Schuljahre vom Kindergarten bis zur Oberstufe in dem grünen Vorort von Atlanta, in dem ich als Schulpsychologin arbeite, kosten satte 24435 Dollar pro Jahr. Rechnet man die fünf Prozent Inflation hinzu, kosten dreizehn Jahre in diesen heiligen Hallen mehr als vierhundert Riesen pro Kind, und dann haben sie noch keinen Fuß auf den College-Campus gesetzt. Unsere Schüler sind die Söhne und Töchter von Chirurgen und Vorstandsvorsitzenden, von Bankern und Unternehmern, von gefragten Moderatoren und professionellen Sportlern.

Kurz nach zehn schiebe ich mich durch die Flügeltüren – gut zwei Stunden zu spät, dank Wills Quickie und einem Nagel in meinem Reifen – und gehe den mit Teppich ausgelegten Flur hinunter. Im Gebäude ist es still, die Art von Stille, die nur herrscht, wenn die Schüler in den Klassen sind und über ihren MacBooks hocken.

Als ich um die Ecke komme, überrascht es mich wenig, dass ich eine Gruppe von Oberstufenschülern auf dem Flur vor meinem Büro vorfinde, die Köpfe über elektronische Geräte gebeugt. Die Studenten wissen, dass ihnen meine Tür immer offen steht, und sie nutzen die Gelegenheit häufig.

Dann kommen weitere aus dem Klassenzimmer gegenüber, mit aufgeregten Stimmen, und der Alarm, der darin liegt, lässt mich erstarren. »Was ist los? Warum seid ihr nicht in eurem Klassenraum?«

Ben Wheeler sieht von seinem iPhone auf. »Ein Flugzeug ist gerade abgestürzt. Sie sagen, es sei von Hartsfield gestartet.«

Entsetzen erfasst mich. Ich stütze mich an einem Schließfach ab. »Was für ein Flugzeug? Wohin?«

Er zuckt mit einer dürren Schulter. »Es gibt noch keine Details.«

Ich schiebe mich durch die Gruppen von Schülern, springe hinter meinen Schreibtisch und greife mir die Maus. »Los, los«, flüstere ich und rüttle meinen Computer aus seiner Tiefschlaf-Phase. In meinem Kopf drehen sich alle Daten, an die ich mich bezüglich Wills Flug erinnere. Er ist inzwischen seit über dreißig Minuten in der Luft und donnert wahrscheinlich irgendwo an der Grenze Floridas entlang. Das Flugzeug kann bestimmt – ganz bestimmt – nicht das sein, in dem er sitzt. Tausende von Flugzeugen heben jeden Tag vom Flughafen Atlanta ab, und keines davon fällt einfach so vom Himmel. Ganz sicher sind alle mit heiler Haut davongekommen.

»Mrs. Griffith, mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragt Ava, eine zierliche Zehntklässlerin, vom Türrahmen aus.

Nach einer Ewigkeit lädt mein Internetbrowser, und mit steifen, unbeholfenen Fingern tippe ich CNN ein. Dann bete ich. Lieber Gott, bitte lass es nicht Wills Flugzeug sein.

Die Bilder, die einige Sekunden später meinen Bildschirm füllen, sind schrecklich. Zerklüftete Teile des Flugzeugs, das von der Explosion auseinandergerissen wurde, ein verbranntes Feld, übersät mit qualmenden Trümmern. Die schlimmste Form des Absturzes, bei der niemand überlebt.

»Diese armen Menschen«, flüstert Ava direkt über mir.

Übelkeit steigt in mir auf, brennt in meinem Rachen, und ich scrolle nach unten, bis ich die Angaben zum Flug sehe. Liberty-Airlines-Flug 23. Ich atme hörbar aus, und durch die Erleichterung bekomme ich weiche Knie.

Ava legt mir besorgt die Hand auf die Schulter. »Mrs. Griffith, was ist los? Kann ich etwas für Sie tun?«

»Alles in Ordnung.« Die Worte sind kaum zu verstehen und klingen atemlos, als hätten meine Lungen die Nachricht noch nicht erhalten. Ich weiß, dass ich mich wegen der Passagiere und Familien von Flug 23 schlecht fühlen sollte, für diese armen Menschen, die über einem Maisfeld in Missouri in Stücke gerissen wurden, für ihre Familien und Freunde, die das über die sozialen Medien herausfinden, genau wie ich jetzt, doch stattdessen fühle ich nur Erleichterung. »Es war nicht Wills Flugzeug.«

»Wer ist Will?«

Ich fahre mir mit beiden Händen über meine Wangen und versuche, die Panik wegzuatmen. »Mein Mann.« Meine Finger zittern immer noch, mein Herz rast, egal, wie oft ich mir sage, dass es nicht Wills Flugzeug gewesen ist. »Er ist auf dem Weg nach Orlando.«

Ihre Augen weiten sich. »Sie dachten, Ihr Mann säße in diesem Flugzeug? Himmel, kein Wunder, dass sie zusammengeklappt sind.«

»Ich bin nicht zusammengeklappt, ich bin lediglich …« Ich presse eine Handfläche auf meine Brust und atme tief ein. »Nur für’s Protokoll: Meine Reaktion auf die Situation war nicht unangemessen. Extreme Angst ruft einen starken Adrenalinschub hervor. Aber jetzt geht es mir gut. Es ist alles in Ordnung.«

Es laut auszusprechen und meine physiologische Reaktion in wissenschaftliche Worte zu packen löste etwas in meiner Brust. Das Dröhnen in meinem Kopf verebbte zu einem gelegentlichen Pochen. Gott sei Dank, es war nicht Wills Flugzeug.

»Hey, ich sag ja gar nichts. Ich habe Ihren Mann gesehen. Heißer Typ.« Sie wirft ihren Rucksack in die Ecke, lässt sich in den Sessel fallen, der dort steht, und schlägt die Beine übereinander, die hinsichtlich der Kleiderordnung deutlich zu nackt sind. Ihr Blick schweift zu meiner rechten Hand, die immer noch auf meiner pochenden Brust liegt. »Netter Ring übrigens. Neu?«

Ich lasse meine Hand auf den Schoß fallen. Natürlich hat Ava den Ring bemerkt. Sie weiß wahrscheinlich auch, was er kostet. Ich ignoriere das Kompliment und konzentriere mich stattdessen auf die erste Hälfte ihrer Antwort. »Wo hast du meinen Mann denn gesehen?«

»Auf Ihrer Facebookseite.« Sie grinst. »Wenn ich jeden Morgen neben ihm aufwachen würde, käme ich auch zu spät zur Arbeit.«

Ich werfe ihr einen tadelnden Blick zu. »Sosehr mich diese Unterhaltung freut, solltest du nicht wieder zurück in deine Klasse gehen?«

Ihre hübschen, pinkfarbenen Lippen verziehen sich zu einer Grimasse. Selbst so schief grinsend ist Ave ein wunderhübsches Mädchen, betörend schön. Große blaue Augen. Pfirsich-und-Sahne-Haut. Lange, glänzende, rotbraune Locken. Außerdem ist sie intelligent und kann durchtrieben witzig sein. Sie könnte jeden Jungen dieser Schule haben … und das hat sie auch. Ava ist nicht wählerisch, und wenn ich Twitter glauben darf, ist sie leichte Beute.

»Ich schwänze Literatur«, sagt sie.

Ich schenke ihr mein Psychologenlächeln, freundlich und ohne zu urteilen. »Warum?«

Sie seufzt und verdreht die Augen. »Weil ich es vermeide, mich in geschlossenen Räumen aufzuhalten, in denen Charlotte Wilbanks und ich dieselbe Luft atmen müssen. Sie hasst mich, und dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, das kann ich Ihnen flüstern.«

»Warum, glaubst du, hasst sie dich?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits weiß. Ehemals beste Freundinnen, währt die Fehde zwischen Charlotte und Ava bereits lange und ist umfassend dokumentiert. Was immer ihren Hass vor all den Jahren angefacht hat, ist längst vergessen, vergraben unter Millionen beleidigender und geschmackloser Tweets, bei denen der Ausdruck »fieses Mädel« eine ganz neue Bedeutung bekommt. Angesichts dessen, was ich in den gestrigen Tweets vorbeirauschen sah, geht es bei ihren jüngsten Streitigkeiten um den Klassenkameraden Adam Nightingale, Sohn der Countrylegende Toby Nightingale. Letztes Wochenende tauchten Bilder von Adam und Ava auf, wie sie in einer Saftbar knutschten.

»Wer zum Teufel weiß das schon? Vermutlich, weil ich hübscher bin.« Sie zupft an ihrem perfekten Nagellack, einem schimmernden Hellgelb, das so aussieht, als wäre es erst gestern aufgetragen worden.

Wie die meisten Kinder an der Schule bekommt Ava von ihren Eltern alles, was ihr Herz je begehren könnte. Ein nagelneues Cabrio, Reisen Erster Klasse zu exotischen Orten, eine Platin-Amex-Karte und ihren Segen. Aber ihre Tochter mit Geschenken zu überschütten ist nicht dasselbe, wie ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Avas Mutter gehört zur Schickeria Atlantas und besitzt die bemerkenswerte Fähigkeit, jedes Mal in die andere Richtung zu sehen, wenn Avas Vater, ein Facharzt für Plastische Chirurgie, der als der »Busen-Typ« in der Stadt bekannt ist, dabei erwischt wird, wie er ein Mädchen befummelt, das nur halb so alt ist wie er, was recht häufig passiert.

Meine Ausbildung hat mich gelehrt, den Charakter und die Erziehung als gleichwertig anzusehen, doch in meinem Job habe ich erfahren, dass die Erziehung jedes Mal gewinnt. Speziell, wenn sie fehlt. Je verkorkster die Eltern, desto verkorkster das Kind. Es ist wirklich so simpel.

»Ich bin sicher, dass, wenn du ein wenig darüber nachdenkst, dir ein besserer Grund einfällt, warum Charlotte …«

»Klopf, klopf.« Der Oberstufenleiter, Ted Rawlings, steht im Türrahmen. Groß, schlaksig und mit seinen dichten Locken erinnert er mich immer an einen Pudel, der alles sehr ernst nimmt, von seinen Krawatten abgesehen. Er muss Hunderte dieser scheußlichen Dinger besitzen, alle zum Thema Schule und alle lächerlich, aber an ihm wirken sie irgendwie charmant. Die heutige Version ist eine knallgelbe Polyesterkrawatte, überzogen mit physikalischen Gleichungen. »Ich nehme an, Sie haben von dem Flugzeugabsturz gehört.«

Ich nicke. Mein Blick gleitet zu den Bildern auf dem Bildschirm. Diese armen Leute. Ihre armen Familien.

»Jemand an dieser Schule wird jemanden kennen, der in diesem Flugzeug saß«, sagt Ava. »Warten Sie’s nur ab.«

Bei ihren Worten läuft mir ein Schauer über den Rücken, denn sie hat recht. Atlanta ist eine große Stadt, aber letztendlich ein Dorf, in dem in der Regel jeder jeden kennt. Die Chance, dass irgendjemand hier mit einem der Opfer in Beziehung steht, ist nicht gering. Ich kann nur hoffen, dass es kein Familienmitglied oder ein enger Freund ist.

»Die Schüler sind aufgeregt«, sagt Ted, »verständlicherweise, und ich glaube kaum, dass wir in irgendeiner Klasse heute etwas geschafft kriegen. Mit Ihrer Hilfe würde ich diese Tragödie gern in eine andere Art der Lernerfahrung für alle umwandeln. Einen sicheren Ort für unsere Schüler schaffen, um darüber zu reden, was passiert ist, und um Fragen zu stellen. Und wenn Miss Campbell hier recht hat, dass jemand von Lake Forest bei dem Absturz eine ihm nahestehende Person verloren hat, sind wir schon darauf vorbereitet, die moralische Unterstützung anzubieten, die sie brauchen.«

»Das hört sich nach einer großartigen Idee an.«

»Wunderbar. Ich bin froh, Sie an Bord zu haben. Ich werde alle Schüler in der Aula zusammenrufen, und wir beide werden die Diskussion moderieren.«

»Selbstverständlich. Geben Sie mir ein, zwei Minuten, damit ich mich sammeln kann.«

Ted klopft mit einem Fingerknöchel an die Tür und eilt davon. Der Literaturunterricht ist damit für heute offiziell beendet. Ava nimmt ihren Rucksack und kramt eine Weile darin herum, während ich eine Puderdose aus meiner Schreibtischschublade ziehe.

»Hier«, sagt sie und lässt eine Handvoll Designer-Make-up-Tuben auf meinen Schreibtisch fallen. Chanel, Nars, YSL, Mac. »Nichts für ungut, aber Sie sehen so aus, als hätten Sie ein wenig Make-up eher nötig als ich.« Sie schwächt ihre Worte mit einem strahlenden Lächeln ab.

»Danke, Ava, aber ich habe mein eigenes Make-up.«

Doch Ava lässt die Tuben liegen. Sie verlagert ihr Gewicht wiederholt von einem Fuß auf den anderen, während ihre Hand den Rucksackriemen knetet. Sie beißt sich in die Lippen und schaut auf ihre Oxford-Schuhe, und mir kommt der Gedanke, dass sie unter all dem Gepolter und der Angeberei möglicherweise sogar schüchtern ist. »Ich bin froh, dass es nicht das Flugzeug Ihres Mannes war.«

»Ich auch.«

Sowie sie gegangen ist, greife ich nach dem Telefonhörer und wähle Wills Handynummer. Ich weiß, dass er noch für ungefähr eine weitere Stunde nicht drangehen kann, doch ich muss seine Stimme hören, selbst wenn es nur eine Tonbandaufzeichnung ist. Meine Muskeln entspannen sich bei dem weichen, vertrauten Klang.

Dies ist der Anrufbeantworter von Will Griffith 

Ich lasse mich zurück in meinen Sessel sinken und warte auf den Piepton.

»Hey, Liebling, ich bin’s. Ich weiß, du bist noch in der Luft, aber in Hartsfield ist gerade ein Flugzeug kurz nach dem Start abgestürzt. Fünfzehn schreckliche Sekunden habe ich gedacht, es könnte deines sein, und ich musste einfach … ich weiß nicht, mit eigenen Ohren hören, dass es dir gut geht. Ich weiß, dass das unsinnig ist, aber ruf mich an, sobald du gelandet bist, okay? Die Kids sind ziemlich aufgedreht, also bin ich bei einer Versammlung in der Aula, aber ich verspreche, dass ich rangehe. Okay, ich muss los, du mir der liebste Mensch auf der Welt, und ich vermisse dich schon jetzt.«

Ich stopfe mein Handy in die Tasche, mache mich auf den Weg aus der Tür und lasse Avas Haufen Make-up dort liegen, wo sie ihn auf meinem Schreibtisch abgelegt hat.

3

Ted sitzt neben mir auf der Bühne der Aula, streicht mit einer Hand seine Krawatte glatt und spricht in den Raum, der mit Mittel- und Oberstufenschülern gefüllt ist. »Wie ihr alle wisst, ist vor knapp einer Stunde die Maschine des Liberty-Airlines-Flug 23 von Hartsfield-Jackson International auf dem Weg nach Seattle, Washington, abgestürzt. Alle 179 Passagiere sind vermutlich umgekommen. Männer, Frauen und Kinder, Menschen wie ihr und wir. Ich habe euch zusammengerufen, damit wir als Gruppe darüber sprechen können. Solche Tragödien machen uns die Gefahren dieser Welt nur zu bewusst, unsere eigene Verletzlichkeit und wie zerbrechlich das Leben doch ist. Dieser Raum ist ein sicherer Ort, um Fragen zu stellen, zu weinen oder was immer ihr tun müsst, um es zu verarbeiten. Lasst uns gemeinsam vereinbaren, dass das, was in dieser Aula passiert, auch in dieser Aula bleibt.«

In jeder anderen Schule würde man eine Schweigeminute einlegen und dann den Kindern sagen, sie sollen zurück an die Arbeit gehen. Ted weiß, dass Katastrophen für Teenager jederzeit Vorrang vor dem Kalkül haben, und da er alles als eine Möglichkeit ansieht, daraus etwas zu lernen, folgen ihm die Schüler, ohne zu zögern.

Ich schaue über die ungefähr dreihundert Schülern der Lake Forrest High School, und soweit ich sagen kann, ist die eine Hälfte entsetzt über die Bilder eines Flugzeugs, das vom Himmel gefallen ist, während die andere Hälfte trunken ist vor Glück über einen unterrichtsfreien Nachmittag. Aufgeregtes Gemurmel hallt durch den großen Raum.

Ein Mädchen erhebt laut ihre Stimme: »Also ist das jetzt eine Art Gruppentherapie?«

»Nun …« Ted wirft mir einen fragenden Blick zu, und ich nicke leicht. »Ja, genau wie eine Gruppentherapie.«

Nun, nachdem sie wissen, was sie erwartet, scheinen sich die Schüler zu entspannen, verschränken die Arme und lassen sich auf ihren Polsterstühlen zurückfallen.

»Ich habe gehört, es seien Terroristen gewesen«, ruft jemand aus den hinteren Reihen der Aula. »Dass der IS sich bereits gemeldet hat und gesagt hat, sie seien es gewesen.«

Jonathan Vanderbeek, ein älterer Schüler, der kurz davorsteht, mit Ach und Krach seinen Abschluss zu machen, dreht sich auf seinem Sitz in der ersten Reihe um. »Wer hat dir das erzählt? Sarah Palin?«

»Kylie Jenner hat es gerade auf Twitter retweeted.«

»Na super«, sagt Jonathan schnaubend. »Weil die Kardashians ja auch solche Experten in Fragen nationaler Sicherheit sind.«

»Okay, okay«, sagt Ted und ruft alle mit ein paar Klopfern auf das Mikrofon wieder zur Ordnung. »Wir sollten die Situation nicht dadurch eskalieren lassen, dass wir Gerüchte und Mutmaßungen wiederholen. Also, ich habe die Nachrichten sorgfältig verfolgt und über die Tatsache hinaus, dass ein Flugzeug abgestürzt ist, gibt es keine Neuigkeiten. Niemand hat erklärt, warum das Flugzeug abgestürzt ist oder wer sich zu diesem Zeitpunkt darin befand. Das tun sie erst, wenn sie die Angehörigen verständigt haben.« Das Wort Angehörige schlägt im Saal ein wie eine Bombe. Es hängt für ein, zwei Sekunden in der Luft. »Und mit dem Blick nach vorn, sollten wir uns alle darüber einig sein, dass es glaubwürdigere Nachrichtenquellen als Twitter gibt, nicht wahr?«

Aus der ersten Reihe ertönt Gekicher.

Ted schüttelt tadelnd den Kopf.

»Jetzt hat Mrs. Griffith ein paar Dinge, die sie sagen möchte. Sie wird auch im Anschluss die Diskussion leiten. In der Zwischenzeit sehe ich auf meinem Laptop die Nachrichten auf CNN. Sobald die Fluggesellschaft etwas Neues bekannt gibt, unterbreche ich die Diskussion und werde es euch laut vorlesen, damit wir alle auf dem gleichen Informationsstand sind.«

Ted reicht mir das Mikro.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich die nächsten Stunden damit zugebracht hätte, auf mein Handy zu starren und auf Wills Anruf zu warten, aber sechsundsiebzig Minuten nach dem Absturz und fünfzehn Minuten, bevor die Fluggesellschaft ihr erstes offizielles Statement abgeben sollte, berichtet CNN, dass das Lacrosse-Team der Wells Academy High School – alle sechzehn Spieler plus den Trainern – unter den 179 Opfern sind. Offensichtlich befanden sie sich auf dem Weg zu einem Turnier.

»O mein Gott! Wie kann das sein? Wir haben doch erst letzte Woche gegen sie gespielt.«

»Ja, letzte Woche, du Idiot. Das hast du doch gerade selbst gesagt. Dazwischen hatten sie einen Menge Zeit, ein Flugzeug zu besteigen.«

»Ich rede davon, dass wir gegen sie gespielt und verloren haben, weswegen Wells aufgestiegen ist und nicht wir.«

»Aufhören«, sage ich. Meine Worte schneiden durch die Aula, bevor der Streit in der ersten Reihe eskaliert. »Zweifel ist eine normale Reaktion auf die Nachricht, dass ein Freund gestorben ist, aber mit Wut und Sarkasmus kommt man nicht weiter.«

Die Schüler tauschen zerknirschte Blicke aus und rutschen tiefer in ihre Sitzen.

»Ich verstehe, dass es einfacher ist, sich hinter negativen Emotionen zu verstecken, als sich damit auseinanderzusetzen, wie knapp unsere Freunde und Mitschüler davongekommen sind«, sage ich, und mein Ton wird weicher. »Aber es ist in Ordnung, wenn ihr verwirrt seid, traurig, schockiert oder euch sogar verletzlich fühlt. Das sind alles normale Reaktionen auf solche entsetzlichen Nachrichten, und ein offenes Gespräch darüber zu führen, wird uns allen helfen, unsere Gefühle zu verarbeiten. Okay? Also, ich denke, Caroline hier ist nicht die Einzige, die an das letzte Mal zurückdenkt, an dem sie einen der Spieler von der Wells gesehen hat. War noch jemand bei dem Spiel?«

Eine nach der anderen gehen die Hände hoch, und die Schüler fangen an zu reden. Es wird klar, dass, wenn unsere Schule das Spiel gewonnen hätte, wenn Lake Forest stattdessen aufgestiegen wäre, genauso gut unsere Schüler in diesem Flugzeug hätten sitzen können. Das Gespräch im Zaum zu halten beansprucht meine volle Konzentration, bis wir um ein Uhr eine Mittagspause einlegen.

Die Schüler verlassen den Saal. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schaue stirnrunzelnd auf den immer noch leeren Bildschirm. Will ist bereits vor über einer Stunde gelandet. Trotzdem hat er immer noch nicht angerufen, hat keine Nachricht geschickt. Wo zum Teufel steckt er?

Ted legt mir eine Hand auf den Arm. »Alles in Ordnung?«

»Was? Oh, ja. Ich warte nur auf einen Anruf von Will. Er ist heute Morgen nach Orlando geflogen.«

Teds Augen weiten sich. »Nun, das erklärt natürlich Ihren Gesichtsausdruck, als ich vorhin in Ihr Büro gekommen bin. Sie müssen ziemliche Angst gehabt haben.«

»Ja, und die arme Ava hat alles abbekommen.« Ich wedele mit dem Handy in der Luft. »Ich versuche noch mal, ob ich ihn jetzt erwische.«

Ich haste von der Bühne den Mittelgang hoch und rufe bereits Wills Nummer auf, noch bevor ich durch die Flügeltüren gegangen bin. Lake Forrest ist wie ein College-Campus aufgebaut, mit einem halben Dutzend efeuüberwucherter Gebäude. Ich nehme den Weg, der direkt zum Hauptgebäude führt. Der Regen hat aufgehört, doch bleischwere Wolken hängen immer noch tief am Himmel. Ich ziehe meinen Pullover fest um mich zusammen und eile die Stufen hinauf und durch die Eingangstür, schiebe mich genau in dem Augenblick ins Warme, als Wills Handy mich zum Anrufbeantworter weiterleitet.

Verdammt!

Während ich auf den Piepton warte, muntere ich mich selbst auf. Ich sage mir, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Dass es eine einfache Erklärung dafür gibt, warum er nicht angerufen hat. Die letzten Wochen waren beruflich sehr anstrengend, und er hat nicht gut geschlafen. Vielleicht macht er ein Nickerchen. Und dieser Mann lässt sich wirklich leicht ablenken, ein typischer Computerfreak, der sich nie auf eine Sache konzentrieren kann. Ich stelle mir vor, wie er eine Nachricht an mich tippt und dann vergisst sie abzuschicken. Oder vielleicht ist einfach nur der Akku seines Handys leer, oder er hat es im Flugzeug liegen gelassen.

»Hey, Liebling«, sage ich ins Telefon und versuche, meine Sorge nicht durchklingen zu lassen. »Ich wollte nur kurz hören, ob alles in Ordnung ist. Du solltest inzwischen im Hotel sein, doch ich vermute mal, dass der Empfang auf deinem Zimmer mies ist oder so etwas. Wenn du einen Moment Zeit hast, dann ruf mich an. Dieser Absturz hat mich ein bisschen nervös gemacht. Also, bis bald. Du bist mir der liebste Mensch auf dieser Welt.«

In meinem Büro gehe ich direkt zu meinem Computer und rufe das E-Mail-Programm auf. Will hat mir vor einem Monat die Konferenzunterlagen geschickt, doch in meinem Posteingang befinden sich mehr als dreitausend E-Mails. Nach längerem Suchen finde ich die besagte E-Mail:

Von: w.griffith@appsec-consulting.com

An: irisgriffith@lakeforrestacademy.org

Betrifft: FW: Konferenz zur Internetsicherheit für bedeutende

Vermögenswerte

Guck dir das an! Ich bin am Donnerstag der Keynote-Speaker. Hoffen wir mal, dass sie nicht alle einschlafen, so wie du, wenn ich dir von meiner Arbeit erzähle. xo

Will M. Griffith

Sr. Software Engineer

AppSec Consulting, Inc.

Ich fühle mich bestätigt. Dort steht alles geschrieben, schwarz auf weiß. Will ist in Orlando.

Ich klicke auf den Anhang. Über die ganze Seite öffnet sich ein Konferenz-Flyer. Ungefähr auf der Mitte ist Wills Porträt abgebildet, neben einem Informationstext, der seine Expertise in Bezug auf das Management von Zugriffssicherheit anpreist. Ich drucke es aus, notiere mir den Namen des Konferenzhotels auf einem Post-it-Zettel und kehre dann zu meinem Internetbrowser zurück, um nach der Telefonnummer zu suchen. Ich bin dabei, sie abschreiben, als mein Handy klingelt und die Nummer meiner Mutter auf dem Display erscheint.

Eine leichte Besorgnis meldet sich in meiner Brust. Als Sprachtherapeutin weiß meine Mutter, was es bedeutet, in einer Schulumgebung zu arbeiten. Sie weiß, dass ich ständig wahnsinnig viel zu tun habe, und stört mich nie bei der Arbeit, außer es geht um Leben und Tod. Wie damals, als Dad in ein Schlagloch gefahren ist, sich mit seinem Fahrrad einmal komplett überschlagen hat und so hart auf den Asphalt geknallt ist, dass er sich das Schlüsselbein gebrochen hat.

»Was ist los?«, frage ich sie.

»Oh, meine Liebe. Ich habe gerade die Nachrichten gesehen.«

»Über den Absturz? Wir haben hier an der Schule deswegen schon die ganze Zeit viel um die Ohren. Die Schüler sind ziemlich erschrocken.«

»Nein, das meine ich nicht. Also, nicht genau … Ich meine Will.«

Irgendetwas daran, wie sie es sagt, an der vorsichtigen und umständlichen Art, wie sie nach Will fragt, bringt meine Nackenhaare dazu, sich zu sträuben. »Was ist mit ihm?«

»Na ja, erst einmal, wo ist er?«

»In Orlando, auf einer Konferenz. Warum?«

Die Heftigkeit, mit der meine Mutter, aufatmet, durchbohrt mein Trommelfell. »Oh, Gott sei Dank. Ich wusste, dass es nicht dein Will sein konnte.«

»Worüber redest du da? Wer konnte nicht mein Will sein?«

Ihre Antwort geht unter, als eine Schülerin mich lautstark unterbricht: »Mr. Rawlings hat mir gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass man soeben die Liste der Namen veröffentlicht hat.« Sie brüllt die Worte in mein Büro. Ich bringe sie mit einer Handbewegung zum Schweigen und scheuche sie fort.

»Mom, wer ist nicht mein Will?«

»Der William Matthew Griffith, von dem sie sagen, er sei im Flugzeug gewesen.«

Nicht mein Ehemann, dringt es aus meinem tiefsten Inneren hervor. Mein Will sitzt in einem anderen Flugzeug, von einer ganz anderen Fluggesellschaft. Und selbst, wenn das nicht der Fall wäre, hätte Liberty Airlines längst angerufen. Sie hätten seinen Namen nicht bekannt gegeben, ohne mich – seine Ehefrau – vorher davon in Kenntnis zu setzen.

Doch bevor ich meiner Mutter irgendeines dieser Dinge erzählen kann, piept mein Telefon wegen eines anderen Anrufs. Als ich die Kennung auf meinem Bildschirm lese, bleibt mir das Herz stehen.

Liberty Airlines.

4

Mit zitternder Hand beende ich das Gespräch mit meiner Mutter und nehme den Anruf von Liberty Airlines entgegen.

»Hallo?« Meine Stimme ist kratzig und leise.

»Hallo, dürfte ich bitte mit Iris Griffith sprechen?«

Ich weiß, warum diese Frau anruft. Ich erkenne es an der Art, wie sie meinen Namen ausspricht, an ihrem vorsichtigen, neutralen Tonfall und der geschäftsmäßigen, formellen Art. Mir bleibt die Luft weg.

Doch sie muss sich irren. Will ist in Orlando.

»Will ist in Orlando«, höre ich mich selbst sagen.

»Entschuldigen Sie bitte … Ist dies die Nummer von Iris Griffith?«

Was würde passieren, wenn ich nein sage? Würde die Frau auflegen und die Ehefrau eines anderen Will Matthew Griffith anrufen?

»Ich bin Iris Griffith.«

»Mrs. Griffith, mein Name ist Carol Manning. Ich rufe im Auftrag von Liberty Airlines an. William Matthew Griffith hat Sie als seinen Notfallkontakt angegeben.«

Will ist in Orlando.

»Ja. Ich bin seine Frau.«

»Ma’am, es tut mir sehr leid, Sie darüber informieren zu müssen, dass Ihr Mann ein Passagier des Fluges 23 war, der heute morgen auf dem Weg von Atlanta nach Seattle abgestürzt ist. Es wird angenommen, dass niemand an Bord den Absturz überlebt hat.« Sie hört sich an wie ein Roboter, als läse sie es von einem Skript ab.

Meine Muskeln versagen ihren Dienst. Mein Oberkörper fällt nach vorn auf meinen Schoß. Durch den Druck entweicht alle Luft aus meinem Körper mit einem lauten Stöhnen.

»Ich weiß, dass das jetzt ein großer Schock für Sie ist, und ich kann Ihnen versichern, dass Liberty Airlines für Sie da ist, um Sie zu unterstützen, wie und wann immer Sie es brauchen. Wir haben eine Hotline und eine E-Mail-Adresse eingerichtet, unter der Sie uns jederzeit erreichen können, Tag und Nacht. Auf unserer Internetseite www.libertyairlines.com finden Sie außerdem regelmäßige Updates zur Situation.«

Vielleicht hat sie noch mehr gesagt, aber ich höre sie nicht mehr. Das Handy fällt polternd zu Boden, und genau dort, mitten in meinem unordentlichen Büro, in dessen Türrahmen Schüler mit aufgerissenen Augen stehen, gleite ich von meinem Stuhl, schluchze und halte mir mit beiden Händen den Mund zu, um den Schrei zu unterdrücken.

Zwei große Schuhe treten in mein Blickfeld. »Oh, Iris, ich habe es gerade gehört. Es tut mir so leid.«

Ich schaue durch mein Haar hinauf zu Ted und weine erleichtert. Ted wird wissen, was zu tun ist. Er wird jemanden anrufen, der ihm sagen wird, dass es der falsche Will war, das falsche Flugzeug, die falsche Ehefrau.

Ich versuche, mich zusammenzureißen, doch ich schaffe es nicht, und erst da wird mir bewusst, dass mein Büro vor Schülern überquillt. Ich hatte schon gehört, dass sie sich vor meiner Tür versammelt hatten und in gedämpftem Ton Worte flüsterten, die ich nicht hören sollte. Worte wie Ehemann, Flugzeug, tot.

Nein. Erst heute Morgen hat Will auf seinem Handy nachgesehen, wie das Wetter in Orlando wird. »Höchsttemperatur heute: dreißig Grad«, hat er kopfschüttelnd gesagt. »Und es ist noch nicht einmal Sommer. Aus diesem Grund werde ich niemals nach Florida ziehen.«

Ava betrachtet mich mit Tränen in den Augen. »Will ist in Orlando«, erkläre ich ihr, und in ihrem Gesicht flackert Mitleid auf.

Es ist mir peinlich, dass sie mich so sehen muss, als ein Häufchen Elend. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen und wünsche, die Schüler würden verschwinden. Ich wünsche, alle würden mich einfach allein lassen. Zum Teufel damit, dass meine Tür immer allen offen steht.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.« Ted hebt mich vom Boden hoch und setzt mich auf meinen Stuhl.

»Wo ist mein Handy? Ich möchte noch mal versuchen, Will zu erreichen.«

Er beugt sich hinab, hebt mein Handy vom Boden auf und reicht es mir. Neun verpasste Anrufe. Ich schmecke Galle, als ich sehe, dass sie alle von meiner Mutter stammen. Keiner, nicht ein einziger ist von Will.

»Leute, lasst uns ein wenig allein, ja?« Ted wirft einen Blick über seine Schulter. »Und schließt die Tür hinter euch.«

Einer nach dem anderen verlassen die Schüler den Raum. Ich will ihr Mitleid nicht. Ich will überhaupt kein Mitleid von irgendwem. Mitleid bedeutet, dass das, was die Frau gesagt hat, wahr ist. Mitleid bedeutet: Will ist tot.

Als alle gegangen und wir allein sind, legt Ted mir die Hand auf die Schulter. »Gibt es irgendwen, den ich anrufen kann?«

Anrufen! Ich wollte gerade das Hotel anrufen. Mein Blick fällt auf den Konferenz-Flyer im Drucker, ich schnappe ihn mir und wedele damit vor Teds Gesicht herum. »Hier! Hier ist der Beweis, dass Will in Orlando ist. Er ist morgen der Keynote-Speaker. Er war nicht in dem Flugzeug nach Seattle. Er war in dem nach Orlando.«

»Hat er im Hotel eingecheckt?«, fragt Ted.

Mit zitternden Fingern suche ich den Post-it heraus, auf den ich die Nummer gekritzelt habe, und drücke die Tasten auf meinem Handy. Es ist Ted anzumerken, dass er wenig Hoffnung hat, dass er der Ansicht ist, der Anruf sei eine Zeitverschwendung. Ich starre hinunter auf meinen Schreibtisch und konzentriere mich auf die Macken und Kratzer, die die Oberfläche überziehen. Das Telefon klingelt, dann klingelt es erneut.

Nach einer Ewigkeit meldet sich eine Frauenstimme. »Guten Tag, Westin Universal Boulevard, was kann ich für Sie tun?«

»Verbinden Sie mich bitte mit dem Zimmer von Will Griffith.« Die Worte platzen aus mir heraus, abgehackt und viel zu schnell.

»Gern«, zwitschert die Empfangsdame in mein Ohr. »Griffith, sagten Sie?«

»Ja, Will. Oder es könnte auch unter William sein, Mittelinitiale M.«

Ich hole tief Luft und versuche, mich zu beruhigen, doch ich kann nicht aufhören zu zittern.

Ted zieht sein Sakko aus und legt es mir über die Schultern. Ich weiß, dass er es gut meint, aber die Geste fühlt sich viel zu intim an, und das Sakko riecht wie Ted, duftend und fremd.

Die Frau klackert ein paar Sekunden auf ihrer Tastatur herum. »Hmmm. Es tut mir leid, aber ich finde keine Reservierung für Mr. Griffith.«

Ich verschlucke mich an einem Schluchzer. »Schauen Sie noch mal nach. Bitte.«

Es entsteht eine lange Pause, gefüllt mit weiterem Geklacker.

»Sind Sie sicher, dass es in diesem Westin ist? Wir haben noch eines in Lake Mary, im Norden der Stadt. Ich kann Ihnen die Nummer geben, wenn Sie möchten.«

Ich schüttele den Kopf und blinzele frische Tränen fort, um die Hotelinformationen am unteren Rand des Flyers lesen zu können. »Ich schaue auf den Konferenz-Flyer. Da steht Universal Boulevard.«

Ihre Stimme hellt sich auf. »Oh, gut, wenn er wegen einer Konferenz hier ist, kann ich vielleicht eine Nachricht bei der Organisationsleitung hinterlegen. Um welche Konferenz geht es?«

»Internetsicherheit für Vermögenswerte.«

Sie zögert ein oder zwei Sekunden.

»Das tut mir sehr leid, Ma’am, aber in diesem Hotel findet keine Konferenz mit diesem Namen statt.«

Ich lasse das Handy fallen und übergebe mich in meinen Mülleimer.

Claire Masters, eine Kollegin, fährt mich nach Hause. Claire und ich verstehen uns gut, doch wir sind keine Freundinnen, aber ich weiß schon, warum ich hier angeschnallt neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres Ford Explorer sitze. Anfang letzten Jahres hat Claire ihren Mann an Morbus Hodgkin verloren, und entweder hat sie es selbst angeboten, oder sie wurde von Ted darum gebeten. Denn wenn jemand versteht, was ich gerade durchmache, dann ist es eine Witwe.

Witwe!

Ich drehe den Kopf, starre aus dem Fenster und sehe die vertrauten Ladenzeilen von Buckhead vorbeiziehen. Claire fährt langsam und schweigend. Sie hält die Augen auf die Straße gerichtet, und sosehr ich es hasse, in die gleiche Tragik-Schublade gepackt zu werden wie sie, weiß sie zumindest, dass ich Moment nichts weiter will, als in Ruhe gelassen zu werden.

Das Handy auf meinem Schoß summt. Meine Mutter, die gefühlt gerade das hundertste Mal anruft. Mich überkommt ein Schuldgefühl. Ich weiß, dass es nicht fair ist, ihr jetzt auszuweichen, doch ich kann im Moment nicht mit ihr reden.

»Willst du nicht rangehen?« Claires Stimme klingt hoch und mädchenhaft.

»Nein.« Es kostet mich all meine Kraft, um trotz des Felsbrockens auf meinem Herzen zu sprechen.

Ihr Blick schweift zwischen mir, dem Handy und der Straße vor ihr hin und her. »Ich kann dir nur sagen, dass deine Mutter wahrscheinlich gerade die Nerven verliert.«

Ich zucke bei ihrem schulmeisterlichen Ton zusammen, bei der Art, wie sie uns beide in das schrecklichste aller Teams packt. »Ich kann nicht.« Mit meiner Mutter zu sprechen würde bedeuten, diese entsetzlichen Worte laut auszusprechen: Will ist tot.

Das Telefon hört auf zu klingeln und fängt zwei Sekunden später wieder an.

Dieses Mal nimmt mir Claire das Handy vom Schoß. »Hi, hier spricht Claire Masters. Ich bin eine von Iris’ Kolleginnen auf der Lake Forrest. Sie sitzt direkt neben mir, aber sie ist noch nicht in der Lage, mit jemandem zu sprechen.« Pause. »Ja, Ma’am. Ich befürchte, das ist korrekt.« Eine weitere Pause. »Okay, ich werde es ihr ausrichten.« Sie legt auf. »Deine Eltern sind auf dem Weg. Sie treffen noch vor Einbruch der Dunkelheit hier ein.«

Ich starre aus dem Fenster und versuche es mir vorzustellen: Will auf einem Feld voller qualmender Wrackteile –, doch ich kann es nicht. Will war auf dem Weg nach Orlando, nicht Seattle. Er kann nicht tot sein. Es ist einfach unmöglich.

5

Obwohl ich ihr mehrmals versichere, dass es nicht nötig sei, begleitet mich Claire trotzdem den Weg zur Haustür hoch. Ich krame den Schlüssel aus meiner Handtasche und lasse ihn ins Schloss gleiten. »Danke, dass du mich gefahren hast. Ich komme schon klar.«

Ich öffne die Tür und gehe hindurch, doch als ich sie schließen will, hält Claire mich mit einer Hand zurück. »Liebes, ich bleibe, bis deine Eltern hier sind.«

»Nichts für ungut, Claire, aber ich möchte allein sein.«

»Nein, Iris, ich bleibe bei dir.« Ihre schrille Stimme ist erstaunlich fest, doch sie mildert ihre Worte mit einem Lächeln ab. »Du musst nicht mit mir reden, wenn du nicht magst.«

Ich trete zurück und lasse sie durch.