Über Pam Jenoff

Pam Jenoff hat jahrelang in Krakau als Vizekonsul der amerikanischen Botschaft gelebt. Als Expertin für den Holocaust in Polen war sie im Pentagon tätig und wurde für ihre Arbeit von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ausgezeichnet. Ihre Romane sind internationale Bestseller. Heute arbeitet sie als Anwältin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Philadelphia.

Gabriele Jaric, geboren und aufgewachsen im Rheinland, lebte nach ihrem Studium lange in den USA, Israel und in Frankreich, wo sie die Einzigartigkeit der französischen Atlantikküste kennen und lieben lernte. Heute arbeitet sie als freie Übersetzerin in Berlin, doch mindestens einmal im Jahr zieht es sie nach Frankreich, ans Meer.

Informationen zum Buch

Als wir fliegen lernten

Die junge Holländerin Isa hat alles verloren – ihre Familie, ihr Zuhause, ihr Kind. Dann sieht sie die Möglichkeit, ein anderes Baby vor dem sicheren Tod zu retten, und sucht Zuflucht bei einem Zirkus. Doch um unerkannt zu bleiben, muss sie mit der Artistin Astrid zusammenarbeiten – am Trapez. Diese hat selbst ein Geheimnis, das sie um jeden Preis wahren will. Widerwillig nähern sich die beiden Frauen bei dem gefährlichen Training an. Bis Isa sich in einen den Franzosen Luc verliebt und damit alles aufs Spiel setzt.

»Ein Buch, das ich in einem Zug durchlesen musste – die Freundschaft dieser beiden so grundverschiedenen Frauen während des Zweiten Weltkriegs hat mich nicht mehr losgelassen.« Kristina Baker Kline, Autorin von »Der Zug der Waisen«

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Pam Jenoff

Töchter der Lüfte

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić

Inhaltsübersicht

Über Pam Jenoff

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Anmerkung der Autorin

Dank

Impressum

Für meine Familie

Prolog

Paris

Jetzt wird man schon nach mir suchen.

Auf der Steintreppe des Petit Palais bleibe ich stehen und suche Halt am Geländer. Durch meine linke Hüfte fährt ein Schmerz, noch stechender als sonst. Die Fraktur aus dem vergangenen Jahr ist nicht richtig verheilt. Auf der anderen Seite der Avenue Winston Churchill, hinter der Glaskuppel des Grand Palais, hat sich der Himmel in der Abenddämmerung rauchblau gefärbt, durchsetzt von zarten rosenroten Streifen.

Am Seitenflügel des Petit Palais fällt über zwei Stockwerke und wuchtige Säulen hinweg ein rotes Banner mit der Aufschrift Deux cents ans de magie du cirque. Zweihundert Jahre der Magie des Zirkus. Tiger, Elefanten und ein Clown sind auf dem Banner zu sehen. Wie viel leuchtender ihre Farben in meiner Erinnerung sind.

Ich hätte jemandem sagen sollen, dass ich fortgehe. Doch dann hätte man versucht, mich aufzuhalten. Vor einigen Monaten habe ich in der New York Times von dieser Ausstellung gelesen und begonnen meine Flucht aus dem Pflegeheim zu planen. Als Erstes gab ich einer Pflegehilfe Geld und bat sie, ein Foto von mir zu machen. Das Foto war für meinen neuen Pass. Mein Flugticket nach Paris habe ich bar bezahlt und das Taxi zum Flughafen für die frühen Morgenstunden bestellt. Der Fahrer hat laut gehupt. Da hätte man mich beinahe erwischt, aber der Wachmann am Eingang schlief.

Ich sammele all meine Kraft und nehme die nächsten Treppenstufen, ein qualvoller Schritt nach dem anderen. In der Empfangshalle ist die Eröffnungsgala bereits in vollem Gang. Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid bilden Grüppchen, ziehen weiter, über ihnen das reich mit Stuck und Gemälden verzierte Deckengewölbe. Um mich herum schwirren Gesprächsfetzen auf Französisch. Sie sind wie ein längst vergessenes Parfum, das ich begierig einatme. Seit einem halben Jahrhundert habe ich die vertrauten Wörter nicht mehr gehört. Sickernd wie ein Rinnsal kehren sie zurück und bilden einen Fluss.

An dem Personal, bei dem man sich anmelden soll, laufe ich vorüber. Mit mir rechnet ohnehin niemand. Bedienstete mit Tabletts bieten Häppchen und Champagner an. Ich weiche ihnen aus, laufe über den Marmorfußboden, vorbei an Wandgemälden, bis zu der Ausstellung, die dem Zirkus gewidmet ist. Am Eingang sieht man eine kleinere Version des Außenbanners. Vielfach vergrößerte Fotos hängen an kaum sichtbaren Drähten von der Decke herab, hier ein Schwertschlucker, da auf den Hinterbeinen tanzende Pferde, dort wieder Clowns. Am unteren Rand der Fotos sind Schildchen angebracht, die Namen darauf werden wie ein Lied in meiner Erinnerung wach. Lorch, D’Augny, Neuhoff – große europäische Zirkusdynastien, die dem Krieg und der Zeit zum Opfer gefallen sind. Beim letzten Namen beginnen meine Augen zu brennen.

Dann kommt ein großes, verblasstes Wandplakat. Es zeigt eine Frau. Sie hält sich an Seidenseilen fest, ein Bein nach hinten gestreckt, inmitten einer Arabeske. Ihr Gesicht, ihr Körper wirken so jung, dass ich sie kaum wiedererkenne. Mir ist, als hörte ich Musik, schwach und klimpernd wie von einer Spieluhr, und ich spüre die Hitze der Scheinwerfer so intensiv, als würden sie mich verbrennen. Über der Ausstellung schwebt ein Trapez. Es sieht aus, als wäre es mitten im Flug. Selbst jetzt sehnen meine fast neunzig Jahre alten Beine sich noch danach hinaufzuklettern.

Mir fehlt jedoch die Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen. Für den Weg hierher habe ich länger gebraucht als gedacht, wie bei allem, was ich dieser Tage unternehme. Nicht eine Minute darf ich vergeuden. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und setze meinen Weg fort, vorbei an bunten, mit Pailletten besetzten Kostümen und glitzerndem Kopfschmuck, den Artefakten einer untergegangenen Kultur. Endlich erreiche ich den alten Schlafwagen. Die Seitenteile sind entfernt worden, um den Blick auf die schmalen Stockbetten darin freizugeben. Ich kann nicht fassen, wie kompakt das Ganze ist. Der Innenraum entspricht nicht einmal der Hälfte des Zimmers, das ich mir im Pflegeheim mit einer anderen Frau teile. Ich hatte alles viel größer in Erinnerung. Haben wir es darin tatsächlich monatelang ausgehalten? Ich berühre das morsche Holz des Bodens. Dieser Wagen war in der New York Times abgebildet, ich habe ihn sofort erkannt, aber nicht zu hoffen gewagt, dass ich ihn noch einmal in natura sehe.

Hinter mir werden Stimmen laut. Ich werfe einen Blick zurück. Der Galaempfang geht zu Ende, die ersten Teilnehmer nähern sich der Ausstellung. Gleich wird es zu spät sein. Noch einmal schaue ich nach hinten. Dann ducke ich mich unter der Absperrkordel hindurch. Versteck dich, rät mir eine innere Stimme. Es ist ein seit langem vergessener Impuls, der wieder erwacht. Doch statt mich zu verstecken, fahre ich mit der Hand unter den Waggon. Der Stauraum ist noch da, genau wie ich ihn in Erinnerung habe. Das Schubfach klemmt, aber wenn ich daraufdrücke … kann ich es aufziehen. Ich denke an die Aufregung, die ein junges Mädchen befällt, wenn es die Einladung zu einem geheimen Rendezvous ertastet.

Doch als ich in das Fach hineingreife, umschließt meine Hand nur kalte Dunkelheit. Das Fach ist leer. Mein Traum, hier eine Antwort zu finden, löst sich auf wie Nebel.

Kapitel 1

Isa

Ich höre ein Geräusch. Es klingt wie das Summen des Bienenschwarms, der meinen Vater einmal über den ganzen Bauernhof getrieben hat. Hinterher lief er eine Woche lang mit rot geschwollenen Händen herum.

Ich lege die Bürste nieder. Der Fußboden, den ich schrubben muss, war einst eine schöne glatte Marmorfläche, doch unter den harten Stiefelschritten ist sie gesprungen. Die Ritzen haben sich mit Schmutz und Asche gefüllt, die sich nicht mehr entfernen lassen. Ich lausche in die Richtung, aus der das Geräusch kommt, und stehe auf. Über mir verkündet ein Schild in fetten schwarzen Lettern Bahnhof Bensheim. Für einen Warteraum mit zwei Toiletten, einem Fahrkartenschalter und einer Wurstbude, die nur öffnet, wenn es Fleisch gibt, ist Bahnhof eine ziemlich hochtrabende Bezeichnung. Ich nehme eine Münze auf, die unter einer Wartebank liegt, und stecke sie in meine Schürzentasche. Ich kann nicht fassen, was die Leute alles vergessen oder fallen lassen.

Ich gehe hinaus und versuche, das Geräusch zu orten. In der kalten Luft des frühen Februarabends steigen aus meinem Mund kleine Atemwolken auf. Der Himmel ist eine Farbcollage aus Elfenbein und Grau, die noch mehr Schnee verheißt. Der Bahnhof liegt in einem Tal, auf drei Seiten umgeben von Hügeln mit dichtem Nadelwald. Von den schneebedeckten Bäumen stechen nur noch die Wipfel grün hervor. In der Luft hängt leichter Brandgeruch. Vor dem Krieg war Bensheim eine kleine unbedeutende Haltestation, die meisten Reisenden fuhren durch, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Doch wie es aussieht, können die Deutschen aus allem etwas machen. Die Abgeschiedenheit des Ortes eignet sich, um Güterzüge unauffällig abzustellen und nachts ohne großes Aufsehen Lokomotiven zu rangieren.

Ich bin seit fast vier Monaten hier. Im Herbst war es noch wärmer und nicht so schlimm wie jetzt. Seit der Zeit, als man mich hinausgeworfen und mir nur für zwei Tage etwas zu essen mit auf den Weg gegeben hat – für drei, wenn man haushalten konnte –, bin ich immer froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein Jahr zuvor, als mein Vater erfuhr, dass ich schwanger war, war er es, der mich davonjagte. Einige Tage später landete ich in Deutschland, in einem Heim für ledige Mütter. Aus Gründen der Diskretion war es weit abgelegen. Ich war der Ansicht, nach der Geburt meines Kindes hätte man mich wenigstens bis zur nächsten Stadt fahren können, aber auch da schickte man mich einfach fort. Ich machte mich auf den Weg zum Bahnhof, bis mir einfiel, dass ich nicht wusste, wohin ich fahren sollte. Mein Geld reichte genau für eine Fahrkarte nach Bensheim, nicht weiter. In den Monaten, die seitdem verstrichen sind, habe ich mehr als einmal daran gedacht, zu meinen Eltern zurückzukehren und sie um Verzeihung zu bitten. Dazu wäre ich nicht zu stolz. Ich würde auf die Knie sinken, wenn ich dächte, dass es etwas nützen würde. Doch an dem Tag, als ich gehen musste, sah ich die Verachtung im Blick meines Vaters und wusste, dass sein Herz sich verhärtet hatte. Und ich würde es nicht ertragen, erneut verstoßen zu werden.

Es war mein Glück, dass man im Bahnhof von Bensheim eine Putzfrau suchte. Ich werfe einen Blick in den Schalterraum. In einer Abstellkammer am hinteren Ende des Raums schlafe ich nachts auf einer dünnen Matratze. Ich trage noch immer das Umstandskleid, das ich an dem Tag anhatte, als ich das Heim für ledige Mütter verließ. Mittlerweile hängt es lose hinab. Aber so wie jetzt wird mein Leben nicht bleiben. Eines Tages werde ich ein richtiges Zuhause haben und eine bessere Anstellung finden – eine, bei der man mir mehr zahlt als ein angeschimmeltes Brot.

Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster des Bahnhofs. Ich falle nicht auf – blondes Haar, das in der Sommersonne ausbleicht, und hellblaue Augen. Es gab Zeiten, da hat es mich deprimiert, unscheinbar zu sein, doch jetzt betrachte ich es als Vorteil. Die beiden anderen Bahnangestellten, die Fahrkartenverkäuferin und der Wurstverkäufer, kommen und gehen. Mit mir wechseln sie kaum ein Wort. Die Fahrgäste durchqueren den Bahnhof mit dem Völkischen Beobachter unterm Arm, treten ihre Zigaretten auf dem Fußboden aus und wollen weder wissen, wer ich bin, noch woher ich komme. Das ist mir recht, auch wenn ich einsam bin. Aber ich mag keine Fragen über meine Vergangenheit beantworten.

Nein, die Leute bemerken mich nicht. Nur ich sehe sie: die Soldaten im Urlaub, die Mütter und Ehefrauen, die jeden Tag erscheinen und auf dem Bahnsteig auf einen Sohn oder einen Ehemann von der Front warten, bevor sie wieder allein nach Hause gehen. Diejenigen, die fliehen wollen, erkennt man auch immer. Sie versuchen, normal auszusehen, als führen sie in die Ferien. Doch ihre Kleidung sitzt zu eng über den vielen Schichten, die sie tragen, und ihre Reisetaschen sind so vollgestopft, dass sie jeden Augenblick aufplatzen können. Sie nehmen zu niemandem Blickkontakt auf, scheuchen nur ihre Kinder weiter, die Gesichter blass und angespannt.

Das Surren wird lauter, die Töne steigen in die Höhe, werden schrill. Das Geräusch kommt von dem Zug, der hier vor einer Weile mit kreischenden Bremsen gehalten hat und jetzt auf dem Abstellgleis steht. Ich gehe darauf zu, vorbei an den nahezu leeren Kohlekippen. Die Vorräte sind längst zur Versorgung der Truppen an die Ostfront geschafft worden. Vielleicht rührt es daher, weil jemand vergessen hat, eine Maschine im Zug auszuschalten. Ich möchte nicht, dass man mir später vorwirft, ich hätte mich nicht darum gekümmert, und ich Gefahr laufe, meine Stelle zu verlieren. Mein Leben ist hart, könnte aber schlimmer sein.

Von meinem Glück hat auch eine ältere Deutsche gesprochen. Das war nach meinem Rauswurf von zu Hause auf der Strecke nach Den Haag, auf einem der vielen Umwege, die der Bus über Straßen voller Bombenkrater fuhr. Sie gab mir ein Stück von ihrem Hering ab. »Du hast Glück«, sagte sie schmatzend, »du entsprichst dem arischen Ideal.«

Ich dachte, sie hätte einen Witz gemacht. Mein Haar war einfach nur blond, meine Nase ein Stummel. Ich war von kräftiger Statur und athletisch, bevor ich zunahm und üppig wurde. Bevor der Deutsche kam und mir verführerische Worte ins Ohr flüsterte, hatte ich mich für nichts Besonderes gehalten. Nun erfuhr ich, dass ich genau richtig war. Ehe ich mich versah, erzählte ich der Frau von meiner Schwangerschaft und dass man mir zu Hause die Tür gewiesen hatte. Sie riet mir, nach Wiesbaden zu fahren, schrieb eine Adresse auf und erklärte, dass ich dort dem Deutschen Reich ein Kind gebären konnte. Ich nahm den Zettel und fuhr nach Wiesbaden. Der Gedanke, mich zu weigern oder dass es gefährlich sein könnte, nach Deutschland zu reisen, kam mir nicht. Dort wünschte man sich offenbar Kinder wie meines, nur das zählte. Zwar wären meine Eltern lieber gestorben, als von Deutschen Hilfe anzunehmen, doch die Frau im Bus hatte gesagt, die Deutschen würden mir Schutz gewähren. So schlecht konnten sie also nicht sein. Und wohin hätte ich sonst auch gehen sollen?

Als ich an dem Heim für ledige Mütter ankam, hieß es wieder, dass ich Glück gehabt hätte. Zwar war ich Holländerin, galt jedoch als Mitglied der arischen Rasse. Mein Kind, das normalerweise als uneheliches Kind gebrandmarkt worden wäre, würde in einem Heim des Lebensborn zur Welt kommen und anschließend von guten deutschen Eltern großgezogen werden. In dem Heim verbrachte ich fast ein halbes Jahr. Ich las und half bei der Hausarbeit, bis mein Körper zu schwerfällig wurde. Das Haus des Lebensborn war nichts Besonderes, aber modern und sauber. Man sorgte dafür, dass dem Reich reinrassige Kinder geschenkt wurden, weiter nichts. Ich lernte eine junge Frau kennen, die einige Monate weiter war als ich. Eines Nachts wurde sie wach und war voller Blut. Sie wurde zur Krankenstation gebracht. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen, ich blieb für mich. Die meisten Frauen verließen das Heim bald nach der Niederkunft.

An einem kalten Oktobermorgen war es so weit. Ich stand vom Frühstückstisch auf, und meine Fruchtblase platzte. Die nächsten achtzehn Stunden nahm ich nur verschwommen wahr. Ich hatte wahnsinnige Schmerzen, aber nie berührte mich eine tröstende Hand. Dann und wann hörte ich einen Befehl, nie eine Ermutigung. Das Kind kam mit einem Klagelaut zur Welt und ließ mich mit einem hohlen Gefühl zurück. Ich sackte in mich zusammen, als hätte man eine Pumpe abgestellt. Ein seltsamer Ausdruck huschte über das Gesicht der Krankenschwester.

»Was ist?«, fragte ich. Die Vorschrift verbot mir, das Kind zu sehen. Mühsam richtete ich mich auf. »Stimmt etwas nicht?«

»Alles in Ordnung«, versicherte mir der Arzt. »Es ist ein gesundes Kind.« Er klang jedoch beunruhigt und schaute verstört auf den in weiße Tücher gehüllten Säugling. Ich beugte mich zu dem Kind vor. Zwei große dunkle Augen sahen mich an.

Das waren keine arischen Augen.

Deshalb war auch der Arzt so bestürzt. Das Kind entsprach nicht dem Bild der Herrenrasse. Irgendein verstecktes Gen in meiner Familie oder der des deutschen Soldaten hatte für dunkle Augen und einen bräunlichen Teint gesorgt. Das war kein Kind für den Lebensborn.

Das Baby begann zu schreien, hoch und schrill, als hätte es sein Schicksal erfasst und wollte aufbegehren. Trotz meiner Schmerzen streckte ich die Arme nach ihm aus. »Ich möchte ihn halten.«

Die Krankenschwester war dabei, ein Formular auszufüllen. Sie und der Arzt tauschten einen Blick. »Das geht nicht. Das gestattet der Lebensborn nicht.«

Es kostete mich große Kraft, aufrecht zu sitzen. »Ich nehme ihn und verschwinde.« Das sagte ich nur so dahin, ich wusste ja nicht, wohin ich hätte verschwinden sollen. Um im Heim aufgenommen zu werden, hatte ich bei meiner Ankunft zudem Formulare unterschrieben und offiziell auf mein Kind verzichtet. Im Krankenhaus gab es Wachen, und ich war noch zu geschwächt, um es ohne Hilfe verlassen zu können. »Bitte geben Sie ihn mir bloß eine Sekunde lang.«

»Nein.« Die Antwort klang fest und entschieden. Ich bettelte und flehte. Die Krankenschwester ging aus dem Zimmer.

Ich versuchte es noch einmal. Irgendetwas in meiner Stimme brachte den Arzt dazu nachzugeben. »Aber nur für einen Moment.« Widerstrebend überreichte er mir den Säugling. Ich betrachtete das gerötete Gesichtchen und atmete den köstlichen Duft seines Köpfchens ein, das nach den vielen Stunden, in denen das Kind um seine Geburt gerungen hatte, spitz zulief. Ich studierte die Augen. Sie waren wunderschön. Wie konnte etwas derart Perfektes gegen ein Ideal verstoßen?

Mein Kind! Eine Woge der Liebe stieg in mir auf. Ich hatte das Kind nicht gewollt, doch in diesem Augenblick bereute ich nichts mehr und wollte es nur noch behalten. Doch dann machte der Gedanke mir Angst – und gleich darauf durchströmte mich wieder ein tiefes Glücksgefühl. Die Deutschen würden das Kind nicht wollen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als es mitzunehmen. Dann wäre es mein, und ich würde einen Weg finden …

Die Krankenschwester kehrte zurück und riss mir das Baby aus den Armen.

»Nein, warten Sie.« Ich griff nach dem Kind, sah den Arzt an meiner Seite und spürte einen Stich im Arm. Gleich darauf wurde mir schwindlig. Jemand drückte mich in die Kissen zurück. Meine Umgebung verblasste, nur das Bild der dunklen Augen blieb.

Als ich in dem kalten sterilen Kreißsaal wieder zu mir kam, war ich allein, ohne Krankenschwester, ohne Arzt, ohne Kind. An meinem Bett saß weder ein Ehemann noch eine Mutter. Ich war ein leeres Gefäß, das von niemandem mehr gebraucht wurde. Später am Tag erzählte man mir, das Kind habe ein gutes Zuhause gefunden, aber woher sollte ich wissen, ob es die Wahrheit war.

Ich verjage die Erinnerung, doch meine Kehle ist so eng geworden, dass ich schlucken muss. Ich gehe weiter. Gott sei Dank ist die Schutzpolizei nirgends zu sehen, die sonst mit durchdringenden Blicken den Bahnhof kontrolliert. Wahrscheinlich sitzen sie in ihrem Kleinbus und trinken Schnaps, um sich aufzuwärmen. Ich habe das Abstellgleis erreicht, schaue an den Waggons entlang und spitze die Ohren. Das Geräusch kommt nicht von der Lokomotive, sondern aus dem Güterwaggon hinter der Lok. Es stammt auch nicht von einem Motor, wie ich jetzt verstehe, sondern hat etwas Menschliches.

Ich verharre. Normalerweise nähere ich mich den Zügen nicht und schaue fort, wenn sie durch den Bahnhof fahren, denn sie transportieren Juden.

Es war noch in Scheveningen, meinem Heimatort, als ich zum ersten Mal miterlebte, wie jüdische Männer, Frauen und Kinder auf dem Marktplatz zusammengetrieben wurden. Weinend lief ich zu meinem Vater. Mein Vater war ein Patriot, der sich für alles Mögliche einsetzte, warum also nicht für diese Menschen? »Es ist schrecklich«, murmelte er. Ich sah zu ihm hoch, auf den grauen Bart, der vom vielen Pfeiferauchen zu vergilben begonnen hatte. Mein Vater wischte meine Tränen ab und erklärte mir mit vagen Worten, es gebe Wege, Dinge zu regeln. Keiner dieser Wege konnte jedoch verhindern, dass meine Klassenkameradin Steffi Klein mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder zum Bahnhof marschieren musste – Steffi in dem schönen Kleid, das sie auf meinem Geburtstag getragen hatte.

Das Geräusch wird lauter, klagend wie ein verwundetes Tier. Ich werfe einen Blick über den leeren Bahnsteig und auf das Bahnhofsgebäude. Können die Schutzpolizisten das Geräusch hören? Unsicher betrachte ich den Waggon. Ich sollte kehrtmachen und weiterarbeiten. Nichts sehen und nichts hören, diese Devise haben wir uns in den Kriegsjahren zu eigen gemacht. Man steckt seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Wenn jemand entdeckt, dass ich hier herumschnüffele, verliere ich meine Stelle, habe keinen Platz mehr zum Wohnen – womöglich nimmt man mich sogar fest. Allerdings konnte ich noch nie gut wegschauen. Ich bin zu neugierig, das sagte meine Mutter schon, als ich noch ein Kind war. Immer musste ich alles wissen. Ich trete an den Waggon. Es klingt, als würden Kinder weinen. Wie soll ich da weghören?

Wie soll ich den winzigen Fuß ignorieren, der nun aus dem offenen Spalt der Waggontür ragt?

Ich ziehe die Tür auf – und stoße einen Schrei aus. Meine Stimme hallt gefährlich durch die Dunkelheit, hoffentlich hat mich niemand gehört. Vor mir liegen Kinder, Babys, unter ihnen nur eine dünne Schicht Stroh, winzige Körper, so viele, dass man sie nicht zählen kann. Dicht an dicht und übereinander liegen sie. Die meisten von ihnen regen sich nicht. Vielleicht schlafen sie, vielleicht sind sie tot. Einige jammern leise, andere blöken wie kleine Lämmer.

Der Gestank von Urin, Kot und Erbrochenem steigt mir in die Nase. Ich halte mich an der Waggontür fest und ringe nach Luft. Seitdem ich in Bensheim bin, habe ich versucht, das, was hier abläuft, nicht an mich heranzulassen. Ich tue, als wäre das alles ein schlechter Traum oder ein Film, etwas, das nicht real ist. Doch bei diesem Anblick kann ich das nicht mehr. So viele kleine Kinder, die man offenbar ihren Müttern entrissen hat! Mein Bauch, in dem einmal mein Kind war, beginnt zu schmerzen.

Schockstarr stehe ich da. Woher sind diese Babys gekommen? Lange können sie nicht unterwegs gewesen sein, sonst wären sie in der eisigen Kälte erfroren.

Seit Monaten sehe ich die Güterzüge, die nach Osten fahren, und weiß, sie transportieren weder Vieh noch Getreide, sondern Menschen. Trotz der merkwürdigen Art, in der diese Menschen reisen, habe ich mir eingeredet, dass sie in ein Lager oder ein Dorf gebracht werden, um sie an einem einzigen Ort zusammenzufassen. Wie das konkret aussehen sollte, war mir nicht klar. Ich stellte mir eine Wiese mit Blockhütten oder Zelten vor, dachte an den Zeltplatz südlich unserer kleinen Stadt in Holland, wo diejenigen Ferien machten, die sich nichts Besseres leisten konnten oder es gern urtümlich hatten. Ich sagte mir, dass die Menschen in den Zügen »umgesiedelt« würden, wie es immer hieß. Doch angesichts dieser toten oder sterbenden Säuglinge begriff ich das ganze Ausmaß dieser Lüge.

Ich schaue über meine Schulter nach hinten. Die Menschentransporte werden stets bewacht. Es ist aber niemand zu sehen. Warum auch, die Säuglinge können nicht aus eigener Kraft verschwinden.

Direkt vor mir liegt ein Kind mit grauer Haut und blauen Lippen. Ich wische den Raureif von seinen Augenlidern, vergebens, das Kind ist tot. Ich lasse meinen Blick über die anderen Säuglinge wandern. Die meisten sind nackt, andere bekleidet oder in eine kleine Decke eingeschlagen. Keines hat etwas Warmes an. In der Mitte ragen zwei Beinchen mit hellrosa Strickstiefelchen in die Luft, die einzigen Kleidungsstücke, die dieses Kind besitzt. Demnach gibt es irgendwo eine Frau, die sich so sehr auf seine Geburt gefreut hat, dass sie die kleinen Stiefel Masche für Masche gestrickt hat. Ein Schluchzer entringt sich meiner Brust.

Ein Köpfchen richtet sich auf, an dem herzförmigen Gesicht kleben Strohhalme und Kot. Das Kind wirkt weder krank noch unglücklich, sondern vielmehr verwundert, als wolle es sagen: »Was tue ich hier?« Etwas an ihm kommt mir bekannt vor. Es sind die dunklen Augen, die mich anschauen wie an dem Tag, als mein Kind geboren wurde. Mein Herz schwillt an vor Freude.

Doch dann verzieht sich sein Gesicht, und es beginnt zu schreien. Hastig beuge ich mich über die anderen Säuglinge hinweg, strecke die Arme aus, komme aber nicht dicht genug heran. Die Schreie werden lauter. Ich versuche, in den Waggon zu klettern, doch die Kinder liegen so eng zusammen, dass ich Angst habe, auf eines zu treten. Verzweifelt recke ich mich weiter vor, erreiche das weinende Kind und nehme es auf. Niemand darf es hören. Wie kalt der kleine Körper ist, der nur mit einer beschmutzten Windel bekleidet ist.

In meinen Armen beruhigt sich das Kind. Es ist der zweite Säugling in meinem Leben, den ich halte, und ich frage mich, ob dies tatsächlich mein Kind sein kann, das der Zufall oder das Schicksal mir zurückgebracht hat. Das Kind schließt die Augen, und sein Köpfchen sackt zur Seite. Ich weiß nicht, ob es einschläft oder stirbt. Ich drücke es an mich und beginne mich zu entfernen. Doch nach einigen Schritten mache ich kehrt. Unter den Säuglingen gibt es auch noch andere, die leben, und ich bin ihre einzige Rettung. Ich muss mehr als nur ein Kind mitnehmen.

Der Säugling in meinen Armen fängt wieder an zu schreien, schrille Laute, die den stillen Abend durchdringen. Ich lege ihm eine Hand auf den Mund und laufe in den Bahnhof.

Ich öffne die Tür zur Abstellkammer in der Hoffnung, dort etwas Warmes zu finden, aber ich habe nichts. Ich trage das Kind zur Damentoilette. Nach dem Gestank des Güterwaggons nehme ich die üblen Gerüche dort nicht mehr wahr. Am Waschbecken befeuchte ich einen Putzlappen und wische den Dreck von dem kleinen Gesicht. Der Körper fühlt sich schon etwas wärmer an, aber zwei Zehen sind blau gefroren. Woher kommt dieses Kind?

Ich öffne die verschmutzte Windel. Es ist ein Junge. Das war mein Kind auch. Beim näheren Hinsehen entdecke ich jedoch, dass sein winziger Penis anders aussieht als der des Deutschen, der mich geschwängert hat, anders auch als der des Jungen, der mir seinen gezeigt hat, als ich sieben Jahre alt war. Das Kind ist beschnitten worden. Steffi hat mir erklärt, was das bedeutet, als es bei ihrem kleinen Bruder gemacht wurde. Es ist ein jüdisches Kind und somit nicht das meine.

Ich weiche zurück. Das, was ich nicht wahrhaben wollte, steht mir nun allzu deutlich vor Augen. Ich putze zwölf Stunden am Tag. Was soll ich mit einem Kind anfangen, erst recht mit einem jüdischen? Wie habe ich mir das gedacht?

Der Junge dreht sich im Waschbecken. Ich packe ihn, bevor er über die Kante rollt. Mit Säuglingen kenne ich mich nicht aus. Ich nehme ihn auf und halte ihn von mir ab, als hätte ich Angst, er könnte beißen. Doch das Kind sucht meine Nähe und streckt die Arme nach mir aus. Unbeholfen mache ich aus einem zweiten Putzlappen eine Windel und trage das Baby hinaus. Ich muss es zurückbringen und tun, als wäre nichts vorgefallen.

Doch schon nach wenigen Schritten entdecke ich den Schutzpolizisten und bleibe wie erstarrt stehen. Er patrouilliert an den Gleisen entlang. Dass ich ungesehen an ihm vorbeikomme, ist ausgeschlossen. Panisch suche ich nach einem Ausweg. Mein Blick fällt auf den Milchwagen vor dem Bahnhof, die Ladefläche voller leerer Kannen. Ich schleiche zu dem Wagen, lege das Kind zwischen zwei Kanister und zwinge mich, nicht an das kalte Metall an dem kleinen Körper zu denken. Das Kind gibt keinen Ton von sich, sieht mich nur wehrlos an.

Die Fahrertür des Wagens schlägt zu. Ich kauere mich hinter eine Bank auf dem Bahnhofsvorplatz. Gleich wird der Wagen losfahren und mit ihm das Kind.

Niemand wird erfahren, was ich getan habe.

Kapitel 2

Astrid

Ich stehe an dem verkommenen Grundstück. In diesem Tal hatten wir einmal unser Winterquartier. Obwohl hier nie ein Kriegsschauplatz war, sieht das Grundstück wie ein Trümmerfeld aus – ramponierte Wohnwagen, überall Unrat. Der kalte Wind fährt durch die leeren Fensterrahmen der verlassenen Wagen. Zerfetzte Stoffvorhänge wehen auf. Die meisten Fensterscheiben sind herausgefallen, entweder im Lauf der Zeit, bei einer Prügelei oder weil man sie absichtlich eingeschlagen hat. Die Türen hängen in den Angeln und knarren im Wind. Alles ist verrottet. Wäre meine Familie noch hier, wäre all das undenkbar. In der Luft liegt Brandgeruch, als hätte man irgendwo ein Feuer gemacht. Aus der Ferne dringt das aufgeregte Krächzen einer Krähe.

Ich ziehe den Mantel enger um mich und schaue mich um. Sonst ist die Landschaft unverändert. So kannte ich sie schon als Mädchen. Unser Haus liegt am Rand des Tals, dahinter beginnt das Hügelland. Während der Regenstürme im Frühjahr kam es vor, dass Rinnsale der herabfließenden Wasserbäche bis in unseren Flur vordrangen. Der Garten, in dem meine Mutter immer im Frühling ihre Hortensien von alten Blüten befreite, ist verkümmert und plattgetrampelt. Ich sehe meine Brüder vor mir, wie sie vor dem Haus rangeln, bevor sie zum Training gescheucht und ausgeschimpft werden, weil sie ihre Kraft vergeuden, Verletzungen riskieren und bei Vorstellungen ausfallen könnten. Als Kinder schliefen wir im Sommer oft unter freiem Himmel, dicht aneinandergeschmiegt, über uns die Sterne.

Aus einem Fenster des Hauses hängt eine rote Fahne mit einem schwarzen Hakenkreuz. Demnach ist ein Fremder in unser Haus eingezogen, wahrscheinlich ein hochrangiger Offizier der SS, dem nun alles gehört, was einmal unser war. Meine Hände ballen sich unwillkürlich zu Fäusten. Es macht mich krank, wenn ich daran denke, dass so jemand unsere Bettwäsche und unser feines Geschirr benutzt, dass er auf dem schönen Sofa meiner Mutter sitzt und die dicken Teppiche mit seinen Stiefeln beschmutzt. Wobei ich diesen materiellen Dingen am wenigsten nachtrauere.

Mein Blick wandert über die Fenster. Vergeblich suche ich nach einem vertrauten Gesicht. Der letzte Brief, den ich nach Hause geschrieben habe, kam als unzustellbar zurück. Dennoch bin ich hierhergekommen. Auf dem Weg stellte ich mir vor, alles wäre wie immer, meine Familie wäre noch da. Und wenn nicht, dann wollte ich wenigstens in Erfahrung bringen, was aus ihnen geworden ist. Ich spüre den Wind, der um unser Haus fegt, und weiß, dass sie verschwunden sind.

Auch ich sollte nicht an diesem Ort sein. Ich kann es mir nicht leisten, hier herumzulungern und Gefahr zu laufen, von dem neuen Bewohner unseres Hauses entdeckt zu werden. Er darf nicht kommen und mich fragen, wer ich bin und was ich hier zu suchen habe. Ich schaue zu dem Anwesen auf der anderen Seite des Tals hinüber. Dort wohnen die Familienmitglieder des Zirkus Neuhoff im Winter. Das Haus ist ein klobiger Schieferkasten. Im Tal patrouilliert eine Wache.

Auf der Herfahrt habe ich im Bahnhof von Darmstadt ein Plakat des Zirkus Neuhaus entdeckt. Im ersten Moment verdross es mich. Unsere Familien – Weill und Neuhoff – waren Zirkusrivalen. Jahrelang versuchten die einen, die anderen auszustechen. Aber Zirkusleute sind eine Familie, so zerrüttet sie auch sein mag. Wie Geschwister in getrennten Zimmern waren die Zirkusse Weill und Neuhaus zusammen großgeworden. In der Saison konkurrierten wir, doch wenn sie vorbei war, gingen wir Kinder gemeinsam zur Schule und spielten nachmittags miteinander. Manchmal aßen wir zusammen, und im Winter rodelten wir hier die Hügel hinunter. Einmal, als Herr Neuhoff es so im Rücken hatte, dass er unmöglich als Zirkusdirektor auftreten konnte, sprang mein Bruder Jules für ihn ein.

Ich habe Herrn Neuhoff seit Jahren nicht mehr gesehen. Er ist kein Jude, sein Zirkus floriert, wohingegen unserer schließen musste. Hilfe kann ich von ihm nicht erwarten, aber vielleicht wird er mir sagen, wo ich meine Familie finden kann.

Bei ihm angekommen, öffnet mir ein Dienstmädchen, das ich nicht kenne, die Tür. »Guten Abend, ist Herr Neuhoff zu sprechen?«, frage ich. Es ist mir peinlich, unangekündigt zu erscheinen und wie ein Bettler auf der Schwelle zu stehen. »Mein Name ist Johanna Weill.« Das ist mein Mädchenname. Die Miene des Dienstmädchens verrät mir, dass es weiß, wer ich bin, entweder aus meiner Zirkuszeit, oder wir sind uns in einem anderen Zusammenhang irgendwo begegnet. Vielleicht stammt es aus der Gegend und hat das Getuschel der Leute über mich gehört.

Ein deutscher Offizier heiratet keine Jüdin.

Im Frühjahr 1934 war Erich zum ersten Mal in unserem Zirkus. Ich erblickte ihn durch den Spalt im Vorhang. Es ist nämlich ein Irrtum zu glauben, dass wir das Publikum aufgrund des Lichts in der Manege nicht sehen. Mir fiel seine Uniform auf und dass er allein saß, ohne Frau oder Kinder. Ich war kein dummes Ding, das sofort für einen Mann entflammt, sondern eine Frau von fast neunundzwanzig Jahren mit wenig Zeit für romantische Träume. Die Arbeit im Zirkus nahm mich voll in Anspruch, und für den Großteil des Jahres waren wir auf Tournee. Die Jahre, in denen man heiratete, waren an mir vorübergegangen. Erich war ein sehr gutaussehender Mann. Das Eckige seines Gesichts und das Grübchen in seinem kantigen Kiefer waren kleine Schönheitsfehler, wettgemacht von den strahlend blauen Augen. Zur nächsten Abendvorstellung erschien er wieder, und an meiner Garderobe wurde ein Strauß rote Rosen abgegeben.

Wir verliebten uns. Jedes Wochenende kam er aus Berlin in die Stadt, in der wir gerade gastierten. Wir trafen uns zwischen den Vorstellungen und am späten Abend.

Schon damals hätten wir wissen müssen, dass unsere Beziehung unter keinem guten Stern stand. Zu der Zeit war Hitler schon an der Macht, der Judenhass im Deutschen Reich unverkennbar. Doch das zählte nicht, ich sah nur die Leidenschaft und Hingabe in Erichs Augen. Als er mich bat, seine Frau zu werden, musste ich nicht lange überlegen. Wir taten, als stünde unserem Glück nichts im Weg.

Mein Vater nahm es hin, dass ich zu Erich nach Berlin ziehen wollte. Auch dass ich einen Nichtjuden heiraten würde, warf er mir nicht vor. Er lächelte nur bekümmert und sagte: »Ich hatte immer gehofft, dass du den Zirkus eines Tages übernimmst.« Ich erkannte den Schmerz in seinen dunklen Augen und wunderte mich, schließlich hatte ich drei ältere Brüder. Es waren sogar einmal vier gewesen, doch Isador war im Ersten Weltkrieg bei Verdun gefallen. Mein Vater hatte keinen Grund, mich für die Nachfolge vorzusehen. »Jules zieht es nach Frankreich, er will sich einem Zirkus in Nizza anschließen«, fuhr mein Vater fort. »Und die Zwillinge …« Er schüttelte den Kopf. Mathias und Markus waren Artisten voller Kraft und Eleganz. Sie vollführten Kunststücke, bei denen es dem Publikum den Atem verschlug. Doch ihre Begabung war eine rein körperliche. »Du hast Geschäftssinn, bist im Zirkus aufgewachsen und würdest eine phantastische Zirkusdirektorin abgeben – aber du sollst dich bei mir nicht gefangen fühlen.«

Ich hätte meine Meinung ändern und bei ihm bleiben können, aber meine Zukunft mit Erich lockte mich, ebenso das Leben, von dem ich dachte, dass ich es mir von jeher gewünscht hatte. Ich zog nach Berlin, und mein Vater gab mir seinen Segen.

Wäre ich mit Erich öfter zu Besuch gekommen, wäre meine Familie vielleicht noch hier.

Das Dienstmädchen führt mich in ein Wohnzimmer, das von verblichener Eleganz zeugt. Die Teppiche sind abgetreten, und in der Glasvitrine mit den Silbersachen scheint einiges zu fehlen, als wären die größeren Stücke entfernt oder verkauft worden. Es riecht nach abgestandenem Zigarrenrauch und Möbelpolitur. Ich schaue aus dem Fenster und versuche, unser Haus durch den aufsteigenden Abendnebel zu erkennen. Wenn ich nur wüsste, wer dort wohnt und was sich derjenige denkt, wenn er auf das verödete Gelände schaut.

Nach meiner Hochzeit, einer kleinen standesamtlichen Feier in Berlin, zog ich in die große Wohnung, die Erich am Tiergarten besaß. Tagsüber streifte ich durch Berliner Geschäfte und suchte farbenfrohe Gemälde, Teppiche und bunte Kissen aus, um die spartanisch eingerichteten Räume zu beleben und zu einem Heim zu machen. Es war eine unbeschwerte Zeit. Die größte Sorge in unserem Leben war die Frage, in welchem Café wir sonntagnachmittags Kaffee trinken sollten.

Dann brach der Krieg aus. Erich wurde befördert. Es hatte etwas mit neu entwickelter Munition zu tun, ich verstand es nicht richtig. Danach war er gezwungen, länger als sonst zu arbeiten. Wenn er nach Hause kam, war er entweder übellaunig oder aufgekratzt. Die Gründe durfte er mir nicht verraten. »Nach unserem Sieg wird alles anders«, sagte er. Ich wollte nicht, dass alles anders wurde, mir gefiel das Leben, das wir führten. Warum war es denn falsch, alles zu lassen, wie es war?

Wie sich herausstellte, wurde alles schlechter. Im Radio und in den Zeitungen wurden die Juden verleumdet. In die Schaufenster jüdischer Ladenbesitzer wurden Steine geworfen, die Türen beschmiert.

»Was wird aus meiner Familie?«, fragte ich Erich beunruhigt eines Sonntagmorgens beim Frühstück. Am Vortag hatte ich das eingeworfene Schaufenster einer koscheren Metzgerei gesehen. Ich selbst hielt mich für sicher, ich war die Ehefrau eines deutschen Offiziers, aber was war mit meiner Familie?

»Ihnen wird nichts geschehen«, versprach Erich und massierte meine verspannten Schultern.

»Wieso denn nicht?«, fragte ich aufgebracht. »Warum soll es in Darmstadt besser sein als hier?«

Erich nahm mich in die Arme. »Es hat vereinzelte Akte des Vandalismus gegeben. Nur Theater, weiter nichts. Schau dich doch um. Es ist alles in Ordnung.«

In unserer Wohnung war der Frühstückstisch gedeckt. Es duftete nach Kaffee, auf dem Tisch standen Blumen und ein Krug mit frisch gepresstem Orangensaft. Es war schwer, sich vorzustellen, dass es anderen Menschen weniger gut gehen sollte. Ich legte meinen Kopf an Erichs breite Schulter und atmete seinen vertrauten Geruch ein.

»Den Zirkus Weill kennt man auf der ganzen Welt«, sagte er. »Ihm kann nichts passieren.«

Ersteres traf zu. Unser Zirkus war von Generation zu Generation gewachsen. Begonnen hatte es mit meinem Urgroßvater in Preußen, der als Kunstreiter aufgetreten war. Es hieß, dass er vorher an der Hofreitschule in Wien gewesen war. Nach und nach erweiterte er sein Repertoire und engagierte andere Künstler, bis zuletzt ein Zirkus entstand, eine sehr eigenwillige Form eines Familienunternehmens, das größer und größer wurde.

»Als wir uns kennengelernt haben, bin ich gekommen, um den weltberühmten Zirkus Weill zu sehen – und dann habe ich dich entdeckt.« Erich zog mich auf seinen Schoß.

Normalerweise konnte ich von der Geschichte, wie wir uns kennengelernt hatten, nicht genug bekommen, doch im Moment war ich zu beunruhigt, um sie mir anzuhören. »Ich muss mich vergewissern, dass es ihnen tatsächlich gutgeht.«

»Du weißt doch gar nicht, wo der Zirkus zurzeit gastiert«, sagte Erich mit einem ersten Anflug von Ungeduld. Er hatte recht. Es war Hochsommer, der Zirkus konnte überall in Deutschland sein, sogar im Ausland. »Und wie willst du ihnen denn helfen? Ich bin sicher, dein Vater möchte, dass du hierbleibst. Bei mir und in Sicherheit.« Er küsste meinen Hals.

Wahrscheinlich war es so, wie er sagte, dachte ich und ließ mich von seinen Zärtlichkeiten einlullen. Doch mein Unbehagen blieb. Eines Tages kam der Brief.

Liebe Johanna! Wir haben den Zirkus aufgelöst.

Der Ton meines Vaters war sachlich. Er bat mich nicht um Hilfe. Aber wie verzweifelt er gewesen sein musste, bevor er sich entschloss, ein Unternehmen aufzugeben, das seit einem Jahrhundert im Besitz unserer Familie war. Er erwähnte weder, wie es weitergehen, noch dass er und meine Brüder sich woanders niederlassen würden. Das wunderte mich.

Ich antwortete sofort, wollte erfahren, wie seine Pläne aussahen und ob er Geld brauche. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich meine Familie nach Berlin geholt und in unserer Wohnung untergebracht. Andererseits war die Gefahr in Berlin für sie vielleicht sogar am größten. Die Überlegungen hätte ich mir sparen können, mein Brief kam ungeöffnet zurück. Das war vor sechs Monaten. Seitdem habe ich nichts von meinem Vater und meinen Brüdern gehört. Wo waren sie, und was war aus ihnen geworden?

»Johanna!«, ruft Neuhoff beim Betreten des Wohnzimmers. Nichts in seiner Miene verrät, ob mein Besuch ihm angenehm ist. Er ist jünger als mein Vater. Früher hatte er dunkles Haar und einen Schnurrbart. Als Kind fand ich ihn gutaussehend und schneidig. Doch in den vergangenen Jahren ist er sichtlich gealtert und hat einen Bauch bekommen. Von dem dunklen vollen Haar ist nur noch ein grauer Kranz geblieben. Ich gehe auf ihn zu, doch dann entdecke ich an seinem Revers ein kleines Hakenkreuz und erstarre. Ich habe einen Fehler gemacht, schießt es mir durch den Kopf. Ich hätte niemals herkommen dürfen.

»Ich trage es nur zum Schein«, erklärt Neuhoff hastig.

»Natürlich.« Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll, vielleicht sollte ich wieder verschwinden. Doch er scheint sich über meinen Besuch zu freuen. Also gehe ich das Risiko ein und bleibe.

Er bietet mir einen Sessel an. Ich lasse mich auf der Kante nieder. Neuhoff fragt, ob ich einen Cognac möchte.

Nach kurzem Zögern willige ich ein. Er läutet eine Glocke. Das Dienstmädchen von vorhin kommt mit einem Tablett herein. Ich weiß nicht mehr, wie viele Dienstboten hier früher waren, doch jetzt gibt es anscheinend nur noch diese junge Frau. Demnach hat der Krieg auch vor der Familie Neuhoff nicht haltgemacht. Neuhoff reicht mir ein Glas Cognac. Ich nippe nur daran. Wenn ich nachher entscheide, an wen ich mich als Nächsten wende, brauche ich einen klaren Kopf.

»Bist du gerade erst aus Berlin gekommen?« Neuhoff klingt höflich, aber womöglich fragt er sich, was ich hier überhaupt noch zu suchen habe.

»Ja. Mein Vater hat mir geschrieben, dass er den Zirkus aufgelöst hat.« Neuhoff zieht die Brauen hoch, als wolle er sagen: Das hat dein Vater vor Monaten getan, warum kommst du jetzt erst?

»Der letzte Brief, den ich ihm geschickt habe, kam mit dem Vermerk unzustellbar zurück. Ich dachte, Sie wüssten vielleicht etwas.«

»Tut mir leid, ich weiß nichts«, antwortet Neuhoff bekümmert. »Zum Schluss waren nur noch wenige Mitglieder eures Zirkus da. Die Arbeiter waren schon alle fort.«

Das dachte ich mir schon. Es ist illegal, für Juden zu arbeiten. Dabei hatte mein Vater alle im Zirkus, auch die einfachen Arbeiter, wie Familienmitglieder behandelt. Wenn sie krank waren, ließ er einen Arzt holen, wenn wir eine Familienfeier, wie die Bar-Mizwas meiner Brüder, hatten, lud er sie zu uns ein. Auch Darmstadt war in den Genuss seiner Großzügigkeit gekommen. In Krankenhäusern hatte er unsere Artisten kostenlos auftreten lassen, städtische Einrichtungen hatte er mit Spenden unterstützt. Er hatte so viel getan, damit wir als Juden akzeptiert wurden, dass wir vergessen hatten, wie weit wir immer davon entfernt blieben.

»Als wir von der Tournee kamen, habe ich nach deiner Familie gesucht«, fährt Neuhoff fort. »Aber das Haus war leer. Sie waren fort. Ob sie aus freien Stücken gegangen sind oder etwas vorgefallen ist, kann ich dir nicht sagen.« Er steht auf, tritt an den Mahagonischreibtisch in der Ecke und zieht eine Schublade auf. »Ich habe nur das noch gefunden.« Er zeigt mir einen Kidduschbecher.

Beim Anblick des Silberbechers mit der hebräischen Inschrift springe ich auf. Es ist der Weinbecher, über den mein Vater den Segen gesprochen hat.

»Der hat euch gehört, oder?«

Ich nicke und nehme den Becher an mich. Woher hat er ihn? Was ist aus der Menora geworden, dem siebenarmigen Leuchter, was aus den anderen religiösen Gegenständen in unserem Haus? Wahrscheinlich haben die Deutschen alles mitgenommen oder in eine Abfalltonne geworfen. Mit dem Zeigefinger fahre ich über den Rand des Bechers, aus dem wir getrunken haben. Wenn wir unterwegs waren, versammelten wir Kinder uns im Wohnwagen unserer Eltern, zündeten Kerzen an und teilten ein Stück Brot und den Rotwein, der gerade zur Hand war. Wichtig war nur, dass wir einige Minuten für uns hatten. Ich sehe die Szene vor mir, wie wir dichtgedrängt an einem kleinen Tisch sitzen und der Schein der Kerzen auf die Gesichter meiner Brüder fällt. Wir waren nicht übermäßig religiös, schließlich mussten wir auch samstags, an unserem Sabbat, auftreten, und koscher konnten wir unterwegs auch nicht leben. Deshalb hielten wir uns an kleine Dinge und trafen uns einmal in der Woche zum Gebet. Das hatte ich vermisst. Ganz gleich, wie glücklich ich mit Erich und dem unbekümmerten Berliner Leben gewesen war, manchmal hatte ich mich nach diesen stillen Augenblicken der inneren Einkehr gesehnt.

Ich lasse mich auf den Sessel sinken. »Ich hätte nicht so lange wegbleiben dürfen.«

»Die Deutschen hätten euren Zirkus so oder so geschlossen«, sagt Neuhoff.

Ja, aber wäre ich öfter hier gewesen, hätten die Deutschen uns vielleicht nicht aus unserem Haus vertrieben. Vor der Ehefrau eines deutschen Offiziers hätten sie es womöglich nicht gewagt. Sie hätten meine Familie weder festgenommen noch fortgeschafft. Doch nun ist es zu spät.

Neuhoff beginnt zu husten, und sein Gesicht rötet sich. Vielleicht ist er krank.

Als der Hustenanfall vorüber ist, sagt er: »Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für dich tun kann. Fährst du zurück nach Berlin?«

Ich winde mich unbehaglich. »Nein.«

Vor drei Tagen kehrte Erich früher als sonst aus seinem Büro zurück. Ich umarmte ihn freudig und sagte: »Wie schön, dass du da bist. Das Essen ist noch nicht fertig, aber wir können schon einen Schluck trinken.« Seit einer Ewigkeit hatten wir abends nicht mehr gemütlich zusammengesessen. Erich hatte ständig an offiziellen Abendessen teilgenommen oder abends in seinem Arbeitszimmer über Dokumenten gebrütet.

Erich versteifte sich, seine Arme hingen herab. »Johanna«, sagte er – nicht »Anna«, wie er mich sonst nannte –, »wir müssen uns scheiden lassen.«

Ich starrte ihn an. »Du willst die Scheidung?« Ich wusste nicht, ob ich dieses Wort schon jemals laut ausgesprochen hatte. In Filmen oder Romanen ließ man sich scheiden, ich selbst kannte niemanden, der so etwas getan hatte. In meiner Welt galt die Ehe bis zum Tod. »Wegen einer anderen Frau?« Ich war mir sicher, dass unsere Liebe nicht nachgelassen hatte, aber vielleicht hatte ich mir das nur eingebildet.

»Einer Frau?« Für einen Moment sah Erich mich verdutzt an. »Natürlich nicht.« An seinen Worten und seinem Blick erkannte ich, dass er mich noch liebte. Aber warum hatte er dann von Scheidung gesprochen? »Die Reichsregierung hat die Scheidung für alle Offiziere angeordnet, die mit jüdischen Frauen verheiratet sind.« Ich überlegte, wie viele das sein mochten. Wahrscheinlich waren es nur wenige. Erich zog ein Dokument hervor und reichte es mir. Es roch ganz leicht nach seinem Duftwasser. Ich begann zu lesen. Ein Platz für meine Unterschrift war nicht vorgesehen. Die Sache war erledigt, ob ich damit einverstanden war oder nicht. »Es ist ein Befehl des Führers«, sagte Erich so nüchtern, als würde er mir etwas aus seinem Dienstalltag erzählen. »Wir haben keine andere Wahl.«