Über das Buch

Seit den sechziger Jahren arbeiteten sie zusammen, der Erzähler und sein Kollege Karl Dijk. Eichbeamte sind sie gewesen; sie justierten Gaszähler, Fieberthermometer und die Waagen der Einzelhändler. Über Maße und Gewichte wachten sie, Präzision und Pflichterfüllung waren oberstes Gebot, selbst wenn sie dadurch bisweilen ein menschliches Drama auslösten. Bis die elektronischen Waagen Einzug hielten und der Supermarkt mit den abgepackten Waren an die Stelle des Tante-Emma-Ladens trat. Die Reichsbehörde wurde privatisiert. Absolute Maßstäbe gerieten ins Wanken: »Es hätte ein Fiebertraum sein können, aber es war Realität. Der Meter war zu kurz, das Kilo schwand.« Nur einer versuchte, dem Wandel bis zuletzt Widerstand zu leisten: der Kollege Karl. Sein Privatleben ist für den Erzähler, der die Abschiedsrede schreibt, immer ein Geheimnis geblieben. Wie konnte es geschehen, dass dieser hyperkorrekte Kollege vor seiner eigenen Verabschiedung spurlos verschwand? Wie gehen wir damit um, wenn die Zeiten sich ändern – wo bleiben wir uns treu, wo passen wir uns an?

H. M. van den Brink

Ein Leben nach Maß

Roman

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Carl Hanser Verlag

Time is the longest distance between two places.

Tennessee Williams: The Glass Menagerie

1

Der Traum kehrte Nacht für Nacht wieder, und auf den ersten Blick war nichts an ihm merkwürdig.

Es regnet. Ich gehe eine Straße am Rand einer dunklen Gracht entlang. Die Gracht wird hier und da von Laternen beleuchtet, die in gleichmäßigem Abstand zueinander stehen.

Vor mir geht ein Mann. Jedes Mal, wenn die Gestalt in einen Lichtkreis tritt, sehe ich sie für einen Moment etwas besser. Die hochgezogenen Schultern. Der dunkle Mantel. Das weiße Gesicht im Schleier aus Licht und Regen. Er geht zwei Laternen vor mir, unbeirrbar.

Ich kenne diesen Mann.

Ich kenne auch die Gracht.

Aber dann.

Wenn ich meine Schritte beschleunige, um ihn einzuholen, bleibt der Abstand zwischen uns trotzdem gleich groß. Ich sehe, wie er stetig von Lichtkreis zu Lichtkreis geht und dass sich an diesem Abstand nichts ändert, sosehr ich mich auch bemühe.

Zwei Laternen, Regen, Dunkelheit. Und auch die Gracht nimmt einfach kein Ende.

So bleibt es, bis ich aufwache, mit dem Gefühl, noch lange nicht ausgeruht zu sein. Aber auch mit einem Gefühl des Unmuts über mich selbst und mein Unvermögen, dem Ganzen ein Ende zu machen.

Denn was soll dieses Theater, diese Geheimniskrämerei? Ich bin jetzt sechsundsechzig Jahre alt und habe immer gut geschlafen. Traumlos, solange ich mich erinnern kann.

Ansonsten habe ich, glaube ich, nicht mehr Phantasie als andere Menschen.

Und auf Besuch aus meinem Unterbewusstsein, was immer das sein mag, lege ich schon gar keinen Wert.

Ich habe nicht gezählt, wie oft der Traum wiedergekehrt ist, und kann auch nicht sagen, dass er mich belastet hat. Aber ich ertappte mich doch bei dem Wunsch, die Naturgesetze möchten endlich so funktionieren, wie es sich gehört, sodass ich mit meinen beschleunigten Schritten den Schemen irgendwann erreichen und ihm auf die Schulter klopfen könnte.

»Dijk!«, würde ich sagen.

Und sobald er sich umgedreht hätte: »Karl, hör auf damit.«

Dann würde es aufhören, denke ich.

Mir war durchaus bewusst, wie unsinnig mein Wunsch war, der offenbar davon ausging, dass mein ehemaliger Kollege Karl Dijk in dieser merkwürdigen Szene nicht nur agierte, sondern auch Regie führte. Obwohl ich vermute, dass das in Träumen doch ganz anders läuft. Träume erschafft man selbst oder etwas in einem erschafft sie, und die Außenwelt steuert lediglich die Kulissen und die Statisten bei.

Es war nicht so, dass ich mich meines Traumes schämte. Er beunruhigte mich auch nicht. Ich verspürte nur, wie gesagt, dieses leichte Gefühl der Verärgerung. Und trotzdem erzählte ich meiner Frau nichts davon, was sich nachts in unserem Bett abspielte, direkt neben ihrem großen, warmen Körper in dem dünnen Nachthemd mit den Schleifen. Dem weichen Körper, der einfach ruhig weiteratmete, während ihr Ehemann nach über fünfundvierzig gemeinsamen Jahren zusammen mit diesem seltsamen Dijk ziel- und grundlos im Regen eine Uferstraße entlangging.

Sorgen mache ich mir erst seit heute Abend.

1.1

Kann man einen Traum in einem Traum haben? Und weiß man dann, was Traum 1 ist und was Traum 2 und wo der eine endet und der andere beginnt?

Das Problem, das sich heute Abend ergab, bestand darin, dass die plötzliche Wendung, die meine Geschichte nahm, so wirklichkeitsnah vonstattenging, inklusive nasser Kleidungsstücke und der naturgetreuen Kulisse unseres Wohnzimmers, dass ich keinen Hinweis auf den Zustand entdecken konnte, in dem ich mich befand. War es Wachen, war es Schlafen, war es Träumen …

Immerhin verfügte ich noch über den Reflex, den das jahrelange Arbeiten in einem großen Büro mich gelehrt hat: dass man ein Problem parken, in einen neutralen Zustand versetzen kann, während man auf eine neue Erkenntnis wartet oder auf den Moment, da es von selbst verschwindet. Einfach keine Meinung zu haben und keine Schlussfolgerungen zu ziehen mag nicht besonders befriedigend erscheinen, funktioniert aber manchmal am besten.

Wollen wir also sagen, dass es tatsächlich Nacht war und November, dass es tüchtig regnete und dass die Turmuhr der St.-Vituskirche elfmal schlug, sodass ich wusste, es musste exakt 1 Minute und 3 Sekunden nach elf sein. Die Schläge schallten über die nassen Dächer des stillen Vororts, in dem ich nun schon so lange wohne, dass ich noch weiß, die Kirche hatte dort einmal tatsächlich eine gewisse Bedeutung.

Das Uhrwerk funktioniert schon seit Jahren nicht mehr so, wie es sollte, aber daran nimmt niemand Anstoß. Weder die Gemeindeverwaltung noch der Kirchenvorstand und nicht einmal der diensttuende Pfarrer, der sonntags vor immer weniger Gläubigen am Altar genau unter diesem Glockenturm seine Predigt herunterleiert.

Das schwindende Interesse an Weihrauch und frommen Sprüchen kümmert mich nicht. Das mangelnde Interesse am Uhrwerk dafür umso mehr. Man achte einmal darauf: Überall in der Stadt gehen die Uhren jetzt anders, nicht nur an den Kirchtürmen, sondern auch an Ladenfronten, Straßenbahnhaltestellen, in öffentlichen Gebäuden. Wenn die Winterzeit auf Sommerzeit umgestellt wird und umgekehrt, zeigen die Uhren der Stadt an belebten Straßen und Plätzen noch monatelang mit ihren dicken schwarzen Zeigern auf großer weißer Fläche nachdrücklich die falsche Zeit an. Niemand, der die Verantwortung dafür übernimmt. Es scheint geradezu so, als gehörte die Zeit nicht mehr allen gemeinsam, sondern wäre inzwischen privatisiert, etwas, was man in eine Tasche steckt oder in einer Innentasche am Körper trägt. Als unterhielte jeder eine persönliche Beziehung zu der Atomuhr im Netz seines Mobiltelefons.

Ich bin ein umgänglicher Mensch, meist schiebe ich die Dinge mühelos von mir. Doch die Schläge der Kirchturmuhr drängen sich einem mit ihrem sonoren Schall nun einmal auf, und daran gewöhnt man sich nicht, gewöhne ich mich nicht. Je öfter die Uhr schlägt, umso größer wird zudem die Ungenauigkeit; denn auch die Schläge selbst nehmen Zeit in Beschlag. Am späten Vormittag und am späten Abend ärgere ich mich folglich am meisten.

In mittelalterlichen Städten hatte immer ein Turm das Sagen, der höchste Turm, der des Doms oder der Kathedrale. Einfach deshalb, weil man ihm die größte Autorität zusprach – genauso wie der Handfläche, dem Fuß, dem Daumen und der Elle des Königs, wenn etwas gemessen wurde.

Ich schweife ab. Ich weiß. Alle diese Gedanken können nicht mehr Zeit in Anspruch genommen haben als den Bruchteil einer Sekunde. In dem Moment geschah nämlich etwas ganz anderes. Und darum geht es jetzt.

Ich saß in meinem Sessel, die Uhr schlug ihre zum Himmel schreienden Schläge, ich blickte von meiner Zeitung auf, sah jemanden mitten im Zimmer stehen und erkannte sofort, wer es war.

Es hatte nicht geklingelt. Keine Tür hatte sich geöffnet. Trotzdem stand er da.

Dijk. Ich blickte ihm jetzt genau ins Gesicht. Noch immer dieses verdrießliche Pferdemaul.

Dijk. Mit seinem fahlen Regenmantel, dessen Rücken und Schultern nass und dunkel vom Regen waren.

Dijk. Der Mann, der zu seiner eigenen Verabschiedung nicht erschienen war.

Er war es, ohne jeden Zweifel und bis in die kleinsten Details genau: mein ältester Kollege, Karl Dijk.

Um seine großen Füße tropfte Wasser auf den Teppich, Füße, die wie früher in Schuhen von unbestimmter Farbe steckten, einer Farbe, die man vielleicht als »dunkelbeige« oder »leberfarben« bezeichnen könnte, jedenfalls ein Ton aus dem Spektrum zwischen Braun und Grau. Die Schuhe hatten dicke Gummisohlen.

Er stand da und sagte nichts. Das war an sich nicht ungewöhnlich.

Wenn Dijk nicht gerade eines seiner leidenschaftlichen Plädoyers hielt, konnte er stundenlang schweigen, auch wenn er einem direkt gegenübersaß. Dijk sprach nicht aus Höflichkeit. Wenn er meinte, nichts Interessantes zu sagen zu haben, blickte er einfach durch einen hindurch, mit den Gedanken eindeutig woanders.

So war es auch jetzt, es schien, als habe er den Blick auf etwas weit jenseits der Tapete, des Kalks und der Steine gerichtet, aus denen die Zimmerwände bestanden.

Ich blinzelte. Es änderte sich nichts. Nur der Gaskamin rauschte lauter, flackerte kurz auf und warf eine warme Glut über Tische und Stühle und die Anrichte, auf der in polierten vergoldeten und verchromten Rahmen unsere Familienfotos prangen. Die Schatten wurden länger und schrumpften dann wieder auf ihre ursprüngliche Größe. Mit heftigem Fauchen kam das Gas wieder zur Ruhe.

Währenddessen blieb Dijk tropfend und schweigend mitten im Raum stehen. Seine klobigen Schuhe fest verankert im Muster des Perserteppichs, die nassen Haare von der knochigen Stirn straff nach hinten über den Schädel gekämmt. In der Hand hielt er eine Aktentasche, die ich wiedererkannte.

Hatte er Butterbrote mitgebracht, in einer Dose mit einem Gummiband darum herum? Das schoss mir kurz durch den Kopf. Dann kamen die anderen Fragen.

Wie war Dijk hereingekommen? Was war der Zweck seines Besuchs? Wo hatte er all die Jahre gesteckt? Warum murmelte er nicht einmal den Ansatz zu einer Entschuldigung oder, besser noch: eine Erklärung für seine ungeladene Anwesenheit?

Und warum gelang es mir trotz so vieler Fragen genauso wenig, ein Wort hervorzubringen?

Moment mal … Spielte da, während er mich noch immer nicht direkt ansah, ein leises Lächeln um seine Lippen?

Ich spürte, wie der Ärger in mir zunahm. Ausgehend von meinen verkrampften Fingern und angespannten Schultern verbreitete sich dieses Gefühl kribbelnd durch den ganzen Körper, bis in meine Zehen und Kiefer.

Ich hätte die Stille auf verschiedenerlei Weise durchbrechen können. Mit einer lakonischen Bemerkung zu erkennen geben, dass mich sein merkwürdiger Auftritt unbeeindruckt ließ. Etwas im Stil von »lange nicht gesehen« oder »je später der Abend«.

Aber musste ich es denn normal finden, was Dijk hier tat? Obgleich wir uns schon so viele Jahre als Kollegen kannten, war er durch die Art und Weise, wie er hier erschien, auch zu einem ganz gewöhnlichen Eindringling geworden. Einem Ruhestörer. Zu jemandem, der nicht nur die Gesetze der Natur, sondern auch die des Anstands mit seinen Specksohlen trat.

Was Dijk sich hier erlaubte, war erstens nicht möglich und zweitens: So etwas machte man nicht.

1.2

Ich schluckte, schloss die Augen, öffnete sie und schloss sie wieder.

Die Kirchturmuhr schlug einmal. Es war inzwischen halb zwölf. Ungefähr.

Hatte ich eine volle halbe Stunde in meinem Sessel gesessen und nur auf ein vages Lächeln gestarrt?

Im Raum herrschte wieder Stille, nachdem der Glockenschlag verklungen war. Auch der Gaskamin rauschte nicht mehr. Alle Gegenstände standen an ihrem Platz, regungslos. Wo Dijk gestanden hatte, befand sich nichts als Luft. Eine dämmrige Leere.

Ich erhob mich und kniete nieder, um die Abdrücke seiner Schuhe auf dem Teppich zu suchen. Ich strich über die lockere Wolle, spürte aber keine Feuchtigkeit. Hatten die dicken Teppichknoten die Tropfen zerplatzen lassen und dann im Verlauf von dreißig Minuten aufgesogen? Stieß Wolle Wasser denn nicht ab? Hätte ich bei Tageslicht mehr gesehen? Oder wäre er dann gar nicht hier gewesen?

Um etwas Vernünftiges über irgendein Phänomen sagen zu können, muss der Beobachter eine stabile Position einnehmen. Während ich wieder in meinen Sessel sank, dachte ich daran, dass meine Stabilität in der letzten Zeit möglicherweise zu wünschen übriggelassen hatte.

Zunächst einmal war da natürlich der wiederkehrende Traum gewesen, der mir nun schon seit Tagen ein Gefühl des Unausgeschlafenseins bescherte.

Überdies hatte ich eine tüchtige Erkältung gehabt, die mit leichtem Fieber einhergegangen war – wie hoch, wusste ich nicht, ich hatte das Thermometer nicht zu Rate gezogen, konnte aber nicht ausschließen, dass das Urteil »leicht« durch das Fieber selbst beeinflusst war.

Zu guter Letzt hatte ich mir einen Tag zuvor, als ich in unserer Vorratskammer nach einem kleinen Stück Packpapier suchte, beim Wiederaufrichten den Kopf an einem Schrankfach gestoßen. Und zwar ziemlich fest. Ein solcher Stoß könnte durchaus nachträgliche Phantasien zur Folge haben. Könnte eine Verschiebung der Schichten und Knoten, der Verknüpfungen in meinem Gehirn bewirken, die auch die Wahrnehmung beeinträchtigte.

Ich suchte nach Erklärungen. Doch was ich fand, überzeugte mich nicht. Und ja, ich begann mir jetzt doch Sorgen zu machen. Zunächst über mich selbst und dann auch über ihn. Über seine Erscheinung, besser gesagt. Denn ob er hier nun gewesen war oder nicht, dass ich ihn gesehen hatte, stand auf irgendeine Weise außer Frage.

Ich schloss erneut die Augen und versuchte, mir möglichst genau in Erinnerung zu rufen, was ich gerade wahrgenommen hatte. Die Gestalt. Die Kleidung. Die Feuchtigkeit. Sein Gesicht. Doch in dem Maße, in dem ich mir immer mehr Einzelheiten vergegenwärtigte, beschlich mich das Gefühl, dass dies nicht das Bild von soeben war, das ich von Neuem zusammensetzte, sondern dass ich auch auf die Tausende anderer Male zurückgriff, bei denen ich Dijk im Verlauf von über fünfundvierzig Jahren gesehen hatte. Alle diese Bilder schwangen unausweichlich mit und führten zu einer zusammengestückelten Zeichnung, in der sowohl der junge Mann aufschien, dem ich eines Wintermorgens vor langer Zeit zum ersten Mal begegnet war, als auch der kerzengerade, steife alte Kerl, der er zuletzt gewesen war, bevor er so plötzlich und spurlos verschwand.

Es konnte natürlich nicht sein, dass ein Gesicht bleich und faltenlos war und zugleich gerötet und von der Zeit gefurcht. Es konnte nicht sein, dass ich im selben Moment einen Schädel sah, über den die spärlichen Haare straff zurückgekämmt waren, aber auch die Bewegung wiedererkannte, mit der Dijk sich immer wieder eine dicke schwarze Locke aus der jungen Stirn strich. Es konnte nicht sein, es sei denn, man ging davon aus, dass es einen zeitlosen Ur-Dijk gab, den man normalerweise nie zu Gesicht bekam, von dem sich jedoch alle sichtbaren Verkörperungen ableiteten. Dann hatte ich gerade nicht nur eine seiner Erscheinungsformen gesehen, sondern den wahren Dijk.

Was sollte ich damit?

Eine zusammengestückelte Zeichnung ist kein Porträt, so jemandem begegnet man in Wirklichkeit nie.

In Gedanken schälte ich noch einmal sämtliche Versionen Dijks ab, die mir einfielen. Ich eliminierte sie eine nach der anderen und behielt danach nicht viel mehr als jenes Lächeln übrig, das nicht einmal charakteristisch für ihn war: Er konnte seine Mundwinkel sehr gut nach unten ziehen, nach oben gekräuselt sah man sie nie. Und trotzdem blieb jetzt nach verbissenem Nachdenken zum Schluss ein Lächeln übrig, ein Lächeln ohne Gesicht, wie bei der Katze aus Alice im Wunderland. Ich hatte das Buch meinem Sohn und meiner Tochter vorgelesen, hier, in ebendiesem Haus, während es draußen kalt und dunkel war, wie jetzt, drinnen aber geborgen und warm. Ich saß bei ihnen auf der Bettkante, das Buch auf dem Schoß, neben uns eine kleine Lampe, die Licht auf die Abbildungen einer Katze, eines Mädchens mit blonden Zöpfen, eines Kaninchens mit einer Uhr warf. Außerhalb des Lichtkreises befand sich die fröhliche Tapete, die es immer noch gibt, oben, in ihren Zimmern, auch jetzt, wo die Kinder nicht mehr da sind. Auch das Buch mit den Zeichnungen steht zweifellos noch im Regal.

In einem Impuls stand ich auf und ging durch den Flur bis zur Haustür. Daneben liegt ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch, von meiner Frau »das Studierzimmer« genannt. Er dient mir zu nicht mehr, als die Rechnungen zu bezahlen. Dort sind die Steuererklärungen und Versicherungspolicen aufbewahrt, die Pässe und unser Familienbuch, genau genommen alles Dinge, um Überraschungen vorzubauen. Meine Frau stellt in diesem Raum regelmäßig eine Einkaufstasche mit leeren Flaschen ab; auch sie betrachtet das Studieren hier also eher als Idee.

Ich knipste die Schreibtischlampe an.

Mir schien, als müsste hier morgen, wenn vielleicht wieder helles Licht von einem saubergepusteten Himmel strömte, noch etwas sein, was an das Geschehene erinnerte. Etwas Greifbares, möglicherweise kein Beweis für das, was mir widerfahren war, aber doch ein Anhaltspunkt, etwas, das klarstellte, nicht alles war ein Traum gewesen.

Doch so einfach ist das nicht. Ich habe mich an den Schreibtisch gesetzt. Ich habe meinen eingetrockneten Füllfederhalter gefüllt. Ich habe den Stuhl näher an die Tischplatte gerückt. Und jetzt schwebt meine Hand unentschlossen über dem Papier.

Es ist nicht so, dass mir nichts einfiele. Es ist eher so, dass mir zu viel gleichzeitig in den Sinn kommt und ich nicht weiß, in welche Reihenfolge ich meine Erinnerungen an Karl Dijk, und an mich selbst, bringen soll.

Diese Katze aus besagtem Kinderbuch, stiftete die nicht auch gern Verwirrung bezüglich der Reihenfolge der Ereignisse? Und heißt es nicht, dass Menschen, die im Begriff sind zu sterben, ihr gesamtes Leben »wie in einem Film« an sich vorüberziehen sehen?

Letzteres trifft auf mich natürlich nicht zu. Ich bin keineswegs im Begriff zu sterben. Ich sitze auf meinem Schreibtischstuhl, der ein wenig knarrt, aber sehr bequem ist, und dieser mein etwas verbrauchter, etwas korpulenter Körper, der tut auch noch ganz gut, was er soll. Wenn ich aufschaue, sehe ich mein Spiegelbild im Fenster, hinter dem Regen und Wind in der Dunkelheit noch immer Wasser herabprasseln lassen und Sträucher peitschen. Ein älterer Mann, mit zerzaustem Haar und einem Kopf voll ungeordneter Erinnerungen.

Ein Film ist eine gerade Linie, ein Streifen aus Bildern mit einem Anfang und einem Ende. Sollte der in der Stunde des Todes tatsächlich mit dem Geräusch eines Maschinengewehrs, nur unendlich schneller, vom Projektor durch das Bewusstsein gezogen werden, vom ersten Herzschlag bis zum letzten Atemzug? Oder ist es eher so, dass man alles gleichzeitig sieht, vielleicht analog zu dem, was mir vorhin zu meinem Bild von Dijk in den Sinn kam?

Ein Ast schlägt an die Fensterscheibe. Mein Gedächtnis gleicht einem umgekippten Karteikasten. Alle Kärtchen mit Jahreszahlen, Ereignissen, Ansichten und Feststellungen liegen durcheinander auf dem Boden, manche noch mit einem bunten metallenen Reiter versehen, der angibt, dass sie damals wichtiger waren als die übrigen Daten – aber weiß ich noch, warum? Ich muss sie neu ordnen. Das Alphabet ist dabei ein genauso willkürlicher Ausgangspunkt wie die Chronologie.

Ich habe die Wahl. Soll ich beim Winter 1961 beginnen oder wende ich mich als Erstes dem Sommer 2007 zu? Ich habe keine Wahl. Das eine war der Beginn und das andere hätte das Ende sein sollen, hätte Dijk diesen Abschluss nicht in Frage gestellt – und damit im Grunde auch den Beginn.

In weiteren fünfundvierzig Jahren wird niemand mehr wissen, was das ist: ein Karteikasten.

1.3

Das neue Gebäude der Behörde, die schon seit geraumer Zeit nicht mehr so heißt, stand in einem Vorort, der früher ein Dorf gewesen war, in einem Gewerbegebiet, das früher eine Wiese war und jetzt in erster Linie aus Parkplätzen, sehr vielen Parkplätzen bestand. Man betrat es durch eine riesige Halle, die eindeutig dazu bestimmt war, zu beeindrucken. Das neue Gebäude hatte einen Preis für das beste Bürohaus des Jahres erhalten.

Bestimmt dreißig Meter hoch war diese Halle, von der Außenwelt durch eine Fassade aus Spiegelglas getrennt und mit einem Fußboden aus rosafarbenem, in breiten Streifen verlegtem Marmor ausgestattet. Exakt in der Mitte hatte man ein sternförmiges Muster aus schwarzen und weißen Würfeln kreiert, das aussah wie eine Zielscheibe – obgleich das zweifellos nicht beabsichtigt war.

Hatte sich der Besucher erst einmal von dem ersten überwältigenden Eindruck erholt, so erblickte er ganz in der Ferne, am anderen Ende der Halle, einen Tresen mit zwei oder drei Frauen, die ihn empfingen. Sie waren mit Kopfhörern und Mikrofonen ausgestattet, weil sie gleichzeitig als Telefonistinnen fungierten.

Unsere Schicksalsgöttinnen. Unsere Verbindung zur Außenwelt. Mit einem Lächeln, das nie von ihrem Gesicht wich, mit ihren lackierten Nägeln und geschminkten Lippen walteten sie über die Fäden unseres Netzes. Sie konnten alles verwirren, konnten Verbindungen herstellen, die neue Perspektiven eröffneten, aber auch vielversprechende Kontakte plötzlich unterbrechen.

Ihre Attraktivität war ein wenig beängstigend. Selbst nach etlichen Jahren noch musste ich mir jedes Mal einen kleinen Ruck geben, ein leichtes Zögern, einen kleinen Widerwillen überwinden, bevor ich mich daranmachte, die rosafarbene Fläche zum schräg hinter ihnen befindlichen Fahrstuhl zu durchqueren. Es waren nicht immer dieselben Frauen, das erkannte ich an der Farbe ihres Haars oder manchmal auch ihrer Haut. Dennoch wirkten sie wie nach derselben Schablone modelliert, mit diesen Lippen, diesen Nägeln und diesen Wimpern. Ich vermutete, dass sie von einer Zeitarbeitsagentur kamen, denn bei Betriebsversammlungen und anderen Zusammenkünften sah man sie nicht.

In all den Jahren, in denen ich Morgen für Morgen und Nachmittag für Nachmittag an ihnen vorbeigegangen bin, ist mit keiner von ihnen etwas entstanden, das einem persönlichen Kontakt ähneln würde. Kein kurzes Gespräch, nie ein Blick des Einvernehmens, kein Hinweis auf die Art ihres Lebens hinter den Kulissen. Schlimmer noch: Ich selbst hatte häufig das Empfinden, an einem Casting für ein Theaterstück teilzunehmen, wenn ich aus der Drehtür trat, und dass sie, auf ihrem Podium, eine Jury bildeten, die nur Verlierer benannte. Unwillkürlich ordnete ich meine Kleidung, sobald ich in diese Tür trat, ich tastete nach dem Krawattenknoten – obwohl ich schon seit Jahren keine Krawatte mehr trug –, fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Für einen Moment durchschoss mich dann ein Gefühl der Unvollkommenheit, des hoffnungslosen Versagens.

Wenn ich mich schon einigermaßen unwohl fühlte, wie musste dann erst Dijk mit seiner ausgeprägten Neigung, sich zu ärgern, jeden Morgen diese vierzig oder fünfzig Schritte getan haben? Beim Verlassen des Gebäudes konnte man dem Empfangstresen den Rücken entschlossen zukehren, doch beim Betreten ging man direkt auf die Frauen zu, das war nicht zu vermeiden. Ich denke, Dijk ging mit schnellen Schritten und wandte den Blick ausdrücklich keinen Moment von ihnen ab, sodass er durch die Schicksalsgöttinnen hindurchschaute. Er hatte kein Talent für Untertänigkeit, nicht einmal gegenüber dem Schicksal und dessen Dienerinnen.

Dieses Schicksal hatte in den Tagen, an die ich jetzt denke, die Gestalt oder, besser gesagt, die exuberante Persönlichkeit unserer neuen Direktorin angenommen, die verfügt hatte, dass das Dienstverhältnis von Karl Dijk zu guter Letzt beendet werden müsse. Und dass dies mit einer kleinen Feier in der großen Halle gewürdigt werden solle.

Es war ein erzwungener Abschied, einige Jahre vor seiner Pensionierung. Dijk hatte jedoch, soweit ich weiß und zu meiner Überraschung, nicht dagegen protestiert.

Die Feier war auf einen Donnerstagnachmittag, siebzehn Uhr, angesetzt worden, gleich nachdem die Anrufbeantworter eingeschaltet waren und die drei Frauen unter dem Glattstreichen ihrer Röcke und dem Griff nach ihren Handtaschen ihr Podium verlassen hatten, sodass das Unternehmen nun wie unter einer Glasglocke, in einer erschütterungsfreien Versuchsanordnung, von der Außenwelt abgeschlossen war.

Während ich vom obersten Stockwerk im gläsernen Fahrstuhl durch die Halle abwärts sank, sah ich, dass unter mir auf der einen Seite ein Tisch mit Papier abgedeckt und mit Tellern und Gläsern bestückt worden war, während man in einer anderen Ecke aus Rücksicht auf die eingeladenen Ehemaligen ein paar bequeme Sessel hingestellt hatte. Viele waren nicht gekommen. Kollegen hatte Dijk zwar gehabt, aber keine Freundschaften geschlossen.

Hier und da standen zum Glück ein paar der jetzigen Mitarbeiter, die sich geopfert hatten, etwa eine Dreiviertelstunde einem Glas und ein wenig Knabberzeug zu widmen, ein nicht unangenehmer Zwischenstopp auf dem ewig gleichen Weg nach Hause. Alle Anwesenden hielten sich an den Rändern der rosafarbenen Fläche auf. Dadurch glich die Mitte der Halle einer Arena, die frei bleiben musste für ein Bühnenstück oder einen Kampf.

1.4

Bevor ich fortfahre, muss ich noch etwas zu der Empfangshalle sagen. Sie ist hoch, bestimmt dreißig Meter, und diese Höhe wird dadurch zusätzlich betont, dass das Dach aus Glas ist, eingefasst in weiße Metallträger. So ist immer ein großer Teil des Himmels zu sehen, mit Sonne, mit wechselhafter Witterung, mit Wolken. Die Außenwelt schaut herein, aber man spürt sie nicht.

Am größten Querträger im Dach der Halle, durch die ein schmaler Skyway verläuft, hängt ein Drahtseil, und daran ist ein mitten im Raum schwebendes Ungetüm befestigt.

Es handelt sich um eine Konstruktion aus horizontalen Metallbögen und weiteren Drahtseilen, allerdings dünneren, an deren Enden geometrische Formen in Primärfarben hängen; Gegenstände, die einander im Gleichgewicht halten, Würfel, Pyramiden, Kugeln. Sie bilden ein Hunderte Kilos schweres und viele Meter breites und tiefes Mobile. Ja, richtig: so ein Ding, das manchmal auch über der Wiege eines Neugeborenen hängt, um ihm spielerisch zu zeigen, dass sich die Welt bewegt und bewegen lässt. Unser Mobile jedoch hängt totenstill. Es ist nicht spielerisch, sondern eher bedrohlich.

Ich fürchte, es ist ein Kunstwerk. Ich fürchte, es will etwas über unsere Arbeit sagen. Und ich denke, das ist der Grund dafür, warum so viele die Halle nicht auf gerader Linie durchqueren, sondern einen leichten Bogen um die Mitte machen.

Der Fahrstuhl sank langsam an dem Ding entlang, vorbei an Stockwerken, in denen noch einige Kollegen in der sich leerenden Bürolandschaft arbeiteten, gut sichtbar wegen der vielen Glaswände. Wer jetzt noch nicht gegangen war, würde das Gebäude nicht mehr verlassen können, ohne in den Abschiedsempfang für den Mann zu geraten, der dem Namen nach nur noch für ganz kurze Zeit ihr Kollege war. Die Alternative: mindestens eine Stunde warten, obwohl Überstunden seit der Privatisierung noch miserabler bezahlt wurden als davor. In der Zwischenzeit im Mantel durch den Empfang zu streifen war keine Option.

Während ich weiter abwärts sank, sah ich unten in der Halle, wie eine Frau mit hellblauer Schürze sorgfältig ganze Gläserreihen mit Orangensaft, Rot- und Weißwein füllte. Auch die Platten mit Wurst und Käse und die Schälchen mit Nüssen versetzte sie in eine Ordnung von bewundernswerter Präzision.

Nicht weit davon entfernt sah ich die Direktorin, allein, ohne irgendeinen Kollegen in ihrer Nähe. Das schien sie nicht im Mindesten zu stören. Sie trug ein ziemlich auffälliges grellrotes Kostüm, das um ihre plumpen Schenkel spannte, und hielt ein paar Papierblätter in der Hand. Die Abschiedsrede.

Mit leisem Seufzer landete der Fahrstuhl im Erdgeschoss, und mit einem ähnlichen Geräusch öffnete sich die Tür.

Noch hatte niemand sich getraut, die Symmetrie der Gläser und Schälchen zu durchbrechen. Man wartete. Auf Dijk. Und auf die Rede, die ich für die Direktorin geschrieben hatte.

1.5

Ihrem eigenen Büro hatte sie sofort nach ihrem Dienstantritt etliche persönliche Akzente gegeben. Eine Decke auf dem Sitzungstisch mit einem Muster aus Tieren in einem Blütenmeer. Ein Kaktus auf dem Aktenschrank, auch unter ihm ein farbenfrohes Stück Textil. Großformatige Fotos von zwei Kindern und einem offenherzig dreinschauenden Mann, die so auf dem Schreibtisch standen, dass der Besucher ihren gutgelaunten Blicken nur schwerlich ausweichen konnte. Die gerahmten Bilder an der Wand waren zweifellos von ebendiesen Kindern gemalt worden, mit dicken Klumpen Fingerfarbe.

Hier sah es ganz anders aus als im Rest des Bürogebäudes, das vornehmlich in Grau und Weiß gehalten war, mit lediglich einer Grünpflanze hier und da, deren Wurzeln in einem großen Gefäß mit braunen Kügelchen begraben waren und deren dicke grüne Blätter das Tageslicht nie wieder sehen würden.

Die Direktorin war überaus herzlich, als sie mir darlegte, weshalb es für alle besser sei, wenn Dijk seinen vorzeitigen Ruhestand akzeptieren würde. Sie schenkte mir Tee ein. Deutete einladend auf eine Schale mit Brezeln und Mürbeteigplätzchen.

Das Unternehmen sei in eine neue Phase eingetreten – ja, wieder einmal, konnte ich nicht umhin zu denken.

Dijks Verdienste hingegen, und sie seien unbestreitbar zahlreich, gehörten jedoch in erster Linie der Vergangenheit an.

Wir müssten, jetzt mehr denn je, an die Zukunft denken.

Und die Zukunft, das bedeute permanente Veränderung. Unaufhörliche Bewegung. Man stelle sich mal vor: Nie mehr würde etwas so bleiben, wie es war. Die Kompetenz von heute sei das Museumsstück von morgen. Man könne das als Verlust betrachten oder als Bedrohung. Aber vor allem sei es eine Herausforderung, eine Chance.