Dr. Arnold Stadler
Komm, gehen wir
Roman
FISCHER E-Books
Arnold Stadler wurde 1954 in Meßkirch geboren. Er studierte katholische Theologie in München, Rom und Freiburg, anschließend Literaturwissenschaft in Freiburg, Bonn und Köln. Er lebt seit dem Jahr 2000 in Sallahn/Wendland und vom ersten Tag an in seinem Elternhaus, einem Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert, in Rast über Meßkirch. Arnold Stadler erhielt zahlreiche bedeutende Literaturpreise, darunter der Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen »Komm, gehen wir«, »Salvatore«, »Einmal auf der Welt. Und dann so«, »New York machen wir das nächste Mal« und »Rauschzeit«.
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Jim kommt aus Florida, jetzt ist er in Italien auf der Suche nach seinen Vorfahren. Rosemarie und Roland möchten heiraten, und Capri ist Ziel ihrer vorgezogenen Hochzeitsreise. Es ist ihr letzter Tag, die Welt tut noch, als wäre sie in Ordnung. Da kommt Jim an den Strand und fragt nach einem Schluck Wasser. Was dann passiert, passiert in einer Nacht. Sie vergessen die Zeit, und später haben sie ein Leben lang etwas, das sie nicht mehr loslässt.
»Komm, gehen wir« ist die Geschichte von drei Leben, drei Lieben, Glück und Unglück. Und so als wäre die Liebe etwas gewesen, bleibt am Ende die Sehnsucht. Vom Leser wird in diesem Buch nichts anderes erwartet, als dass er verliebt ist oder sich daran erinnern kann, wie das war. Könnte es sein, dass die Liebe das Warten auf die Liebe ist?
Erschienen bei FISCHER E-Books 2017
© 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Günther Förg
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490762-8
Was ist Lieben?
Ist es ein Tuwort?, fragte er sich.
Bevor ich darüber nachdachte, wusste ich es noch.
Eigentlich waren sie nur zum Braunwerden hierhergekommen. Deswegen waren sie hier. Und das Meer sehen wollten sie. Und nichts tun. Und sonst gar nichts.
Gerade hatte Jim sie um einen Schluck Wasser gebeten und sich neben sie auf sein kleines Handtuch gesetzt. So begann ihre Geschichte. Und wie jede Liebe begann auch diese mit einem Blick.
Das wusste er aus den Liebesfilmen.
Es war eine alte Sehnsucht, mit der ihn Tante Paula infiziert hatte. Sie liebte Capri, muss es geliebt haben, denn anders ließ es sich nicht erklären, dass sie wie ein Kind sprach, wenn sie davon erzählte.
Das Schönste auf der ganzen Welt!, sagte sie, wie Kinder sagen. Roland sah sie noch mit diesem Satz dastehen und hörte noch das Ausrufungszeichen hinter auf der ganzen Welt.
Vielleicht war es auch wegen der Liebe, von der Roland damals noch nicht viel wusste, dass es immer Capri sein musste. Und die Liebe einer alten Frau gab es für ein Kind von einst ohnehin nicht – solche Sätze waren Roland in den Sinn gekommen, als ihm diese Frau in den Sinn kam. Die Erinnerung war Schnee von gestern und das Kapital von Schriftstellern und Verliebten, die ihre große Zeit hinter sich hatten.
Tante Paula hat ihnen jedes Jahr eine Karte von diesem Meer und den Felsen geschickt. So sah er auch nebenbei zum ersten Mal das Meer. Als Kind saß er auf ihrem Schoß, wenig später hat sie seinen Händen Manieren beibringen wollen, dann die ersten Worte Französisch. Sie sah, wie er wuchs, und jedes Mal, wenn sie zu ihnen nach Hause kam, das war einmal im Jahr, sah Paula, wie er Fortschritte gemacht hatte im Leben.
Später, als sie wieder in die Nähe gezogen war, an den See, in der Illusion, zu Hause stürbe es sich leichter, hat sie immer wieder nach ihm gefragt, er solle sie doch einmal besuchen. Was kaum einmal geschah. Nach ihrem Tod sagten die Fortschrittlichen unter ihren Menschen, die zurückgeblieben waren, Tante Paula sei lesbisch gewesen. Das war in einer Zeit, als dieses Wort in den offiziellen Mitteilungen noch nicht vorkam, schon gar nicht im kleinen Nachruf des Südkurier. Für Roland war diese Tante jedoch das erste Beispiel einer Liebe, die nicht so war wie die anderen.
Tante Paula, viersprachig alt geworden, das Fräulein Hahn, war vor Jahren viersprachig hier herumgegangen, jedes Jahr, früher mit Irmchen, später, nach Irmchens Tod, immer allein, auf diesen Wegen, denselben Wegen, à la recherche du temps perdu (wie eine Witwe oder ein Schriftsteller, der sich erinnern muss), auf denen gerade Roland und Rosemarie unterwegs gewesen waren, eine Woche lang, und immer wieder hatte Roland an seine Tante gedacht und an sein bisheriges Leben und wusste auch nicht, warum gerade jetzt, und er hat Rosemarie von seinem Leben und seiner Tante erzählt, vom Schnee von gestern, der zur Erinnerung verschmolzen war. Er hätte ihr gerne eine Karte geschrieben, aber Paula war tot, und ihre erste Adresse, Himmelreich, hätte ohnehin schon längst nicht mehr gestimmt. Sie kam nämlich, wie Roland auch, von einem Ort, der Himmelreich hieß. Das dazugehörende Land hieß Schwäbisch Mesopotamien, denn es lag da, wo die Donau und der zum Bodensee ausufernde Rhein, zwei Flüsse, schon oftmals besungen, am engsten zusammenkamen. Andere sagten auch: Das Goldene Dreieck, denn den Neckar, auf den Hölderlin lange genug hinuntersah (wenn er aber eine Hymne schrieb auf ihn, war es hinauf), muss man sich auch noch dazudenken.
So war Capri von Anfang an ein wenig dies alles: Kindheit, Liebe, Nähe und Ferne, Vergangenheit und Zukunft, und ein wenig (von dieser Zukunft) auch schon der Tod. Aber so weit wie Paula waren sie noch lange nicht, die damals auf denselben Wegen herumging mit schönen Gedanken und Erinnerungen in ihrem Kopf. Und darüber trug sie im Sommer immer einen leichten Sommerhut. Und eine ihrer schönen Perlenketten.
Sogar noch einen Sommerpelz hatte sie im Gepäck für die Abende. Zweimal am Tag ging sie auf die Piazza, zum Sonnenuntergang den ebenen Weg zur Punta Tragara, und zurück in ihr schönes kleines Hotel Krupp, am Grand Hotel Quisisana vorbei, was eine Bedeutung hatte: ›Hier heilt man sich‹. Wovon?
Die Via Krupp war sie vielleicht auch hinuntergegangen und hat dann wie von einem Abenteuer erzählt, als wäre sie dabei gewesen. Wie sie auch vom Lago Maggiore noch erzählen konnte, wo sie zum ersten Mal eine Palme sah, das nun schon eine Peinlichkeit gewesen, der Lago Maggiore wie die erste Palme, peinlich genug für Tiefseetaucher vor dem Great Barrier Reef. Capri war nun ja auch schon eine Peinlichkeit. Kein Mensch, der 1978 auf sich hielt, fuhr nach Capri, außer einigen, die es sich leisten konnten.
Und dann blieb Paula vielleicht auch an der Stelle stehen, wo es von der Via Krupp aus auf einer ganz steilen Treppe nach unten ging, bis zum Meer hin, wo Roland, Rosemarie und Jim jetzt zusammenlagen. Die Stelle war von der Via Krupp aus nicht zu sehen, und Paula hatte sich vielleicht überlegt, auch noch den Rest zum Meer hinunterzusteigen, mit der Höhle dahinter, wo der arme Krupp angeblich Orgien gefeiert hatte und sich auf das Gerücht der Meute hin das Leben nehmen musste. Aber das war ihr zu gefährlich, die steilen Stufen hinunter, dachte die gebildete Paula.
Aber vielleicht hat sie auch gar nicht gedacht, ist einfach weitergegangen und hat irgendetwas anderes gesehen, denn die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung besagten, dass es gar nicht Denken war, sondern eine chemische Reaktion.
Und es war ja auch nicht der freie Wille Tante Paulas, der sie nun weitertrieb, sondern eine chemische Reaktion. Denken war nur noch ein Wort. Man sagte nur noch so, wenn man zu denken glaubte. Der Mensch dachte nur noch, dass er dachte. Das hatten die Experten herausgefunden, die sich längst so mit Gott verwechselten wie ein Dirigent mit dem Komponisten immer schon, die an jener Stelle, an der der Schöpfer am meisten gelitten hat, sich am meisten feiern ließen.
Von dem allen wusste Paula noch nichts. Ihr Glück kam manchmal mitten aus ihrem Bauch.
Tante Paula hatte ihr Leben viersprachig allein verbracht, meistens allein, als hätte man dafür studieren müssen, war Hauslehrerin gewesen, Direktorin eines privaten Mädchen-Instituts, hatte in ihrer Jugend auf Schlössern gelebt, eine Zeit lang, die schönste Zeit, fast dreißig Jahre mit ihrer Freundin in einem Häuschen unweit von Humboldts Tegeler Schlösschen, alles in Hellblau und Rosa, die ganze Wäsche, Paulchen war hellblau, Tante Irmchen rosa gewesen, als hätten sie noch in der Strampelhosenzeit gelebt in von Bruno Paul und Richard Riemerschmid entworfenen Sofagarnituren und mit Teatime- Tassen von Heinrich Vogeler aus Worpswede.
Eine dieser Sofagarnituren hatten sie geerbt, sie war schon mit Tante Paulchens letztem Umzug an den See gekommen, sodass der Umzug ins Himmelreich ganz billig war, eine einzige Beiladung mit der Firma Uwe Zapf International, die andere ging an die Seite von Irmchens Verwandtschaft. Und so war das Leben in zwei Teile gebrochen. All diese Dinge, die ihre Geschichte hatten, standen nun im Himmelreich, zusammen mit anderen Dingen, die das Leben verschönerten, nur die Papiere und Kommunalobligationen waren ziemlich verbraucht.
Der Fotograf, der am Abend auf der Piazza von Tisch zu Tisch ging, dessen Fotos dann schon am nächsten Tag im Schaukasten zwischen Piazza und Quisisana von allen, die vorbeigingen, studiert wurden, in der Hoffnung, sie würden Gracia Patricia, Maria Callas oder sonst eine Berühmtheit entdecken, hat auch sie fotografieren wollen, aber sie lächelte nur und sagte akzentfrei grazie.
Sie traute sich gar nicht mehr, schön zu sein, sie war es doch und lächelte nur noch, als hätte sie auch einmal gelebt und könnte sich sehr wohl noch daran erinnern.
An einem dieser Tischchen saß sie wohl und erinnerte sich, ganz allein, und trank noch einen Campari, aber nicht zu spät. Um zehn war sie schon wieder im Bett, denn morgen war auch noch ein Tag. Dann stand sie irgendwann auf, von keinem der Tischchen bemerkt, an denen die Großen saßen, Loriot vielleicht, die Großeltern Claudia Schiffers väterlicherseits mit ihrem in den Wechseljahren befindlichen Kind, dem späteren Vater Claudias, oder der spanische König inkognito auf Brautschau, war in ihren weißen Trevira-Hosen nach Hause gegangen, ganz allein, vor bald zwanzig Jahren, und warf auf dem Weg in ihr schönes kleines Hotel Villa Krupp immer einen Blick auf die Gäste des Quisisana, aber nicht zu sehr, und schon gar nicht, um zu vergleichen.
So stand sie auf, von keinem bemerkt – es wird so langsam Zeit –, sagte sie sich. Mit einer bewundernswerten Disziplin hatte sie gelebt, und so starb sie wohl auch, in vier Sprachen perfekt, von keinem wahrgenommen, und dann war sie einfach nicht mehr da. Ins Himmelreich kam eines Morgens ein Anruf von ihrem Hausmädchen Erika, das auch schon gegen siebzig war, Fräulein Paula sei plötzlich gestorben, tot in ihrem Bett.
Ihre Tagebücher blieben ungelesen. Auch weil sie noch in dieser alten Schrift geschrieben waren. Roland kannte diese Schrift nur aus dem Zeichenunterricht. Es war eine sehr sorgfältige Schrift, ein sorgfältiges Leben gewesen, so klar wie gestochen. In eines dieser Hefte hat sie vielleicht noch, bevor sie das Licht ausmachte, das letzte Mal hineingeschrieben, was sie alles gesehen hatte an diesem Tag, hatte Notizen von einem Leben gemacht, hinter dessen Sinn sie bis zuletzt nicht gekommen war, erschöpft von einem Leben, das sie vielleicht gar nicht geführt hatte. Sondern vielleicht nur beschrieben und zu beschreiben versucht hatte, dieses Leben. Aber sie war trotz allem dankbar für alles. Ihr letztes Wort könnte grazie gewesen sein.
Tante Paula hat ein Leben geführt wie in einer bisher nicht aufgeschriebenen Kurzgeschichte.
Jetzt hatte Roland längst das Abitur und lebte in der Rauschzeit. Hatte Rosemarie und die Erinnerung an Tante Paula und ihre Postkarte, auf der er zum ersten Mal das Meer sah. Und nun kam auch noch Jim dazu.
Die beiden hatten schon einen Hochzeitstermin für den Spätherbst. Und nun saßen sie zusammen mit Jim auf ihren Handtüchern vor den Faraglioni-Felsen und hatten die Zeit vergessen, so sehr lebten sie. Es war schon ihr letzter Tag auf Capri, der 24.August1978.
Man muss sich die Musik dazudenken, die Sommerlieder von San Remo, die unablässig aus den mitgebrachten Transistorradios herauskamen, die Kassettenrekorder, noch ein Wunder, wie Massimo Ranieri Iinnaammuurraattuu sang, jeden Buchstaben sang er doppelt, als könnten auch sie Liebespaare sein, wie auch die Wörter – oi vita oi vita mia –, und man musste sich den Sog der Wellen dazudenken, das Hin und Her um die Felsen, die aus demselben Material waren wie der Kalksandstein zu Hause, und in der Ferne hörte man die Kinder vom Bagno Privato Le Sirenuse selig herüberschreien, wo ein Liegestuhl schon fünfzehn Mark kostete, die Sonne und ihr Glitzern und Glimmern auf dem Wasser, sich alles dazudenken, die siebenunddreißig Grad draußen und drinnen, das ältere Paar aus Neapel, das alles mithörte und nicht verstand. Doch sie hatten offene Augen. Mit einem Handtuch auf dem Kopf unter dem mitgebrachten Sonnenschirm. Ab und zu schlurften sie zum Wasser oder ein paar Schritte in die eine und dann in die andere Richtung, aus unerfindlichen Gründen. Undurchschaubar genossen sie das Leben, setzten sich wieder, griffen zu ihrer Zigarettenschachtel und rauchten, als wäre dies ihr Kinderspiel, und den Tag über lasen sie Zeitungen oder taten so, Illustrierte, die immer noch mit den Bildern vom toten Papst daherkamen, der schon am 6. August in Castel Gandolfo gestorben war, vor Ferragosto, und von seinem schönen Sommerpalast und der Aussicht auf den See nichts mehr hatte. Die Fotos der Kandidaten des Konklaves jedoch, die bald aus dieser und der Geschichte überhaupt verschwanden – Rein gehen Sie als Papst, herauskommen tun Sie als Kardinal –, waren nun von einem ganz anderen Interesse.
Dazuzudenken ist etwas weiter gegen die Höhle hin – meist horizontal – die Französin, stundenlang ausgestreckt, als einziges Kleidungsstück eine rabenschwarze Sonnenbrille mit Spiegelglas wie in einem Film von Claude Chabrol, sodass Jim nicht bis zu ihren Augen vordrang und nicht nach Wasser fragen konnte und die daher auch aus dieser Geschichte verschwand; und dann die paar Typen nebenan, unklar, ob noch Exhibitionisten oder schon Voyeure, die nicht nach Wasser gefragt hatten, sondern irgendwann ihre Sachen packten, ihre Badeschlappen, das Transistorradio und das Handtuch, sich über die Via Krupp wieder nach oben machten, als wäre nichts gewesen, und aus dieser Geschichte verschwanden.
Denn Jim hatte sich entschieden, gerade diese beiden nach Wasser zu fragen. Warum dies so war, weiß der Teufel.
Und schließlich noch die Flasche aus Plastik von 1978 sich dazudenken, ein glatter Verstoß gegen die Mülltrennung. Das war schon fast alles, was am Strand zurückblieb und aus dieser Geschichte verschwand.
Roland schaute sich nach einer Weile nach einer Möglichkeit um, wohin er kurz verschwinden könnte, wie er Rosemarie sagte.
Geh doch in die Höhle!, sagte sie.
Und da er nicht ins Wasser pinkeln wollte, wie das schon die Kinder im Schwimmbad taten, und auch nicht in diese Höhle, stellte er sich, von ihnen abgewandt, in jene Nische rechts neben der Höhle und sah sich als Schatten an der Wand, die Sonne stand schon ziemlich tief, und die Füße noch am Boden, als Schatten, der gegen die Wand hin wuchs, ein Teil von ihm war auf dem Boden, der andere zog sich grotesk, huschte über die Kante vom steinigen Boden und sich davon abhebendem Fels, als gälte für ihn der rechte Winkel nicht, so war es ja auch, sein Schatten schlich von seinen Füßen weg nach oben, wo sein Schattenkopf war. Und da es nun einmal sein musste, pinkelte er gegen die Wand, gegen seinen Schatten, gegen dieses Gesicht, aus Übermut darüber, was das Leben noch alles für ihn bereithielte – es war die reinste Lebensfreude, nicht viel anders als bei den Kindern, die an einem Nachmittag hundertmal ins Wasser springen konnten, warum weiß auch niemand so richtig –, und dann noch über seine ganze Gestalt, nachdem er einmal Gefallen daran gefunden hatte, als gehörte es zu den Spielen, die bald vorbei waren.
Als er zu Jim und Rosemarie zurückkehrte, hatte er das schon wieder vergessen. Aus solchen Augenblicken, die bald vergessen waren, setzte sich das Leben zusammen.
Rosemarie, die aus Minden stammte und Medizin studierte, fast schon fertig war damit, in einer süddeutschen Stadt namens Freiburg, wie Rosemarie und Roland Jim zu erklären versuchten, denn er hatte von Freiburg nie gehört. Das war ein Ort, der stolz war darauf, schon gar nicht mehr ganz in Deutschland zu sein und mit dem anderen Freiburg in der Schweiz, wo es auch eine berühmte Uni gab, verwechselt zu werden. Sie machten Oben- und Unten-Zeichen und sagten dazu Germany und Southwest, sagten noch France und Switzerland, um jeden Anschein der Provinzialität zu vermeiden, denn Roland und Rosemarie hatten mehr Angst, deutsch zu sein, als aus der Provinz zu kommen und dies auch noch sagen zu müssen, es war immer wieder eine Kapitulation, eine lebenslängliche Kapitulation. Zum Glück konnten sich die beiden nun in die Internationalität flüchten, ihre Sprache war also Englisch, so gut es ging.
Roland war mittlerweile bei der Philosophie gelandet, nachdem er mit dem Ballett und der Landwirtschaft gescheitert war. Davon später.
Wie sich bald herausstellte, waren Jim und Roland zwar nicht auf den Tag genau gleich alt, doch auf die Stunde, was aber aufgrund der Tatsache, dass sich die Erde dreht (es folgte die willkürliche Einteilung der Welt in Zeitzonen von Greenwich aus), dazu führte, dass es in Europa schon kurz nach Mitternacht, Allerseelen, war, in Amerika aber erst Donnerstagabend, ein Umstand, dem sie von Anfang an eine Bedeutung beimaßen.
Rosemarie, in deren Pass dieser schöne, aber damals wenig brauchbare Name stand, war auch so alt oder so jung wie die beiden, bald vierundzwanzig – wenn auch nicht am selben Tag geboren. Manchmal dachten sie schon je für sich, dass sie nicht mehr ganz jung wären und der Ernst des Lebens, der ihnen schon am letzten Tag im Kindergarten in Aussicht gestellt worden war, nun so langsam begänne.
Eigentlich heiratete man auch auf dem Land 1978 nicht mehr so früh. Also war zu Hause das prestigefördernde Gerücht im Umlauf, sie müssten heiraten. Davon konnte jedoch an jenem Nachmittag noch überhaupt keine Rede sein.
Vor ihrer Hochzeit, die auch aus ganz praktischen Gründen ins Auge gefasst worden war, und auch nach dem anstrengenden Semester wollten sie sich gegen Ende der Semesterferien, wie sie sich gesagt hatten, vor dem neuen Semester und der Hochzeit noch etwas erholen und braun werden. Das hatten sie sich für die Woche am Meer vorgenommen. Es war auch eine Hochzeitsreise im Voraus.
Eigentlich waren sie nur zum Braunwerden hierhergekommen.
Jim war schon ganz braun. Nur die Badehose war auf seinem Körper zu sehen, als Negativ, wie sie sich weiß von diesem lebendigen Braun abhob und sonst das Leben über ein Geheimnis war, das nur wenige zu sehen bekamen.
Vor einer Minute hatte er sie nach einem Schluck Wasser gefragt.
I am Enzo – call me Jim.
So hätte auch ein Liebesfilm beginnen können.
Mit dem bewundernden Blick aus dem Jahr 1978 für ein solches Braun und ein solches Weiß dazwischen, das diesen Körper in zwei Teile verwandelte, oben die Partes Honestae, unten die Partes Inhonestae, so hatte es Roland gerade bei den christlichen Philosophen gelesen, denen die Nacktheit ein Gräuel war, schauten ihm beide hinterher, bis er schließlich ganz im Wasser verschwunden war. Und die anderen, die auch noch herumsaßen und aus dieser Geschichte spurlos verschwunden sind, schauten auch.
Mittlerweile schauten sie sich schon in die Augen. Dabei hatte Jim doppelt zu tun. Und auch so langsam auf die Uhr schauten sie. Roland dachte schon, wie er an seine Adresse käme. Und Rosemarie dachte dies auch. Und Jim auch. Er hatte die vergangene Nacht im Freien zugebracht, hier am Strand, in der Höhle. Sein Koffer stand im Funicolare-Depot. Aber das kam nun nicht mehr in Frage, da waren sich Rosemarie und Roland einig. Sie hatten in ihrem Zimmer in der Pension Tosca noch ein drittes Bett, auf dem bisher das Gepäck lag.
Du kannst doch bei uns schlafen
Gut, das war also vereinbart, was alle drei aufatmen ließ.
Nach zwei weiteren Stunden wussten sie schon so viel voneinander, dass sie zu ihm sagten: Come on, let's got! – sagte Roland statt come on, let's go, versprach sich, und Jim lachte und zeigte seine Zähne, noch ein Argument, das der Teufel Roland zuspielte. Sein Englisch war noch ein Schulenglisch, und Jim war der erste Nativespeaker, der ihm in seinem Leben begegnete.
Erst jetzt sahen sie diese Unterhose richtig, als er sich das Stück überstreifte, als wären nun die Vorstellung und das Outdoorleben zu Ende. Sie hatte gar nichts Besonderes, war vielleicht schon verwaschenes Weiß.
Komm, gehen wir! Und sie gingen.
Am Ende würden diese drei dann ihre Sachen packen, packten die drei dann tatsächlich ihre Sachen und gingen hintereinander zur Steiltreppe, die zur Via Krupp hinaufführte. Alles Walzer!
Doch so weit waren sie noch lange nicht.
Es war eine lustige Geschichte, die Jim nun mit seinem schönen pennsylvanischen Akzent erzählte, die Roland trotzdem, vor Aufregung, dann vergessen hatte.
Aber vielleicht hatte er auch gar nicht zugehört, sondern nur zugeschaut. Jims Geschichte erinnerte ihn jedoch, so viel wusste er noch, an Moira, noch ein Liebesroman, von Julien Green, den Roland und Rosemarie gerade gemeinsam lasen, ein Kapitel nach dem anderen lasen sie sich im Bett vor, wie zwei Verliebte, und freuten sich schon darauf, wie es weiterging.
Jim hatte diese Namen, Moira und Julien Green, nie gehört. Dass er glaubte, ihn gehört zu haben, war der beste Beweis, dass er diesen Namen nie gehört hatte.
Die Geschichte Greens, die Rosemarie nun anstelle von Roland erzählte, weil sie einfach besser im Englischen war und vielleicht auch im Wiedergeben von Inhalten, wenn auch vielleicht nicht im Erzählen, spielte in den Südstaaten: Da waren mindestens zwei Verliebte im Katastrophenfall, am Schluss, kurz nach dem Schuss, waren es dann drei, mindestens drei, vielleicht war der ganze Campus der University of Virginia in diese Geschichte verstrickt, die von Joseph – und vielleicht auch von Green – als Glück gedacht war. Aber immer wieder liefen seine Geschichten auf ein tragisches Ende hinaus, was heißt tragisch, lassen wir es bei Ende, das war tragisch genug. – Alles gar nicht so weit weg von Jim, nur über fünfzig Jahre vor ihnen.
Mit Moira und Joseph war es nicht gut ausgegangen. Am Ende war sie tot, aber zurück blieb die Liebe. Joseph ein Mörder, aber er blieb als Liebender übrig, in einer Reihe mit Romeo. Joseph, nur bereichert um den Schmerz des Weiterlebens, ging aus der Geschichte als übrig gebliebener Liebender hervor. Und Moira war das Fatum. Das Buch war kein Krimi, sondern eine Liebesgeschichte, und der Mord war kein Mord, sondern Liebe, sodass der entsprechende Leser Tränen vergoss über dieses Ende. Und seine Augen waren Wilderer. Und der Leser war ein Wilderer, dieser Leser, dieses in einem fremden Leben wildernde Ich. Und ein Buch war eine Folge von übrig gebliebenen, nicht gestrichenen Sätzen.
Eine solche Geschichte wollten sie nicht. Ihre eigene sollte anders ausgehen.
Jim konnte damit gar nichts anfangen, obwohl Rosemarie das Ganze viel einfacher wiedergab als hier wiedergegeben. Er war eher fröhlich bis euphorisch gestimmt. Hatte ein Bett für die Nacht, musste nicht zurück in die Höhle, wo er kein Auge zugetan hatte. Und er glaubte schon, verliebt zu sein.
Die Schmetterlinge im Bauch verliehen ihm Flügel.
Ganz anders Roland und Rosemarie, die zwar auch, hätten sie Zeit gehabt darüber nachzudenken, hätten sagen können: Dieses Kribbeln im Bauch kenne ich doch?
Aber es hatte sich auf sie – auf ihn mehr als auf sie – wegen dieser Vorgeschichte eine Art Schwarzwaldtannenschwermut gelegt, beim Vergegenwärtigen des Anfangs und des Endes der Geschichte von Joseph und Moira.
So war es immer: Den einen tat es mehr weh, den anderen weniger. Ihm mehr.
Das war Roland. Aber Jim konnte mit jener Liebesgeschichte gar nichts anfangen, obwohl sie doch ganz in seiner Nähe spielte, und auch nichts mit dem versonnenen Gesichtsausdruck von Roland und Rosemarie, als wären sie Geschwister im Schmerz, anfangen konnte er etwas damit, wie sie beide zugleich ihm mitten ins Gesicht schauten und dann ganz weit weg, übers Meer hin, als sähen sie schon bis zum Ende. Doch es sah nur so aus.
Der aufgeklärte Jim, der in Liebessachen kein Träumer war, sagte: Das war eine schöne Geschichte. Aber konnte das Ganze nicht in fünf Minuten erzählt werden? Where is the beef? Als wäre der Teller leer geblieben. Aber so gut kannten sie sich noch nicht.
Roland hatte bald ein Unbehagen beim Zuhören bekommen, wie Rosemarie alles viel zu knapp und technisch, storyartig, erzählte, als wäre die Liebe ein Plot. Zwar war das genau das Richtige für Jim, wie Rosemarie die Liebe in Worten wiedergab, als wäre die Sexualität das Knochengerüst der Liebe und der Inhalt eines Buches auch eine Art Knochengerüst. Ja, manches Buch war nur ein Skelett, und manch gescheiterterter (Roland stotterte schon im Kopf) Schriftsteller füllte es mit seinen Gedanken.
Jim wollte wissen, was das für ein Buch war, amerikanisch geschult, die Story hören. Roland, aber auf ihre Art auch Rosemarie, hatten ihm zu erzählen versucht, wie diese Moira und dieser Green …
Am Ende schrieb die angehende Ärztin ihm Verfasser und Titel auf, schon sehr geübt, schrieb Rosemarie dieses Buch auf wie ein Rezept, das ihm eines Tages weiterhelfen würde.
Vielleicht lag es auch an ihrem und seinem Englisch, das vielleicht doch nicht so gut war, wie sie glaubten, dass alles, was sie von Moira erzählten, bei Jim so ankam, als wären erst die Liebe und dann der Tod etwas, worauf alles hinausläuft. Wie bei der Stillen Post, wo am Ende vom Anfang nichts mehr da ist. Waren sie nicht hierhergefahren, um braun zu werden?
Vielleicht war alles auch nur ein fruchtbares Missverständnis im rechten Augenblick.
Eine halbe Stunde, nachdem Jim nach einem Schluck Wasser gefragt hatte, war es so, als wären sie schon mitten in einem Roman.
Mitten im Leben waren sie also ins Erzählen vom Leben gekommen, wie es die Verliebten tun, wenn sie spielen. Sie waren wie Katzen, die sich schon auf die Maus freuen. Auf die richtige Maus, die jetzt endlich … Aber wie einen solchen Satz zu Ende führen?
Immer auch ein wenig so sprachen sie, als wäre es bisher ganz toll gewesen, aber doch irgendwie nicht das Richtige, dazu so, als wäre das Leben ein Witz gewesen, der aus einer Reihe von Anekdoten bestand, die erzählt werden konnten. Als wäre alles nichts gewesen, und das richtige Leben käme erst jetzt. Wo sie herkamen und wo sie hinwollten, wie sie hießen und wer sie waren, und all dies, sodass sie, Handtuch an Handtuch, die Zeit vergaßen.
Bald erzählte Jim seinen Lieblingsfilm, einen Liebesfilm, aber so, als handelte es sich um einen Witz, als wäre die Liebe ein Witz, der nacherzählbar war. Nicht einmal den Titel wusste er oder den Namen der Schauspieler, die sich erst küssten, und dann.
Es war zum Kaputtlachen und manchmal zum Weinen. Der Höhepunkt war ein Huhn, das überfahren wurde, anschließend gerupft und ausgenommen und auch noch gegessen, von einem Mann und einer Frau, die nämlich von Anfang an verliebt waren, das musste so enden. Und das Huhn musste als Filmkulisse herhalten auf diesem Tisch, für diese Blicke, die über diese Art Römertopf hin- und hergingen, während sie es aßen, schauten sie sich in die Augen dabei, alles gleichzeitig, so war es. Und nachdem sie gegessen hatten, küssten sie sich, über den Tisch hinweg, und verloren das Gleichgewicht, der Tisch und alles fiel um, wie vom Drehbuch vorgesehen, das Geschirr lag schon in, sagen wir: tausend Teilen, und auch die abgenagten Hühnchenknochen und alles, und dann ging es auf dem Boden weiter, und sie küssten und bissen sich schon, hatten sich schon ineinander festgebissen, und das Licht ging überhaupt nicht aus in diesem Film, und man sah alles, auch noch die Bluse, wie sie in der hintersten Ecke dieser Wohnküche gelandet war und wie die starken Arme des Mannes sie dahin befördert hatten. Dann konnte man hören und sehen, wie sie ja! sagte, nichts anderes sagte sie mehr als ja, immer mehr, bis zum Ende. Und jetzt sahen es alle, alles auf einmal, Jim, Rosemarie und Roland.
Jim sagte, der Film sei in Amerika lange verboten gewesen.
So etwa hatte es Jim erzählt und dabei gelacht und den Kopf geschüttelt vor Freude am Leben, als wäre das Leben ein Kind. Als wäre er ein Kind, das Erwachsenen ein schönes Märchen erzählen will von der Liebe. Vielleicht hatte er den Film auch nur erfunden, um Rosemarie und Roland eine Freude zu machen (und auch ein wenig Appetit, denn Jim war schon bei der nächsten Geschichte, die nicht erzählt, sondern erlebt sein wollte, und zwar heute Nacht, – Wann, wenn nicht jetzt!, sagte sich ein wie Don Juan entschlossener Jim), und Roland, zum Beispiel, hat später auch das meiste wieder vergessen, nur jene Frau aus Jims Mund und Augen nicht, wie sie durchs Bild rennt und versucht, ein Huhn einzufangen, das vom Hühnerstall weg auf die Straße geflüchtet ist, und zu retten, vergebens, denn der Regisseur hat das Huhn überfahren lassen, sein Tod war so schon vorgesehen vom Drehbuchgott, und wie ihr Liebhaber oder auch nur Freund, der später zu einem solchen anderen wird, ihr dabei zusieht: wie dies Liebe ist, wie sie durchs Bild rennt, als wäre es mitten durch sein Herz, und von da durch das Herz des Zuschauers an seinem dunklen Platz, so hatte es Jim erzählt.
Eine Frau und ein Huhn! Wenn das Liebe war! Das musste ein merkwürdiger Film sein. Aber viel mehr blieb von dieser Geschichte nicht übrig in Rolands Erinnerung, als dass es eine ganz große Liebe gewesen sein muss. Am Ende das Gesicht einer weinenden Frau auf einer Bank in der Mitte von nirgendwo, ungewiss, ob es Tränen oder Freudentränen waren.
Aufgrund solcher, vergleichbarer und befruchtender Missverständnisse und fehlgeschlagener Übersetzungsversuche von Wörtern und Blicken waren sie sich immer näher gekommen, auf dem einen Handtuch, das doch nur ein Lappen war, Jim, und auf dem großen, das für mehrere Badesommer gereicht hätte, die beiden anderen. Es sah bald nach Glück aus.
Es waren gerade Sätze, die er nicht verstand und die schön waren, die ihm gefielen. Gerade Sätze.
Ein Buch für Roland war etwas, das sich aus vielen geraden Sätzen, die er nicht unbedingt alle sogleich verstehen musste, zusammensetzte. Ja, es war vielleicht sogar so, dass er von den Sätzen mehr hatte, die noch ein Geheimnis bewahrten, vielleicht für später oder auch nicht, aufgehoben für ihn und alle, die vor und nach ihm an der Reihe waren, wie in einem Gedicht. Roland war im Kopf ein Linkshänder, und Jim war mittlerweile schon wieder ins Wasser gegangen, als wäre er ein Kind am ersten Tag im Schwimmbad und müsste tausendmal ins Wasser, nicht nur deswegen. Roland und Rosemarie hatten eine Verschnaufpause, die sie zum Träumen nutzten, und schon überfiel sie auch wieder eine kleine Badehandtuchmüdigkeit.
Also sahen sie nicht, wie Jim wieder eine Stufe nach der anderen aus dem Wasser auftauchte. Jim schlich sich an die beiden heran, die da lagen mit geschlossenen Augen und eingecremt, als wollten sie immer noch braun werden. Dabei träumten sie nur und waren schon an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit. Sie waren immer noch hier und waren schon ganz irgendwo anders. Er nahm die leere Flasche und füllte sie mit Meerwasser, alles sehr heimlich, und die Nachbarn, die dies sahen, verrieten ihn auch nicht und freuten sich schon auf den Schrei von Rosemarie oder auch Roland. Und dann fiel das Wasser. Die Schreie, fast zugleich, und wie sie von ihren Handtüchern aufsprangen und wie alles nass und dreckig war und wie Roland und Rosemarie, die sich noch schnell ihren Bikini überstreifte, sich nun über Jim hermachten, als wäre es eine Kissen- oder eine Schneeballschlacht. Und wie er ihnen wieder ins Meer entkam, alles unter einem großen Gelächter, auch von jenen, die bald aus dieser Geschichte verschwanden.
Das war Rolands ungewaschene Erinnerung an die Liebe. Und so träumte Roland wieder davon, Schriftsteller zu werden, um alles festzuhalten und das Unbeschreibliche zu beschreiben.
Was Kinder so spielen und was sie sich ausdenken, wenn sie am Wasser sind und keine Sandburg bauen können, dafür eine leere Flasche und das Meer haben!
Roland hatte, bevor er sich an der damals ziemlich gewöhnlichen, wenn auch wegen Heidegger seit über dreißig Jahren total zerstrittenen, Philosophischen Fakultät in Freiburg immatrikulierte, schon Ballett studiert und danach Landwirtschaft, beides freilich nach dem ersten beziehungsweise zweiten Semester schon abgebrochen. Die Welt dachte, in Freiburg werde philosophiert. Alle dachten oder glaubten dies, der Philosoph philosophiere (der Denker unerbittlich denke) die ganze Zeit, so wie eine Nonne betete und auf das angeblich Schönste verzichtete, welches von jenen, die daran glaubten, das Eine genannt wurde. Dachte, der eine philosophierte, während die anderen an die Liebe dachten die ganze Zeit und manchmal auch Liebe machten. Später jedoch kam heraus, dass er, während die Welt darüber lachte, dass der Philosoph so viel dachte, hart in der Sache des Denkens, jedoch Liebe machte, als wäre es die reinste Gedankenlosigkeit. Es waren auch Philosophinnen darunter. Das war das einzige Mal, dass Roland wirklich an Heidegger dachte, der hiermit schon fast aus dieser Geschichte verschwand.
In der Mensa der Naturwissenschaftler, wohin er gegangen war, weil ihm dort das Essen nicht ganz so schlecht schien,
war er auf Rosemarie gestoßen. Sie standen zusammen am Förderband, von dem sie das Tablett mit dem Essen wegnehmen sollten, aber dazwischen stand noch der berüchtigte Kant-Forscher, der – wie manch anderer, manchmal auch liebenswürdiger Spinner – damals an den Universitäten geduldet wurde, ja zu deren Farbigkeit beitrug. Diesen Mann, eine stattliche Vogelscheuche von fast zwei Metern, kannten Roland und auch Rosemarie schon von der neuen Unibibliothek her, wo er sich gleich nach der Eröffnung eine der ersten Studienboxen oder Kabinen verschafft hatte, in der er nach der Mittagspause mit einer majestätischen Forschergeste verschwand und die Tür hinter sich abschloss.
Roland dachte, es handelte sich um einen bedeutenden Gelehrten, der für seine Produktivität die Nähe der Studenten brauchte, den pädagogischen Eros, und sich deswegen auch in der Mensa unter die Studenten mischte, sich anstellte und nicht, wie die anderen Professoren, die sich für die Studenten überhaupt nicht interessierten und ins Casino gingen. Denn dass es sich um einen Gelehrten, ja, vielleicht bedeutenden und weltberühmten Kant-Forscher handelte, der mit seinem langen weißen Haar wie Schelling auf seinem letzten Foto (vielleicht war es auch nur das einzige und somit auch das letzte) jeden Tag auf dem Gelände der Universität zu sehen war, vielleicht schon etwas verrückt geworden, nicht ungestraft, durch dieses lebenslängliche Milieu und diese Stadt, und mit seinen Ticks durch dieselbe ging, in zerschlissenen, ursprünglich farbigen Gewandungen und seiner Gelehrten-Fliege und der Baskenmütze, unter der eine Haarwüste herausschaute, alles ungewaschen, darüber gab es unter den Studenten gar keinen Zweifel. Der Kant-Forscher, wie er genannt wurde, der auch als Künstler damals noch hätte durchgehen können, bevor diese einem uniformen Schwarz verfielen (es war eine Entwicklung vom Clown zum Geistlichen), stand an diesem Fließband zwischen Rosemarie und Roland, die sich bis dahin noch gar nicht gekannt hatten, und dann kam es zu jenem Zwischenfall, der schließlich dazu führte, dass sie nun hier saßen:
Aufgrund eines Trugschlusses, der in späteren Talkshowzeiten zum Irrglauben verführte, man wäre mit diesen Fernsehgrößen vertraut und diese kennten vice versa das Leben, grüßte Roland, der überhaupt ein freundlicher Mensch war und daher von den Seminarlautsprechern, auf die er bald gestoßen war an der Philosophischen Fakultät, für dumm gehalten wurde, weil er so freundlich war und gar kein ironisches Verhältnis zum Leben zu haben schien, vielleicht sogar noch glücklich werden wollte und es auch sagte, wenn er es dann und wann schon einmal gewesen war: glücklich. Und er konnte es ja auch sein: Jung und glücklich, das passte irgendwie besser zusammen als jung und ironisch.
Den Kant-Forscher anzusprechen hätte sich Roland niemals getraut, diesen Menschen, dem er noch nie derart nahe gekommen war, und daher nahm er die Gelegenheit wahr, trotz eines dazukommenden ungünstigen Körpergeruchs, den Roland aber wegen der Bedeutung dieses Menschen in Kauf nahm, ja nicht einmal in seiner Zumutung wahrnahm, so wie er auch jeden anderen Makel in Kauf genommen hätte und jeden Sprachfehler und Tick. Aber nun ließ es sich nicht mehr vermeiden. Roland war gerade dabei, sein Mittagessen vom Förderband zu nehmen, und, ohne Vorwarnung wie ein Krokodil, das zuschnappt, warf der Kant-Forscher nun Rolands Tablett mit dem Besteck und dem Teller auf den Mensaboden. Ja, so war es: Plastikgeschirr war es. Ein Förderband war es. So hatte er sich jahrelang, gleich neben der Tafel, auf der Nachschlag stand, abspeisen lassen? Es erinnerte ihn an eine hochmoderne, automatische Fütterungsanlage in der Schweinemast.
Außer dem Tumult und der Aufmerksamkeit, die Roland gar nicht recht war, sodass er feuerrot wurde, war es auch ein ekelhafter Anblick, auf dem man hätte ausrutschen können, dieses Essen, das zwar wie immer beinahe ungenießbar war, verglichen mit den Leibspeisen, die er von zu Hause gewohnt war. Aber auf diesen Boden gehörten diese Königsberger Klopse in Risibisisauce auch nicht.
Ihre Doktorarbeit schaffen Sie niemals! An eine solche hatte Roland bisher nicht gedacht, da er aber auch eine Spielernatur war, ein Träumer, der schon Lotto spielte, manchmal schon mit dem Verdacht, dass es sonst vielleicht doch nichts würde, brachte ihn der Kant-Forscher auf so eine Idee. Nun dachte er ernsthaft an eine solche Arbeit, als müsste er dem Kant-Forscher etwas beweisen.
Es war sehr laut in dieser Mensa, aber Rosemarie hörte, außer dem zerbrechenden Küchengeschirr – es handelte sich allerdings nur um einen einzigen Teller, der in Scherben ging, der Rest war aus Plastik – auch diesen Satz, der sein Treiben krönte, und wandte sich, noch bevor sie Roland näher anschaute, erst einmal an den Kant-Forscher, den sie als Beispiel männlichen Größenwahns sogleich durchschaut hatte wie zu Hause ihren Vater schon, dem sie bald fast jeden Satz als eine Behauptung zurückwies.
Wenn es sich beim Kant-Forscher um eine Frau gehandelt hätte, so hätte man auch nicht Kant-Forscherin gesagt, sondern von Anfang an die Verrückte, eine von jenen Verrückten, wie sie zahlreich in Freiburg herumliefen, als wäre diese Stadt eine ökologische Nische.
Roland war viel zu feige (wie die meisten Männer), gegen diese Anmaßung einzuschreiten, und war schon dabei, die Scherben zusammenzulesen, noch bevor die mensaeigene Spülkraft mit dem Putzkübel und ihrem weißen Küchenkopftuch heranschlurfte, als wäre die Mensaküche eine Hightech-Einrichtung oder ein OP-Saal, dabei musste die Gesundheitspolizei immer wieder einschreiten, auch wenn es hier noch etwas besser schmeckte als in der Mensa I, die schon mehrfach geschlossen werden musste. Vor geraumer Zeit hatte es noch Tote gegeben. Kurz, Roland war schon fast dabei, sich beim Kant-Forscher für alles zu entschuldigen, da griff Rosemarie ein, sagte: Was fällt Ihnen ein! – schrie sie ihn schon fast an: Sind Sie verrückt?
Und mit einem Mal war die Autorität dieses Menschen wie weggeblasen, so wie wenn ein Vorstand am Morgen vor dem Strafprozess aus der gepanzerten Limousine steigt oder ein Bundeskanzler an die Mikrophone tritt am Abend der verlorenen Wahl. Der Kant-Forscher lief nun einfach davon, als wäre nichts, begann Mein Herr Marquis zu singen und ging zu den Treppen, auf denen man mit etwas Glück immer wieder auf die schönsten Erscheinungen stieß und die Essenszeit darauf einrichtete, ja sogar seinen Plastikplatz an seinem Plastiktisch in der Nähe der Betontreppe suchte, wenn man schon nicht neben ihnen im Vorlesungssaal sitzen durfte, schließlich studierte nicht jeder Forstwirtschaft im ersten Semester, und verschwand.
Er verschwand immer mehr, schließlich an der Kunst am Bau vorbei (noch eine grauenhafte Arbeit, die jeden Tag Tausenden ungestraft zugemutet wurde) und ging dann, wie sie hätten durch die riesige Glasfront sehen können, wieder Richtung neue Bibliothek, auf den Haupteingang der neuen Universitätsbibliothek zu, wo er wohl an seinen Platz im vierten Stock der Präsenzabteilung Philosophie verschwand, fast schon aus dieser Geschichte.
Rosemarie und Roland hatten sich aber mittlerweile kennengelernt, und entscheidend ist ja der erste Augenblick; so gesehen war alles gelaufen. Quasi gleichzeitig sagten sie dann: Komm, gehen wir einen Kaffee trinken, der spinnt ja, und so fort.
Bald lachten sie auch. So begann ihre Geschichte.
Der Kant-Forscher übrigens war schon bald komplett entmystifiziert. Roland wollte dann doch einmal wissen, was dieser Professor die ganze Zeit las oder machte in seinem Privatkabinett. Er schlich sich also einmal von der Türseite heran und wagte dann einen Blick über den Gartenzaun. Der Kant-
Forscher war nicht an seinem Schreibtisch. Aber seine Bücher lagen da. Aufgeschlagen, also das Buch, an dem er gerade arbeitete, war: Französisch – Grundkurs I, eine Seite, auf der Roland Piktogramme von einem Haus erkennen konnte, und daneben stand, in Kindergartenschrift: la maison. Und dann waren noch einige Abbildungen im Kindergartenstil zu erkennen, ein Auto, neben dem la voiture stand, und dann sah Roland noch ein Boot (le bateau) das auf dem Meer dahinfuhr. Das war la mer. Daneben, aus demselben Verlag, die Russischbände Grundkurs I-III. Alles noch vor der Zeit der audiovisuellen Methode. Das war alles, außer einem unangenehmen Geruch, den vielleicht schon das Plastik von diesem Menschen angenommen hatte. Aber vielleicht war es auch der angeknabberte Apfel auf diesem Tisch.
Vielleicht war der Kant-Forscher auch ein großer Pädagoge oder Linguist, der diese Bücher selbst verfasst hatte und seine Thesen noch einmal auf ihre Stringenz hin überprüfte, oder er war ein großer Kinderpsychiater, der sich in das Hirn eines Kindes hineinversetzen konnte.
Roland jedenfalls war auf alle Fälle schon wieder einmal im zweiten Semester und schaute auf die Uhr. Er war noch dreiundzwanzig Jahre alt.
Freilich nacheinander, nicht nebeneinander, hatte er auch schon etwas Ballett und Landwirtschaft studiert, zwei Möglichkeiten, die auf den ersten Blick auch nicht so recht zusammenpassten.
Er stammte ja vom Land, vom Himmelreich, aus der allerletzten Zeit, da das Land noch etwas zählte. Über der Haustür war ein Wappen mit zwei Wildschweinzähnen zu sehen und rechts und links neben der Haustür jeweils noch einmal zwei Hauer von Keilern, zu einer Art Geweih geformt; nur über Details und die Bedeutung des Wappens stritten sich die Heraldiker, ob es zwei Nasen oder zwei Wildschweinzähne waren, die Familie hieß nämlich Nesensohn, und das Haus gehörte noch in den sechziger Jahren dem Haus Fürstenberg: Da haben sie es für eine Mark an die Nesensohns verkauft. Es war fast schon eine Ruine; und die Familie auch. Bei all diesen Sachen war freilich auch die Liebe im Spiel. Das war überall möglich auf der Welt, ihr ausgesetzt zu sein.
Sein Großvater erst, Güterverwalter der Fürstenbergs, der einmal im Jahr in der Fürstlichen Haus- und Jagdzeitung abgebildet war, hatte das Himmelreich von jener kretinösen, über Jahrzehnte bankrottierenden Familie übernommen und hat auch gleich sein Wappen, das er vielleicht geerbt hatte, vielleicht auch nur erfinden ließ, über der Haustür anbringen lassen. Vor allem die Hauer waren auch so etwas wie Ausdeutung des eigenen Lebens.